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Vergessen? Ach wo!

Ein phantastisches Sammelsurium

von Ruth M. Fuchs (Autor:in)
150 Seiten

Zusammenfassung

Wenn das ganz normale Leben auf die Welt der Elfen, Hexen und Kobolde trifft, liegen Alltägliches und Unglaubliches oft ganz nah beieinander. In siebzehn Erzählungen zeigt Erkül-Bwaroo-Chronistin Ruth M. Fuchs, dass nicht nur der schrullige Elfendetektiv ihre Phantasie beflügeln kann: Ob nun eine Prinzessin mit Handy und Limousine sich eines Riesens erwehren muss, eine Badewanne ein Geheimnis hütet, ein Ökobestatter einen Kobold trifft, der Kühlschränke liebt oder eine Hexe einen Staubsauger zum Fliegen bevorzugt – der unverwechselbare Humor der Autorin entführt uns in zum Teil sehr moderne Fantasywelten und zeigt, dass das Genre viel mehr zu bieten hat, als epische Kämpfe und Weltenrettung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Raposa – Ruth Fuchs

V.i.S.d.P.

Autorencentrum.de

Ein Projekt der BlueCat Publishing GbR

Peter Maassen

Gneisenaustr. 64

10961 Berlin

Titelillustration: Arthur Rackham

Umschlaggestaltung: Ruth M. Fuchs (www.ruthmfuchs.de)

Lektorat: Carolin Olivares-Canas (http://olivares-canas.com)

www.raposaverlag.de

Für Dieter

Vorwort

Mit dem Schreiben habe ich erst relativ spät angefangen. Also, mit dem richtigen Schreiben. Eigentlich fand ich immer, dass mein Talent mehr in der bildenden Kunst liegt, besonders beim Modellieren. Dann fiel mir ganz unerwartet die Möglichkeit in den Schoß, ein Fantasymagazin herauszugeben. Neues zieht mich immer magisch an. Also machte ich mich ganz blauäugig daran, dreimal im Jahr Neues aus Anderwelt herauszubringen. Wenn ich geahnt hätte, worauf ich mich da einließ – ich hätte es trotzdem getan.

Nun ja, abgesehen von den technischen und organisatorischen Problemen musste jedes Heft auch mit irgendetwas gefüllt werden. Und dabei sollte am Ende eine Seitenzahl herauskommen, die durch vier teilbar war, wegen der Bindung. Aus irgendeinem Grund sind die Götter der Printmagazine aber der Meinung, dass immer Seiten fehlen oder auch, je nach Betrachtung, zu viel sein sollten.

Um das auszugleichen, fing ich also an zu schreiben, Artikel zum jeweiligen Thema und Kurzgeschichten. Nichts Besonderes, dachte ich.

Eines Tages erhielt ich dann eine Mail vom Eulenverlag mit der Bitte, doch ein Buch zu schreiben. Der damalige Eigentümer des Verlags, Harald Gläser, hatte meine Beiträge gelesen und gut gefunden. Er war noch einer dieser Verleger der alten Schule, die auch mal bereit sind, ein Risiko einzugehen, wenn sie glauben, ein Talent entdeckt zu haben. Ein wundervoller Mensch, wie man ihn heutzutage viel zu selten findet - und so machte ich mich daran, Die wunderbare Welt der Elfen und Feen zu schreiben, als Ruth Schuhmann. Ich weiß noch, dass das ganze Buch im Wesentlichen in vier Tagen fertig war – der „Schreibvirus“ hatte mich erwischt. Ich bin ihn bis heute nicht losgeworden und hoffe, dass das noch lange so bleibt. Auch wenn ich jetzt kaum mehr zum Modellieren komme.

Obgleich Erkül Bwaroo, der Elfendetektiv mit dem großen Schnurrbart und dem noch größeren Ego, einen großen Teil meiner Zeit für sich beansprucht, sind da doch immer auch noch andere Figuren und Ideen für Geschichten, die geschrieben werden wollen.

Einige davon sind nun in diesem Buch versammelt. Sie handeln von Kriegern, Kobolden, Prinzessinnen, Riesen, Hexen, Nebelgeistern und einem vorlauten Klopfsauger. Der eine oder andere dieser Texte ist bereits bei Neues aus Anderwelt erschienen oder in ähnlicher Form in dem Buch Kunibert Kumbernuss – Gefundene Geschichten. Doch die meisten sind neu.

Manche erzählen von haarsträubenden Ereignissen, andere sind eher leise und bescheiden. Viele sind voller Humor, einige ein bisschen traurig. Aber alle haben nur ein Ziel, dich, lieber Leser, gut zu unterhalten.

Und sie warten schon ganz ungeduldig darauf, entdeckt zu werden. Deswegen fasse ich mich kurz und wünsche einfach nur: Viel Spaß beim Lesen!

Mit herzlichen Grüßen

Ruth M. Fuchs

Die Vergessenen

Da saß er ja wieder, der alte Herr, in seinem alten Anzug, vornübergebeugt auf der Parkbank. Wer regelmäßig auf den Friedhof kam – zum Gießen, Harken und Jäten – der kannte ihn schon, so auch die Friedhofsangestellten, für die er und „solche wie er“ nichts Neues waren. Ja, da saß er wieder, Franz, still auf seiner Bank. Er dachte nicht im Traum daran, dass ihn irgendjemand beachten könnte. Denn ihm war das alles einerlei. Wie jeden Tag saß er auf seiner Bank, spürte den Minuten nach, die vorüberschlichen, und unterhielt sich mit seiner Frau, natürlich nur in Gedanken oder manchmal leise murmelnd. Er wollte ja nicht auffallen oder gar in der Klapsmühle landen.

Seine Hilde und er, sie waren fast fünfzig Jahre lang verheiratet gewesen. Und nun besuchte er sie täglich auf dem Friedhof, saß immer auf derselben Bank mit Blick auf ihr Grab. Das war nun seine Welt, und der Rest der Welt war ihm nichts mehr. Aber er beklagte sich nicht, besuchte lieber jeden Tag sein Hildchen – und sie hatte es ja wirklich nett hier. Das war Trost genug für ihn, der von den Menschen nicht zu trösten war, die es auch bald aufgaben, ihn in Ruhe ließen und auf seiner Bank vergaßen.

So schnell kann es gehen, dass man noch da ist und doch nicht mehr von dieser Welt – diese Welt, die sich heute in Blumenpracht, Vogelgezwitscher und Sonnenschein auslebte. Zum Glück stand ein Bäumchen neben der Bank und spendete Franz ein wenig Schatten. Es konnte einem im dunklen Anzug schon recht warm werden. Aber nicht im Anzug, auch wenn er noch so altmodisch und „schurwollschwer“ war, zu Mathilde zu gehen, das war undenkbar. Das war er sich und seiner Hilde schuldig. Soviel ging dahin, da konnte man sich doch nicht gehenlassen.

Gerade erzählte Franz seinem Hildchen, wie langweilig das Fernsehprogramm gestern wieder gewesen war, immer dasselbe und jedes Mal dämlicher. Und es taugte wirklich nur dazu, sich die Nacht mit den vielen schlaflosen Stunden zu vertreiben.

Da plötzlich unterbrach ein feines Stimmchen seine Gedanken: „Wurdest du auch vergessen?“

Franz sah auf und schaute sich um. Aber da war niemand. Woher kam also diese Stimme? Vielleicht war er der Klapsmühle doch schon näher als geglaubt.

„Hallo, hier bin ich!“, rief es da aus dem Baum. Dann flatterte etwas vom untersten Ast herab, um schließlich elegant auf seinem rechten Knie zu landen.

Der alte Mann staunte nicht schlecht, als da auf seinem Knie ein Junge stand, kaum größer als eine Männerhand, mit schillernd durchsichtigen Flügeln wie bei einer Libelle, die er nun sorgsam zusammenfaltete und in seinem grünen Umhang barg, den er über dem Arm getragen hatte und jetzt überwarf.

„Also doch. Klapsmühle!“

„Wie bitte?“, fragte der Junge höflich nach.

Franz hob seine rechte Hand neben den kleinen Kerl – kein Unterschied, beide wirklich gleich groß – und stupste dann mit dem Zeigefinger vorsichtig seinen Kniegast an. Der ließ sich das gefallen, schien daran gewöhnt.

„Komisch“, sagte Franz.

„Liddl, sehr erfreut“, antwortete der Junge und machte eine Handbewegung, als wollte er im Gegenzug den Alten ebenfalls anstupsen.

