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Muscheln, Gold und Winterglück

(Winterknistern 4)

von Stina Jensen (Autor:in)
330 Seiten
Reihe: Winterknistern-Reihe, Band 4

Zusammenfassung

Manchmal spült das Meer die unglaublichsten Überraschungen an Land …

In letzter Zeit hat Romy nur noch Pech. Von heute auf morgen muss sie ihre Wohnung und ihre angrenzende Schmuckwerkstatt verlassen. Vorübergehend zu den Eltern zu ziehen kommt nicht in Frage – seit ihr geliebter Adoptivbruder der Familie den Rücken gekehrt hat, ist das Verhältnis zu ihnen schwierig. Zu viele Fragen sind für Romy offen geblieben. Schließlich landet sie auf Sylt. Bei Strandspaziergängen bläst der Wind ihr wunderbar den Kopf frei, und auf dem Wintermarkt kann sie ihre Schmuckstücke verkaufen. Romy findet die schönsten Muscheln am Strand – und sie trifft auf Ed, der ihrem Bruder zum Verwechseln ähnlich sieht. Hat er vielleicht Hinweise? Und hat das Herzklopfen, das Romy bei ihm empfindet, wirklich nur mit der Aufregung um ihren Bruder zu tun? Mit den Gezeiten scheint sich auch ihr Pech in Glück zu wandeln …

Ein Roman, mitreißend wie ein Wintersturm an der See.

Dies ist der vierte Teil der WINTERknistern-Reihe. Alle Romane können unabhängig voneinander gelesen werden. Es erhöht jedoch das Lesevergnügen, mit dem ersten Band zu beginnen.

Die WINTERknistern-Reihe: Plätzchen, Tee und Winterwünsche; Misteln, Schnee und Winterwunder; Sterne, Zimt und Winterträume; Muscheln, Gold und Winterglück; Vanille, Punsch und Winterzauber; Mondschein, Flan und Winterherzen; Engel, Blues und Winterfunkeln.

Lesen Sie auch die Insel- und Gipfelfarben-Reihe von Stina Jensen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


DIE WINTERKNISTERN-REIHE

Bisher erschienen:

1. Plätzchen, Tee und Winterwünsche

2. Misteln, Schnee und Winterwunder

3. Sterne, Zimt und Winterträume

4. Muscheln, Gold und Winterglück

5. Vanille, Punsch und Winterzauber

6. Mondschein, Flan und Winterherzen

7. Engel, Blues und Winterfunkeln

Alle Titel sind in sich abgeschlossene Romane und können unabhängig voneinander gelesen werden.

DAS BUCH

Manchmal spült das Meer die unglaublichsten Überraschungen an Land …

In letzter Zeit hat Romy nur noch Pech. Von heute auf morgen muss sie ihre Wohnung und ihr angrenzendes Goldschmiedeatelier verlassen.

Vorübergehend zu den Eltern zu ziehen kommt nicht in Frage – seit ihr geliebter Adoptivbruder der Familie nach einem Streit den Rücken gekehrt hat, ist das Verhältnis zu ihnen schwierig. Zu viele Fragen sind für Romy offengeblieben.

Schließlich landet sie auf Sylt. Bei Strandspaziergängen bläst der Wind ihr wunderbar den Kopf frei, und auf dem Wintermarkt kann sie ihre Schmuckstücke verkaufen. Romy findet die schönsten Muscheln am Strand – und sie trifft auf Ed, der ihrem Bruder zum Verwechseln ähnlich sieht. Hat er vielleicht Hinweise? Und hat das Herzklopfen, das Romy bei ihm empfindet, wirklich nur mit der Aufregung um ihren Bruder zu tun?

Mit den Gezeiten scheint sich auch ihr Pech in Glück zu wandeln …

Ein Roman, mitreißend wie ein Wintersturm an der See.

