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Geschichten vom Zauberwald

von Volker Friebel (Autor:in)
76 Seiten

Zusammenfassung

Als die Menschen sich über die Erde ausbreiteten, als sie einen Wald nach dem anderen fällten und das Land unter den Pflug nahmen, als sie die Sümpfe trocken legten und den Flüssen künstliche Betten gruben, da hielt es die Wesen der Anderwelt nicht mehr bei ihnen. Kobolde, Quellnymphen, Drachen und Hexen zogen sich in den Zauberwald zurück. Immer schwächer wurden die magischen Kräfte in der gerodeten Welt. Schließlich versiegten sie ganz. Im Zauberwald aber wuchsen sie mächtiger an als jemals zuvor. Menschen meiden den Zauberwald. Wenn eine neue Straße gebaut werden soll, macht sie einen großen Bogen um diese Berge und Täler. Es ist, als hätte der Ort eine Kraft, die sie abstößt. Umso beliebter sind die Geschichten vom Zauberwald. Vom Pfefferstein und dem Moorsee hören wir gerne, von der Einsiedelei an der Bärenklinge, der Bettelbrücke und der Tafelplatte – und natürlich von den seltsamen Wesen, die den Zauberwald bewohnen. Das Hexenmädchen Schummelfix, die Kobolde Klex und Klax, Hubertus vom Fliegenpilzladen und viele andere seltsame Wesen aus der wunderlich gebliebenen Welt haben ihre Abenteuer erzählt. Ein Mensch hat daraus ein Buch gemacht. Hier ist es, mit 29 Geschichten vom Zauberwald für kleine und große Leser!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

 

Als die Menschen sich über die Erde ausbreiteten, als sie einen Wald nach dem anderen fällten und das Land unter den Pflug nahmen, als sie die Sümpfe trocken legten und den Flüssen künstliche Betten gruben, da hielt es die Wesen der Anderwelt nicht mehr bei ihnen. Kobolde, Quellnymphen, Drachen und Hexen zogen sich in den Zauberwald zurück.

Immer schwächer wurden die magischen Kräfte in der gerodeten Welt. Schließlich versiegten sie ganz. Im Zauberwald aber wuchsen sie mächtiger an als jemals zuvor.

Menschen meiden den Zauberwald. Wenn eine neue Straße gebaut werden soll, macht sie einen großen Bogen um diese Berge und Täler. Es ist, als hätte der Ort eine Kraft, die sie abstößt.

Umso beliebter sind die Geschichten vom Zauberwald. Vom Pfefferstein und dem Moorsee hören wir gerne, von der Einsiedelei an der Bärenklinge, der Bettelbrücke und der Tafelplatte – und natürlich von den seltsamen Wesen, die den Zauberwald bewohnen.

 

Vom Goldtopf und dem Regenbogen

 

„Also, wie ist das nun mit dem Regenbogen?“, fragte Schummelfix ihre Mutter Ohme Besenstrich. Die war gerade mit der Zubereitung eines neuen Zaubermittels für das jährliche Wetthexen beschäftigt.

„Der Regenbogen ist eben der Regenbogen, er funkelt in allen Farben und zwar während oder nach dem Regen, und er sieht aus wie ein Bogen“, leierte sie herunter.

„Das weiß ich auch“, meinte Schummelfix.

„Warum fragst du dann und störst mich bei der Arbeit“, grummelte Ohme Besenstrich.

„Neulich“, erzählte Schummelfix, „neulich flog ich in die Welt hinein, bis ins Reich der Menschen, um einen Regenbogen zu suchen. Schließlich fand ich auch einen und wollte schauen, ob es stimmt, dass an seinem Fuß ein Goldtopf steht. Aber als ich auf ihn zuflog, verschwand der Regenbogen plötzlich – und dann sah ich ihn auf einmal hinter mir leuchten.“

„Seit wann hast du denn hinten Augen“, spottete die Mutter. „Oft glaube ich, du hast nicht mal vorne welche.“

„Als ich mich umdrehte, meine ich doch!“, regte sich Schummelfix auf.