„Äh, Quatsch, nein, ich heiße Franz, Franz und nicht Komisch, aber, was bist du denn für einer?“

„Ich? Ich bin ein Elf.“

„Na klar, ein Elf, warum auch nicht. Meine Großmutter hat mir von Elfen erzählt, als ich noch klein war. Dass es euch wirklich gibt! Sie hat mir auch erzählt, dass Elfen unsterblich sind. Also, was machst du auf einem Friedhof?“ Er dachte kurz nach und fügte dann hinzu: „Von euch redet heute eigentlich keiner mehr.“

„Du sagst es! Ist es nicht schrecklich?“ Liddl breitete die Arme aus und seufzte theatralisch. „Wir sind Vergessene.“

„Wer ist wir?“

„Na, meine Sippe und ich. Wir sind hierher verbannt. Und ich dachte, bei dir wäre es auch so.“

„Was meinst du denn mit verbannt?“

„Siehst du, in der Welt gibt es keinen Platz mehr für uns. Früher, ja, früher, da waren hier Wälder und Wiesen. Alles, was davon übriggeblieben ist, sind ein paar schäbige Parks und Spielplätze – bessere Hundeklos und Abfalleimer, wenn du mich fragst.“

Franz nickte zustimmend.

So bestätigt, fuhr Liddl fort: „Und keiner glaubt mehr an uns, keiner bezeugt uns Respekt. Das hier ist der einzige Ort, wo es noch sauber ist und grün und nicht so überlaufen. Deshalb sind wir hier, auf dem Friedhof der Menschen. Es ist wirklich eine Schande.“

Eine Schande? Warum war das eine Schande?, fragte sich Franz. Aber das war ja nicht so wichtig. Vielmehr beschäftigte ihn, was der Elf sonst noch gesagt hatte: Die Elfen waren Flüchtlinge, Verbannte auf diesem Friedhof, weil es für sie keinen Platz mehr in der Welt gab.

„So gesehen geht es mir ähnlich“, murmelte er.

„Wieso geht es dir ähnlich?“

„Auch ich bin vergessen.“

„Hab ich es nicht gesagt? Hab ich es nicht gewusst?“, freute sich Liddl. „Ist das nicht schön, dann kannst du ja bei uns bleiben.“

„Wie soll das denn gehen?“

„Ganz einfach. Bevor die hier schließen und den letzten Rundgang machen, versteckst du dich in dem Fliederbusch da drüben. Du bist zwar groß, aber hinter dem Busch wird selbst dich niemand finden.“

„Aber … aber, das geht doch nicht, ich muss noch einkaufen, in meine Wohnung …“

„Warum?“

Ja, warum eigentlich?

***

Es hatte geklappt. Niemand hatte ihn bemerkt. Mühselig und etwas steif vom kalten Boden arbeitete sich Franz aus dem Fliederbusch heraus und befand sich in der bunten Gesellschaft kleiner geflügelter Wesen. Staunend schaute er sich um. Wo waren sie nur hergekommen? Vor ihm flatterten einige von ihnen von Grabstein zu Grabstein und gaben vorwitzige Kommentare ab.

„Ruhe in Frieden … Ruhe in Frieden … Ruhe in Frieden …“

„Unvergessen …“

„Was? Wirklich? Das ist ja mal was ganz Neues!“

„Ruhe in Frieden … Ruhe in Frieden …“

„Schade, doch nur eine Ausnahme. Und nicht wirklich originell. Also weiter im Text.“

„Ruhe in Frieden …“

Links von Franz rutschten ein paar Elfenmädchen auf der Rundung eines polierten, schwarzen Marmorgrabsteins hinunter. Er musste unwillkürlich darüber lächeln, wie sie so mit lautem „Huiiii!“ dahin sausten. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Da gesellte sich auch schon Liddl wieder zu ihm. Zusammen setzten sie sich auf die alte Bank neben dem Bäumchen. Als es langsam dunkel wurde, und ein Stern nach dem anderen leuchtete, scharten sich immer mehr Elfen um ihn, plauderten mit ihm oder untereinander.

Die Elfen wurden mit der Zeit immer zutraulicher, setzten sich auf seine Knie und Schultern, tanzten in der Luft einen Reigen um seinen Kopf, dass ihm ganz wirr wurde, zausten ihm neckisch das Haar und flüsterten ihm allerlei ungereimtes Zeug in die Ohren, wobei sie fast hineinkrochen. Endlich waren seine wahrlich großen Ohren, nachdem sie ihm ein Leben lang nur Spott und blöde Bemerkungen eingebracht hatten, zu etwas nutze. Und zunehmend wurde es auch dem Alten warm ums Herz. Er taute auf und begann, aus seinem Leben zu erzählen. Die Elfen schienen gar nicht genug davon zu bekommen, wollten immer noch mehr hören, baten und bettelten geradeso wie kleine Kinder. Wie schon lange nicht mehr, fühlte er sich glücklich, aufgenommen und „leicht“. Ein Schmetterling wäre im Vergleich zu ihm ein fliegender Amboss.

Auf seiner rechten Schulter saß Liddl und ließ sich diesen Platz von niemandem streitig machen, war er doch mächtig stolz darauf, dass „er“ es gewesen war, der Franz entdeckt hatte. Wie schade, dass es nicht jeden Abend so sein konnte – oder vielleicht doch?

„Hör mal …“, begann Liddl und zupfte Franz am Ohrläppchen, weil der ihn kaum verstand.

Seit Franz nämlich von seiner Hochzeit und seinen Flitterwochen erzählte und davon, wie, wo und an welch seltsamen Stellen Hilde und er noch nach Tagen überall den Hochzeitsreis gefunden hatten, hörten die Elfen nicht mehr auf, zu kichern und zu lachen.

Franz lächelte Liddl zu, sah plötzlich viele Jahre jünger aus.

„ … möchtest du vielleicht etwas trinken?“, fuhr Liddl fort.

„Oh ja, gern, ich habe wirklich Durst.“

Liddl flog weg, kam aber bald darauf mit einem silberglänzenden Becher zurück, den er Franz ganz außer Atem reichte. Was für Franz nämlich nur so groß wie ein kleines Schnapsglas war, das konnte Liddl kaum schleppen. Aber gerade als Franz ihm das Glas an die Lippen setzen wollte, zog Liddl es wieder zurück.

„Nein, nein, nein, ich kann das nicht“, jammerte er.

Franz erschrak. Die anderen Elfen durchbohrten Liddl mit vorwurfsvollen Blicken.

Er aber wehrte sie mit wedelnden Armen ab und stammelte: „Nein, wirklich, ich kann das einfach nicht. Nicht bei ihm, er ist doch so nett.“

„Natürlich ist er nett, was sollten wir auch mit einem, der nicht nett ist?“

„Das versteht ihr nicht. Ich mag ihn“, gestand Liddl verlegen. „Ich will ihn nicht hintergehen.“

„Ach, was bist du denn für ein Elf! Hat dich vielleicht ein Spritzer Weihwasser erwischt?“

„Was ist hier eigentlich los? Und was heißt hintergehen?“, unterbrach sie Franz misstrauisch, schon etwas verärgert. „Raus mit der Sprache!“

„Das da, das Getränk da, das ist Tauwein“, gestand Liddl kleinlaut.

„Ja und weiter?“

„Wer Tauwein mit Elfen teilt, der …, der …“

„Ja?“

„Der muss bei ihnen bleiben.“ Liddl schaute seinen neuen Freund sehr unglücklich an und heulte dann los. „Wir hätten dich doch so gerne für immer bei uns. Und … und du bist doch auch verbannt, hast du wenigstens gesagt, und es ist doch so schön mit dir. Dir gefällt es doch auch bei uns, oder?“

„Ist ja schon gut, wein doch nicht“, beruhigte ihn Franz und stupste ihn freundlich an der Schulter. „Es ist gut, dass du mir das mit dem Tauwein gesagt hast. Natürlich gefällt es mir bei euch, aber so eine Sache muss doch gut überlegt sein.“

„Siehst du, Liddl, jetzt überlegt er es sich noch.“

„Seid doch mal still!“, mischte sich eine energische Elfendame ein und wandte sich dann an Franz: „Weißt du, wenn du unseren Tauwein trinkst, schließt du einen Pakt mit uns. Nur auf diese Weise können wir dich mitnehmen in unsere unterirdische Welt. Der Eingang ist gleich da vorne im alten herzoglichen Mausoleum. Natürlich könntest du zurückkehren, aber du würdest dann rasch altern und … und …“

„ … sterben“, beendete Franz ihren Satz. Dabei warf er einen Blick auf das Grab seiner Frau. „Aber eigentlich bin ich ja schon tot.“

„Das darfst du nicht sagen“, widersprach ihm Liddl. „Na ja, weißt du, du kannst es dir ja noch überlegen. Bis Sonnenaufgang ist ja noch Zeit.“

„Aber wir könnten uns doch auch so jede Nacht …“ Angesichts der betretenen Mienen unterbrach Franz seinen Satz.