PROLOG

Manche Menschen glauben an Schicksal. Es gibt noch andere Worte dafür: Vorhersehung, Vorbestimmung, Fügung oder auch, wie ich es bisher immer genannt habe: zufällige Ereignisse, die andere Geschehnisse in Gang setzen. Nichts weiter.

Das war vor dem zweiten Dezember. Doch dann sind ein paar Dinge in meinem Leben geschehen, die mich nicht mehr an Zufall glauben lassen. Es ist zu unwahrscheinlich, dass all diese Vorkommnisse eingetreten sind, ohne dass es so sein sollte. Deshalb möchte ich meine Geschichte erzählen, die sich genau so zugetragen hat. Und die mich hierhergeführt hat. An diesen winterlichen Strand auf Sylt, den die Wintersonne in ein unwirkliches Licht taucht, als wäre alles ein Traum. Ein Traum, in dem ich mich nur schwer fortbewegen kann, so wie hier in meinen Stiefeletten im feuchten Sand. Der Wind treibt mir Tränen in die Augen. Wie immer trage ich keine Mütze.

Ich sehe über meine Schulter hinweg, und schon kommen sie über die Düne auf mich zu. Die Menschen, die mir das Schicksal beschert hat. Einen davon liebe ich so sehr, dass ich mich nicht mehr halten kann und ihm entgegenstakse, um ihm um den Hals zu fallen.

Aber ich wollte ja erzählen, wie es dazu kam, dass das Schicksal mich hierhergeführt hat.

Oder war es doch nur ein Zufall?

Alles begann jedenfalls mit riesigem Pech.

1

An diesem zweiten Dezember vor vier Wochen dröhnte der Lärm der benachbarten Baustelle zu mir nach oben unters Dach des Frankfurter Jugendstilhauses, in dem ich seit vier Jahren lebte. Morgens um sieben hatten die Bauarbeiter gestartet, mit der Baggerschaufel die Grube für das neue Wohnhaus auszuheben, das neben unserem entstehen sollte. Vorher stand dort ein Gebäude, in dem es Probleme mit Asbest gegeben hatte.

Das Malerviertel, wie sich diese Ecke des Frankfurter Stadtteils Sachsenhausens nannte, ist sehr beliebt bei Besserverdienenden. Es ist nicht weit zum Museumsufer und damit zum Main; es gibt erstklassige Schulen und Kindertagesstätten in der Nähe. Die Anbindung öffentlicher Verkehrsmittel ist optimal.

Unten im Haus lag mein kleines Goldschmiedeatelier mit angrenzender Werkstatt. Als ich dort hinzog, zweifelte ich, ob ich mir das alles auf Dauer würde leisten können, doch es hatte sich gezeigt, dass ich bei der Wahl dieser Location richtig gelegen hatte. Meine potentielle Kundschaft ging jeden Tag am Atelier vorbei. Manche kamen zunächst nur zum Schauen oder Plaudern in den Laden. Aber irgendwann ergab sich ein Geschäft oder eine Weiterempfehlung. Inzwischen hatte ich einen festen Kundenstamm. Und in meiner Wohnung fühlte ich mich pudelwohl – auch wenn der Baulärm mir gerade auf die Nerven ging.

Mein Versuch, das offene Badezimmerfenster zu schließen, scheiterte. Ich rüttelte daran und probierte es erneut. Eigenartigerweise klemmte es heute.

»Hm«, murrte ich ratlos und lehnte den Fensterrahmen nur an, wandte mich zum Waschbecken, um mich für die Arbeit fertigzumachen.

Ich gab jeweils einen Klecks Gesichtscreme auf Nasenspitze, Wangen, Kinn und Stirn. Anschließend verrieb ich alles bis zum Haaransatz. So hatte es meine Mutter früher bei mir gemacht, und ich hatte es bis heute beibehalten. Der Rest der Creme landete auf Hals und Dekolleté – mit vierunddreißig konnte auch dort ein bisschen Pflege nicht schaden, selbst bei meiner dunklen Haut, die fetthaltiger ist als helle.