„Und der Goldtopf?“, fragte die Mutter und lachte. „Ich hoffe doch, du hast mir ein paar Goldstücke für meine Sammlung mitgebracht.“

„Das meine ich doch gerade“, sagte Schummelfix. „So nah ich auch an den Regenbogen herankam, ich konnte nirgends seinen Anfang entdecken, also auch keinen Goldtopf.“

„Du wirst nur deine Augen wieder ganz woanders gehabt haben, wie immer, wenn du etwas Nützliches tun könntest“, meinte die Mutter.

„Nein, ich habe ganz genau aufgepasst. Je näher ich kam, umso durchsichtiger und verschwommener wurde der Regenbogen – und schließlich war er ganz weg.“

„Das ist doch sowieso alles Unsinn, mit dem Fuß des Regenbogens und dem Goldtopf“, meinte Ohme Besenstrich.

„Nein!“, protestierte Schummelfix. „Ich glaube“, fantasierte sie dann weiter, „das ist wie beim Vater Morgana in der Wüste.“

„Wie bei wem?“, fragte Ohme Besenstrich überrascht.

„Dem Vater Morgana“, wiederholte Schummelfix. „Von dem haben wir in der Schule gehabt“, erzählte sie dann. „Der erscheint auch plötzlich am Horizont, nur in der Wüste. Aber er verschwindet genauso wie der Regenbogen, wenn man näher kommt. Er funkelt allerdings nicht in allen Farben, sondern kommt jedesmal in einer anderen Verkleidung, so dass man ihn gar nicht wiedererkennt.“

„Was ihr heutzutage nicht alles für Unsinn lernt“, meinte Ohme Besenstrich. „Etwas Nützliches wäre doch besser. Zum Beispiel, wie man den Goldtopf vom Regenbogen findet. Zu meiner Zeit ... Aber das ist doch sowieso alles Unsinn. Jetzt hast du aber auch genug dumme Fragen gestellt, ab ins Bett! Es ist schon spät!“

Schummelfix zog ihr Nachthemd an und wollte ins Schlafzimmer gehen.

„Woher hast du denn diese Goldmünze?“, fragte Ohme Besenstrich plötzlich.

„Die?“, fragte Schummelfix scheinheilig und ließ eine große, schwere Goldmünze über den Küchentisch tanzen. „Ach die. Vom Goldtopf natürlich.“

Und damit verschwand sie im Bett.

 

Am nächsten Tag war schulfrei. Schummelfix stand spät auf, und Mutter Ohme Besenstrich war schon ganz ungeduldig, als ihre Tochter endlich erschien. „Schummelfix“, sagte sie streng. „Ich habe gestern Nacht das Goldstück in meinen Schatztopf getan und dann nachgezählt, und es fehlte ein Goldstück in meinem Topf. Das heißt, eigentlich fehlte keines, sondern es waren genauso viele, wie es hätten sein sollen, wenn ...“

„Wenn was?“, fragte Schummelfix unschuldig.

„Wenn ich mal annehme, dass du gestern bei deiner Geschichte vom Regenbogen und dem Goldtopf ganz schön geschwindelt hast.“

„Also“, begann Schummelfix, „ich hab nicht gesagt, aus welchem Goldtopf ich das Goldstück geangelt habe.“ 

„Das ist gemeiner Diebstahl!“, schimpfte die Mutter.

„Wieso, du hast das Goldstück doch wiederbekommen“, meinte Schummelfix. „Hätte ich es wirklich vom Goldtopf am Regenbogen genommen, dann wäre es gestohlen.“ 

Finster starrte Ohme Besenstrich ihre Tochter an. Aber langsam hellte sich ihr Gesicht wieder auf: „Du bist wirklich eine kleine Hexe, aber bei meiner Tochter habe ich nichts anderes erwartet.“

Und sie strich ihr liebevoll über das Haar.