. „Aha, offensichtlich nicht“, murmelte er für sich.

„Auf jeden Fall haben wir noch viel Zeit, bis die Sonne wieder aufgeht“, wiederholte Liddl und brach damit das Schweigen. „Wie auch immer du dich entscheidest, lass uns jetzt feiern und unser Zusammensein genießen.“

***

Wo blieb nur der alte Herr, der sonst jeden Tag auf seiner Bank gesessen hatte. Wo blieb er nur. War er vielleicht krank? Oder gar gestorben? Dass man ihn gar nicht mehr zu sehen bekam! Da konnte man sich ja richtig Sorgen machen. Ach nein, in ein paar Tagen war er sicher wieder da. Aber, was lag denn da auf dem Rand des Grabes? Ein Schnapsglas aus Silber? Also, was die Leute alles wegwarfen!

Varra

Ein Spaziergang an der frischen Luft ist gesund? Elfen sind zart und lieblich? Freundlichkeit zahlt sich immer aus? Vergessen Sie's! Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Meiden Sie die freie Natur! Und wenn es unbedingt sein muss, machen Sie um Himmelswillen einen Bogen um Weißdornbüsche! Oder gehen Sie wenigstens nicht so nah ran, besonders dann nicht, wenn Sie eine hinreißende Melodie hören. Das Wesen, das diese Musik aus einer winzigen Silberflöte hervorzaubert, ist gemein, hinterhältig und gefährlich – aber wer glaubt mir das schon?

Trotzdem weiß ich, wovon ich spreche. Ich habe es selbst erlebt. Es war an einem wunderschönen, sonnigen Tag. Mein schon etwas betagtes Auto hatte schlappgemacht. Im nächsten Dorf fand sich eine Werkstatt und der Mechaniker dort war mir sofort sympathisch, als er sich den Satz verkniff, den ich sonst immer zu hören bekomme „Typisch Frau am Steuer.“ Stattdessen erklärte er mir, das sei alles gar nicht so schlimm und er könnte meinen Wagen ganz schnell wieder flott bekommen. So ein bis zwei Stunden müsste ich aber warten.

Ich beschloss, mir die Zeit mit einem Spaziergang zu vertreiben. Nach gerade mal drei Häusern schlenderte ich auch schon einen Feldweg entlang, Kraut links, Rüben rechts oder umgekehrt – ich bin nun mal ein Stadtmensch. Das Dorf hatte ich schon hinter einem Hügel gelassen, als ich mit einem Mal Musik hörte. Sie schien aus einem Busch herauszududeln. Zugegeben, ich kenn mich da nicht so aus und mit Gedudel tu ich der Musik wohl unrecht. Es klang zart und rein, voller Harmonie, aber es war immer das Gleiche. Jedenfalls ging ich näher ran. Zuerst sah ich gar nichts. Dann aber entdeckte ich auf einem Zweig ein winziges Mädchen. Es war zierlich. Goldgelocktes Haar fiel ihr über die Schulter, zwischen ihre hauchdünnen, zerbrechlich aussehenden Flügel. Das schönste und anmutigste Geschöpf, das es auf Erden gab! Zumindest dachte ich das damals. Als sie mich bemerkte, schenkte sie mir ein betörendes Lächeln. Mit einer Stimme, die für ihre Größe überraschend klar und ziemlich laut war, begrüßte sie mich. Dann fragte sie nach meinem Namen.

Schreckhaft bin ich ja nicht gerade, wenn sich aber eine offensichtliche Sinnestäuschung ganz zwanglos mit dir unterhält, da kann es einem schon anders werden.

Meine „Wahnvorstellung“ hieß Varra. Sie erklärte mir, sie sei eine Weißdornelfe und fühle sich einsam, denn sie sei die Letzte ihrer Art.

Kurz und gut, schließlich machte es sich Varra in meinem Rucksack bequem und fuhr mit mir nach Hause. Wer kann einem so entzückenden Wesen schon widerstehen! Sie würde mein Leben sicherlich verschönern und bereichern und meine Einsamkeit - ich lebte nämlich auch allein - beenden, dachte ich.

Eins wurde mir bald klar, einsam war ich nicht mehr! Varra schien niemals schlafen zu müssen. Und wozu schlief ich denn überhaupt? Wenn sich doch Varra mit mir unterhalten wollte! Eine Unterhaltung bedeutete für sie nicht etwa, gemütlich auf dem Sofa zu sitzen und tiefgeistige Gespräche zu führen. Nein, das war ihr zu langweilig. Sie schmiedete lieber Pläne. Zuerst einmal wollte sie mich von Grund auf umkrempeln, lag mir wegen meiner Kleidung und Frisur in den Ohren. Natürlich ist eine langlebige Elfe mit ihrem „Wissen von Generationen“ viel gescheiter und erfahrener als so ein Mensch und hat natürlich auch den besseren Geschmack. Aber, mal ehrlich, wie sieht das denn aus, wenn eine etwas pummelige Person von Mitte dreißig und gerade mal eins zweiundsechzig in engen Shirts und grünen Zipfelröcken aus schimmerndem, durchsichtigen Chiffon, natürlich ohne was drunter, herumläuft? Varra fand es reizvoll, genauso, wie sie fand, dass meine brünetten Schnittlauchlocken sich gut in eine goldene Mähne umfärben ließen. Dabei bin ich durch und durch ein dunkler Typ! Glauben wenigstens Sie mir: Es sähe einfach verboten aus!

„Das kannst du gar nicht beurteilen“, schmollte Varra, wann immer ich ihr dies und anderes auszureden versuchte. „Elfengeschmack ist unerreicht.“

„Elfen haben ja auch keine Figurprobleme.“

„Das spielt gar keine Rolle.“

Langsam aber sicher sehnte ich mich nach meiner Einsamkeit zurück. Das Ganze zehrte an meinen Nerven. Wer war ich überhaupt, ständig nach der Pfeife einer kleinen Elfe zu tanzen? Ich fing an, immer öfter auch mal „Nein“ zu sagen.

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt begann meine Pechsträhne. Vor dieser Zeit war ich recht geschickt und ordentlich gewesen. Plötzlich aber verlegte ich alle möglichen Sachen, um sie erst nach Stunden wiederzufinden. Außerdem, und das war noch viel schlimmer, ging mir ständig etwas zu Bruch. Wann immer ich etwas anfasste, entglitt es auch schon meinen Fingern, um mit Geschepper auf dem Boden zu landen.

Mein Chef sah sich das ein paar Tage an. Dann versetzte er mich von Glas und Porzellan zu Plastik- und Campinggeschirr. Ich kann ihn ja verstehen, aber das war nicht gerade ein Aufstieg.

Ich hatte ja so meinen Verdacht.

„Varra, hast du mich verzaubert?“, fragte ich eines Abends vorsichtig.

„Ja, ich bin bezaubernd, nicht?“ Varra ließ sich graziös neben mir auf dem Sofa nieder.

„Äh, so meine ich das nicht. Ich meine, hast du einen Zauber über mich geworfen? Weil – ich bin in letzter Zeit so ungeschickt ...“

„Tollpatschig“, nickte Varra und sah sehr zufrieden aus. „Aber Elfen können nicht zaubern. Nur die Feen.“

„Ach. Gut.“

„Elfen können nur verwünschen. Im Guten wie im Schlechten.“

Ich hatte immer gedacht, DAS würden die Feen machen, so kann man sich irren. Aber die Antwort beruhigte mich kein bisschen.

„Und, hast du?“, forschte ich weiter. „Ich meine, hast du ...“

„Natürlich.“ Sie nickte feixend. „Ich habe das nur getan, damit du endlich einsiehst, wie gut ich es mit dir meine.“

Ab da versuchte ich, Varra wieder loszuwerden. Aber sie war zu flink. Und notfalls machte sie sich unsichtbar. Auch wenn ich noch so flehentlich bat und bettelte, hörte sie einfach nicht hin. Schließlich wusste sie es ja besser und wollte nur mein Bestes.

In der Arbeit stellte ich mich blöd an, meine Wohnung war von Varra besetzt, ich schlief schlecht, hatte zu nichts mehr Lust und keinen Appetit mehr – ich nahm sogar ab. Unter meinen Augen lagen dunkle Ringe, die in meinem unnatürlich blassen Gesicht überdeutlich zur Geltung kamen.

Hin und wieder dachte ich sogar an Selbstmord. Doch eines Tages …

Zum ersten Mal kamen wir in der Mittagspause ins Gespräch, nachdem ich mich an ihren Tisch gesetzt hatte. Ich wusste, dass sie neu war: Angela, Stoffblumen und Deko.

