Als ich zum Teelicht zurückkehrte – in meiner Tüte aus dem Geschäft für Innendekoration die hellgrünen Kerzen und eine zierliche Armbanduhr, die um fünfzig Prozent reduziert gewesen war – stand er vor mir. Cary Grant. Auf dem Kopf eine Wollmütze. Gerade im Begriff zu gehen.
Heute trug er keinen Cordanzug, das erkannte ich an den Hosenbeinen. Eher einen normalen Anzug. Aber die Augen waren dieselben. Und die Bartstoppeln. Mein Herz pochte wie verrückt.
Ich wollte meine Supermarkttüte verbergen, aus der die Packung Toilettenpapier ragte, wollte die Armbanduhr bereits an meinem Handgelenk tragen, wollte ... ach, dass er nicht gerade ging, sondern kam, und hätte mich dafür ohrfeigen mögen, meine Zeit vertrödelt zu haben.
Ich würde Kerzen und Uhr noch heute zurückbringen. Sie hatten mir nichts als Pech gebracht.
Dies alles ging mir in Millisekunden durch den Kopf, wir standen keineswegs einander gegenüber und starrten uns an. Vielmehr hatte ich den Eindruck, als habe er mich noch nicht einmal bemerkt. Schien mich für eine Kundin auf Shoppingtour zu halten.
Er murmelte ein »Guten Tag«, nahm die Stufen an mir vorbei auf den Bürgersteig und ging in die Richtung davon, aus der ich gekommen war. Ohne einen Blick zurück.
Ich starrte ihm nach.
Die Enttäuschung in meinem Bauch pochte heftig, als ich meine Einkäufe auf dem Tresen abstellte und Katha, die hinter dem Tresen stand, ein enttäuschtes »Hi« entgegenhauchte.
Sie schien mich gar nicht zu bemerken. Starrte aus unserer Schaufensterscheibe, ihm hinterher – obwohl er längst außer Sichtweite war.
»Es gibt ja doch noch interessante Männer«, sagte sie anerkennend und wandte den Blick von der Scheibe ab und mir zu. »Ich habe mich seit Ewigkeiten nicht mehr so gut mit einem Mann unterhalten.«
»Hast du?«, fragte ich, band meinen Schal ab und zog die Mütze vom Kopf. »Das ist ja schön.« Es war nicht zu fassen. Er unterhielt sich mit Katha? Während ich da draußen Tampons, Kerzen und Armbanduhren kaufte?
Dieses neue Jahr begann ganz und gar nicht so, wie es sollte.
»Du bist eben wie immer zu brav«, sagte Sina, als ich abends bei ihr vorbeischaute und ihr gestand, dass ich mich vor bereits einer Woche in einen Kunden verguckt hatte. Irgendwann musste es ja mal raus.
»Zeig Initiative!«, rief sie. »Kämpf um dein Glück! Denk an das Herz, das du gegossen hast!« Sie schüttelte den Kopf. »Wusste ich es doch.«
»Ich konnte ihm doch da auf der Außentreppe kein Bein stellen, damit er mich bemerkt«, wandte ich ein.
»Ein sanftes: Ach, wie schade, dass wir uns verpasst haben, kommen Sie doch ein andermal wieder, hätte es auch getan.«
Ich ließ die Schultern hängen. »Ich bin nun mal nicht so schlagfertig wie du.«
In Wahrheit war Sina auch nicht besonders schlagfertig. Bis auf ihre lässige Kleidung und den unterschiedlichen Einrichtungsgeschmack waren wir uns sogar sehr ähnlich.
Sina mochte klare Linien und am liebsten alles in Schwarzweiß mit gezielt eingesetzten Farbtupfern an den Wänden und auf der Couch; keine Filmstarposter, Kunstlederstühle und Cordsofas wie bei mir. Aus diesem Grund hatten wir nach unseren Ausbildungen auch getrennte Wohnungen genommen – dennoch hingen wir andauernd zusammen. Meist bei Sina, seit sie Nils kannte.
