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Fantastische Welten 2020

von Matthias Rieger (Hrsg.) (Autor:in)
166 Seiten

Zusammenfassung

Fantastische Wesen treffen auf fantastische Welten. Teilweise sind diese und ihre Probleme recht irdisch, dennoch immer ungewöhnlich. Treffen Sie Drachen, Elben, Zwerge, Kobolde und andere außergewöhnliche Wesen. Ein Troll benötigt eine Hausratsversicherung, ein Kobold assistiert bei Versuchen an Menschen und auch Orks sowie Dämonenkönige können mit ihrem Arbeitsplatz unzufrieden sein. Und wenn Sie das nächste Mal eine Fee treffen und sich etwas wünschen dürfen, überlegen Sie sich gut, was Sie sich wünschen; alles hat Konsequenzen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Fantastische Welten

 

Von Matthias Rieger (Hrsg.)

 

 

Corina B. Lendi - Troll dich

 

"Oolith Wave, guten Tag, ich wollte mich nach einer Hausratversicherung erkunden?

In meiner Höhle, unter der Erde habe ich viele teure Steine, Felsinterieur und Schuttdesign. Da brauche ich umfassenden Schutz. Es ist mir wichtig, dass ich finanziell abgesichert bin. Mein Zuhause ist einzigartig und liegt mir am Herzen. Die Erde ist locker, gut durchlüftet und ich wohne an bester Lage."

 

"Herr Hugentobler, Dream Versicherung, ähm Guten Tag, Herr Wave, sagten Sie Steine?"

 

"Natürlich! Steine! Was sonst? Oder haben Sie etwas Wertvolleres in Ihrer Höhle?"

 

"Hrch Hrch, ich wohne nicht in einer Höhle und habe keine Steine. Bin ja kein Höhlenmensch. An Erde bin ich nicht interessiert. Herr Wave ich habe Sie schon richtig verstanden, Sie wollen eine Hausratversicherung?"

 

"Entschuldigen Sie, ich dachte mir bloß, wenn man bei einer Versicherung arbeitet, hat man bestimmt keinen Hungerlohn und ist Besitzer einiger Steine. Aber als Praktikant verdient man natürlich noch nicht so viel. Herr Hugentobler, ich bitte Sie um eine Offerte. Ich muss sicher sein, dass mein wertvolles Steininterieur gut abgesichert ist. Es ist praktisch nicht zu ersetzen.

 

"Flüster, Flüster: Praktikant, das ist ja wohl! Ich bin anerkannter Versicherungsfachmann mit Abschluss, Zeugnis und allem Pipapo. Frechheit, sowas! Aber was solls, wir zeichnen uns durch stete Höflichkeit und Contenance aus. Daher zurück zum Fachlichen.

 

Ist Steine ein Synonym für Gold, Herr Wave? Ich schicke Ihnen gern eine Offerte. Da müsste ich aber ungefähr wissen, wie viele Wertgegenstände Sie in der Wohnung haben? Welchen Wert hat ihr Mobiliar und besitzen Sie Schmuck?

 

"Ich wollte nicht unhöflich sein, Herr ähm "Versicherungsfachmann-mit-Abschluss-Zeugnis-und-allem-Pipapo" Hugentobler. Es sind schöne schmucke Steine, die sind ein Vermögen wert. Ich möchte Sie vor allem gegen Vandalismus, Raub und Feuer versichern. Meine Höhle ist top eingerichtet, witterungsbeständig, massiv und pflegeleicht. Steindesign vom Feinsten. Die Einrichtung ist mir lieb und teuer.

 

"Jetzt reicht es!

Troll dich!

Telefonstreiche sind das Letzte!

Schämen Sie sich!

Wagen Sie es nicht nochmal anzurufen!

Steine! Bah!"

 

Piiip Piiip Piiip

 

***

 

Das ist jetzt schon die vierte Agentur. Keiner will mein Zuhause versichern, es ist eine Schande.

Ich lebe tief unter der Erde in einer Höhle. Oh und ich bin ein Troll. Wir mögen Erde, Stein und Fels, nichtsdestotrotz sind wir nicht im Mittelalter stecken geblieben. Diese sogenannten Versicherungsfachmänner können wohl den Stein vor lauter Felsen nicht mehr sehen. Steine sind schön, fest und beständig. Im Sommer kühlen Sie meine Höhle und im Winter wärmen sie. Sie bestehen aus vielen verschiedenen Stoffen und funkeln und glitzern wunderschön. Ich wäre ein Vollidiot, wenn ich mein Zuhause nicht versichere. Leider scheitere ich an der Kommunikation mit den Menschen. Irgendwie verstehen sie alles falsch.

 

Beim ersten Telefonat habe ich mich direkt als Troll vorgestellt. Ich dachte, dass vereinfacht den Prozess. Immerhin wären meine spezifischen Wünsche, nicht mehr nonkonform erschienen. Leider konnte ich nachher keinen Satz mehr formulieren. "Don't feed the troll, don't feed the troll!" skandierte der Versicherungsvertreter laut durch das Telefon. Einige Minuten hörte ich mir das an, dann habe ich perplex aufgelegt. Ich verstehe ja, dass Trolle einen fragwürdigen Ruf haben. Aber heute, wo Rassismus verurteilt wird, sollte eine Minderheit wie wir Trolle doch auch zu Wort kommen. "Don't feed the troll!" Tja ich wollte doch nur kurz seine Aufmerksamkeit, diese Versicherungsmenschen haben Herzen aus Stein.

 

Das zweite Telefonat war noch skurriler. Auch hier war ich ehrlich und nannte meine Herkunft um Missverständnissen vorzubeugen. Nach wenigen Worten, startete der Versicherungsvertreter eine lange Wut-Rede. Anscheinend muss er eine Brücke überqueren um nach Hause zu kommen. An dieser Brücke steht immer noch ein Troll. "Der knüpft mir den letzten Penny ab! Jeden Tag muss ich den bezahlen! Für nichts und wieder nichts! Ihr plumpen Halsabschneider!" Ich schwor Stein auf Bein, dass die Mehrheit der Trolle keine Zollgeschäfte mehr tätigen. Wir Trolle sind nicht alle gleich! Jeder ist ein Individuum und für seine Taten selber verantwortlich. Die wenigen Trolle, die immer noch im Zollbusiness arbeiten, sind Traditionalisten. Ich versuchte mich zu erklären, aber umsonst! Früher übernahmen wir Trolle oft Zollgeschäfte an Brücken und Übergängen. Natürlich waren wir offiziell angestellt vom aktuellen Regenten des Landes. Unser wuchtiger Körperbau garantierte uns Respekt und erleichterte uns die Obolus-Forderung. Trolle sind beharrlich, stabil und sehr gross. Wenn wir um eine Geldspende zwecks Instandhaltung der Brücken oder Übergänge baten, kamen uns alle Reisenden, gern entgegen. Was die Sphinx in Ägypten war, waren wir in Skandinavien. Allerdings war uns eher an Geld als an Rätseln gelegen. Obwohl das alles rechtens war, werden wir auch heute noch oft negativ auf unsere Tätigkeiten als Grenzwahrer angesprochen.

 

"Ein Fels kann nichts erschüttern" ist ein altes Troll-Sprichwort. Daher gab ich nicht auf und kontaktierte die dritte Versicherungs-Agentur. Ich war verunsichert, sollte ich sagen, dass ich ein Troll bin? Nun, ich dachte aller guten Dinge sind drei. Hier wurde ich nach wenigen Sätzen als Menschenfresser verunglimpft. "Monster, Menschenfresser, Argh!" schrie der Vertreter und dann hörte ich auch hier nur noch ppiiiipp piiiippp. Er hatte aufgehängt. Der Fairness halber, natürlich haben wir in grauer Vorzeit den einen oder anderen Menschen gefressen. In der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen. Aber das ist bestimmt nichts für Gourmets. Trolle können ganz passabel kochen und unsere Eintöpfe sind deliziös.

 

Telefonat vier habt ihr live mitbekommen. Also auch wenn ich unerwähnt lasse, dass ich ein Troll bin, komme ich nicht zur Offerte, geschweige denn zu einem Versicherungs-Abschluss. Es ist verzwickt!

 

Nun steht fest, wir Trolle haben ein Imageproblem. Obwohl man uns sehr selten sieht, ist kein Gras über die alten Geschichten gewachsen. Wir sind immer noch die bösen Trolle, Menschenfresser, Brückenbewacher und Steinmonster. Troll dich, rufen Sie! Aber wir sind besser als unser Ruf!" Negative Erfahrungen, Skepsis, Ablehnung und alte Geschichten von Troll-Monstern sind bei den Menschen fest verankert. Das Fiese an einem schlechten Ruf ist, dass er sich hartnäckig hält. Ob Wahrheit oder Lüge, spielt dabei keine Rolle. Ein grosses Problem ist der Mangel an Informationen zu unserer Rasse. In unserer heilen Welt unter der Erde haben wir das Ausmass eines Imageproblems bisher nicht erkannt. Auch wenn wir oben verhasst sind, funktioniert unsere Welt wunderbar. Die Troll- Bahn fährt mich überall hin, die Glühwürmchen an der Decke spenden warmes Licht, unsere Pflanzen gedeihen prächtig und die Luft ist kristallklar. Bisher gab es keinen Grund, mich mit den Menschen herumzuschlagen. Versicherungen sind in der Troll Welt eine Seltenheit, da sind die Menschen uns weit voraus.