 

Kleines Hexeneinmaleins

 

Noch gestern hatte Ohme Knorrinas ihr hundertfünfzigjähriges Jubiläum als Lehrerin an der Hexenschule gefeiert. Jetzt saß sie wieder auf ihrem Baumstumpf vor der Klasse und seufzte. „Also nochmal, Schummelfix“, sagte sie dann: „Wieviel ist eins und eins?“

„Äh“, murmelte Schummelfix und starrte ratlos auf die Tafel. „Also neulich, neulich wusste ich es noch.“

„Um es leichter zu machen: Nimm an, du hast schon einen Apfel und bekommst von Fizzewind noch einen Apfel dazu. Wieviele Äpfel hast du dann?“, half die Lehrerin.

„Also, ich glaube nicht, dass Fizzewind mir einen Apfel schenken würde, wenn ich schon einen hätte“, meinte Schummelfix. „Fizzewind würde seinen Apfel dann sicher selbst essen. Ich hätte also nur einen.“

„He“, protestierte Fizzewind, der Nebensitzer von Schummelfix, beleidigt.

„Nimm es einfach mal an“, sagte Ohme Knorrinas ungeduldig.

„Also, wenn ich schon einen Apfel hätte und Fizzewind würde mir tatsächlich noch einen dazugeben“, begann Schummelfix, „dann ... dann ... dann hätte ich immer noch nur einen Apfel. Denn ein Apfel, den Fizzewind mir schenkt, der ist sicher nichts wert, den kann man nicht zählen. Vielleicht hat er Würmer. Oder er ist faul.“

„Du sollst zählen und nicht herumfantasieren, ob die Äpfel gut oder schlecht sind“, kreischte Ohme Knorrinas, „das ist doch ganz gleich!“ 

„Also mir ist es gar nicht gleich, ob ich einen faulen oder einen guten Apfel esse“, meinte Schummelfix. „Aber ich kann dir gern morgen ein paar faule Äpfel mitbringen, wenn du sie mir gegen gute eintauschst.“ 

Ohme Knorrinas seufzte und versuchte, die Klasse zu beruhigen. „Also anders herum“, sagte sie endlich. „Nimm einmal an, du willst zwei Äpfel haben, einen für dich und einen, um ihn deiner Mutter zu schenken. Einen Äpfel hast du schon. Wieviele Äpfel musst du noch im Laden kaufen, um zwei Äpfel zu haben?“

„Das ist leicht, das weiß ich“, sagte Schummelfix stolz.

„Also?“, drängte Ohme Knorrinas. „Wieviele Äpfel musst du noch kaufen?“

„Gar keinen“, sagte Schummelfix. „Denn der gute Hubertus vom Fliegenpilzladen würde mir einen schenken. Und wenn nicht, dann kann ich mir mit dem Zauberspruch, den wir gestern gelernt haben, den Apfel einfach verdoppeln.“

Ohme Knorrinas schlug die Hände vors Gesicht und murmelte undeutlich etwas vor sich hin.

„Wenn du aber nicht hexen darfst, wieviele Äpfel musst du dann kaufen – oder meinetwegen, wieviele muss dir Hubertus dann schenken?“, versuchte sie es dann nochmal.

„Wenn ich nicht hexen darf“, sagte Schummelfix, „dann muss ich einen Apfel kaufen. Das wäre aber traurig, weil ich doch kein Geld habe.“ 

„Ja, traurig ist das, sehr traurig“, meinte Ohme Knorrinas und atmete tief durch. Sie sah sich um, wem sie die nächste Aufgabe stellen könnte. Aber da schlug der Specht die Schulglocke und alle rannten in die Pause.

Der verlorene Kamm

 

Die Tafelplatte ist ein langgestreckter Felsen am Moorsee, der einzige Ort, an dem einer trockenen Fußes durchs Moor bis ans Wasser gelangen kann. Das ist ein Treffpunkt für alle Geschöpfe des Moors und des Wassers. Salamander sieht man über den Felsen kriechen, Frösche und Molche sonnen sich dort – aber in vorsichtigem Abstand von der Ringelnatter. Obwohl der Felsen für alle zur Friedenszone erklärt ist.

Eines Tages saß die Nymphe des Moorsees auf der Tafelplatte und weinte Perlen. Sie hatte ihren goldenen Kamm verloren. Sonnenflinke Libellen, ihre liebsten Gefährten, flogen um sie herum und versuchten, sie zu trösten. Doch nichts konnte ihre Tränen stillen. Über die Wangen liefen sie ihr, rollten als weiße Perlen über die Tafelplatte und versanken im Wasser des Moorsees.