Er sagte oft scherzhaft, er habe das doppelte Lottchen an seiner Seite. Ich mochte ihn. Er war nett, sah gut aus (wenn man den Typ »Sunnyboy« mochte) und arbeitete als Bauingenieur.
Sina nannte er liebevoll »meine kleine Diebin«, was zu ihr passte. Sie hatte unser aller Herz gestohlen.
»Pass auf«, sagte Sina eben und nahm meine Hand. »Beim nächsten Mal fragst du ihn, wie er heißt. Damit deine Fantasien einen Namen bekommen.«
Ich betrachtete meine Schwester skeptisch. Ich hatte noch nie einen Kunden nach seinem Namen gefragt. Das wäre auch seltsam, oder nicht? Lieber nannte ich ihn gedanklich Mr. Grant. Cary klang ja direkt auch schon wieder albern.
»Ich werde ihn nicht nach seinem Namen fragen«, widersprach ich Sinas Vorschlag. »Das wäre wirklich affig.«
Ich wusste, worauf das Ganze hinauslief. Auf eine extrem zähe Geschichte. Ich hätte Sina gar nichts von Mr. Grant erzählen sollen. Nun würden sich all unsere zukünftigen Gespräche – zumindest, so lange nichts passierte – darum drehen, dass nichts passierte.
Allein die Vorstellung weckte ungute Erinnerungen in mir. Und die hatte gar nichts mit einem Mann zu tun, sondern mit meinem Beruf. Ich hatte nach dem Realschulabschluss Friseurin gelernt. Und meinen Job von Herzen geliebt. Je größer die haarige Herausforderung, umso besser.
Doch dann waren Anfang letzten Jahres plötzlich Pusteln an meinen Handgelenken und zwischen meinen Fingern aufgetaucht. Dann an den Schläfen und im Gesicht. Auf meinen Augenlidern. Es juckte und nässte. Ich kratzte und cremte, ging zum Arzt und zu einer Kinesiologin, die mir eine Kollegin empfohlen hatte, ließ von ihr meine Energiebahnen reinigen. Doch es half nichts.
Etliche Wochen war es mir unmöglich, Kunden die Haare zu waschen oder sie zu frisieren; einzig Schneiden wäre gegangen – theoretisch zumindest.
Wir testeten es einige Wochen lang, ob die Allergie davon zurückging, wenn ich mit keinem einzigen Pflegeprodukt in Berührung kam. Leider half es nicht.
Wegen der offenen Stellen an meiner Haut konnte ich nicht einmal mehr häkeln. Schminke vertrug ich auch keine mehr – zumindest hatte ich aufgegeben, neue auszuprobieren. Einzig Wimperntusche war zu ertragen.
Abend für Abend saßen Sina und ich beieinander und sinnierten darüber, ob sich die Pusteln vermehrten oder dezimierten. Wir führten unendlich anmutende Gespräche darüber, wie ich das Unausweichliche vermeiden könnte. Dass ich irgendwann meinen Beruf nicht mehr ausüben konnte.
Johanna war eine Verfechterin des mentalen Trainings. Positive Affirmationen, die da lauteten: Ich bin gesund, meine Haut ist makellos, ich habe einen wundervollen Beruf, ich werde ihn bis zur Rente ausüben, meine Kunden lieben mich, sollte ich vor mich hinsprechen.
Tja, was soll ich sagen, es brachte nichts – die Allergie verschlimmerte sich. Keine Salbe, keine Pille dagegen gewachsen. Und die Ärzte ratlos. Nachts erwachte ich davon, wie ich mir Finger und Handgelenke blutig kratzte.
Als die ersten Pusteln auf meinen Augenlidern auftauchten und ich nicht einmal mehr Mascara vertrug, gab ich auf. Ich ließ mich krankschreiben, schluckte hochdosiertes Kalzium, das endlich fruchtete, und fand mich damit ab, dass ich eine berufliche Alternative benötigte.
Ich bewarb mich in Kaufhäusern und Ladengeschäften – immerhin hatte ich Kundenerfahrung. Meine erste Stelle war die im Autoteile-Shop gewesen.