Gerade war ich im Begriff, mich mit Bodylotion einzureiben, als mein Handy auf dem Ablageschränkchen neben der Toilette vibrierte.

Ich säuberte mir die Finger an einem Handtuch und griff nach dem Gerät.

Was du machst diese Freitagabend, Romy? Anna ist verabredet. :*, las ich.

Ob ich sofort antworten sollte? Oder lieber abwarten? Lange Zeit hatten mich Ennos Nachrichten in freudige Erwartung versetzt, und ich hätte dem Treffen begeistert zugestimmt. Das war, als ich noch daran glaubte, dass Ennos Beziehung zu Anna vor dem Aus stand und er nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um mit ihr zu reden. Allmählich bezweifelte ich, dass er das wirklich vorhatte. Im Stillen fragte ich mich sogar, ob er mich nicht an der Nase herumführte. Und nicht nur ich fragte mich das, auch meine Freundin Johanna bestärkte mich in dieser Meinung. Dafür sind Freundinnen immerhin da, die unangenehmen Dinge auszusprechen. Einerseits war ich ihr dankbar dafür, andererseits tat es auch weh. Dabei hätte mir Ennos Unentschlossenheit viel mehr wehtun müssen.

Abwartend wog ich das Smartphone in den Händen. Was, wenn ich ihn aus der Komfortzone locken würde? Johanna hatte mir oft dazu geraten, doch ich fürchtete mich davor. Immerhin bezeichnete Enno seine Frau oft genug als furia, eine Zicke, und ich wollte auf gar keinen Fall eine sein. Dabei, so meinte Johanna, war das psychologische Kriegsführung von meinem Freund.

Zögernd tippte ich: Was ist denn aus deinem Versprechen von Anfang des Jahres geworden, dich noch in diesem Jahr von ihr zu trennen?

Es war keinesfalls zickig, sondern bewies meine grenzenlose Geduld, denn immerhin war es schon Anfang Dezember. Aber ich ahnte ohnehin, was er mir darauf antworten würde. Dass es beruflich kein einfaches Jahr für ihn gewesen sei und dass eine Trennung kein Pappenstiel war, allein finanziell. Und dass es uns doch gutging, so wie es war.

Ihm vielleicht. Manchmal wünschte ich mir verzweifelt, wir wären uns nie begegnet. Dabei hatte das Schicksal uns sogar zwei Mal zueinander geführt. Beim ersten Mal stand ich am Anfang meiner Ausbildung. Ich war gerade zwanzig geworden, träumte davon, zu Hause auszuziehen, und bekam von meinen Eltern einen Kochkurs für zwei geschenkt. Der Kurs hieß »Genial italienisch«, ich nahm eine Freundin mit. Enno war unser Lehrer. Ein leidenschaftlicher Hobbykoch – die Stelle bei der VHS war eigentlich eine Vertretung. Bei seinem Anblick flatterten von der ersten Sekunde an Schmetterlinge in meinem Bauch. Obwohl er fünfzehn Jahre älter war, gehörte er damals schon für mich zu dieser Sorte Männer, nach denen ich mich heimlich umdrehte. Seine Augen leuchteten, wenn er sprach. Enno war schlank, hatte lockiges Haar und eine klassische Nase. Man sah ihm das römische Blut sofort an. Er spielte regelmäßig Tennis und fuhr ein altes italienisches Cabriolet, in dem es im Winter so kalt war, dass die Scheiben von innen gefroren – so seine sehr bildreiche Beschreibung. Seine Hände unterstrichen jedes seiner Worte, und wenn er mit jemandem ins Gespräch vertieft war, dann berührte er ihn am Arm oder an der Schulter, um seiner Sprache mehr Kraft zu verleihen.