„Wir müssen ihr helfen“, raunten die Bewohner des Moorsees, die sich um sie versammelt hatten. Eine Kröte sprang aus dem Wasser und quakte: „Im See ist der Kamm nicht. Überall schon habe ich gesucht. Warum rufst du nicht einen Wettbewerb aus? Alle sollen nach deinem Kamm suchen. Und wer ihn findet, der bekommt von dir einen Kuss.“

„Einen Kuss?“, zögerte die Nymphe. „Ich habe noch niemals jemanden geküsst.“

„Deshalb strengen sich alle besonders an“, quakte die Kröte. „Wenn du nämlich nicht bald zu weinen aufhörst, wissen wir vor lauter Perlen nicht mehr, wohin. Der Seegrund ist schon voll damit.“

 

Das war zwar stark übertrieben, aber es musste etwas geschehen. Libellen verbreiteten die Nachricht im Wald. Die Bewohner des Zauberwalds ließen alles stehen und liegen und machten sich auf die Suche nach dem verlorenen Kamm.

„Einen Kuss? Von der Nymphe des Moorsees? Wir haben genug nach Eicheln gesucht, jetzt suchen wir Kämme“, piepsten die Eichhörnchen.

„Die Arbeit kann warten, das ist sie gewohnt“, riefen die Kobolde und tanzten über Täler und Hügel auf der Suche nach dem goldenen Kamm.

„Warum sich nicht einmal die Füße vertreten“, murmelte sogar der Zauberer vom Pfefferstein bei dieser Nachricht in seinen langen weißen Bart. „Vielleicht finde ich dabei zufällig den goldenen Kamm.“

„Ich helfe ihr auch ohne einen Kuss“, sagte das Hexenmädchen Schummelfix mitleidig, als es die Nachricht hörte. „Und du, Mutter?“, freute es sich, als sie Ohme Besenstrich nach ihrem Besen greifen sah.

„Natürlich, natürlich“, murmelte Ohme Besenstrich grimmig. „Aber wenn ich den Kamm finde, bekommt diese blöde Nymphe mit ihren Seufzern und ihrer Perlenüberschwemmung von mir ganz etwas anderes ins Gesicht als einen Kuss!“ Offenbar konnte sie die schöne Nymphe nicht leiden.

Der ganze Wald wurde durchsucht. Sogar bis in die Höhlen der Erdkobolde drangen die Suchenden vor. Der goldene Kamm aber tauchte nicht auf.

Die Nymphe saß noch immer auf ihrem Stein und weinte. So zahlreich waren die Perlen ihrer Tränen inzwischen geworden, dass einige in einen kleinen Abflussbach des Moors gelangen konnten und davongespült wurden. Die Frösche und Lurche und die flinken Forellen hatten allerhand damit zu tun, die Perlen zu verschlucken. „Sonst zieht ihr Glanz noch die Menschen hierher“, flüsterten sie. Aber nirgends konnten sie auch nur eine Spur oder ein Blinken des verschwundenen Kamms entdecken.

 

Auch Schummelfix war schon ganz mutlos. Kreuz und quer flog sie auf ihrem Besen über den Wald, um aus der Luft vielleicht irgend etwas sehen zu können. Plötzlich knallte es heftig. Sie war mit einer Krähe zusammengestoßen. „Oh je“, war ihr einziger Gedanke, dann schlug sie schon in das Blätterdach des Zauberwalds. Nochmal ein Kreischen und Federflattern – dann lag sie still.

Die Augen behielt sie lieber geschlossen und bewegte vorsichtig alle Glieder, langsam, eines nach dem anderen. Alles heil! Dann erst schlug sie die Augen auf. Sie war in einem Elsternnest gelandet. In einer Astgabel lag ihr Besen. Und da – unter einem ganzen Haufen gestohlener Sachen, sah sie auch den goldenen Kamm der Nymphe vom Moorsee glänzen. Jubelnd zog sie ihn heraus.