Die Aussicht darauf, dass sich das Programm »Hoffen und Warten« in Bezug auf meinen männlichen Schwarm wiederholen würde, brachte mich zu einem Entschluss: Ich würde nicht nach seinem Namen fragen, das war mir viel zu offensiv.
Ich würde ihm zu seiner Wohnung folgen, um zunächst einmal herauszufinden, wo er lebte. Unbemerkt selbstverständlich.
Innerlich griff ich mir an die Stirn. Woher kam denn diese alberne Idee? War ich noch ganz gescheit? Nachdenklich knabberte ich an meinem Daumennagel.
Obwohl. Vielleicht war diese Idee doch nicht so schlecht.
Zunächst wartete nicht nur ich auf sein Auftauchen, sondern auch Katha. Zumindest erschien mir das recht offensichtlich.
»Du hattest mir doch geraten, mir eine neue Frisur zuzulegen«, sagte sie am nächsten Morgen, als ich den Laden betrat.
Es war Samstag, sie trug mal keinen Pferdeschwanz, sondern ließ das blondierte Haar bis auf die Schultern fallen, die Spitzen dünn und splissig. Ich war mir sicher: Ein Bob in Kinnlänge würde ihr enorm gut stehen. In einem natürlichen Blondton. Sie hatte ein hübsches Gesicht – eine gerade Nase, blaue Augen. Katha war eine attraktive Frau. Bis auf die Haare.
Ich legte meine Kleider ab und trat an sie heran. »Zeig mal her, darf ich?«
Sachte nahm ich ihre Haare zwischen die Finger. Die Friseurin in mir wollte ihr natürlich die Wahrheit sagen: Ihr Haar war am Ende. Das Mädchen in mir, das keiner Fliege etwas zu Leide tat und in der Schule im Sozialverhalten eine Eins gehabt hatte, ebenfalls. Aber ich mochte Mr. Grant. Und sie mochte ihn auch.
»Eigentlich gibt es da gar nicht so viel zu tun«, sagte ich und ließ ihre Haarspitze los. »Sie sind ganz prima so, wie sie sind.«
Katha verließ an diesem Morgen für keine Minute den Verkaufsraum, schielte immerzu nach draußen. Für ihre Verhältnisse war sie ungewöhnlich friedfertig. Sie lächelte mir sogar hin und wieder zu und lobte mich für meinen Geschäftssinn.
Viele Kunden hatten noch ein paar freie Tage, einige hatten Geldgeschenke zu Weihnachten bekommen, die sie nun bei uns umsetzten.
Wir hatten wunderschönes chinesisches Porzellan im Angebot, von dem ich zwei Sets verkaufte – und das, obwohl ich ganz und gar nicht bei der Sache war. Dabei war doch gar nicht zu erwarten, dass er heute schon wieder vorbeikam. Laut Katha hatte er mehrere Sorten Tee gekauft, ebenso Gebäck. So viel Tee konnte kein Mensch trinken oder verschenken. Dennoch hoffte auch ich auf ein Wunder.
Katha bemerkte nichts von meinen Gedanken. Ungehemmt blickte sie aus dem Schaufenster und sagte Dinge wie »Der hatte Feuer im Blut, das hab ich genau gesehen!« oder »Bei dem könnte ich schwach werden.«
Ein andermal, nachdem ein schmächtiger Mann eine Thermoskanne gekauft hatte, sagte sie verträumt: »Der andere hatte wenigstens einen Arsch in der Hose.«
Ich versuchte, Kathas anzügliche Bemerkungen zu ignorieren, verfolgte ich doch meine ganz eigenen Pläne. Sollte ich es tatsächlich wagen, Mr. Grant bei nächster Gelegenheit zu folgen, dann sicher nicht wegen seines Hinterteils.
Zu Katha sagte ich: »Wäre es ok, wenn ich nachher kurz eine Besorgung mache?« Besser, ich warnte sie vor. Ich konnte schlecht den Laden allein zurücklassen.