Aufgefallen war sie mir schon lange: zierlich, mit langen, ganz hellblonden Haaren und fließenden Kleidern in Erdfarben – richtig ätherisch und versponnen eben. Eigentlich fand ich, dass sie schwindsüchtig aussah, aber das war vielleicht auch nur der Neid. Jedenfalls saß ich gerade mal zehn Minuten an ihrem Tisch. Ich glaube, es ging in unserem Gespräch gerade um Hobbys, da eröffnete sie mir auch schon, dass sie fest an Elfen glaubte, aber noch nie eine gesehen hatte.

„Ach, da müssten Sie mal zu mir nach Hause kommen“, rutschte es mir raus.

„Sie sehen nicht gerade aus wie jemand, der Umgang mit Elfen pflegt“, meinte sie zweifelnd.

„Das sagt meine Elfe auch immer.“.

Sie dachte wohl, dass ich sie auf den Arm nehmen wollte. Zuerst war ich nur sauer, dass sie mir meine Elfe nicht glaubte, nur weil ich nicht danach aussah. Aber plötzlich hatte ich eine Idee, wurde ganz freundlich, ganz Schwester im Geiste, und lud sie zu mir ein. Zum Tee natürlich! Angela trank keinen Kaffee. Mir erzählte Varra ja auch andauernd, dass Kräutertees viel besser für mich wären.

Meine Elfe blieb unsichtbar, aber ich wusste, dass sie uns aufmerksam beobachtete. Ich ermunterte Angela in ihren Ansichten, fragte nach, wollte Genaueres wissen. Ich wuchs geradezu über mich hinaus. Eigentlich bin ich nicht gesellig und kann keinen Smalltalk. Unterhaltungen zu zweit versickern in der Regel nach wenigen Minuten, wenn ich einer von beiden bin. Aber diesmal nicht. Angela tat es offensichtlich gut, dass sie mal ernst genommen wurde, und so kam sie vom Hundertsten ins Tausendste, geriet richtig in Fahrt und ins Schwärmen. Sie gestand mir ihre liebsten Träume, schien glücklich darüber, dass sie nicht ausgelacht wurde.

Mir war auch nicht nach Lachen zumute. Schließlich wusste ich es besser, und das alles war viel zu ernst.

Als sie in das Fahrwasser „animalische, weibliche Urkräfte … Wolfsfrauen … Kräfte des Mandala … schamanische Einflüsse des Feng-Shui … Indianer in China? … Weiblichkeit der Mondzyklen …“ geriet, schwieg ich mich sicherheitshalber aus. Zum Glück war sie so mit Feuereifer bei der Sache, dass es ihr nicht weiter auffiel. Als wir uns schließlich voneinander verabschiedeten, schien sie richtig glücklich und fast bereit, mir zu glauben, dass in meiner Wohnung eine Elfe ihr Unwesen trieb, Pardon, mein Leben bereicherte.

Wie würde wohl Varra reagieren? Nun, zuerst sah und hörte ich nichts von meiner Elfe. Schließlich kam sie langsam angeflattert und ließ sich, selbstverständlich äußerst anmutig, auf der Rückenlehne des Sofas nieder.

„Na?“, begrüßte ich sie.

„Wer war denn das?“, fragte Varra in diesem gelangweilten Ton, den jeder anschlägt, wenn man nicht merken soll, dass er oder sie vor Neugier fast platzt.

„Angela, eine neue Kollegin aus dem Kaufhaus.“

„Wirst du die noch öfter einladen?“

Jetzt hieß es: aufpassen und auf der Hut sein! „Nein, weißt du, ist nicht meine Wellenlänge.“

„Was hat denn das damit zu tun?“, brauste Varra auf, ganz wie erhofft. „Und überhaupt, an mich denkst du wohl gar nicht?“

„Wieso an dich? Du warst doch die ganze Zeit nicht da.“

„Natürlich war ich da, nur eben unsichtbar.“

„Ja und? Was soll die ganze Diskussion, Angela kommt eh nicht mehr. Ich habe sie gelangweilt, wahrscheinlich noch mehr als sie mich.“

„Ja, das ist wirklich ein Problem“, gab Varra zu.

Wortlos schluckte ich diese Beleidigung. Hier stand mehr auf dem Spiel als mein angeknackstes Selbstwertgefühl.

Das Thema ließ sie nicht los. Nach einigem Hin und Her ließ ich mich dazu überreden, Angela doch noch einmal einzuladen, aber nur, wenn Varra sichtbar bliebe. Ich war mir ganz sicher, dass Angela meine Einladung auch ohne Aussicht auf ein „Elfenrendezvous“ gerne annehmen würde.

Varra sagte ich das lieber nicht.

Also „erschien“ Varra der entzückten Angela und beide waren sofort voneinander begeistert und hingerissen. Es dauerte zwar noch ein paar Wochen und Treffen, aber endlich ließ mich Varra wissen, dass sie zu Angela ziehen werde. Ich tat entsetzt, zierte mich noch ein wenig, erklärte ihr dann aber, dass ich ihrem Glück ja nicht im Wege stehen wollte. Dann ließ ich sie noch feierlich den Fluch zurücknehmen und legte sie in Angelas Hände.

Zwar kehrte ich wieder zu Glas und Porzellan zurück und Varra war ich auch los, doch dafür hatte ich jetzt Angela am Hals. Dass sie jede Mittagspause an meinem Rockzipfel hing, wäre ja gar nicht so schlimm gewesen – das eine oder andere, was sie sagte, war ja sogar interessant. Auch die spöttischen Bemerkungen der Kollegen störten mich nicht. Sollten sie ruhig. Aber dass Angela mich ständig zu Hause anrief, auch mitten in der Nacht, oder gleich ohne jede Vorwarnung an meiner Tür klingelte, ebenfalls mitten in der Nacht, das nervte. Und wie immer, sie meinte es ja nur gut, glaubte tatsächlich, dass sie mich über mein großes Opfer hinwegtrösten müsste. Dass ich überhaupt kein Opfer gebracht hatte, nahm sie mir nicht ab. In ihren Augen war ich einfach wahnsinnig selbstlos.

Was sollte ich tun, wohin mich wenden? Varra hatte mich wenigstens auf der Straße und im Kaufhaus in Ruhe gelassen, aber Angela war allgegenwärtig und das ständig. Wenn ich sie zu hart anpackte, hätte das vermutlich einen neuerlichen Fluch zur Folge gehabt. Ich erwog einen Nacht-und-Nebel-Umzug, schmiedete heimliche Fluchtpläne, Timbuktu, Kathmandu, Island – ach nein, lieber nicht, da gab es ja noch mehr Elfen. Ein Exorzist, ein Schamane – jetzt war ich tatsächlich selbst schon so weit!

Dann eines Vormittags erschien Angela in meiner Abteilung. Ich war entsetzt. Normalerweise hatte ich wenigstens während der Arbeit meinen Frieden, lagen doch zwei Stockwerke zwischen den Stoffblumen im Erdgeschoss und Glas/Porzellan im Dritten. – Fragen Sie mich nicht, warum, aber die zerbrechlichen Sachen sind in jedem Kaufhaus ganz oben. Vielleicht weil sie dann länger fallen, sollten sie einem gerade dann aus der Hand rutschen, wenn man auf der Rolltreppe steht.

Jedenfalls ist es strikt verboten, seine Abteilung zu verlassen, außer man muss auf siebzehn. Das ist der Code für die Toilette. Na ja, ein Blick in die Nachbarabteilung war schon drin, aber zwei Stockwerke? Viel zu gefährlich! Angela freilich hatte es gewagt. Meine letzte Bastion war genommen, und ich musste mich sehr zusammenreißen, sie nicht auf der Stelle zu erwürgen.

Sie blickte sehr ernst. Mir schwante Furchtbares: Hatte sie meine Abneigung bemerkt? Was würde jetzt kommen? Eine Kampfansage, ein Fluch nach dem anderen! Oder, nein, das durfte nicht sein, sie wollte mir doch nicht etwa Varra zurückbringen?

Schließlich rückte sie mit der Sprache heraus. „Tut mir leid“, sagte sie verlegen, aber fest. „Ich kann mich nicht mehr mit dir treffen, auch nicht in den Mittagspausen. Varra meint, du wärst nicht der richtige Umgang für mich ...“

Rätselhafte Samstage

„Wenn ich es dir doch sage: Sie schließt sich jeden Samstag im Bad ein, und ich musste ihr versprechen, nie zu fragen, was sie da macht.“ Harro kippte den Rest seines Bieres in einem Zug hinunter. Es war sein viertes und er wurde langsam redselig.