Jedenfalls entbrannte zwischen uns ein heftiger Flirt. Es war bald ziemlich auffällig, dass er sich meistens bei mir und meiner Freundin aufhielt und er uns bevorzugte. Eines Tages beschwerte sich eine andere Teilnehmerin bei der VHS-Leitung, und Enno bekam einen auf den Deckel. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits wild entschlossen, ihn privat zu treffen und mit ihm zu schlafen. Das ungelenke Gefummel Gleichaltriger hatte ich satt, ich wollte einen reiferen Mann. Doch Enno zog buchstäblich den Schwanz ein und verhielt sich fortan ausschließlich professionell. Als ich ihn fragte, was los sei, sagte er, er habe eingesehen, ich sei viel zu jung für ihn. Ich war verletzt und litt unter Liebeskummer. Doch wie das meistens so ist: Schließlich vergaß ich ihn.

Erst zwölf Jahre später sollte ich ihn wiedertreffen. Das war jetzt fast zwei Jahre her. Allerdings war er bei dieser neuen Begegnung nicht allein. Ausgerechnet mit seiner zukünftigen Frau kam er in mein Atelier. Die beiden wollten mich mit dem Entwurf ihrer Trauringe beauftragen. Mir wurde regelrecht schwindelig, als ich ihn erkannte – und wie ich an dem erstaunten Aufleuchten seiner Augen sehen konnte, ging es ihm genauso. Sofort loderte da dieses alte Feuer zwischen uns. Und eines war klar: War ich ihm damals vielleicht zu jung gewesen, diesmal war ich genau richtig.

Anna hörte unserem Gespräch, in dem es natürlich erst mal um den damaligen Kochkurs ging, lächelnd zu, schien sich darüber zu freuen, dass ihr Verlobter und ich alte Bekannte waren. Immerhin, so dachte sie vielleicht, würde ich mir dann mit ihren Ringen besonders viel Mühe geben.

Während ich die ersten Entwürfe zeichnete, drehten sich meine Gedanken um diesen Mann, dessen italienischer Singsang mir wie früher in den Ohren nachklang. Wir hatten verabredet, dass das Paar in einer Woche zum Anschauen der Skizzen vorbeikommen würde, doch Enno kam allein. Anna ginge es nicht so gut, sie hatte ihm gesagt, er sollte die Vorschläge ohne sie abholen. Ich bereitete uns einen Kaffee zu, und wir plauderten weiter. Dabei klopfte mir das Herz bis in den Hals.

Beim Abschied zog er mich an sich, und wir küssten uns zum ersten Mal. Danach verließ er hastig das Atelier. Ich blieb zurück, als hätte mich der Blitz getroffen. Die unterschiedlichsten Gefühle tobten in meiner Brust. Zum einen war Enno mein Kunde, und Kunden waren grundsätzlich tabu. Außerdem war er mit einer Frau zusammen, die er demnächst heiraten würde. Und als seine Verlobte mich nur einen Tag später anrief und ihre Begeisterung für meine Entwürfe zum Ausdruck brachte, mich obendrein mit den Ringen beauftragte, nahm ich mir fest vor, Enno sofort wieder zu vergessen. Immerhin war mir das schon mal gelungen.

Doch so easy war das nicht. Die Gedanken an ihn besetzten meinen Geist wie eine Krankheit. Als die Ringe fertig waren, holten er und Anna sie gemeinsam ab. Normalerweise gebe ich den Paaren bei dieser Übergabe einen Sekt aus. Ich tauche das Atelier in ein romantisches Licht und präsentiere den Schmuck auf einem roten Samtkissen. Dazu überreiche ich dann dezent die Rechnung. Auch diesmal zog ich die Sache durch, aber ich dachte an nichts anderes als an diesen Kuss. Und Enno starrte andauernd auf meine Lippen.

Bei der Verabschiedung schwor ich mir erneut, ihn nie wiederzusehen.

Sechs Monate später klopfte es eines Abends an die Eingangstür des Ateliers. Ich war in meiner Werkstatt, die an den Laden grenzt, legte eine begonnene Arbeit beiseite und ging zur Tür.

»Ciao«, sagte Enno und sah mich unverwandt an.

»Komm doch rein«, erwiderte ich.