Katha starrte noch immer aus dem Fenster. Hatte sie mich überhaupt gehört?
In diesem Moment erregte ein leises Pling meine Aufmerksamkeit. Mein Handy.
Katha runzelte die Stirn, als ich zu meiner Tasche lief und das Gerät herauszog. In unserem Bewerbungsgespräch hatte sie unmissverständlich klargestellt, dass sie Privatgespräche oder Internetsurfen während der Arbeitszeit nicht guthieß. Der gesetzliche Mindestlohn treibe sie »fast in den Ruin« – da erwarte sie »uneingeschränkte Leistungsbereitschaft«.
Möglicherweise hing diese Äußerung aber auch damit zusammen, dass die junge Aushilfe, die sie samstags beschäftigte, nahezu ununterbrochen mit ihrem Handy hantierte. Den Mindestlohn zahlte Katha jedenfalls großzügigerweise schon seit Oktober, obwohl es erst seit diesem Januar nötig gewesen wäre.
Ich blickte auf mein Handy. Ich brauche dich. Es geht um Nils, schrieb Sina.
»Was ist denn jetzt los?«, murmelte ich und sah Katha zögernd an. »Kann ich mal kurz meine Schwester anrufen? Sie hat irgendein Problem.«
Katha nickte großzügig. »Klar, ruf sie an.« Die beiden hatten sich schon einige Male gesehen, meist kam Sina mit Johanna oder Nils vorbei, um mir moralische Unterstützung zu geben, wenn Katha mal wieder einen miesen Tag hatte, oder um tatsächlich Tee zu kaufen.
Ich zog mich rasch in eine Ecke des Ladens zurück und wählte Sinas Nummer.
Als sie sich meldete, hörte ich nur ein Schluchzen: »Er hat eine andere!« Vernehmlich schnäuzte sie sich.
Ich fühlte mich wie in einem dieser schlechten Filme mit klischeehafter Dramatik. Dieses »er hat eine andere!« konnte nicht aus dem Mund meiner Schwester stammen. Und wen meinte sie? Doch nicht ...
»Nils? Eine andere?« Sie halluzinierte bestimmt. Nils liebte keine andere als meine Schwester. Er war doch völlig vernarrt in sie.
»Natürlich hat er das nicht gesagt! Ich habe eine Quittung von einer Bar in seiner Jackentasche gefunden. Und zwar von der Bar in einem von Popows Hotels. Du weißt schon. Das Rumors. Zwei Cocktails waren auf der Rechnung. Letzte Woche – und zu mir hat er an dem Tag gesagt, er sei zu kaputt, um noch vorbeizukommen!«
Insgeheim stellte ich mir die Frage, weshalb sie in Nils’ Taschen wühlte – aber ich war sensibel genug, sie nicht zu stellen.
»Ich habe in seiner Jackentasche nach einem Tempo gesucht. Ich hatte kein einziges Päckchen mehr im Haus«, klärte Sina meine stille Frage auf.
»Bleib mal ganz ruhig. Wenn das Popows Hotel war, dann war das was Geschäftliches. Vermutlich haben sich Nils und Popow höchstpersönlich getroffen.«
»Zwischen den Jahren werden keine Geschäfte gemacht, außer vielleicht in Teeläden, das weißt du genau wie ich. Und in seiner Branche erst recht nicht. Wenn er mit Popow dort gewesen wäre, hätte er nicht bezahlt. Außerdem hätte er mir davon erzählt.« Nun flüsterte sie: »Und es trinkt niemals einer von denen eine Virgin Colada.«
Es stimmte. Ein alkoholfreier Cocktail mit Kokosmilch und Ananas war seltsam. Bier wäre passender unter Männern gewesen. Oder wenn schon ein Cocktail, dann wenigstens eine Caipirinha. Dennoch – es musste eine natürliche Erklärung für die Sache geben.