Sein Freund Ernst, der schon beim fünften Bier war, winkte ab. „Schönheitspflege, ganz bestimmt. Ich sage dir, die zieht da alle Register mit Gurkenmasken und Honigpeeling oder wie das alles heißt. Sei froh, dass du sie da nicht anschauen musst.“

„Kann ich mir nicht vorstellen“, widersprach Harro und stach mit seinem Zeigefinger ein Loch in die Luft. „Meine Frau ist eine Schönheit, die so was nicht nötig hat!“

Und damit hatte er absolut Recht. Sylvie sah geradezu atemberaubend aus. Warum sie ausgerechnet Harro geheiratet hatte, verstand niemand, am wenigsten Harro selbst. Er war so stolz gewesen, als sie seinen schüchtern gestotterten Antrag überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Ihre Bedingung hinsichtlich der Samstage hatte er leichten Herzens akzeptiert.

Aber nun, drei Jahre später, fraß ihn die Ungewissheit fast auf. Was trieb diese Frau einen ganzen Tag im Badezimmer? Ein anderer Mann konnte ja wohl kaum dahinter stecken. Das Bad war nicht gerade groß Und nicht besonders anheimelnd mit den weiß gekachelten Wänden. Die Badewanne war groß, das schon, aber für einen gemütlichen Tag zu zweit dann doch nicht groß genug. Vor allem hätte dann einer von beiden auf dem Stöpsel sitzen müssen. Andererseits konnte Harro das nicht aus eigener Erfahrung beurteilen, denn Sylvie hatte seinen Vorschlag, doch mal bei Champagner und Kerzenschein zu zweit zu baden, vehement abgelehnt. Sie hatte sein Ansinnen so anstößig gefunden, dass er Stunden gebraucht hatte, um wieder ein Lächeln auf ihre perfekten Lippen zu zaubern. Also kam ein Bad mit einem Liebhaber wohl auch kaum in Frage.

Außerdem hatte das Badezimmer kein Fenster. Es hätte also ohnehin niemand von draußen einsteigen können, selbst wenn die Wohnung nicht im dritten Stock gewesen wäre. Wie aber hätte Sylvie einen Mann durch die Wohnung ins Bad schmuggeln sollen? Und dann auch noch ausgerechnet in den ungemütlichsten Raum der ganzen Wohnung. Harro schüttelte den Kopf. Nein, an einem anderen Mann konnte es nicht liegen. Obwohl die Männer vermutlich Schlange stünden, wenn seine Frau es darauf anlegen würde. Es gab niemand im ganzen Bekanntenkreis, der sie nicht bewunderte. Bewunderte und wahrscheinlich auch begehrte. Das merkte er an den neidischen Blicken, die ihm galten. Wahrscheinlich war der eine oder andere auch lüstern genug, um sogar mit den kalten Kacheln im Bad vorliebzunehmen. Aber jeden Samstag über Jahre hinweg? Kaum. Höchstens vielleicht jedes Mal ein anderer. Unsinn, das war absurd. Und wie hätte Sylvie denn schon vor ihrer Heirat wissen können, dass sie ihn künftig jeden Samstag betrügen wollte.

„Wer weiß“, riss Ernst Harro da aus seinen Gedanken. „Wer weiß schon, wie sie aussieht, ohne all die Schönheitsmittelchen …“

Harro brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Ernst von Sylvie sprach. „Ich weiß es“, polterte er dann los. „Willst du etwa behaupten, ich wüsste nicht, wie meine Frau in natura aussieht?“

„Na ja, vielleicht hast du sie ja noch nie ohne Make-up gesehen. Mit Schminke kann man eine Menge machen …“ Ernst kippte sein sechstes Bier. Den ein oder anderen Schnaps hatte er auch schon intus, und er schwankte schon ein wenig.

Aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, so abfällig über Sylvie zu reden. Harro spürte, wie Ärger in ihm aufstieg. „Du bist ja nur neidisch, weil sie mich geheiratet hat“, behauptete er.

„Pah!“, Ernst lachte auf. „Du warst der Einzige, der dumm genug war, sie zu fragen. Sowas heiratet man doch nicht!“

„Sowas? Was meinst du mit sowas?“ Harros Ärger schlug in heißen Zorn um. „Los, sag schon!“

Ernst legte den Finger an die Nase und grinste Harro dann an. „Na, sowas halt“

Seine Aussprache war inzwischen verwaschen, aber Harro verstand ihn nur zu gut. Ehe er selbst begriff, was geschah, sprang er nach vorn, packte seinen besten Freund am Hals und drückte zu. Ernst stieß einen erstickten Schrei aus und taumelte zurück, aber Harro ließ nicht los.

„Auseinander! Was soll denn das! Auseinander, sag ich!“, ging da der Barkeeper energisch dazwischen.

Ein Kellner eilte ebenfalls herbei und zerrte Harro mit der Hilfe eines weiteren Gastes weg von seinem Opfer. Ernst wäre aber trotzdem zu Boden gesackt, wären nicht zwei Männer und eine Frau von ihrem Tisch aufgesprungen, um ihn zu stützen.

Harro versuchte, die Hände, die ihn hielten, abzuschütteln und funkelte Ernst wütend an. Der rieb sich den Hals, nun schlagartig nüchtern.

„Lasst mich los. Der Mistkerl hat meine Frau beleidigt“, brüllte Harro.

Ernst wich zurück, wollte etwas sagen, ließ es dann aber. Mit einer verächtlichen Geste drehte er sich um und wankte aus dem Lokal.

„Was sollte denn der Blödsinn?“, wollte der Barkeeper wissen, der Harro als friedlichen und angenehmen Kunden kannte. Kurz erwog er, ihn auch gleich rauszuwerfen, entschied sich dann aber dagegen. Womöglich war Ernst noch nicht außer Sichtweite und dann konnte das Ganze wirklich schlimm enden. Also schenkte er dem jungen Mann stattdessen noch ein Bier ein.

„Aufs Haus“, meinte er. Dann lehnte er sich gemütlich auf seine Seite des Tresens und schlug einen vertraulichen Ton an. „Na, erzählen Sie mal. Was war denn eben los?“

Und Harro erzählte: von Sylvie, der schönsten Frau der Welt, seiner Frau, die sich jeden Samstag im Badezimmer einschloss. Sylvie, die Frau, der er versprochen hatte, nie zu fragen und niemals nachzuforschen, warum sie das tat.

Erst als Harro geendet hatte, wurde ihm bewusst, dass der Barkeeper ihn stirnrunzelnd ansah.

„Und Sie haben keine Ahnung, was sie da treibt?“, vergewisserte der sich schließlich.

„Nicht die leiseste.“ Harro schüttelte den Kopf und kam sich plötzlich dumm und lächerlich vor. „Ganz schön idiotisch von mir, oder?“

„Weiß ich nicht.“ Der Barkeeper zuckte die Achseln. „Um das beurteilen zu können, müsste man eben wissen, was Ihre Frau im Bad macht. Vielleicht ist alles ganz harmlos. Vielleicht auch nicht. Womöglich ist es sogar besser, wenn Sie von nichts wissen …“ Verlegen kratzte er sich am Ohr.

„Also …“, fügte er nach einigem Nachdenken schließlich hinzu, „das Ganze erinnert mich an einen Film, den ich vor Jahren mit meiner kleinen Tochter im Kino angeschaut habe. Da war eine Meerjungfrau, die sich in einen Mann verliebt hatte. Jeden Sonntag musste sie, anstatt zur Kirche zu gehen, in die Badewanne und bekam dann einen Fischschwanz.“

Harro lachte auf und schüttelte den Kopf. Sylvie ging auch nicht zur Kirche. Aber wer tat das heutzutage noch? Außer an Weihnachten und Ostern vielleicht.

Lange betrachtete Harro die Blume seines Biers. Meerjungfrau. Witzige Idee. Das konnte er ja wohl von vornherein ausschließen. Aber was trieb Sylvie im Badezimmer? Das würde er erst herausfinden, wenn er nachsah. Er hatte aber fest versprochen, es nicht zu tun. Womöglich konnte das ja auch schlimme Folgen haben. Welche? Nun, er machte sich womöglich lächerlich. Oder noch schlimmer! Sylvie wäre danach womöglich so gekränkt, dass sie ihn verließ. Aber würde das dann nicht auch bedeuten, dass sie ihn gar nicht liebte? Hatte sie ihn vielleicht nur geheiratet, weil er der Einzige war, der jeder ihrer kleinen Launen nachgegeben hatte? Möglicherweise hatte sie ihn mit ihrer albernen Bedingung nur testen wollen und seine Zustimmung hatte ihr bewiesen, dass er so vernarrt in sie war, dass sie ihn um den kleinen Finger wickeln konnte. Jeder richtige Mann hätte sie ausgelacht, nur er, der verliebte Trottel, hatte akzeptiert und hielt sich auch nach drei Jahren noch brav daran. Wahrscheinlich saß Sylvie jeden Samstag in der Wanne und lachte sich krumm über ihren gewissenhaften Esel von einem Ehemann. Ja, genau so war es, ganz bestimmt. Vermutlich hatte sie selbst auch diesen Film gesehen und war dadurch auf die Idee gekommen.