 

Nach einigem knurren, murren und eingehender Studie zum Thema Imageproblem habe ich der fünften Agentur angerufen.

 

"Oolith Wave, guten Tag, ich möchte Sie um einen Hausbesuch bitten. Es geht um eine Hausratsversicherung."

 

"Frau Talus, Brock Versicherungen, Guten Tag, Herr Wave, ich komme gerne bei Ihnen vorbei."

 

Clever von mir oder? Im Internet stand, betreffend Imageproblem, dass man den Beschuldigungen entgegenwirken muss. Am besten mit Fakten.

Aber wie erklärt man, dass:

weit unter der Erde ein Reich existiert, bevölkert von Trollen

wir keine Menschen mehr fressen

wir keine Geldforderungen stellen

wir nichts gemeinsam haben mit den Internet-Trollen

 

 

Das ist etwas schwierig. Daher habe ich kurzerhand eine Adresse am Waldrand angegeben. Wer nicht hören will, muss es wohl mit eigenen Augen sehen. Die Versicherungsfachfrau war pünktlich. Zögernd wartete Sie am Waldrand. Als ich aus dem Schatten des Waldes trat, musterte sie mich schockiert und rannte ohne Erklärung davon. Ich bin gross und steinig, aber diese Reaktion war doch etwas abwertend.

 

Ich sage euch das war ein Geschrei bis ich Sie endlich in meiner Höhle hatte. Da habe ich dem Troll-Monster alle Ehre gemacht. Ich brummelte und knurrte, Sie schrie und heulte. Das Ganze war steinerweichend. Ein bisschen wie im Film. Drastische Telefonate, fordern drastische Massnahmen.

 

Nach eher komplizierten Verhandlungen und viel Erklärungsbedarf bin ich stolzer Besitzer einer Hausratsversicherung. Trollig oder? Aber jetzt muss ich mich beeilen, Frau Talus kommt zum Essen vorbei. Und der Eintopf ist noch nicht fertig.

 

Mathis Beste – Der schwarze Marder

 

Seit es den Wald gibt, gibt es auch den schwarzen Marder und weil es den schwarzen Marder gibt, existiert auch der Wald. Schon tausend Mal hat er den Schnee auf die Äste rieseln, hat Eichen, Buchen, Fichten und Eschen wachsen und fallen sehen. Er war da, als die Erde bebte und die Blätter in Scharen zu Boden segelten, spürte schon die Hitze der Flammen und wie sie alles auf ihrem Weg zerfraßen. Der Marder war schon immer da, auch wenn man ihn kaum einmal bemerkt. Denn er ist ein Hautwechsler. Sein Name ist Alvar.

Manchmal ist Alvar so klein, dass das bloße Auge ihn gar nicht zu erkennen vermag. Dann krabbelt er als schwarzer Käfer über den Waldboden, ertastet mit seinen Fühlern die Feuchtigkeit in der Erde oder überprüft, ob die Pilze in diesem Jahr auch vernünftig wachsen. An anderen Tagen erhebt er sich mit seinen schwarzen Flügeln in die Luft, beobachtet als Adler die kahle Landschaft oder grüne Knospen an den Zweigen. Wenn die Früchte schließlich reifen und die Blätter sich färben, trägt er ein majestätisches Geweih, damit die Bewohner seines Reichs gewiss sind, dass seine Wacht besteht. Meistens geht Alvar seinem gewohnten Gang nach. Doch hin und wieder wird er gestört – und sein Zorn erwacht.

Einmal, lange bevor sich die angrenzenden Gebiete in gelbe Wüsten aus Weizen und Gerste verwandelten, kamen sie in der Nacht. Menschen. Regelmäßig drangen sie in seinen Wald ein, jagten seine Rehe und Wildschweine oder hackten sein Holz. Nicht immer hatte er sich dagegen gewehrt, war es ihm doch recht und billig, wenn er ihnen hin und wieder ein paar Seelen geben konnte. Es war der Kreislauf des Lebens. Und es gab viele Tiere im Wald. Die Menschen hatten lange Zeit mit dafür gesorgt, dass sein Land gesund blieb.

Doch diese hier waren anders. Silbern schimmerte ihre Kleidung im Mondlicht, und Alvar roch Eisen und Bronze, Leder und Schweiß. Den ganzen Tag schon waren sie marschiert und bauten nun ihr Haus in seinem Reich, obwohl es nicht ihr Zuhause war. „Fragt ihr euren Gastgeber nicht, ob er euch in seinem Heim duldet?“ Eilig kletterte der Marder einen Baumstamm empor und setzte sich auf einen Ast direkt über dem Geschehen. Die Männer hatten große Schilde und spitze Schwerter dabei und einige trugen Helme, die mit den Federn bunter Vögel geschmückt waren. Sie bauten ihre Zelte auf, ein Feuer wurde angezündet und ein paar fällten die umliegenden Bäume, um einen Schutzwall zu errichten. Schnell entstand eine Lichtung. „Ihr Undankbaren, ihr Zerstörer“, schrie Alvar. Er schuhute laut, schwang sich federleicht von seinem Ast und landete als Uhu auf einem der Holzpflöcke, den die Männer bereits angespitzt und in den Boden gerammt hatten. Sie bemerkten nicht einmal, dass er da war, spürten nicht, wer er war.

Über das Feuer hatten sie einen Kessel gehangen und kochten Suppe. Alvar sprach: „Brenne höher, heißes Feuer, in dir wohnt ein Ungeheuer. Lass sie rufen, lass sie rennen, sich an deiner Glut versengen.“ Die Worte klangen in den Flammen nach und der Geist des Feuers hörte zu. Es knackte, ein Scheit fiel herunter und stieß den Kessel um, der seinen Inhalt über das Bein eines Soldaten ergoss. Gleichzeitig loderte seine Kleidung auf. Der Mann schrie, schrie wie am Spieß und im Lager kam Hektik auf. Man schleppte kaltes Wasser heran, redete wild durcheinander. Nur Alvar erhob seelenruhig sein schwarzes Haupt und flog zu einem anderen Teil des Waldes. In seinen Klauen hielt er den Federkranz eines Helms, den er wenig später vor einem einsamen Späher fallen ließ. Alvar wusste, dass der Späher auf der Suche nach den glänzenden Männern war. Und dass sie die Nacht nun nicht überleben würden.

Ein anderes Mal waren es erst die Schreie, die den Marder auf die Anwesenheit jener Geschöpfe aufmerksam machte. Der Wald war längst ein anderer und Menschen waren während der letzten tausend Schneefälle selten gewesen. Grund dafür war der Zorn des Windes gewesen. Alle Buchen der Umgebung hatte er umstürzen lassen, alle Häuser hatte er abgedeckt, selbst die Vögel holte er vom Himmel. Nur mit all seiner Kraft war es Alvar gelungen, den Wind zu beruhigen: „Tosender Geist, so halte ein. Lass die Bäume Bäume sein. Sind doch Freunde, schon vergessen? Zürnst du mir? Das ist vermessen.“ „Alvar?“, erkannte ihn der Wind. „Glaub nicht, dass kein Gefühl ich hätt, will nun zurück ins Wolkenbett.“

Alvars Wald überstand den Sturm und stand nun alleine dar. Das Umland war flach geworden und von Zäunen umringt. Und die Menschen erzählten sich Geschichten über ihn. „Geh nicht hinein“, hatte er sie oft an seinen Ausläufern flüstern gehört. „Der schwarze Marder wird dich holen. Er tötet jeden, der seine Grenzen übertritt.“ Einige lachten über diese Warnungen, die meisten jedoch nahmen sie ernst. Vielleicht war Alvar auch deshalb so überrascht, als er an diesem Morgen die Stimmen vernahm.

„Komm“, schrie eine Frau aus voller Kehle. Panik wallte darin mit.

Das schwarze Fell des Marders peitschte über den Waldboden und blieb hinter einem Busch in sicherer Entfernung stehen, um die Szenerie in Augenschein zu nehmen. Alvar erblickte die in Lumpen gekleidete Frau, die ein kleines Mädchen hinter sich herzog. Blut klebte in ihrem Haar und auch ihr Gesicht war überströmt von Rot. Beide trugen keine Schuhe, und trotzdem trieb die Frau das Mädchen weiter an, bis es stolperte und anfing zu weinen. „Ich kann nicht mehr, Mama. Ich kann nicht.“ „Sie haben uns gleich, los“, rief die Frau. Für einen Moment schloss der Marder die Augen und hörte in die Ferne. Das Hufgetrappel war noch in einiger Entfernung, kam aber schnell näher. Auch das Bellen der Hunde konnte Alvar bis hier hin hören, sogar die Stimmen der Verfolger: „Holt euch die verdammte Hexe und spießt sie auf!“

„Ihr mordet unter meinem Dach?“, fragte Alvar und blickte hinüber zu der Frau, die soeben ihrer Tochter aufhalf und sie auf den Arm nahm. Doch Alvar wusste, dass sie zu langsam sein würde. Als schwarzer Marder trat er hinaus ins Licht und die Frau geriet ins Stocken. „Geht fort von hier, verschwindet, damit euch keiner findet“, flüsterte er und wechselte dann in die Sprache der Tiere: „Liebe Gefährten, seid so gut und nehmt die beiden in Obhut. Verwischt die Spuren und stellt klar, dass sie nicht treffen diese Schar.“ Überall um sie herum begann es zu rascheln. Eichhörnchen kamen von den Bäumen geklettert, Vögel aus der Luft und Rehe galoppierten aus dem Unterholz heran. Sie alle scharrten über den Boden und das Laub flog in alle Richtungen davon. Der Blutgeruch verteilte sich.