Plötzlich stand Katha hinter mir. »Dauert das hier noch länger?«, raunte sie. »Ich müsste dann mal wieder ins Büro.«
Ich gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich gleich fertig war und flüsterte ins Telefon: »Ich muss Schluss machen. Ich komme nachher vorbei, ok? Lass uns das in Ruhe besprechen. Sag nichts zu Nils, ich bitte dich.«
Nachdem ich den Tag irgendwie hinter mich gebracht hatte und Mr. Grant zu meinem großen Bedauern nicht aufgetaucht war, war ich froh, endlich Feierabend zu haben.
Ich besorgte eine Lasagne beim Italiener und machte mich auf den Weg zu meiner Schwester. Während ich durch die Gassen Fechenheims lief, dachte ich an unser Vierergespann: Sina, Nils, Johanna und mich.
Als Sina und Johanna sich in der Kanzlei kennengelernt hatten, war Johanna selig gewesen, endlich vernünftige weibliche Verstärkung zu haben. (Die »unvernünftigen« weiblichen Wesen waren angehende Rechtsanwältinnen, von denen Johanna sich von oben herab behandelt fühlte.)
Johanna lud Sina zu ihrer Geburtstagsparty ein, auf der Nils und sie einen einzigen Blick tauschten, und schon war es um die beiden geschehen. Ich war leider nicht dabei – wir traten nicht überall im Doppelpack auf – und hätte zu gern bei diesem Zing zugesehen. Laut Johanna war es legendär.
Nils hatte an diesem Abend die einzige Aufgabe, darauf zu achten, dass das Chili con Carne auf Johannas Herd nicht anbrannte, und dabei kläglich versagt. Zu sehr war er mit Sina ins Gespräch vertieft gewesen, hatte in ihre dunklen Augen gesehen und an den Fransen ihrer Lederjacke herumgespielt.
Sina hatte mir alles en Detail erzählt – und auch, wenn ich ihr von Herzen gönnte, dass sie jemanden wie Nils getroffen hatte, so fand ich es doch unfair, dass mir nicht zur gleichen Zeit ebenfalls jemand begegnet war, der zu mir passte wie ein Handschuh.
Jemand, der auch ruhig und besonnen war wie ich, ein Romantiker und Teetrinker. Mehr wollte ich gar nicht.
Sinas und Johannas Definition dieser Sorte Männer lautete Langweiler. Ich verübelte es ihnen nicht. Es klang nach einem Langweiler. Was ich jedoch meinte, war jemand mit Tiefe. Der auch einmal schweigen konnte, und damit ganz viel sagte. Der Programmkino statt Blockbuster mochte.
Sina verleitete diese Vorstellung regelmäßig zu unkontrolliertem Gegacker. Dabei glaube ich, dass Nils auch ein romantischer Typ ist. Er würde es nur niemals zugeben.
Was seinen angeblichen Seitensprung betraf, kamen Sina und ich an diesem Abend jedenfalls keinen Schritt weiter. Meine Schwester wollte Johanna auf keinen Fall in ihren Verdacht einweihen. Nils und Johanna standen sich viel zu nah, meinte sie, allein der Verdacht würde Johanna in einen schlimmen Freundschafts-Konflikt stürzen. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren.
»Was heißt das jetzt?«, fragte ich. »Willst du so tun, als ob nichts wäre? Ihm hinterherspionieren? Oder ihm aus dem Weg gehen?«
Ich sah aus dem Fenster in die Ferne zu den Schornsteinen des Degussa-Firmengeländes. »Ich bin für eine offene Aussprache«, riet ich. »Sag ihm genau, wie es ist: Du hast in seiner Jacke nach einem Tempo gesucht und dabei diese Quittung gefunden.«
Sina schüttelte den Kopf. »Das glaubt er mir doch niemals.«
»Aber es ist die Wahrheit! Da du ihn noch nie belogen und ihm hinterherspioniert hast, wird er niemals glauben, dass du ihn belügst.«
Sina sah zu Boden.
»Sina?«
Meine Schwester mied meinen Blick. Sie schien irgendetwas Interessantes auf dem Teppich entdeckt zu haben.