Die Nachricht vom Fund des goldenen Kamms verbreitete sich in Windeseile durch den Wald. Als Schummelfix mit dem Kamm an der Tafelplatte ankam, hatte sich dort schon alle versammelt und begrüßte sie mit Klatschen und Hochrufen. Verlegen reichte sie den Kamm der Nymphe vom Moorsee. Die Nymphe umarmte sie und gab ihr einen dicken Kuss.

Wieder flossen Tränen über die Tafelplatte und ins Wasser des Moorsees. Aber diesmal waren es Tränen der Freude.

 

Angeln

 

Klecks und Klacks, die beiden Koboldfreunde, versuchten sich am Moorsee beim Angeln. Einträchtig saßen sie nebeneinander auf der Tafelplatte in der warmen Nachmittagssonne und schwenkten ihre aus Haselzweigen selbstgebastelten Ruten. Als Köder hatten sie Gänseblümchen befestigt. Ihre Füße aber baumelten im Wasser und vertrieben alle Fische.

„Wieviel wir wohl fangen werden?“, fragte Klacks und zog an seiner Angel.

„Mindestens ein Dutzend“, meinte Klecks sofort.

„Oh, das ist schlecht“, entgegnete Klacks besorgt. „So schnell können wir sie nicht essen und Fisch verdirbt schnell.“

„Dann veranstalten wir eben ein großes Seefest“, meinte Klecks. „Tische und Bänke und Lampions, Feuerstellen für das Fischbraten, Brote dazu ... Alle Freunde laden wir ein, die Nymphe vom Moorsee, Schummelfix, Fizzewind, Hubertus, den Drachen, den Einsiedler ...“

„Nein, den Drachen nicht“, unterbrach Klacks, „der frisst nur alles alleine auf, groß wie er ist. Wir müssten schon mindestens hundert Fische fangen, um den satt zu bekommen.“

„Hundert Fische? Das ist viel. Doch wenn wir ihn nicht einladen, dann ist er vielleicht beleidigt und macht unser schönes Fest kaputt.“

„Woher bekommen wir eigentlich die Tische und Bänke für so viele Gäste?“, fragte Klacks weiter. „Und wer sammelt das Feuerholz? Was Lampions sind, weiß ich nicht, aber leicht zu bekommen, sind sie bestimmt nicht.“

„Ja, das wird schwierig“, meinte Klecks nachdenklich und schwenkte mit der Angel sein Gänseblümchen durch das Wasser. „Aber sicher hilft uns Hubertus. Oder der Einsiedler. Und Schummelfix kann doch zaubern ...“

„Darauf würde ich mich nicht verlassen“, meinte Klacks und grinste. „Neulich hat sie ihre Schulaufgaben vergessen und wollte sie rasch vor der Schule noch ins Heft hineinhexen – aber es wurde nur ein einziger riesiger Tintenklecks.“

„Irgend etwas wird uns schon einfallen“, sagte Klecks und seufzte. Ganz in Gedanken warf er einen Stein in den See. Wellenkreise zogen über die Oberfläche des Wassers.

„Was soll denn das?“, tönte es aus der Tiefe des Moorsees. Luftblasen stiegen an die Oberfläche, und ein dicker Karpfen tauchte auf. „Kann man hier nicht einmal einen Mittagsschlaf halten, ohne von euch Rabauken gestört zu werden?“, brummte er ärgerlich.

„Äh, nein, ja, das heißt wir wollten nur angeln“, stotterte Klecks.

„Seit wann angelt man denn mit Steinen?“, fragte der Fisch. „Das ist wohl eure ganz spezielle Methode?“

„Nein, das war nur ein Versehen, wir wollten doch niemanden treffen. Angeln, das machen wir mit den, mit den Angeln natürlich“, stotterte Klacks und hielt seine Angelrute hoch.

„So, so“, grollte der Karpfen. „Tun wollt ihr niemandem etwas. Aber sagt mal, was hängt denn an euren Angelschnüren?“

„Der Haken natürlich“, meinte Klecks. „Natürlich, der Haken“, bestätigte Klacks ganz eifrig.