„Geht jetzt“, rief Alvar in Menschensprache und die Frau nickte hektisch. Während sie mit ihrem Kind weiterstolperte, machte sich der Marder auf in die entgegengesetzte Richtung. Die Hexenjäger kamen nicht weit. Sie wurden von einem Rudel schwarzer Wölfe aufgehalten. Der größte unter ihnen stellte sich dem Trupp in den Weg. Ein Knurren und die Hunde jaulten, als habe man sie mit einem Prügel verdroschen. Doch der überwiegende Teil der Menschen war bereit zu kämpfen – und fiel den Wölfen zum Opfer.

In jenen Zeiten im Jahr, wenn die Eichenfäller mit ihren Äxten in seinen Wald kamen, beobachtete der Marder sie meist zunächst. Nicht alle erweckten seinen Zorn, schlugen nur wenige Bäume, die alt waren, sodass Alvar neue säen konnte. Manche brachten ihm Gaben, die ihn milde stimmten oder sangen Loblieder auf seine Barmherzigkeit. Irgendwann jedoch wurden es immer mehr. Und ihre Gier nahm Überhand. Männer, die ganze Wagenladungen aus seinem Reich mitnahmen, die rauchende und knatternde Kutschen mitbrachten und einen Weg mitten durch den Wald rodeten. Alvar ließ Äste regnen, versuchte, sich mit Sturm und Regen gegen sie zu wehren. Er nahm stetig größere Anstrengungen auf sich, ließ einen Mann gar in ein Wespennest stürzen, was ihn für immer aus dieser Welt beförderte. Doch er konnte die Baumhasser nicht vertreiben. „Passt auf! Dieser Wald hier ist verwunschen“, sagten sie immer wieder, mehr aber auch nicht. Irgendwann war Alvar erschöpft und zog sich mit seinen Tieren an die tiefsten Stellen des Waldes zurück. „Wartet hier und ruhet aus, bis zu Ende ist der Graus.“ Und tatsächlich kam der Marder erst wieder hervor, als es ruhiger wurde. Es war ein junges Pärchen, das ihm von allen Menschen als erstes wieder begegnete. Sie spazierten seelenruhig über den Waldweg, trugen himmelblaue Kleidung und hielten Händchen. „Hast du keine Angst vor dem schwarzen Marder?“, fragte die Frau. „Das sind doch nur Geschichten, Trude“, antwortete der Mann. „Stimmt nicht. Mein Großvater wurde hier mal fast von einem Ast erschlagen und ein Freund von ihm wurde vom Marder getötet, weil er aus seinem Teich getrunken hat.“ „I wo“, lachte der Mann. „Uns passiert nichts. Wir wollen ja nichts von ihm.“

Doch Alvar hatte genug von den Menschen. „Ich dulde euch nicht länger, hinfort aus meinem Reich. Will keine Spaziergänger und keiner trinkt aus meinem Teich“, grunzte er und rieb seine Wildschweinborsten angriffslustig über die Rinde eines Baums. Gerade wollte er losstürmen, als er sah, wie sich der Mann vor die Frau kniete und ihr etwas entgegenstreckte. Die Frau verschränkte die Hände über dem Gesicht, lachte, weinte und nickte dann. Alvar hielt inne. „Hast du nicht schon genug gekämpft?“, sagte er zu sich selbst und änderte seine Meinung.

Wenig später kam eine schwarze Bache mit drei kleinen Frischlingen auf den Weg hinaus gelaufen. Wieder grunzte sie, aber dieses Mal, um von dem Pärchen bemerkt zu werden. „Josef, da!“, rief die Frau und zog den Mann vom Weg herunter, als die Wildschweinfamilie in ihre Richtung trottete. „Nicht bewegen“, flüsterte der Mann leise in ihr Ohr. „Wir wollen dem Wald nichts.“ Die Bache kam immer näher an das Pärchen heran, warnte sie, aber griff nicht an. Einen Moment trafen sich die Augenpaare. Dann verschwand Alvar mit seinen Kindern im Unterholz.

Auch das Pärchen verschwand wieder aus dem Reich des Marders, kehrte jedoch schon bald zurück, zunächst mit einem Mann in grün, der sie durch die Eschen führte. Der Marder konnte es sich nicht erklären, doch diese beiden schienen Gefallen daran zu finden, dem Wald nichts zu wollen. Sie pflanzten neue Bäume und fällten kranke, jagten nur Tiere, von denen es viele gab. Alvar konnte die Hilfe gut gebrauchen. Er spürte, dass er älter geworden war.

Nach und nach kamen auch andere Menschen, wenn auch in kleiner Zahl. Nur noch selten waren laute Motoren zu hören und die meisten wollten nichts, als durch seinen Wald zu spazieren. Und solange sie das taten, ließ Alvar sie gewähren. Sein Zorn war über die vergangenen Sommer stetig geschrumpft, doch auch seine Kräfte hatte er eingebüßt. Die Hitze machte ihm immer mehr zu schaffen und wenn es regnete, regnete es zu wenig. „Groß sind eure Sorgen, doch fühlt euch stets geborgen“, flüsterte der Marder seinen Fichten zu, wenn es besonders heiß war und sie kraftlos ihre Arme hängen ließen. „Bald rieselt wieder der Schnee, und wenn ich einmal geh, deckt er euch zu und schenkt nötige Ruh.“ Doch auch der Schnee kam immer seltener. Die Fichten wurden kahl und auch der Marder wurde müder. Er vermochte immer weniger, die Wache in seinem Reich zu halten, dachte darüber nach, in ein Astloch zu klettern, sich darin einzurollen und zu schlafen. Das hatte er sich verdient.

 

Nur wenige Menschen waren unterwegs, als Trude am Morgen mit ihrem Gehstock über den Waldweg spazierte. Sie war bei Weitem nicht mehr die Schnellste, ließ es sich aber dennoch nicht nehmen, täglich durch ihren Forst zu wandern. „Nicht so weit weglaufen, Louis“, krächzte sie und winkte hinter ihrem zehnjährigen Enkel her, der schon wieder zwischen den Büschen abgetaucht war. Schade, dass Annika und Marie nicht hier geblieben sind, so sehr, wie die Jungens den Wald lieben, dachte sie. Nachdem ihr Mann Joseph früh gestorben und sie in Rente gegangen war, hatten andere ihr Waldstück gepachtet. Keiner ihrer beiden Töchter hatte sich vorstellen können, ihren Platz als Försterin einzunehmen. Dabei ging es den Bäumen schlechter denn je. Trockenheit und Borkenkäfer waren auf dem Vormarsch und seit Jahren gab es keine Anzeichen der Besserung. Auch wenn sie wusste, dass der neue Förster nichts für den Notstand der Bäume konnte, verurteilte sie ihn irgendwie dafür. Sie fand es schön und schrecklich zugleich, hier zu sein, weil sie nicht wollte, dass ihr Forst so endete und sie gleichzeitig wusste, dass ihr die Kraft und die Zeit fehlen würde, um etwas daran zu ändern.

„Oma, Oma, ich hab' was gefunden“, rief der Junge plötzlich und kam aus dem Unterholz gehuscht. „Ein Tier, hier liegt ein Tier.“ „Warte auf mich“, rief Trude und beschleunigte ihre Schritte so gut es ging. „Und fass es nicht an. Die können Flöhe haben.“

Als Trude um das Gebüsch gelaufen kam, hatte sich Louis bereits einen Stock geschnappt und deutete auf das schwarze Etwas, das da zusammengekauert am Boden lag.

„Der schwarze Marder“, flüsterte Trude vom Donner gerührt. „Nicht“, sagte sie laut, als Louis das Tier mit dem Stock anheben wollte.

„Was ist mit ihm geschehen?“, wollte der Junge wissen.

„Es war wohl an der Zeit für ihn, zu gehen“, sagte Trude und fügte mehr zu sich selbst hinzu: „Solange es den Wald gibt, gibt es auch den schwarzen Marder...“

Der Junge wirkte beinahe traurig über den Tod des Tieres, weshalb Trude noch ergänzte: „Zum Glück ist es nicht der einzige Marder hier. Es gibt noch viele mehr. Wusstest du eigentlich, dass man sich früher erzählte, dass ein schwarzer Marder diesen Wald hier bewacht? Manche wollen ihn schon gesehen haben und es ranken sich viele Geschichten darum.“ Der Junge schüttelte mit großen Augen den Kopf und wandte seinen Blick wieder dem Marder zu. „Schon meine Großmutter erzählte mir Geschichten darüber. Soll ich dir ein paar erzählen?“ „Ja, bitte“, rief Louis. „Und was machen wir mit dem hier?“

„Wir lassen ihn ruhen. Er ist da, wo er hingehört.“

Birgit Oswald – Dungeons, Döner und eine Demütigung am Wochenende

 

 

Der Dämonenkönig wartete….

Es saß dabei auf seinem blutroten Thron mit dreizehn geschärften Hörnern. Zehn grimmige Goblins bewachten die Gänge seines Dungeons. Fünf fiese Falltüren waren in den Gängen verborgen. Hinter den Thron stand eine Schatztruhe, gesichert mit einem adäquat quietschenden Vorhängeschloss.