Ich tippte ihr aufs Knie. »Hast du ihm etwa schon öfter hinterhergeschnüffelt? Oder ... hast du etwa gar kein Tempo gesucht?«
»Nein, ich ...« Sie stockte. »Ich hab da schon länger so was in Verdacht.«
»Aber wieso?« Damit meinte ich zwei Fragen: Wieso dachte sie das? Und wieso wusste ich nichts von dieser Vermutung?
»Er geht in letzter Zeit öfters nicht ans Telefon. Das hat er früher nie gemacht. Er ... er ... hat selbst das wichtigste Meeting für mich unterbrochen. Und manchmal hat er abends keine Zeit, ohne mir zu sagen, was er vorhat.«
»Auch, wenn du ihn fragst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Früher musste ich nie fragen. Ich wusste über jeden seiner Schritte Bescheid.«
Ich hob die Augenbrauen. Sie wusste über jeden seiner Schritte Bescheid? Ich hatte gedacht, sie wüsste über jeden meiner Schritte Bescheid. Und nicht einmal das stimmte.
»Das ist aber auch nicht normal«, murmelte ich.
»Ich liebe ihn!«
Ich versuchte es mit Sachlichkeit. »Sicher hat er nur viel zu tun. Und mit manchen Kunden – meinetwegen auch weiblichen Kundinnen – geht man eben auch mal in eine Bar. Und dass er dir das nicht erzählt – bei deiner offensichtlichen Eifersucht! – ist ja auch irgendwie kein Wunder.«
Als es an der Tür klingelte, hoben wir beide den Kopf. »Ist er das?«, fragte ich.
Sina verzog den Mund. »Lass dir bloß nichts anmerken!«
Sie ging zur Gegensprechanlage und kurz darauf hörte ich ein halb-freudiges »Hi!« durch den Flur schallen.
»Es ist Johanna«, rief sie. »Kein Wort zu ihr!«
Johanna wirkte freudig erhitzt. Als sei sie von der Bushaltestelle zu Sinas Wohnung durch die Kälte gerannt.
»Na, ihr beiden Hübschen«, neckte sie und ließ sich aufs Sofa plumpsen. »Habt ihr ne Kleinigkeit zu knabbern? Ein paar von Millas Keksen?«
Sina nahm ein Keksdöschen von ihrer Anrichte und stellte es auf ihrem Couchtisch ab. Erwartungsvoll betrachtete sie unsere Freundin.
Johanna nahm einen Keks und biss ein Eckchen ab. Sie schien verlegen. Weshalb war sie denn gekommen? Sie wohnte in Bockenheim, das war am anderen Ende der Stadt. Normalerweise rief sie an, bevor sie kam.
Sicher war sie nicht zufällig in der Gegend, hier wohnten nur Sina und ich – und Nils, doch den traf sie sicher nicht, ohne dass Sina davon gewusst hätte. Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Brachte sie schlechte Nachrichten? Hatte Nils sie als eine Art »Schlussmacherin« engagiert?
Jetzt dreh nicht gleich durch.
»Und?«, fragte ich zögernd, »was hast du heute so gemacht?«
Johanna streifte einen Krümel von ihren Lippen. »Nach der Arbeit war ich beim Sport und dann dachte ich, ich schau mal kurz bei Sina vorbei.« Sie zwinkerte. »Hätte mir natürlich denken können, dass du auch hier bist.«
Johanna war Zumba-Fan. Sie war durchtrainiert bis in die Fingerspitzen. Ich selbst war Grobmotorikerin, war noch nicht einmal zu einem Hampelmann in der Lage.
Unsere Freundin nahm sich noch ein Ingwerplätzchen und verzog genüsslich den Mund. Dann sagte sie zu Sina: »Sag mal, findest du nicht auch, dass Henning in letzter Zeit irgendwie komisch drauf ist?«
Henning war einer von den Senioranwälten. Er hieß mit Nachnamen Thomas, was einige Leute verwirrte. Viele nannten ihn »Herr Henning«. Es gab Tage, da vergaß selbst Sina die richtige Reihenfolge, wenn sie am Empfang genügend Umschläge geöffnet hatte, auf denen es falsch geschrieben stand.