„Und ein Gänseblümchen“, ergänzte Klecks.

„Und wie soll das funktionieren, mit den Angeln, der Schnur und dem Haken?“, fragte der Karpfen.

„Ja, also“, stotterte Klacks. Klecks sprang ihm hilfreich zur Seite: „Am Haken beißen die Fische an, wir ziehen sie aus dem Wasser und braten sie über dem Lagerfeuer“, erklärte er. „So hat uns der Einsiedler das neulich erzählt.“

„Aber tun wollt ihr niemandem etwas dabei?“, fragte nochmals der Karpfen.

„Nein, eigentlich nicht“, meinte Klecks. „Wir braten die Fische auch ganz vorsichtig“, sagte Klacks.

„Stellt euch vor, die Fische würden nach euch angeln“, grollte der Karpfen. „Stellt euch vor, ihr würdet nach den Haken schnappen, die sie aus dem See in die Luft hängen lassen, und sie würden euch in den Moorsee hinunter ziehen, zu einem großen Koboldbraten am Grunde des Sees.“

„Oh!“, meinte Klecks, „das wäre aber gemein.“

„Zum Glück habt ihr den Köder vergessen“, meinte der Karpfen.

„Köder?“, fragten Klecks und Klacks verwundert. 

„Ja, Köder!“, bestätigte der Karpfen. „Weshalb sonst sollte ein Fisch nach euren Haken schnappen? Nach euren Gänseblümchen vielleicht? Ein Würmlein oder eine Fliege gehört daran aufgespießt oder eine von diesen leckeren Libellen.“ Der Fisch fuhr sich genüsslich über die Lippen.

„Aber das können wir doch nicht tun!“, protestierten Klecks und Klacks. „Das tut doch schrecklich weh!“

„So, so“, meinte der Karpfen. „Mit Fliegen und Würmern habt ihr Mitleid, aber uns Fische würdet ihr am liebsten aufessen. Schämt euch!“

Und Klecks und Klacks schämten sich. Kleinlaut zogen sie die Leinen aus dem Wasser, packten die Angeln zusammen und gingen nach Hause.

„Ist auch besser so“, meinte Klecks. „So bekommen wir schon keinen Ärger mit den Tischen und Bänken. Oder gar mit dem Drachen.“

„Oder mit Schummelfix und ihrer Hexerei“, sagte Klacks.

Der Karpfen schwamm noch ein Weilchen dicht unter der Oberfläche des Moorsees. Als eine der Libellen gerade über ihm flog, sprang er heraus und schnappte nach ihr. Mit seiner zappelnden Beute im Maul plumpste er zurück in den See.

Schatzgräber-Freuden

 

Wie ein Blitz rannte Heribert die Stufen zu seiner Einzimmerwohnung im großen Fliegenpilz hinauf. Ganz außer Atem holte er seine Schatzgräber-Schaufel aus dem Schrank und vollführte einen kleinen Freudentanz.

 

„Juhu, juhu, der Erdkoboldschatz,

ich komme, ich komme, ich kenne den Platz!“,

 

sang er fröhlich. Peng – schlug die Schaufel gegen die Öllampe an der Decke. Klirr – landete die Lampe auf dem Boden und zerbrach in tausend Stücke. Aber Heriberts Laune drückte das nicht, im Gegenteil. Stammte das Öl, das in der Lampe verbrannte und helles Licht dafür schenkte, doch aus dem Erdkobold-Reich. Und wenn dort etwas kaputtgeht, umso besser, fand Heribert. Wie alle Zwerge des Waldes hasste er seine reichen Vettern unter der Erde. Gegen ihre von Gold, Silber und funkelnden Diamanten erleuchteten Höhlen kam er mit seinem Fliegenpilz nicht an. Und Neid macht giftig – besonders wenn man in einem Fliegenpilz wohnt. Aber das sollte nun alles anders werden.

 

„Die Augen immer am rechten Platz,

findest du den verborgenen Schatz“,

 

sang Heribert. Denn gerade hatte er draußen heimlich hinter dem Dornbusch beobachtet, wie jemand unter der alten Buche etwas vergrub.