Alles war perfekt.

Sein geheimer Dungeon lag unter einem grasbewachsenen Hügel. Vor dem Eingang wuchs ein hoher Sommerfliederbusch, in dem die Schmetterlinge tanzten. Wenigstens manchmal, denn gleich daneben war die Leitplanke der Bundesstraße. Hier gab es viele Autos und Lastwagen und eher wenige Schmetterlinge.

Vor langer Zeit hatte es hier ein Warnschild gegeben. Eins mit Totenköpfen und wilden Drohungen. Nun war hier ein Namensschild angebracht.

Auf dem Schild stand Meier.

Der Name war falsch. Aber seitdem das Schild da war, kam die Post endlich an.

Das war wichtig, vor allem wegen der Amazon Pakete, die für Kaffeenachschub sorgten. Der Dämonenkönig hatte eine Schwäche für Jamaica Blue Mountain Kaffee, der leider im örtlichen Supermarkt nicht zu bekommen war.

Heute war Samstag.

Der Dämonenkönig saß auf seinem Thron und dachte an seinen Cousin zweiten Grades. Der war von Beruf Drache auf einem Berg in Buthan, im Himalaya. Auch er bewachte einen Schatz. Der Drachencousin erzählte oft, wie er sich in seinem Goldschatz wälzte und die Goldmünzen durch seine Klauen klimpern ließ.

Der Dämonenkönig war von Beruf Endboss. Er wälzte sich nie in seinem Gold. Er ließ keine Münzen klimpern. Goldmünzen hatten sich in dieser Zeit als furchtbar unpraktisch erwiesen, deswegen hatte er sein Vermögen bereits vor Jahren in Kryptowährung angelegt. Das war lukrativer und funktionaler.

In der Schatztruhe lag stattdessen ein geheimer Vorrat an Schoko-Minz-Bonbons. Die einzige Erfindung, die mit diesen Bonbons mithalten konnte, lag, in den Augen des Dämonenkönigs, schon viele Jahre zurück und war das Ergebnis eines Zufalls gewesen: örtliche Hirten in Kaffa hatten herausgefunden, dass ihre Ziegen nach dem Genuss der Früchte der Kaffeepflanze gern einen Chachacha aufs Parkett legten. Das war die Geburtsstunde des Kaffees gewesen. Schade, dass es danach so lange gedauert hatte, die bereits genannten Bonbons zu ersinnen.

Gerade richtete der Dämonenkönig sich auf seinem Thron auf und streckte sich. Das Echo eines zukünftigen Bandscheibenvorfalls hallte von den Wänden des Thronsaales wider. Er rückte sein orthopädisches Sitzkissen zurecht und seufzte. Dabei stieß er die Luft mit einem lauten „Achhummmm“ aus. Die Limonade auf dem Beistelltischchen wurde von seinem Atem getroffen und begann zu brodeln. Zum Glück war das Glas hitzebeständig.

„Chef?“ Einer der Goblins streckte den Kopf zur Tür herein. „Hast du Zeit?“

„Viel zu viel!“, grummelte der Dämonenkönig, aber dann hellte sich seine Miene auf. „Haben wir Besuch?“ Er sprang von seinem Thron auf. „Vielleicht ein edler Kämpfer, der durch die Falltür im Finsteren Gang des Schreckens gefallen ist? Oder ein verirrter Kreuzritter, der darauf wartet, dass ich ihn über niedriger Flamme röste?“

„Nö“, sagte der Goblin. Er hielt dem Dämonenkönig eine lange Liste hin. „Wir haben vergessen, die Bestellung an Rewe zu schicken. Und jetzt ist die Speisekammer leer. Wir haben Hunger.“ Wirklich, der Bauch des Goblins knurrte laut. Es klang, als säße darin ein aufgebrachter Bernhardiner fest.

Oh. Der Dämonenkönig schnappte sich die Liste und drehte sich um. Dann kramte er unauffällig seine Lesebrille aus dem Futter seines Umhangs. Mit seinen 5000 Jahren war er ein wenig kurzsichtig.

Es war eine lange Liste. Sie begann mit Instant-Nudeln für die Mikrowelle. Das war nicht verwunderlich, Goblins waren hervorragende Kämpfer und wachsame Wächter, aber wirklich miese Köche.

Der Dämonenkönig zückte sein Smartphone. Die Gesichtserkennung lächelte ihn an und der Bildschirm wurde hell. Er begann, wild darauf herum zu tippen. „Wie ist nochmal das Passwort…“, murmelte er.

„Gurkensalat666,“ half der Goblin weiter und leckte sich mit seiner grünen Zunge über die Hauer, die aus den Mundwinkeln ragten.

„Richtig.“ Der Dämonenkönig loggte sich ein und begann, die Bestellung zusammenzustellen und abzuschicken. Dann wollte er nur schnell die Kursverläufe seiner FAANG-Aktien überprüfen, als…

„Boss?“

„Ja? Was denn noch?“

„Wir haben immer noch Hunger!“

„Bestellt Pizza!“

„Geht nicht. Weißt du noch, der Pizzabote war zu spät das letzte Mal, da hast du ihm einen Fluch mit zurück ins Restaurant gegeben. Es ist bankrottgegangen. Eine unglückliche Mischung aus Ratten, Schimmel und Gewerbeaufsicht.“

Der Dämonenkönig nickte zerstreut. „Stimmt.“ Er überlege. „Dann eben Döner.“ Ein paar schnelle Tippser später hielt er sich das Handy ans Ohr. Es klingelte. Sechsmal.

„Dönerparadies. Die saftigste Versuchung seit es Döner gibt?“

Im geschäftsmäßigen Tonfall ratterte der Dämonenkönig die Bestellung herunter, legte auf und reichte dem Goblin seinen Geldbeutel. „Gebt ein gutes Trinkgeld. Das ist der letzte Dönerladen im Umkreis, den wir noch nicht verschreckt haben. Ich kann nicht schon wieder ein Gedächtnis löschen.“

Dann setzte er sich wieder auf seinen Thron. Die geschickt platzierten Spots hinter ihm hüllten sein Gesicht in tiefe Dunkelheit. Der Dämonenkönig wartete geduldig. Zwar kam heute kein Held, um den Schatz zu bergen, aber wenigstens kam der Lieferdienst. Little pleasures!

Auf Samstag folgt in den meisten Fällen ein Sonntag.

Die überregionale Gewerkschaftsversammlung unterbezahlter Minions und Monster fand nur einmal im Jahr statt. Eben dorthin waren die Goblins aufgebrochen und hatten im Dungeon Ruhe, Frieden und Staffel 2 von The Boys für ihren Herrn und Meister zurückgelassen.

Der Dämonenkönig seufzte zufrieden und steckte sich zwei Bonbons in den Mund. Er griff nach der Fernbedienung und wollte eine weitere Folge starten.

„Krawummms!“

Was war das? Der Dämonenkönig schaltete den Flatscreen TV ab, der den Wink verstand und lautlos unter einer unauffälligen Bodenklappe verschwand. Er warf die Fernbedienung zu den Schoko-Minzonbons in die Schatztruhe. Hinter seiner gehörnten Stirn spielten zwei Gedanken Hasch-mich:

Welcher seiner gewerkschaftlich geschützten Goblins war so dämlich gewesen, die große Fallgrube im Gang auszulösen?

Und war es vielleicht vertretbar, den Störenfried bis zum Staffelfinale in der Fallgrube schmoren zu lassen?

Ein Gedanke gewann beim Hasch-mich knapp: ein Goblinstreik im Dungeon brächte wahrscheinlich mehr Unannehmlichkeiten mit sich als eine kurze Streamingpause. Der Dämonenkönig seufzte vernehmlich und erhob sich.

Als er an der Tür ankam, strich er sorgfältig seinen nachtschwarzen Umhang zurecht. Schließlich war es wichtig, den Goblins wenigstens ab und an zu zeigen, dass er noch immer ihr Herr und Endboss war. Und besagter Herr und Endboss war gerade verärgert - die letzte Folge hatte mit einem Cliffhanger geendet.

Als der Dämonenkönig die Tür des Thronsaales öffnete, war er von schwarzem Rauch umgeben. Seine Augen glühten in der Dunkelheit und seine Stimme hallte von den Wänden wider: „Wer wagt es mich zu stören!“ Er war sehr zufrieden mit seinem Auftritt.

„Out Time!“, schallte es ihm durch den Gang entgegen. „Echt, wir werden uns beim Veranstalter beschweren, die Fallgrube ist viel zu tief!“

Der Dämonenkönig erstarrte. „Entschuldigung?“, bot er verwirrt an.

„Hilfst du uns bitte mal? Ich glaube er hat sich verletzt. Sebi, alles klar bei dir?“ Die Frage schien der Person in der Grube zu gelten, denn es antwortete jemand mit einem Stöhnen und sagte dann: „Geht so. Aber Aufstehen ist nicht drin.“

Vorsichtig näherte sich der Dämonenkönig. Im Vorbeigehen aktivierte er mittels geheimer Schalter zwei Scheinwerfer und brachten etwas mehr Licht in die Situation: Vor ihm im Gang standen zwei Gestalten. Die eine trug eine nachtblaue Polyesterkutte und einen spitzen Hut. Die zweite Gestalt, ein Mann mit Bart, kniete auf dem Boden, neben der heruntergeklappten Falltür und leuchtete mit einer Taschenlampe in die Tiefe. Er sah ziemlich jung aus, so wie alle Menschen, und trug einen Helm mit zwei Plastikhörnern. Neben ihm auf dem Boden lag eine realistisch anmutende Streitaxt aus Schaumstoff. Gerade beugte er sich über die Grube.