Er hatte einen guten Draht zur Partnerriege. Früher, als er noch Praktikant gewesen war, war es ihm gelungen, die Beratung eines Handelsunternehmens an Land zu ziehen und genoss seither einen Sonderstatus. Er war kein besonders sympathischer Typ.
Mit Sina war er immerzu unzufrieden. Manchmal war ihr Job durchaus stressig. Das Telefon stand nicht still, Termine wurden storniert, Konferenzräume waren einzudecken, Unterlagen auszudrucken. Das machten üblicherweise die Sekretärinnen, doch wenn es bei denen brannte, musste Sina mit ran. Dann ging schon mal das ein oder andere vergessen – für meine Begriffe völlig verständlich, für Henning Thomas ein größter anzunehmender Unfall.
Kurz vor Weihnachten hatte Sina eine Rundmail versenden sollen, mit der Vorgabe, die verschiedenen Adressaten auf keinen Fall für die anderen Empfänger sichtbar zu machen – sie vergaß es.
Und so wusste jeder vom anderen, dass er ebendiese Mail auch erhalten hatte, und Henning war außer sich. Nach Sinas Erzählungen war er kurz vorm Hyperventilieren gewesen. Dabei konnte sie ihren Fehler nun einmal nicht rückgängig machen. Eine wirklich dumme Sache.
Aber eigentlich – wenn man mich fragte – hatte er sich nur so fürchterlich darüber aufgeregt, weil er hatte vertuschen wollen, dass er nicht nur mit einer Partei für die Fusion eines Kunden in Verhandlungen stand, sondern mit mehreren. Und die hatten nun mal nichts voneinander wissen sollen.
Sina knabberte noch immer an dieser Geschichte. »Ja, er ist wirklich schlecht drauf«, beantwortete sie Johannas Frage und warf mir einen Blick zu.
Sie hatte nur mir davon erzählt, nicht Johanna. Weil es ihr so furchtbar peinlich gewesen war. Möglicherweise hatten die Buschtrommeln es bis zu Johanna getrommelt. Vielleicht war Johanna gekränkt, dass Sina sie nicht in das Dilemma eingeweiht hatte. Sie war zwar Sinas Freundin. Aber sie war auch die Sekretärin vom Chef.
Mir wäre dieser Job zu viel gewesen. Ich fand Backen, Häkeln und Tee verkaufen entspannend – meine Arbeit als Friseurin war viel stressiger gewesen. Wäre Katha nicht gewesen, hätte ich das Paradies auf Erden gehabt.
Johanna lehnte sich noch mehr ins Sofa zurück. Ihr honigblondes Haar floss über ihre Schultern. Sie sah aus wie eine kalifornische Schönheit, selbst im Winter.
»Mir geht er manchmal so richtig auf die Nerven«, murmelte sie. »Ständig hängt er bei mir im Vorzimmer rum und fragt nach Bachmann.«
Bachmann war besagter Chef.
»Henning verbreitet mit seinem ewigen Gemeckere schlechte Stimmung«, fuhr sie fort. »Ich hoffe nur, dass Bachmann sich nicht eines Tages davon anstecken lässt.«
Sie warf Sina einen bedeutungsvollen Blick zu, den diese ebenso wenig zu verstehen schien wie ich.
»Was meinst du damit?«, wollte Sina prompt wissen.
Johanna kam in eine sitzende Position. »Er mobbt.« Sie zählte an ihren Fingern auf: »Kemper, Alsfeld, Marx – alle hat er auf dem Kieker. Sie haben die letzten Fälle verloren und er schmiert es Bachmann aufs Brot, wo er nur kann.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Der ist so was von mies.«
Sie nahm noch ein Plätzchen aus der Dose und stopfte es sich in den Mund.
In der Tat. Was war dieser Henning Thomas nur für ein Idiot?