Harro war jetzt sehr sauer auf sich selbst. Wie hatte er sich nur von dieser Frau so zum Narren machen lassen können. Ernst hatte vollkommen recht gehabt, seinen Argwohn zu wecken. Dass er ihn gewürgt hatte, tat ihm nun sehr leid. Gleich morgen würde er sich bei ihm entschuldigen. Aber vorher würde er Sylvies Spielchen ein Ende machen. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Sylvie verließ jeden Samstag stets pünktlich um Mitternacht das Badezimmer. Wenn er sich beeilte, konnte er es schaffen, noch rechtzeitig nach Hause zu kommen.

Entschlossen zahlte Harro sein Bier und verließ das Lokal. Draußen sah er sich nach einem Taxi um, konnte aber keines finden. Er würde zu Fuß nach Hause gehen müssen. Auch gut. Energisch ballte er seine Fäuste in den Jackentaschen und beschleunigte seine Schritte.

Schließlich erreichte er sein Haus, hetzte die Treppe hinauf, weil der Lift nicht schnell genug kam. Hastig riss er die Tür auf, nachdem er ewig gebraucht hatte, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken, und stürzte zur Badezimmertür. Dort hielt er inne. Ein seltsames Zögern überkam ihm und seine Hand zitterte, als er sie vorsichtig nach der Klinke ausstreckte.

Die Tür schwang langsam nach innen auf. Harro wunderte sich darüber, dass nicht abgeschlossen war. Doch da war er auch schon eingetreten. Er konnte nicht direkt auf die Badewanne sehen, weil die Duschkabine dazwischen stand. Aber er hörte es von dort plätschern. Und – kicherte da nicht jemand?

Über den Wannenrand ragte ein Stück lilafarbener Schlauch. Nein, eigentlich kein Schlauch, das Ende lief ja spitz zu. Es sah eher aus wie ein Schwanz. Oder eine Schlange. Und es bewegte sich. Ganz vorsichtig trat Harro näher heran. Das Ding drehte sich ein wenig und er konnte sehen, dass die Unterseite mit Saugnäpfen besetzt war.

Nun hatte er die Duschkabine umrundet und erblickte seine Frau.

„Himmel!“, schrie er entsetzt auf. „Du bist …“

Weiter kam er nicht mehr, denn ein Tentakel schnellte empor, schlang sich um seinen Hals und legte sich über seinen Mund.

Und während Harro verzweifelt versuchte, sich zu befreien und um Hilfe zu rufen, zog der Tentakel ihn beinahe zärtlich nach unten zu der bis zum Rand gefüllten Wanne und drückte seinen Kopf unter Wasser, bis er aufhörte, zu strampeln und um sich zu schlagen.

Als der Mann schließlich erschlaffte, ließ ihn die Kreatur, die sechs Tage in der Woche seine Frau Sylvie gewesen war, sanft zu Boden gleiten. Sanft streichelte sie dem Toten mit der Spitze eines Tentakels den Kopf und flüsterte: „Alle Achtung. Auf keinen deiner Vorgänger musste ich drei Jahre warten, bis ihn die Neugier übermannte. Respekt, Harro. Respekt.“

Benebelt

Fussel war langweilig.

Und das war nicht verwunderlich, wie er fand. Der Winter dauerte schon viel zu lange. Und die ganze Zeit über hatte der Bach schwarz und trist und leblos da gelegen. Sein Wasser war immer nur langsam und lautlos geflossen, als ob es sich zum Fluss davonstehlen wollte: Nicht mal ein Blubbern, schon gar kein munteres Plätschern, kein plitsch, kein platsch – das wäre alles viel zu fröhlich gewesen. Wenn es viel war, vielleicht mal ein leises Gurgeln, das keiner gehört hatte und für das niemand die Verantwortung übernehmen wollte. Aber jetzt wollte Fussels Ungeduld, dass der Bach wieder erwachte. Im Geiste sah er schon, wie die Sonne den Bach mit Frühlingsstrahlen kitzelte und ihr Licht anfangs zaghaft, aber dann immer temperamentvoller auf dem Wasser tanzen ließ, bis es nur so flirrte und flitzte.

Ach ja, aber eben nur im Geiste.

Fussel war fad.

Dabei konnte er von Glück reden. Sein Bach war einer der wenigen, die sich ohne gemauerte Zwangsjacke, ohne Begradigung, im natürlichen Bett durch die Felder schlängelten. Gesäumt wurde er von Weiden und Erlen. Sein Wasser war noch klar und japste nicht nach Luft, feist und grün vom Dünger, algendurchwuchert und stinkig kippelig. Niemand wusch hier sein Auto oder lud heimlich Müll ab, und auch die Bauern, die an seinen Ufern wirtschafteten, waren anders als die meisten. Rasten sie doch nicht stur mit ihren Maschinen über die Äcker, alles um und unterpflügend, was nicht schnell genug die Flucht ergriff … Nein, die hier hielten sogar mal den Trecker an, schalteten den Motor ab und legten ein Päuschen ein, während dem sie lächelnd ihr Gesicht der Sonne darboten, wischten sich den Schweiß ab, lauschten der Stille und schauten sich einfach mal um – und was es da alles zu sehen und zu hören gab!

Schon allein der Anblick des Baches im Sommer, wie er sich in seinem Bett drehte und wendete, sich auch mal selbst entgegenkam, ehe er dann wieder in seine ursprüngliche Richtung zurückkehrte. Bis zu seinem Ende in der Donau genoss er ganz unverschämt sein Glück und seine Freiheit.

Und trotzdem war es Fussel langweilig und fad zumute. Den ganzen Winter über war er den anderen Nebelgeistern schon damit auf die Nerven gegangen, weil er doch zu spät gekommen war und weil er wachsen musste und weil ihm so viel vom Bach erzählt worden war, und, und, und …

Aber jetzt mal in Ruhe und von Anfang an! Fussel war also ein Nebelgeist und wahrscheinlich der winzigste Nebelgeist, den es je gegeben hat. Früher hatte er an einem anderen Bach genebelt und den hatten die Menschen tiefer gelegt und überbaut. Er floss nun durch eine Röhre unter der Erde. Wen wunderte es da, dass Fussel so klitzeklein war. Ein Nebelgeist braucht eben nicht nur Wasser, sondern auch Luft und Platz, damit er sich nach allen Seiten ausbreiten kann. Wenn er bei jeder Bewegung gleich an einen Gullydeckel stößt, nur ein kleines bisschen durch die Gitter nebeln kann, hat er wirklich keine Chance.

Der letzte Winter hatte gerade begonnen, als er sich noch einmal vor der langen Wartezeit auf den Frühling nach oben getraut hatte. Voller Neid hatte er den Menschen zugesehen. Du liebe Güte, was die jedes Mal, wenn sie ausatmeten, für riesige Nebel drehten, und er war dagegen so ein winziges Wölkchen! Je mehr Atemwolken Fussel bestaunt hatte, desto trübsinniger war er geworden.

Was sollte er eigentlich noch hier und wozu brauchte es überhaupt noch Nebelgeister? So hatte er vor sich hin gesonnen und bei all der Wehmut gar nicht bemerkt, wie sich die Kälte in ihn hineinschlich.

Er war immer müder geworden, konnte sich gar nicht mehr bewegen. Was war denn nur los?, hatte er noch gedacht. Ganz steif und vor Kälte zum Kristall erstarrt hatte ihn sich ein Frostwind geschnappt und vor sich her geblasen, drunter und drüber, ab und davon.

Erst hier an diesem wunderbaren frei fließenden Bach war er wieder zu sich gekommen, inmitten von vielen anderen Nebelgeistern, die ihn besorgt umringten und zaghaft anstupsten. Das war am Anfang so gewesen.