Enno war ein fantastischer Liebhaber. Noch nie hatte ein Mann sich im Bett so um mich gekümmert wie er. Er wäre niemals nach Hause gegangen, ohne dass ich befriedigt war. Das ging jetzt seit anderthalb Jahren. Seitdem wartete ich auf den Moment, dass er ihr von mir erzählen würde. Dass er sich zu seinen Gefühlen für mich bekannte. Auch wenn Anna mir leidtat und ich Schuldgefühle hatte, das schon. Vielleicht liebte sie ihn.

Seufzend löschte ich meine fordernde Nachricht, in der ich ihn an sein Versprechen erinnerte – ich traute mich nicht.

Frustriert legte ich das Handy wieder zurück und schlüpfte in Unterwäsche, Jeans und einen zartgelben Wollpullover; zum Abschluss knetete ich Öl in mein schulterlanges Haar. Meine Naturkrause habe ich von meinem Vater geerbt, der aus Ghana stammt. Enno liebte es, seine Finger in meinem Haar zu versenken und mein Gesicht zu betrachten, von dem er meinte, es erinnerte ihn an das einer Porzellanpuppe. Dabei weiß ich gar nicht, ob es dunkelhäutige Porzellanpuppen überhaupt gibt.

In diesem Moment schlug die Uhr an der benachbarten Bonifatiuskirche zehn.

Ich musste los! Vormittags hielt ich mein Atelier immer für zwei Stunden geöffnet, nachmittags noch einmal. Dazwischen arbeitete ich in der Werkstatt. Heute musste ich dringend mit einer Auftragsarbeit vorankommen. Ein Verlobungsring – diese und Trauringe waren meine Haupteinnahmequelle. Der Mann, der ihn in Auftrag gegeben hatte, wollte seiner Freundin an Heiligabend den Antrag machen.

Glücklicherweise hatte mein eigenes Liebeschaos mir nie die Freude am Glück anderer genommen. Es bereitete mir noch immer wahnsinnig viel Spaß, durch meinen Schmuck zwischen zwei Liebenden eine Verbindung zu schaffen.

Melde mich später, muss jetzt los, tippte ich an Enno und versuchte abermals, das Badezimmerfenster zu schließen. Der Staub aus der Baugrube zog herein. Aber es klemmte noch immer. Wenigstens legten die Arbeiter eine Pause ein; die Baggergeräusche waren verstummt.

Enno schickte zur Antwort einen Kussmund. Gleich würde er den Chatverlauf in seinem Handy löschen. In seinen Kontakten war ich unter Romy Mensah, Goldschmiedin Sachsenhausen eingespeichert. Anna würde darüber keinen Verdacht schöpfen.

Aus der Ferne näherte sich ein Martinshorn. Dank nahegelegener Feuerwache und Krankenhaus ging das manchmal den ganzen Tag.

Ich griff nach der Kaffeetasse und stellte sie zu dem anderen Geschirr in die Küchenspüle. Im Flur schlüpfte ich in Stiefeletten, zog für den kurzen Weg zum Atelier eine Strickjacke über und rückte eine Falte im Teppich gerade. Ein handgeknüpfter aus Ghana. Mein Blick fiel auf die kleine Ahnengalerie mit Schnappschüssen von Papas Geschwistern und deren Sprösslingen. Es gab auch ein paar Fotos von Mama mit meinen Großeltern. Opa stammte aus dem Allgäu, er trug noch immer jeden Tag seinen Hut mit Gamsbart. Zwei Bilder zeigten meine Eltern, meinen drei Jahre jüngeren Adoptivbruder Atti und mich aus glücklicheren Zeiten.

Mein Bruder hatte uns vor über einem Jahr plötzlich den Rücken gekehrt, und ich vermisste ihn seither entsetzlich. Ich wusste nicht einmal, wieso er alle Zelte hinter sich abgebrochen hatte. Es musste einen schrecklichen Streit zwischen ihm und unseren Eltern gegeben haben, danach sah ich ihn nur noch einmal und hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört. Immer wieder fragte ich mich, wo er bloß stecken mochte und ob er überhaupt noch am Leben war.