Sina schien ebenfalls irritiert. »Echt? Das hab ich ja gar nicht mitbekommen.«
Johanna nickte nachdrücklich. »Doch, doch.«
Kurz darauf warf sie einen Blick auf die Uhr. »Ach Gott, schon so spät? Ich mache mich mal auf die Socken.«
»Gehst du noch aus?«, fragte Sina. Freitagabends gingen wir manchmal alle zusammen ins Kino oder zum Italiener. Johanna ging ab und zu tanzen.
Sie schüttelte den Kopf. »Bin zu müde.«
»Müde? Du?« Sina grinste.
»Ab und zu kommt das vor«, sagte Johanna und band ihre Haare zu einem Knoten zusammen. Sie stand vom Sofa auf und reckte und räkelte sich, dann umarmte sie uns beide zum Abschied.
Keine Frage, was wir am Wochenende machen würden, keine Frage – und das war das Bemerkenswerteste – nach Nils. Sie fragte immer nach Nils.
Nachdem die Tür hinter Johanna ins Schloss gefallen war, knabberten Sina und ich ebenfalls ein bisschen Gebäck und resümierten darüber, was wir von Johannas Besuch halten sollten.
»Ich glaube, sie ist nur wegen deiner Plätzchen da gewesen«, fasste Sina meine Gedanken zusammen. Die Dose war halb leer. Am Wochenende würde ich Nachschub produzieren müssen. Ingwer schaben, Zitronen reiben und pressen, Teig kneten.
Und den Geruch in meiner Wohnung in mich inhalieren, wenn die Kekse im Ofen langsam ihre ockergelbe Farbe annahmen.
Ich verbrachte die Nacht bei Sina. Das war nichts Ungewöhnliches, ich hatte Bettzeug und eine Zahnbürste bei ihr in einer Kommode untergebracht, dazu Wechselwäsche – sie umgekehrt auch bei mir.
Wenn Not am Mann war, waren wir füreinander da. Als Kinder hatten wir zusammen in einem Bett geschlafen – nicht Arm in Arm, das wäre übertrieben gewesen, aber doch so, dass wir die Wärme der anderen spürten. Es hatte uns beide beruhigt, mich vielleicht noch mehr als sie.
Sina war schon immer robuster gewesen als ich. Während sie gern Krimis schaute, war ich schon bei deren Intro mit den Händen auf den Ohren davongelaufen und hatte mich mit meiner Strickliesel und meinen Büchern in unser Zimmer zurückgezogen.
Als wir älter wurden, entdeckten wir das Kochen und Backen für uns. Mama war berufstätig und abends oft müde, und so war es Sinas Job, uns etwas Leckeres zum Mittagessen zu zaubern.
Ich hingegen backte die Rezepte aus einem Kochkurs nach, den wir in der Schule besucht hatten. Unsere damalige Lehrerin hatte englische Wurzeln. Als wir zum Abschluss des Kurses eine English-Teatime zelebrierten, war es um mich geschehen.
Wenn Mama nachmittags von der Arbeit kam und sprachlos auf das blickte, was sich um uns herum angesammelt hatte, fühlten wir uns stolz und erwachsen. Vielleicht stellten Sina und ich so für uns die Geborgenheit her, die wir so dringend benötigten. Wenigstens etwas Normalität. Unsere Eltern konnten sie uns schon lange nicht mehr geben.
Ich bin oft gefragt worden, weshalb ich keine Bäckerlehre gemacht und stattdessen Friseurin gelernt hatte. Dazu kann ich nur sagen: Nicht jeder, der gerne strickt, eröffnet einen Wollladen. Oder nicht jeder, der gern Zumba tanzt, wie Johanna es tat, arbeitet in einem Fitnessstudio. Jemand, der mit großer Freude Skates fährt, heuert auch nicht beim Starlightexpress an.
Es gibt tausend Gründe, sein Hobby nicht zum Beruf zu machen.
Vor allem, weil es wunderbar ist, etwas aus Spaß zu tun, und nicht, weil man es muss.