Später bereuten sie es schon manchmal ein bisschen, dass sie ihn bei sich aufgenommen hatten. So klein er war, konnte er einem doch ganz schön auf die Nerven gehen mit seiner ewigen Fragerei nach dem Frühling, und wann es denn endlich losgehe, und ob es schon so weit sei, und so weiter …

Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn die anderen Nebler nervten Fussel auch ganz schön: Ständig wurde er vertröstet! Dauernd hieß es, er solle sich gedulden. Jeden Tag musste er die sieben goldenen Regeln der Nebelgeister durchkauen: Haltet euch immer an den Händen; Keiner nebele ohne den anderen; Achtet auf den Wind und woher er weht; Meidet das Sonnenlicht; Geht nicht zu weit vom Bach weg; Fasst nichts an, sonst friert ihr fest und … Mist, schon wieder eine vergessen! Wenn's keine Regeln zu lernen gab, dann quasselten sie ohne Ende übers Wetter und zum hundertdreiundvierzigsten Mal darüber, wie verregnet der letzte Sommer doch gewesen wäre und wie selten man hatte nebeln können. Wenn man denen so zuhörte, konnte einem ja Angst und Bang werden! Und wenn sie nichts dergleichen machten, leierten sie garantiert doofe Nebelgedichte herunter:

Der Mond verbirget sich, der Nebel graue Schleier

deckt Luft und Erde nicht mehr zu …

Oder

Der Nebel reißt, der albisch kroch aus meinem Blut

zum Totenfeld …

Oder

„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“

„Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?

Den Erlenkönig mit Korn und Schweif?“

„Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif …“

Oder

Als froher Geist und früh verwaist

hab ich das Nebelland bereist.

Auch Nebelsuppe aß ich wohl ...

Oder

0 schaurig ist's, übers Moor zu gehen,

wenn es wimmelt vom Heiderauche.

Sich wie Phantome die Nebel drehn

und die Ranke häkelt am Strauche …

Oder

Weshalb denn nur im Nebel schweifen?

Abgeschieden von Haus, Busch und Stein,

nirgends ein Hoffnungsstreifen.

Man ist ganz allein.

Oder

Wie sank die Sonne glüh und schwer!

Und aus versengter Welle dann

wie wirbelte der Nebel Heer, die sternenlose Nacht heran …!

Das konnte einem schon mächtig auf den Nebelgeist gehen. Wenn es wenigstens Abenteuergeschichten von einem berühmten Nebelhelden gewesen wären, wobei Fussel kein Nebelheld einfallen wollte, aber egal. Ach, und dass er auch immer eine Regel vergaß und dann von einem der altehrwürdigen Nebelgeister gescholten wurde. Wollte der Winter denn gar nicht vergehen? Sollte es immer so langweilig bleiben?

Endlich aber war es so weit. Tatsächlich, wirklich und wahrhaftig, und Fussel hätte es beinahe verpasst, weil er so sehr damit beschäftigt war, sich zu langweilen. Aber Frotzl, einer von diesen ganz großen Neblern, nahm ihn einfach bei der Hand und zog ihn mit – raus, hinaus, über den Bach hinweg, nach oben, immer weiter und weiter …

Doch dann riss Frotzl Fussel energisch zurück: „Bleibst du wohl hier, da oben scheint doch noch die Sonne! Später kannst du mitkommen, wenn wir uns über dem ganzen Tal ausbreiten.“

„Jaja, ist schon gut.“ Fussel schmollte. Er hatte sich so darauf gefreut, und jetzt lag er wieder an der Kette. Diese Angsthasen, das war ja so, als würde der Kindergarten einen Ausflug machen.

Weil er so damit beschäftigt war, beleidigt zu sein, bekam er gar nicht mit, dass die anderen Nebelgeister aufstiegen, sich langsam über die Felder breiteten, wehten und wogten, waberten und wuselten, sich immer mehr zutrauten. Da wurde die erste Pirouette gewagt, dort ein kahler Baum verzuckert.

Aber was war das jetzt? Welch fremder, aufreizender Duft stieg Fussel denn da in die Himmelfahrtsnase? Das musste er genauer …

„Immer zusammenbleiben.“

„Jaja … Mist!“

„Trödel nicht so rum, komm jetzt! … Es wird schon allmählich dunkel … Was machst du denn da? … Pass auf deine Schuhe auf, das Gras ist schon feucht … Komm endlich!“

„Ich komme gleich, ich will nur noch wissen, was das da ist! Da liegt was.“ Ein kleiner Junge bahnte sich zielstrebig seinen Weg durchs Gras am Ufer des Baches, während seine Eltern, mit denen er „gewandert“ war, bereits am Auto auf ihn warteten.

„Das ist doch nichts, das ist nur eine Flasche“, sagte seine Mutter ungeduldig. Es dämmerte bereits und Nebel stieg auf. Höchste Zeit, endlich nach Hause zu kommen. Sie würde sich ein Schaumbad einlassen und den neuen Historienroman zu Ende lesen, wenn der Bengel nur endlich mal käme.

„Aber da ist was drin!“ Der Junge dachte gar nicht daran, zu tun, was seine Mutter verlangte.

„Wie oft müssen wir dir noch sagen, dass du nicht jeden Müll anfassen sollst? Wirf endlich diese Flasche wieder weg und komm her“, schalt nun auch der Vater.

Richtig! Tu, was deine Eltern dir sagen, leg endlich die Flasche wieder hin, sagte sich auch Fussel. Denn genau dieser Flasche entströmte wahrscheinlich der verführerische Duft, wegen dem er sich von den anderen Nebelgeistern „klitzekleinwolkig“ und fast verpufft weggeschlichen hatte.

Der Junge, der die Flasche hielt, störte ihn nicht weiter. Menschen konnten längst nicht scharf genug sehen, um einen Nebelgeist zu erkennen, wo der eine anfing und der andere aufhörte. Das machte ihm die wenigsten Sorgen. Nur könnte dieser Dreikäsehoch endlich damit aufhören, mit der Flasche zu fuchteln? Wie sollte er da in aller Ruhe schnuppern, ob er hier richtig war? Er klammerte sich an den Flaschenhals und schnüffelte. Das ließ sich doch schon ganz gut an. Aus der Flasche duftete es süß und herb, auf jeden Fall sehr anregend. Wenn der Bengel nur endlich aufhören würde, so herumzuzappeln! Na, so wurde das nichts.

Kurzentschlossen kroch der kleine Nebelgeist in die Flasche hinein, in die goldgelbe Flüssigkeit am Grund, die so ausnehmend interessant duftete.

PLOPP!

„Ich hab einen Geist gefangen, ich hab einen Geist in der Flasche gefangen. Jetzt hab ich einen Flaschengeist! Jetzt kann ich mir was wünschen! Hallo, ich hab einen Geist gefangen!“ Begeistert schlenkerte der Junge die Flasche hin und her.

Kinder können Geister manchmal eben doch sehen, besonders dann, wenn die einzeln und allein unterwegs sind, und nicht mit ihren Kameraden zu einem ordentlichen Nebelschleier verschmolzen.

„He, du Flegel, du Göre, du Blage, missratene Brut! Lass mich raus, lass mich sofort raus oder ich vergesse mich“, schimpfte Fussel lautstark, doch der Junge konnte ihn natürlich nicht hören. Genauso wenig konnte er Fussel spüren, obwohl der sich heftig gegen den Finger stemmte, den der Lauser als Korken in die Flasche gestopft hatte.

Fussel drohte, schrie Zeter und Mordio, ballte die Fäuste, trommelte gegen das Glas. Aber da war nichts zu machen.

„Ich hab einen Flaschengeist gefangen, ich hab einen Flaschengeist gefangen!“ Stolz die Flasche schwenkend, lief der Junge endlich quer über die Wiese zu seinen Eltern, die nun schon ziemlich gereizt auf ihn warteten.

Fussel wurde bei dem Geschaukel arg durchgeschüttelt. Die Flüssigkeit schwappte hin und her, spritzte und schäumte, traf ihn zwar nicht, er war schließlich praktisch körperlos, durchdrang ihn aber trotzdem und stieg ihm zu Kopf.

„Lasch misch sofo aus!“, forderte der kleine Nebelgeist mit zunehmend schwerer Zunge – oder was bei einem Nebelgeist auch das Gegenstück zu einer Zunge sein mag. „Dusollsmiausassn.“

Oje, Fussel war sternhagelvoll.

Tja, und das wäre es dann auch gewesen! Der Junge wäre zu seinen Eltern zurückgerannt, die hätten ihm die Flasche abgenommen und irgendwohin geworfen. Fussel hätte den Weg zum Bach nicht mehr gefunden und erst mal seinen Rausch ausgeschlafen. Am nächsten Tag hätte ihn die Sonne erwischt und um Fussel wäre es geschehen gewesen. Aber! Da waren ja noch die anderen Nebelgeister und die siebte Regel, die Fussel immer vergaß. Sie lautete: Regelmäßig abzählen! Und eben dabei fiel natürlich auf, dass Fussel fehlte.