Seufzend schüttelte ich die Gedanken an meinen geliebten Bruder ab und schlüpfte endlich aus der Wohnungstür ins Treppenhaus, betrat die erste Stufe, die heute knarrte. Genauso wie die nächsten, die ich auf meinem Weg hinab nahm. Offenbar kam das Haus allmählich in die Jahre.

Das Martinshorn war nun laut zu hören, so, als hielte die Polizei auf unsere Straße zu. Ich spähte aus dem Treppenhausfenster. Was war da unten eigentlich los? Eine Menschentraube hatte sich auf dem Bürgersteig gegenüber gebildet, alle starrten nach oben. Schon hörte ich Stimmen aus dem Parterre zu mir heraufschallen. Aufgeregte Rufe. Direkt vor der Scheibe kam ein Leiterwagen der Feuerwehr zum Stehen. Himmel. Brannte etwa unser Gebäude? Aber dann hätte ich doch den Qualm gerochen! Das Herz in meiner Brust trommelte wie verrückt. Schon oft hatte ich mich gefragt, was den Menschen in den letzten Minuten ihres Lebens durch den Kopf gehen mochte. Wenn sie realisierten, dass sie aus einer Situation nicht mehr lebend herauskamen. Wie fühlte man sich in einem Auto, das auf nasser Straße ins Schleudern kam und wenn der Betonpfeiler auf einen zuraste? Oder in einem abstürzenden Fahrstuhl? In einem brennenden Tunnel? Oder wenn ein Haus in Schieflage geriet. War es das, was hier geschah? Hatte deshalb mein Fenster geklemmt?

Alarmiert hetzte ich nach unten. Im Erdgeschoss drängte jemand die sechsundachtzigjährige Mieterin, umgehend das Haus zu verlassen. Von draußen ertönte eine Megafondurchsage, mit der die Bewohner des Gebäudes mit der Nummer siebzehn aufgefordert wurden, alles stehen und liegen zu lassen.

Endlich war ich unten. Zusammen mit der alten Frau, die noch im Morgenmantel und in Pantoffeln steckte, trat ich aus dem Haus, hakte sie ein und half ihr auf die gegenüberliegende Straßenseite.

Von dort wanderte mein Blick die Hauswand hinauf. Ein Riss zog sich vom Dachgebälk einmal quer über die Fassade. Von ihm splitterten zahlreiche weitere Spalten nach oben und unten ab. Wie ein Blitz, der ins Gebäude gefahren war.

Entsetzt wandte ich den Kopf zur Eingangstür des Ateliers. Im Gegensatz zum benachbarten Bestatter, dessen Fensterfront an die Baugrube grenzte, lag mein Laden an der anderen Hausecke neben einer Hofeinfahrt. Diese Seite des Hauses sah unbeschädigt aus.

Eben wurden alle Bewohner von der Feuerwehr aufgefordert, sich ein paar Häuser weiter hinter eine Absperrung zu begeben, die soeben gespannt wurde. Wie betäubt trottete ich zusammen mit den anderen dorthin. Alle redeten durcheinander. Das Haus müsste sich »gesetzt« haben. Ob man das wohl noch mal richten könnte? Ob wir noch ein paar Sachen retten dürften? Eine Frau weinte bitterlich, malte den Teufel an die Wand, wir hätten alles verloren. Sie hätte doch den ganzen wertvollen Schmuck einer Erbtante bei sich in der Wohnung. Den würde ihr doch niemand ersetzen, wenn das Haus in sich zusammenfiel. Und wo man jetzt unterkommen sollte – über Weihnachten würden die doch garantiert nicht mit der Sanierung beginnen.

Ihre Panik übertrug sich auf mich. Mein Atelier!