„Sebi, ich lass dir mein Seil runter. Dann kannst du dich hochziehen.“

„Sonst noch Wünsche? Ruf einen Spielleiter. Ich brauch einen Krankenwagen. Das Bein ist echt gebrochen hier!“

Ein kurzer Gedankenflash zeigte dem Dämonenkönig einen Krankenwagen vor dem Dungeon-Eingang und Sanitäter, die den Pfeilfallen im vorderen Gang zum Opfer fielen. Er verbannte den Gedanken in den hintersten Teil seines Kopfes.

„Hey!“ Der junge Mann mit dem Helm sah den Dämonenkönig mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Hast du ein Handy?“

„Ja?“

„Würdest du dann bitte die Notfallnummer vom Veranstalter anrufen?“

„Welche… ich meine, ja, natürlich!“

Der Dämonenkönig zückte sein Smartphone. Er hatte nicht vor, irgendjemand anzurufen. Wie war er nur jemals auf die Idee gekommen, dass Eindringlinge im Dungeon etwas Erstrebenswertes waren! Vor allem waren sie lästig und störten seinen gemütlichen Streaming-Nachmittag! Darum tippte er nun ein wenig auf dem Smartphone herum, öffnete die Wetter-App und erzählte ihr von dem unglücklichen Unfall. Als er „auflegte“, sahen ihn die beiden Eindringlinge erwartungsvoll an.

„Äh. Keine Sorge. Alles wird gut.“ Die Worte fühlten sich so falsch an, dass der Dämonenkönig sich beinahe daran verschluckte. „Bis die, äh, Hilfe auftaucht, sollen wir eurem Freund schon einmal aus der Grube helfen.“

„Wirklich, das haben die Leute vom Rettungsdienst gesagt? Ich bin mir nämlich sicher, dass…“

„Schweig still, Sterblicher und wage es nicht, meine Weisheit infrage zu stellen!“ Die Stimme des Dämonenkönigs grollte den Gang entlang. Als sie die nächste Kurve erreichte und nach einer Möglichkeit für ein phänomenales Echo suchte, hatte ihr Besitzer sich schon wieder gefangen. „Ich meine, doch, äh, genau das haben sie gesagt. Ehrlich. Der Notarzt ist nicht schwindelfrei und behandelt nicht in Fallgruben.“ Mit diesen Worten trat er einen Schritt nach vorne und sprang in die Tiefe.

Die nächsten Minuten lehrten den Dämonenkönig zwei Dinge: Zum einen, dass ihm übel davon wurde, Flüche diametral entgegen ihrer ursprünglich geplanten Wirkung einzusetzen. Zum anderen, dass Menschen bereit waren, das Unmögliche problemlos zu akzeptieren, wenn man ihnen nur eine vermeintlich logische Erklärung bot. Er kniete in den Überresten morsch gewordener Holzspieße und war froh, dass Reparaturen nach Gewerkschaftsrecht nicht in den Aufgabenbereich der Goblins fielen. Sechsmal tätschelte er den Knöchel des jungen Mannes, der ein Lederwams aus Velours und nur ein spitzes Plastikohr trug. „Du hast dich geirrt. Da ist nichts gebrochen. Das ist höchstens ein blauer Fleck“, würgte er hervor und spürte, wie der umgekehrte Fluch seinen Magen zum Achterbahn fahren zwang.

Vorsichtig betastete der Spitzohrträger sein Bein und stand dann auf. „Stimmt“, sagte er begeistert. „Hey Leute, alles in Ordnung hier, bin wohl nur blöd aufgekommen! Wir können weitermachen!“

Wenig später war der junge Mann die verborgene Wartungsleiter der Grube emporgeklettert und bei seinen Gefährten im Gang angekommen. Auch der Dämonenkönig kletterte aus der Grube und richtete sich dann langsam auf. Sein Rücken hatte ihm den Ausflug übelgenommen und sein Magen meuterte immer noch. Er musterte die Eindringlinge vor ihm im Gang. Sie schienen auf etwas zu warten. Aber worauf?

„Wenn nun alles erledigt ist,“ meinte er unschlüssig und deutete dabei vage in Richtung Ausgang. „Wenn nun alles erledigt ist, können wir alle wieder mit dem weitermachen, was wir vorher gemacht haben?“ Er dachte dabei hoffnungsvoll an den Cliffhanger der letzten Folge. Und an eine Wärmflasche.

„Echt? Wir können der Endkampf noch spielen?“

Dem Dämonenkönig blieb vor Schreck die Luft weg. „Endkampf?“, japste er.

Die drei wackeren Helden schienen es nicht zu bemerken. „Klasse. Dann geh du zurück in den Thronsaal. Wir kommen gleich nach.“

Der Dämonenkönig war zu perplex, um diesem Plan etwas entgegenzusetzen. Er drehte sich wortlos um und ging. Hinter der geschlossenen Thronsaaltür blieb er einen Augenblick stehen und lehnte sich an das Holz. Sein Gehirn versorgte ihm mit möglichen Szenarien, wie dieser Tag enden konnte. Diese wirbelten in seinem Kopf herum und je länger sie das taten, umso klarer wurde dem Dämonenkönig folgendes: ja, das hier waren die ersten edlen Recken, die seine Ruhe seit mindestens 500 Jahren störten. Ja, es wäre befriedigend, sie nach allen Regeln der Kunst zu malträtieren. Aber wenn er heute in Ruhe seine Serie zu Ende schauen wollte, konnte er eines nicht brauchen: Leute, die diese drei hier suchten. Er hatte genug CSI gesehen, um zu wissen, dass eine Vermisstensuche für ihn lästig werden würde. Polizeiketten. Freiwillige. Hunde. Der Dämonenkönig schauderte. So viele Eindringlinge konnten die Fallgruben nicht aufnehmen.

Was hieß das für ihn? Der Dämonenkönig schloss kurz die Augen. Die Antwort gefiel ihm nicht besonders. Er atmete tief durch und durchschritt dann den Raum. Als er sich auf den Thron setzte und wartete, war darin diesmal keine Vorfreude zu finden.

„Stirb, Höllenbrut, und gib uns deinen Schatz!“

Völlig unüberraschend kamen drei edle Kämpfer für Liebe, Gerechtigkeit und Weltfrieden durch die Tür des Thronsaals gestürmt. Der Mensch mit der Axt schob sich den Helm ein Stück zurück und setzte zum Schlag an. Der Schaumstoff der Waffe traf den Dämonenkönig am Bein. „Au?“, bot der an und stand dabei auf. Im selben Moment traf ihn ein Gummipfeil am Bauch. „Muss das sein? Ich meine…“ er brauchte eine Weile, um sich auf eine Rolle zu besinnen. „Ich habe euch schon erwartet. Weicht zurück oder sterbt. Langsam. Bis ihr tot seid.“ Nach 500 Jahren war er, was Bedrohungen anging, etwas aus der Übung.

Die drei Helden bauten sich ihm gegenüber auf. „Wir sind gekommen, um den Schatz zurückzuerobern, den Ihr geraubt hab. Gebt ihn heraus, Missgeburt aus der Hölle!“

„Nicht persönlich werden. Ich meine: Niemals!“

Der Dämonenkönig richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Zwar durfte er den Kampf nicht gewinnen, aber vielleicht ließ sich das Gefühl von Beschämung und Schmach in seiner Magengrube durch ein wenig Theatralik besänftigen. Wenigstens schien es die Übelkeit des rückwärts gesprochenen Fluches endlich zu vertreiben. Gerade, als er seine Augen zum Glühen bringen wollte, hob der Möchtegernmagier im Polyerstermantel beschwörend die Hände und ratterte einen Text auf Lateinisch herunter.

Der Dämonenkönig sprach Latein fließend.

Was hier rezitiert wurde, war völlig sinnfrei.

Umso verwirrter war er, als ihn der Mensch am Ende seines Vortrages erwartungsvoll ansah.

„Und jetzt?“, fragte er zaghaft.

„Jetzt bist du tödlich verwundet und stirbst, so dass wir den Schatz mitnehmen können.“

Der Dämonenkönig schloss vor Scham die Augen. „Mir bleibt auch nichts erspart.“

Als die edlen Kämpfer mit dem Schatz abzogen, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass das Kartenwerk zum Dungeon für dieses LARP Wochenende nicht besonders gut gewesen war und dass er das bitte an die Organisatoren weitergeben sollte, sank der Dämonenkönig neben seinem Thron erschöpft auf den Boden.

Noch nie in seinem Leben war er so gedemütigt worden.

Wenigstens waren die Goblins nicht Zeugen seiner Schande gewesen.

Mit einer fahrigen Bewegung griff er nach der Fernbedienung. Wo war sie nur? Der Satz war kaum zu Ende gedacht, als der Dämonenkönig seinen Kopf schon auf die Sitzfläche des Throns krachen ließ. Er brüllte nicht. Jämmerliche Gestalten wie er verdienten es nicht, zu brüllen.

Die Fernbedienung lag in der Truhe bei den Schoko-Minz Bonbons. In genau der Truhe, die in diesem Moment von den drei Eindringlingen aus seinem Dungeon hinausgetragen wurde.