Und da Nebelgeister ihresgleichen sehr gut hören und spüren können, auch über größere Entfernungen, wussten alle ziemlich rasch, was mit ihm los war:

„Der ist stinkbesoffen.“

„Bekneipt.“

„Beduselt.“

„Sinnlos betrunken.“

„Voll wie eine Strandhaubitze.“

„Hackedicht.“

„Völlig abgefüllt.“

„Blau wie ein Märzveilchen.“

„Den Kanal gestrichen voll.“

„Schwer geladen und bös Schlagseite.“

„Der hat einen Affen sitzen.“

„Einen in der Krone.“

„Voll wie …? Mist, mir fällt nichts mehr ein.“

Nachdem das nun geklärt war, fragten sie sich, was zu tun sei. Fussel hatte sie zwar in letzter Zeit ziemlich genervt, aber insgeheim waren die Nebelgeister ganz froh über den frischen Wind, der unter sie gefahren war, mit diesem rotzfrechen, quengeligen, erheiternden, ja doch irgendwie liebenswerten Winzling, der sich aber auch an keine einzige der sieben Regeln hielt. Verflixt und zugenäht! Wenn es auch keiner zugab, es täte allen leid, wenn er jetzt auf einmal wieder fort wäre.

Abgesehen davon können Nebelgeister fuchsteufelswild werden, wenn man einen der ihren einsperrt. Bekanntermaßen war der Nebel in London ja gerade deshalb so dick, weil es ein verrückter, englischer Forscher gewagt hatte, an gefangenen Nebelgeistern herumzuexperimentieren. Dieser Wissenschaftler irrte nun schon seit Jahren übernächtigt, mit blutunterlaufenen Augen durch aufgegebene U-Bahn-Schächte und traute sich nicht mehr ins Freie. Denn da warteten die anderen Geister darauf, sich an ihm zu rächen, es ihm heimzuzahlen, ihm Flötentöne beizubringen …

Meteorologen sind da zwar anderer Meinung, aber die haben ja auch keine Ahnung.

Hätte der kleine Junge nur geahnt, worauf er sich mit seinem Fang da eingelassen hatte! Aber so stolzierte er glücklich über die Wiese auf seine Eltern zu. Er merkte gar nicht, wie es ringsumher immer stiller wurde, wie etwas näher rückte, sich um ihn zusammenbraute, bis er kaum noch das Auto sehen konnte und schließlich fest umschlossen war von einer weißen, watteweichen, würgenden Faust. Von allen Seiten hob ein immer lauter werdendes Wispern, Zischen und Flüstern an:

„Lass ihn raus, oder ich beiß dir den Finger ab!“

„Ich brech dir die Beine.“

„Ich reiß dir die Haare aus.“

„Ich zieh dir die Ohren so lang wie bei einem Kaninchen!“

„Ich schlürf deine Augen.“

„Ich …“

„Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!“ Der Kleine ließ die Flasche fallen und rannte blindlings los. Er beruhigte sich erst wieder, als er im Wagen seiner Eltern saß, alle Türknöpfchen runtergedrückt waren, seine Mutter ihm die Haare streichelte und der Nebel sicher ausgesperrt war.

„He! Komm zurück, ich war dran, ich war noch nicht fertig. Ich knabber dir die Nase ab …“, beschwerte sich ein Nebler. „Ach Mist, ihr habt ihn zu früh erschreckt“, wandte er sich dann beleidigt an seine Kollegen. „Ich wär jetzt dran gewesen, das ist nicht fair.“

Doch dann zuckte er nur die Schultern oder zumindest das, was bei einem Nebelgeist einer Schulter am nächsten kommt, und gesellte sich zu den anderen, die bereits voller Sorge um die Flasche wogten, aus der es schwach tönte: „Laschmischsofortaus.“

Die frische Luft klärte die Nebel in Fussels Kopf etwas. Er torkelte heraus ins Freie, wurde fest von allen Seiten untergehakt und in Sicherheit gebracht.

Wer an jenem Abend genau hinsah – also, wirklich ganz aufmerksam und mit Argusaugen – konnte über den Feldern eine dichte Nebelbank erkennen, in deren Mitte ein winziger, klitzekleiner, honiggelber Fleck irrlichterte.

Fussels Abenteuer bescherte ihm am nächsten Tag selbst ohne Kopf einen „soooooo breiten Kopf“, wie er behauptete. Außerdem musste er sich die Geschichte seiner Rettung mindestens hundertmal anhören und an seinem Namen fehlte plötzlich das erste oder zweite „s“. Er hatte seinen Spitznamen weg: Fusel. Auf jeden Fall kurierte er sich am nächsten Abend noch aus und die anderen zogen ohne ihn los. Vielleicht war das auch gut so, denn so hörte er nicht, wie froh die anderen Nebelgeister darüber waren, dass sie ihn gerettet hatten. Am Ende wäre Fusel-Fussel das auch noch zu Kopfe gestiegen.

Rosalinds Apfel

Es war einmal ein Königreich, so friedlich und schön, wie man es sich nur vorstellen kann. Die Winter waren mild, die Sommer sonnig. Der Regen wartete meist, bis zur Schlafenszeit. Kein Zahnarzt bohrte unnötig in den Zähnen, um möglichst bald einen neuen Sportwagen kaufen zu können. Niemand, und war er auch noch so reich, versuchte, Steuern zu hinterziehen oder Schwarzgeld ins Ausland zu schaffen. Alle Menschen waren zufrieden. Ach, welch ein glückliches Land.

Dieses friedvolle Reich wurde regiert von einem milden Herrscher. Das Wohl seiner Untertanen ging ihm über alles. Seine Königsstadt lag sehr malerisch inmitten sanfter Hügel, ungestört von Autobahnen oder Flughäfen. Die Hügel waren umgeben von saftig grünen Wiesen und fruchtbaren Feldern. Hinter der Stadt erhob sich ein prächtiger Wald und hinter dem Wald ragten eindrucksvolle Berge auf, mit schroffen Felsen und Schnee auf den höchsten Gipfeln. Es war wirklich eine Wonne, diese Landschaft anzuschauen.

Das Schloss des Königs bestand aus weißem Marmor. Es hatte spitze Türmchen an jeder Ecke, Giebel, Zinnen, viele Erker und Balkone. Vorne aber verlief eine breite Freitreppe, die jeder Untertan betreten durfte, wann immer er ein Anliegen an seinen König hatte. Das kam aber selten vor, denn alle waren ja zufrieden. Vor dem Schloss erhob sich in einem von Blumen nur so überquellenden Garten ein Springbrunnen. Der plätscherte leise vor sich hin und untermalte damit den Gesang vieler bunter Vögel, die in dem Blumengarten nisteten. Keine Mauer begrenzte den Garten, denn es gab niemanden, der abgewehrt werden musste. Der niedrige Zaun, der den Garten umgab, diente in erster Linie dazu, den Gärtnern zu zeigen, wo sie mit ihrer Arbeit aufhören sollten. Die gingen so unermüdlich und freudig zu Werke, dass sie wohl die ganze Stadt in einen Garten verwandelten, hätte man sie nicht aufgehalten.

Der König selbst war groß, gutaussehend und weise. An seiner Seite regierte natürlich eine Königin, eine sanfte, gütige und schöne Frau. Als sie ihm ein Kind gebar, konnte er sich kaum halten vor Glück. Das Volk aber jubelte, weil es nun einen Thronfolger gab oder vielmehr eine Thronfolgerin. Denn die Königin brachte ein Mädchen zur Welt, ein schönes Kind mit rosigen Wangen und einer kräftigen Stimme. König und Königin liebten ihre Tochter über alles. Lange überlegten sie, wie sie ihr Kind nennen sollten. Schließlich, weil die Wangen des Mädchens so überaus rosig waren, gaben sie ihm den Namen Rosalind.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739344478
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
Hexen Fabelwesen Fantasy Kurzgeschichten Zwerge Ironie Feen Kobolde Riesen Humor Satire Parodie Erzählungen Urban Fantasy

Autor

  • Ruth M. Fuchs (Autor:in)

Ruth M. Fuchs, eigentlich bildende Künstlerin, schrieb 2003 ihr erstes Buch. Inzwischen hat sie das Modellieren von Skulpturen hintangestellt und schreibt vor allem Romane. Einen besonderen Stellenwert hat dabei die Phantastische Krimiserie "Erkül Bwaroo ermittelt". Daneben gibt es aber auch noch andere Romane und Kurzgeschichten, alle mit dem typischen Humor der Autorin und immer auch mit ein bisschen Fantasy.
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Titel: Vergessen? Ach wo!