‚Das ist sicher ein Stück aus dem Erdkoboldschatz, der vor ein paar Tagen gestohlen wurde‘, überlegte Heribert sofort. Er lachte, als er an diese Geschichte zurückdachte, an die Nymphe vom Moorsee und ihren verlorenen Kamm, an die Kobolde, die in die Schatzkammern der Erdkobolde eindrangen, um nach dem Kamm zu suchen, an die Klagen der Erdkobolde wegen der seither verschwundenen Schätze ...

„Aber jetzt nicht weiter geträumt!“, rief er sich selbst zur Ordnung und stürmte mit seiner Schaufel zur Wohnung hinaus und die Treppe hinunter.

Unter der Buche begann er zu graben. Schaufel um Schaufel der schweren Walderde warf er zur Seite. Er wischte sich den Schweiß aus der Zwergenstirn. Tiefer grub er und tiefer und tiefer. Schließlich ein Knirschen – es war geschafft. Mit zitternden Händen säuberte er seinen Fund. Ist es wohl Gold? Vielleicht eine Spange aus Silber, besetzt mit Edelsteinen? Wertvolle Münzen aus uralter Zeit?

Noch schnell die letzten Erdkrümel entfernt. Heriberts Augen wurden weit und die Zornesader auf seiner Stirn schwoll an, als wollte sie platzen. Denn alles, was er ausgrub, war eine goldbraune Haselnuss.

Das Eichhörnchen hinter dem Buchenstamm lachte.

 

Der Einsiedler vom Zauberwald

 

Schummelfix hatte die letzte Schulstunde geschwänzt und flog auf ihrem Besen über den Zauberwald. Auf einer Lichtung bei der Bärenklinge, einer Gruppe schroffer Felsen, fiel ihr eine Hütte auf. Mit der Mutter war sie schon einigemale hier vorbeigeflogen, aber die Mutter hatte auf ihre Fragen nach der Hütte nie richtig geantwortet. „Ich werde nachsehen“, sagte Schummelfix zu sich.

Husch, flog sie durch den Schornstein und landete auf dem Fußboden. Sie schüttelte sich und hustete heftig. Vor lauter Aufregung hatte sie gar nicht bemerkt, dass aus dem Schornstein Rauch quoll. Durch den war sie hindurchgeflogen und konnte noch von Glück sagen, dass sie sich im Kaminfeuer nicht versengt hatte.

„Na sowas, wen haben wir denn hier? Guten Tag!“, hörte sie eine Stimme.

Sie hustete nochmals und öffnete wegen dem beißenden Rauch nur vorsichtig ein Auge. Aber als ihr klar wurde, was sie da sah, riss sie gleich beide Augen sperrangelweit auf. „Ein Mensch, ein Mensch!“, rief sie und wurde gleich von einem neuen Hustenanfall geschüttelt.

„Ich muss zugeben, ich bin ein Mensch“, sagte ein alter Mann, der Schummelfix von seinem Stuhl aus schmunzelnd betrachtete, ein Buch und eine Kaffeetasse vor sich. „Ich bin der Einsiedler vom Zauberwald. Und wer bist du?“

„Wer ich bin? Das siehst du doch! Schummelfix bin ich, die Tochter von Ohme Besenstrich, der besten Hexe im ganzen Zauberwald. Und wir sind völlig zu Recht hier, denn der Zauberwald ist Hexengebiet. Aber was willst du denn hier? Für Menschen ist der Wald verboten!“ 

„Verboten ist er nicht“, meinte der Mann. „Es kommen nur keine Menschen hierher. Und deshalb eben bin ich hier.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739373522
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Zauberwald Kindergeschichten Hexenkind Kobolde Humor Zauberer Roman Abenteuer

Autor

  • Volker Friebel (Autor:in)

Der Autor Volker Friebel wurde an einem Schneesonntag gegen Ende des Jahres 1956 in Holzgerlingen geboren. Er studierte Psychologie und lebt heute als Ausbildungsleiter, Schriftsteller, Bildermacher und Musiker in Tübingen.
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Titel: Geschichten vom Zauberwald