Als die Goblins an diesem Abend nach Haus kamen, fanden sie ihren Herrn und Meister in der Speisekammer mit einem großen Kübel Schokoeis. Ja, diese Reaktion war nicht besonders dämonenköniglich. Aber der ganze Tag war eine einzige Blamage gewesen. Da kam es auf ein wenig Schokoeis nicht mehr an.

Am Montag baute der Dämonenkönig ein Gitter an den Eingang des Dungeons und ersetzte den Thron durch eine gemütliche Sofaecke. Die Warterei auf edle Recken, die sich den hauseigenen Schatz unter den Nagel reißen wollten, überließ er ab jetzt lieber einer neuen Generation an Bösewichten. Er war ab heute offiziell im Ruhestand.

Lisa Lamm – Das Verbot der Freiheit

 

Der Wald darf nicht betreten werden. Dunkelgrün und leise liegt er hinter dem Dorf; eine undurchdringliche Mauer aus Ästen und Blättern. Niemand weiß, wie weit er sich erstreckt oder was sich hinter den dichten Eichen verbirgt.

Jedenfalls soll es niemand wissen.

Es ist sogar verboten den Fluss zu überqueren, der das Dorf von dem Wald trennt. Nicht mal an das hohe Schilf, das den Fluss hinter sich verbirgt, darf man herantreten. Eine Brücke über den Fluss gab es noch nie.

Jedenfalls wird es so erzählt.

 

Und dennoch: So lange Anna denken kann hat sie das unerschütterliche Gefühl, fast das Wissen, dass sie den Fluss überqueren muss. Solange sie denken kann, fühlt sie, dass der Fluss zum Leben erwacht, wenn sie sich ihm nähert. So als würde Anna ihn ebenso anziehen wie er sie.

 

Annas Vater ist der Bürgermeister des Dorfes. Fünfzehn Jahre ist es her, als er sich aufstellte und mit fast kompletter Mehrheit gewählt wurde. Anna konnte zu jener Zeit gerade mal sprechen. Seitdem erzählt er ihr Geschichten über den Fluss. Und über den Wald. Fast jeden Abend.

„Der Tod lauert dort, glaube es mir.“

Es ist wie immer. Vater erzählt von Frauen, die durch den Fluss wateten und ertranken, oder im Wald verschwanden und nicht wieder auftauchten.

„Hexen gibt es dort, die euch ins Verderben locken.“

Er berichtet von furchterregenden Rufen, die nachts aus dem Wald schallen und jede Dorfbewohnerin, die zu nah am Wald steht und jene Rufe hören kann, in den Tod reißen.

„Die Rufe, diese schrecklichen Rufe. Die haben die Frauen verführt.“

Anna hört zu. Nickt. Eine mechanische Bewegung, geübt und perfektioniert.

 

Annas Vater dreht sich um zu seiner Frau, die schräg hinter ihm auf dem Sessel Platz genommen hat.

„Diese Tochter vom Nachbarn war gestern wieder so nah dran.“

Annas Vater verzieht seine Mundwinkel nach unten. In seinen Augen funkelt Ekel. Annas Mutter sagt nichts. Vater dreht sich wieder zu ihr.

„Du machst das nicht, verstanden?“

Anna bejaht. Wie jeden Abend. Meist reicht ein Nicken nicht, sondern mehrere.

„So sind wir nicht.“

Anna nickt ein letztes Mal und dabei sieht sie vorbei an ihrem Vater, blickt über seine Schulter zu ihrer Mutter. Ihr Blick ist leer, aber auch sie nickt, wie aus Reflex, als sei sie ein Spiegelbild Annas.

Der Bürgermeister lehnt sich zufrieden zurück in seinem Sessel und bleibt stumm.

Endlich.

 

Am nächsten Abend trifft Anna zum ersten Mal den Entschluss sich dem Fluss zu nähern.

Die Nachbarstochter ist mittags nicht in der Schule aufgetaucht. Als Anna ihren Vater fragte, wo sie geblieben war, kam keine Antwort. Ihre Mutter murmelte auf dieselbe Frage etwas von einem Internat und ließ Anna dann im Wohnzimmer stehen.

Seitdem wusste Anna, dass sie es der Nachbarstochter gleichtun würde. Der leere Platz im Klassenzimmer vorne vor dem Pult hatte in ihr etwas auflodern lassen.

Und so läuft Anna an jenem Abend zum ersten Mal an der Kirche vorbei. Durch den Kräutergarten des Pfarrers, über den kleinen Holzzaun, der vor Jahren um das Dorf gebaut worden war, und die letzten Schritte zum hohen Gras, hinter dem der Fluss liegt.

 

Es ist bereits dunkel, und der Schnee fällt so stark, dass Anna nur wenige Meter weit sehen kann. Wie ein schützender Schleier hüllen sich die dichten Flocken um ihren Körper und bieten ihr Schutz.

Kurz redet Anna sich ein, das dichte Gras des Flussufers unter Ihren Stiefeln zu spüren, ohne bewusst dort hingelaufen zu sein. Aber sie weiß es besser. Sie will hier sein. Will endlich alles erfahren.

 

Dunkel und fast regungslos wie flüssiger Teer liegt er dann vor ihr. Der Fluss, den sie siebzehn Jahre lang nur aus sicherer Entfernung beobachtet hat. Fast glaubt Anna, dass der Fluss sie trüge, wenn sie einfach weiterginge. Sie denkt an die Geschichten ihres Vaters und spürt sich nicken. Das Lächeln gefriert auf ihren Lippen, aber Angst ist da nicht.

Sie ist plötzlich entschlossen.

 

Und so bleibt sie trotz der Worte Ihres Vaters, die ihr durch den Kopf schießen, dort stehen, im nassen Gras. Ihr ganzer Körper bebt voller Spannung.

Weder vor noch zurück bewegt sie sich und starrt immer weiter in das dunkle Wasser zu ihren Füßen. Schon bald bemerkt sie, wie die Schneeflocken immer wieder die eisig wirkende Oberfläche des Wassers durchbrechen und so die Illusion der Festigkeit des Wassers zerstören. Sie bringen es zum Tanzen, beleben es, und nach einiger Zeit hat Anna das Gefühl, das Wasser brodeln zu sehen. Es wölbt sich um jede einzelne antreffende Schneeflocke, die durch ihr Gewicht eigentlich kaum Einfluss auf das Wasser haben sollten.

 

Neben dem Rauschen des Schnees liegt bald auch das Plätschern des Flusses in der Luft.

 

Und dann ist es plötzlich hell. Nicht um Anna herum, sondern unter ihr im Fluss. Wie kleine Glühwürmchen blicken aus den Tiefen des Wassers plötzlich Lichter hervor, immer und immer mehr, bis ein Meer aus leuchtenden Sternen vor Anna liegt.

Annas Herz schlägt schneller. Ihre Beine werden kaum merklich lebendig. Als wollten sie Anna dazu zwingen näher an den Sternenhimmel hinter dem letzten bisschen Gras zwischen ihr und dem Flussufer heran zu treten.

 

(Der Tod lauert dort, glaube es mir.)

 

Dann bemerkt Anna es. Die Lichter sind nicht im Wasser. Dort verstecken sich keine kleinen Anglerfische, keine schwimmenden Irrlichter. Nein, jedes der kleinen Lichter verzerrt und windet sich mit jeder neuen Schneeflocke, die auf die Flussoberfläche tritt.

Spiegelbilder.

Die Erkenntnis kommt wie ein Schlag und lässt Annas Herz augenblicklich höherschlagen. Die Lichter kommen nicht aus dem Wasser, sondern spiegeln sich nur dort.

 

(Diese Rufe, diese schrecklichen Rufe.)

 

 

Der Gedanke ihren Blick vom Wasser abzuwenden und den Ursprung der Lichter zu erblicken ist kaum entstanden, da hebt sich ihr Kopf bereits. Fast wie von selber. Der Wald ist plötzlich nah, unglaublich nah, und zum ersten Mal hört Anna das Knarren der alten Eichen, die nun nur wenige Meter von ihr entfernt ganz nah an der anderen Seite des Ufers stehen.

 

(Hexen, die dich ins Verderben ziehen.)

 

Und dann sieht Anna sie. Tausend kleine Lichter, die zwischen den dichten Bäumen hervorblinken. Sie tanzen, wild und dennoch unendlich beruhigend, und Anna spürt wie jede Faser ihres Körpers danach schreit ein Teil des Lichtermeers zu werden. Etwas in ihr glaubt, weiß gar, dass sie dort hingehört. Sie gehört auf die andere Seite des Flusses.

Sie gehört in den Wald.

 

Und dann ist sie plötzlich dort.

 

Das Plätschern des Flusses, dass vor einem Augenblick noch wie eine Verlockung vor ihr lag, ertönte nun hinter ihrem Rücken. Beruhigend und klar.

 

Wie in Trance läuft sie auf den Wald zu. Denkt an das Gesicht ihres Vaters. Denkt an die Falten um seinen Mund, wenn er seine Geschichten erzählt. Denkt an die Wut, die in jenen Momenten in seinen Augen steht.

Sie denkt an das Gesicht ihrer Mutter.

Denkt daran, wie sie Anna ansieht, wenn ihr Vater seine Geschichten erzählt. Denkt an ihre glasigen Augen und diesen Blick, den sie nie deuten konnte.

Bis jetzt.

 

Sehnsucht,

Bedauern,

Verlangen.

 

Die Gefühle überkommen Anna. Als wenige Momente später unzählige Frauengestalten zwischen den Bäumen hervortreten, erkennt Anna den Blick ihrer Mutter in den ihren.

Und sie erkennt den Blick in der Art und Weise, in der sich ihr eigenes Gesicht verzieht.

 

Sehnsucht,

Bedauern,

Verlangen.

 

Frieden.

 

Anna tritt näher. Die Frauen lächeln und Anna erkennt sich selbst. In der Tochter des Nachbarn. In der Schwester des Pfarrers. In ihrer alten Englischlehrerin. In der Tochter der Lehrerin.

 

(Die haben die Frauen verführt.)

 

„Anna!“

 

Der Schrei wird über den Fluss geschleudert.

Ihr Name, wie eine Anschuldigung, eine Warnung.

 

„Anna!“

 

Ihr Name, voller Verzweiflung.

 

Anna dreht sich um.

Der Bürgermeister steht auf der anderen Seite des Flusses, weit hinter dem Ort, an dem das hohe Gras beginnt. Das Schneegestöber hat sich gelegt, fast als sollte Anna ihn sehen.

Er sieht klein aus, und wirkt viel weiter weg als er eigentlich ist.

 

Währenddessen bemerkt Anna wie es hinter ihr noch heller wird.

Und dann versteht sie. Die tanzenden Lichter sind keine Glühwürmchen, sondern kleine, schimmernde Wesen.

Feen.

Das Wort bildet sich in Annas Kopf wie eine Tatsache, sicher und ohne Überraschung.

 

Feen.

Hexen.

Magie.

 

Anna spürt wie Wärme durch sie schießt. Durch Ihre Arme bis in ihre Hände. Sie dreht sich wieder um, dreht dem Bürgermeister den Rücken zu, und findet sich plötzlich in der Mitte der Frauen. In der Mitte der Bäume. Vielleicht ist sie unwissentlich näher gerückt, vielleicht kam der Wald aber auch näher zu ihr.

Jedenfalls ist sie nun sicher.

 

Ihr Blick trifft nach und nach den der Frauen. Mit jedem freundschaftlichen Nicken scheint sich die Wärme in Annas Händen weiter auszubreiten bis Anna sie hebt und ihre bebenden Finger untersucht. Sie sehen aus wie immer. Aber Anna weiß, dass sie verändert sind. Als sie es den Frauen gleichtut und ihre Hände dann erhebt, mit gespreizten Fingern und offenen Handflächen, beugen sich die Bäume um sie herum fast unmerklich.

Sie halten schützende Äste über sie und die Frauen. Die kleinen Wesen flirren zwischen Ihnen umher und als Anna einen letzten Blick über ihre Schulter wirft, verwischen die Lichter ihre Sicht auf den Bürgermeister.

 

Sie versteht nun alles.

Versteht die Kraft, die von den Frauen um sie herum ausgeht. Sie versteht das Licht, dass nicht nur von den kleinen Feen, sondern auch von irgendwo hinter den Bäumen zu ihr strahlt.

Sie versteht die Wärme, die sie umgibt.

 

Als sich die Bäume endlich hinter ihr verschließen und sich der Wald um sie zu verdichten scheint, hat Anna keine Angst. Sie hört die letzten Rufe des Bürgermeisters nicht, sondern sieht nur das leise Lächeln ihrer Mutter vor ihr.

Wie eine Vision der Zukunft.

 

Mit einem eigenen Lächeln ergreift Anna die ausgetreckte Hand der Nachbarstochter und folgt den Frauen tiefer in den Wald.

 

Julian Gräml – Das Versuchsobjekt

 

Ein guter Kobold lernte, die ihm angeborene Neugier zu unterdrücken. An jenem Tag endete Fouras Laufbahn als gute Koboldin.

"Glaubt Ihr, wir müssen ihn aufschneiden? Um zu sehen, wie er die Substanz verträgt?" Foura hatte nicht lauschen wollen - doch Geräusche trugen in den hohlen Korridoren des Anwesens außergewöhnlich gut, und der Meister hatte eine laute Stimme.

"Auch eine non-invasive Untersuchung könnte eine Vielzahl an Ergebnissen offerieren." Der andere Mann, ein Apotheker, quiekte beim Sprechen nervös. Foura duckte ihren Kopf - und die großen Ohren - hinter die kühlen Lehmziegel. Sie spürte die Katakombenfeuchte und lauschte gebannt.

"Gewisse Kausalitäten lassen sich allerdings nur durch eine saubere Öffnung eruieren. Dürfte ich fragen, zu welchem Zweck Ihr dieses … Objekt zu untersuchen gedenkt?"

Foura nahm all ihren Mut zusammen und wagte einen raschen Blick auf das "Objekt". Im Labor des Meisters war es finster, das einzige Licht kam von den Blauflammlampen, die spärlich über den Korridor verteilt waren. Für das Wesen, das auf dem Versuchstisch lag, musste es dunkel sein, wie im Hintern eines Straßenköters. Fouras Koboldaugen sahen alles, und der Anblick sandte ein Kribbeln durch ihren Körper.

Es war nicht so, dass sie noch nie einen Menschen gesehen hätte. Noch mehr hatte sie natürlich gehört - über jene unförmigen Wesen, die sich in den nördlichen Dreckspfuhlen ihre Schädel um Land und Kronen einschlugen.

"Ich bezahle Euch gut, nicht nur für Eure Heilkünste." Der Meister schlug jenen verächtlichen Ton an, mit dem er seine Gehilfen zu tadeln pflegte.

"Verschwiegenheit ist von äußerster Bedeutung, und ich gedenke, sie mit allen Mitteln durchzusetzen."

"Ihr könnt Euch meiner Diskretion sicher sein", sagte der Apotheker, und ergänzte nach einer kurzen Pause: "Ein geschäftliches Dilemma?"

"Was soll's, ja ist es. Hedderlek, der verkniffene Alte, hat sich in den Kopf gesetzt, seine Besitztümer mit Menschenwachen zu umgeben. Dieses minderwertige Getier, stellt Euch das vor!" Der Meister gab seine Geheimnisse nur Preis, wenn er erregt war. Ein Grund mehr, zu verschwinden. Und ein Indiz, dass diese Unterhaltung interessant wurde.

"Ich begreife", quiekte der Apotheker. "Die unentgeltlichen Akquirierungen, die Ihr aus Herrn Hedderleks Schatzkammern tätigt … blickt nicht so böse, jeder, der in dieser Stadt etwas auf sich hält, weiß davon."

"Jeder, außer Hedderlek selbst", sagte der Meister. "Diese 'Akquirierungen' bedürfen allerdings einer gewissen Bestechlichkeit der Wächter."

"Die sich im übermäßigen, gesundheitsschädigenden Konsum des Suds ausdrückt?"

"Ganz recht, nur geben sich unsere neuen Wächter davon unbeeindruckt."

Foura spähte um die Ecke, nur um zu sehen, wie der Meister mit dem erschlafften Arm des Menschen herumwedelte. Der Apotheker mit seinem schwarzen Krausebart wuselte dazwischen, als wolle er nicht, dass sein wertvolles Versuchsobjekt zu Schaden komme.

Sud also. Die pechschwarze Brühe war verwässert in jeder Gosse der Stadt zu bekommen. Foura hatte einmal den Fehler begangen, mit den anderen Lehrlingen einen Sudschenker aufzusuchen, trotz des meisterlichen Verbotes. Natürlich trank auch der Meister im Geheimen: der Sud der reichen Leute war brodelnd heiß, aus teuren Gashelark-Bohnen und mit Wüstenschiffmilch versetzt. Foura war an jenem Tag mit benebeltem Schädel in einer Gasse weit fort vom Anwesen des Meisters aufgewacht. Denna - ein in jedem Sinne nüchternes Mädchen - hatte damals über sie gewacht, sie vor den Gefahren der Straße behütet. Zum Dank hatte Foura ganze drei Tage lang davon abgesehen, über Dennas Unterwürfigkeit vor dem Meister zu lästern.

"Dieses Objekt ist einer der Wächter?"

"Nur irgendein Streuner, ist einerlei. Entweder sind sie alle immun, oder nur der eine. Beides bietet Möglichkeiten."

Apotheker wie Meister hatten ihr den Rücken zugekehrt. Fürs Erste konnte Foura gefahrlos spitzeln.

"Verstanden." Der Apotheker deutete eine Verbeugung an, wobei sein Bartgestrüpp herumtanzte.

"Die Arbeit hat Zeit. Gehen wir hinauf in meine Kammern, trinken auf die Zusammenarbeit."

"Thematische Vorbereitung durch praktische Experimente?"

Der Apotheker gluckste, wie es nur alte Leute tun. Foura rollte mit den Augen. Es wurde langsam brenzlig. Sie huschte hinter die Mauerecke, spähte den Gang hinab, und verfluchte den Einrichtungsstil ihres Meisters. Der Gang war kahl, blanker Lehmstein bis hinter zu den Treppen. Nur die Blauflammer flackerten vor ihren Augen.

Manchmal schickte der Meister sie herab, um die Lampen zu entzünden. Es war einfachste Koboldmagie. Ein Hauch Goldstaub, und die Flamme glomm auf. Foura hatte immer ein Päckchen in der Tasche, für alle Fälle.

Konzentrier dich auf das Wichtige, mahnte sie sich. Vor einem Menschen konnte sie der Schatten vielleicht verbergen, aber dem Blick des Meisters würde sie nicht entgehen. Ihr Herz begann zu flattern. Konnte sie die Treppen rechtzeitig erreichen, ohne dass die Männer sie hörten?

Schritte näherten sich.

"Ich bin sicher, Eure Novizen werden uns ein exquisites Gebräu bereiten."

"Wenn nicht, wird sich eine Möglichkeit finden, ihnen die Ohren länger zu ziehen. Man darf mit seinen Lehrlingen nicht zu lasch umgehen, sonst werden sie aufmüpfig. Besonders die Neugierigen muss man hart bestrafen."

Erinnerungen an Tage, an denen ihr Hintern so geschmerzt hatte, dass sie nicht mehr sitzen konnte, und ihre Ohren auf das Doppelte ihrer üblichen Größe geschwollen waren, drängten sich in Fouras Gedanken. Bei der Verstecksuche halfen sie nicht.

Die Schritte wurden lauter. Zu nah, um noch wegzulaufen. Wenn der Meister ihr Gesicht nicht erkannte, am Zopf würde er sie ausmachen können. Verfluchte Eitelkeit. Warum hatte sie ihn nicht abgeschnitten, wie all die anderen Lehrmädchen?

Foura drückte sich, so gut es ging, an den feuchten Stein. Das Päckchen Goldstaub knirschte in ihrer Tasche.

Das brachte sie auf die Idee. Lautlos huschte Foura zum nächsten Blauflammer. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Meister und sein Gefährte auf den Gang traten.

Ein Hauch Goldstaub sollte reichen, um die Lampe zu entzünden. Ein ganzes Päckchen dagegen …

"Was ist eigentlich den obsoleten Wächtern unserer höchsteigenen Gattung zugestoßen?"

"Übliche Behandlung. Hedderlek hat sie irgendeines Vergehens bezichtigt. Niemand hat gewagt, ihm zu widersprechen."

"Stigmatisation und Exilation in die Menschenimperien? Na, das Brandmal wird sie lehren, nicht zu -"

Foura hauchte.

Der Apotheker schrie. "Meine Augen!"

Foura stand reglos da, die flache Hand am Mund, die Lippen gespitzt. Ein paar Körner des Goldstaubs hatten den Blauflammer verfehlt und kitzelten sie in der Nase. Der Großteil jedoch hatte die Lampe zum Gleißen gebracht, als wäre sie das Sonnenfeuer selbst.

"Was soll das?", rief der Meister. Foura widerstand dem Drang, die Augen zu öffen. Noch durch ihre Lider war die Welt in blendend helles Licht getaucht.

Wieder Schritte. "Flammerschmiede … verlangen Unsummen für ihre Erzeugnisse, trotzdem haben die Dinger alle halbe Nase Fehlzündungen. Lasst Euch davon nicht beirren, Herr Apotheker."

Die Schritte waren ganz nah. Halb spürte Foura den Griff ihres Meisters am Kragen. Doch die Stiefeltritte entfernten sich wieder - der zielsichere Marsch des Meisters und das Schlurfen des Apothekers. Als sie den halben Treppenabsatz hinter sich gelassen hatten, wagte Foura es, die Augen zu öffnen.

Beinahe hätte sie laut gelacht. Sie hatten sie tatsächlich übersehen. Dunkelheit konnte die arbeitsamen Kobolde nicht narren - aber lichtscheu waren sie wie Blutsauger.

Foura blieb im Lichtschein des Flammers, der langsam abglomm, und überlegte, was sie nun tun sollte. Ihre Vernunft pochte, die Treppen rasch hinaufzuschleichen, den Vorfall zu vergessen.

Doch im Labor lag ein echter, leibhaftiger Mensch. Ein guter, meistertreuer Kobold hätte seine Neugier unterdrückt.

Das Labor war spärlich eingerichtet. Ein paar Tischchen hier, dort ein Schemel; Kristallgläser, in denen Flüssigkeiten aller Höllenfarben schwammen; ein Haufen Messer und Skalpelle, die der Apotheker liegengelassen hatte.

Der Meister experimentierte gerne mit seinen Substanzen. An guten Tagen bat er gar einen Lehrling um Hilfe. Foura war der stechende Geruch von Salpeter, der in der Luft hing, wohlbekannt, doch hatte bei all ihren Besuchen noch nie ein Mensch auf dem Versuchstisch gelegen.

Vorsichtig trat sie an den Körper heran. Er war groß - im Stehen überragte er sie sicher um fünf Ohrlängen - und nackt.

Seine Roben - der schmutzige Haufen musste der Größe nach ihm gehören - hatten Meister und Apotheker achtlos in den Staub geworfen.

Fasziniert betrachtete Foura das Antlitz des Menschen: Nussfarbene Haut, etwas dunkler als die ihre. Als Foura sich überwand, seine Wange zu betasten, fühlte sie sich weich und … aufgedunsen an - ganz anders als ihre Lederhaut. Und wie haarig der Mensch war. Sein ganzer Schädel war von samtigen, schwarzen Strähnen überwuchert. Foura betastete den seidigen Zopf, der den Neid einer jeden Koboldfrau auf sich ziehen würde … und schrak zusammen.

Fouras spitzer Schrei geisterte durch die Gänge. Die Brust des Menschen hatte sich gehoben. Er lebte!

Plötzlich hörte sie Geräusche auf dem Gang. Der Meister?

Mit klopfendem Herzen spurtete Foura hinaus. Der Blauflammer hatte sich inzwischen beruhigt. Ein zweites Mal würde die List nicht funktionieren. Es rührte sich aber ohnehin nichts, vor dem sie sich verbergen musste.

Foura war keine leichtfertige Närrin. Um sicher zu gehen, schlich sie den Gang in voller Länge ab. Bei den Lagerräumen, wo der Meister seine - inoffiziell gehandelten - Substanzen aufbewahrte, fand sie niemanden. Also eilte sie zurück zur Treppe.

Oben waren leise Stimmen zu hören. Eine Bewegung auf dem Treppenabsatz? Nur Einbildung. Die Stimmen gehörten Rud und Denna. Sie stritten sich, wer die Vorkammer zu fegen hatte.

Dennoch war Foura gewarnt. Sie hatte nicht mehr viel Zeit bis zur Rückkehr des Meisters. Doch der Gedanke, dass der Mensch lebte - fürs Erste - gab ihr keine Ruhe. Wenn sie jetzt nicht versuchte, mit dem Wesen zu reden, würde sie es ihr restliches Leben lang bereuen.

Also zurück zum Labor. Foura merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Skalpell und Reagenzien waren noch da - der Mensch und seine Roben nicht. Der Meister würde sie umbringen.

Die Flucht hinauf in die Vorkammer glich einem Traum - einem schrecklichen Albtraum. Foura flog an dem schweren Gobelin vorbei, der den ersten Absatz zierte.

"Habt ihr ihn gesehen?", schleuderte sie Rud und Denna entgegen, die beide ein Ende des Besens hielten und ihn, um dem Meister zu gefallen, für sich beanspruchen wollten. "Hier in der Vorkammer. Den Riesen!"

Verdutzte Blicke. Idioten, dachte Foura und blickte sich fieberhaft um. Wenn der Mensch kein vollkommener Narr war, hatte er sich nicht weiter ins Anwesen verkrochen, sondern den Weg von der Vorkammer nach draußen gewählt.

Plötzlick klapperte der Besen zu Boden. Rud deutete mit klaffendem Maul auf etwas hinter Foura. Trotz seiner Größe war der Mensch erstaunlich gewandt. Sein Versteck, der Gobelin, wehte noch nach, als er die Treppen längst hinaufgesprintet und durch die Vordertür verschwunden war.

Ohne auf ihre stotternden Lehrlingskumpanen zu achten, nahm Foura die Verfolgung auf. Zwischen der Vorkammer und den Toren des Anwesens lag ein weiterer Raum - liebevoll Vorvorkammer genannt -, von wo aus die Treppe zu den Gemächern des Meisters führte. Foura sah gerade die Außentür zufallen, als jemand ihren Namen rief.

"Du muss die liebreizende Foura sein, deren Qualidäden dein Meisser in den höchsten Dönen artikuliert hat." Es war der Apotheker, auf dem oberen Treppenabsatz.

"Muss mich beeilen - unterwegs im meisterlichen Auftrag."

Foura huschte zur Tür, doch der Apotheker war schneller. Fouras Gebete, er möge sich auf der Treppe ein Bein brechen, wurden nicht erhört. "Wieso denn so gehetzt, meine Liebe. Ein paar Worte, ein paar Worte."

"Ich habe es eilig", sagte Foura nachdrücklich. Der Apotheker versperrte ihr die Tür. An seinem Kinn hing ein einzelner Sudtropfen.

"Dein Meisser ist äußerst fidel, solch ein formidables Lehrmädchen in seinem Hausstand zu haben. Sicher überschüttet er dich mit Bonitäten."

Eher mit Hieben, wenn sie den Menschen nicht einfing.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752138597
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
Fabelwesen Drachen Fee Zwerge Elben Mystik Orks Schreibwettbewerb Anthologie Erzählungen Kurzgeschichten Fantasy Humor

Autor

  • Matthias Rieger (Hrsg.) (Autor:in)

Matthias Rieger, Jahrgang 1979, ist Diplom-Handelslehrer, Verleger und Herausgeber beim Verlag Traum³.
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Titel: Fantastische Welten 2020