In meiner Handtasche kramte ich nach dem Schlüssel. Ob ich mich einfach hineinschleichen sollte? Hilfesuchend wandte ich mich an einen Herrn vom Technischen Hilfswerk. Noch könnte man nichts Genaues sagen, beantwortete er meine Frage, ob ich ein paar Arbeitsutensilien und wertvolle Materialien retten dürfe; zuerst müsse wegen der Statik das Haus abgestützt werden. »Sicherheit geht vor!«

Die Menschen aus den umliegenden Häusern luden uns ein, uns in ihren Wohnungen aufzuwärmen, was meine alte Nachbarin dankend annahm. Jemand verteilte Tee an die, die draußen warten wollten. Inzwischen war auch unser Vermieter, Herr Wenzel, eingetroffen, er versprach, uns auf dem Laufenden zu halten. Jetzt sollten wir erst einmal schauen, wo wir vorübergehend unterkommen könnten. Sein Gesicht leuchtete rot, als stünde er kurz vorm Kollaps.

Ich rief meine Eltern an, die in einem nahegelegenen Stadtteil wohnten, und berichtete ihnen von der Katastrophe. Sie sagten, ich sollte mich auf den Weg zu ihnen machen, das könnte noch Stunden, wenn nicht Tage dauern, bis ich wieder ins Haus dürfe. Irgendein Bekannter hätte schon mal etwas Ähnliches durchgemacht.

Bald darauf saßen wir in ihrer Küche zusammen und gaben uns weiteren Spekulationen hin. Ich stand unter Schock. Fühlte mich so erschöpft, als hätte ich die Nacht durchgefeiert. Fest stand, dass ich ein paar Tage bei ihnen unterkommen musste, bis ich eine Ersatzwohnung finden würde. Oder ein Zimmer in einer WG.

»Du kannst so lange hierbleiben, wie du möchtest«, bot Mama an.

Doch das wollte ich nicht. Zu vieles stand nach Attis Verschwinden zwischen uns. Sobald ich mit meinen Eltern über meine Ängste um ihn sprechen wollte, blockten sie ab. Auch wenn feststand, dass etwas zwischen ihnen vorgefallen sein musste, bevor er verschwand – sie wollten mir partout nicht sagen, worum es sich handelte. Ich war zu jenem Zeitpunkt im Urlaub auf Korfu gewesen. Atti tauchte danach zunächst nur für eine Woche unter. Durch Nachfragen bei seinem Chef – Atti hatte Masseur gelernt und war in einer Massagepraxis angestellt – erfuhr ich später, dass mein Bruder dafür sehr kurzfristig eine Woche Urlaub beantragt hatte, um nach seiner Rückkehr völlig unvermittelt zu kündigen und um sofortige Freistellung zu bitten.

In jenen Tagen kam er auch zu mir, die ich davon damals noch nicht das Geringste ahnte, und bat mich um Geld. Es sei für einen guten Zweck, sagte er. Natürlich wollte ich wissen, wofür genau und weshalb er sich so seltsam benahm, denn er tigerte die ganze Zeit rastlos in meinem Wohnzimmer hin und her. Und dann – bevor er zu einer Erklärung ansetzen konnte – klingelte mein Handy. Ausgerechnet. Es war Enno, der sich ja höchst selten telefonisch bei mir meldete. Ich bat Atti, kurz zu warten, aber er gab mir ein Zeichen, er müsse los. Drängte, ich solle ihm das Geld sobald wie möglich überweisen, ich bekäme es zurück.

Wie hätte ich ahnen können, dass es das letzte Mal war, dass ich ihn sah? Ich überwies ihm das Geld, dachte ja, wir sprechen noch einmal ausführlich darüber. Würden vielleicht sogar einen Rückzahlungsplan oder etwas Ähnliches vereinbaren. Doch nachdem er sich ein paar Tage lang nicht gemeldet hatte, kam mir das alles komisch vor. Ich schickte ihm Nachrichten, ob alles okay sei. Keine Antwort.

Meine Eltern wussten angeblich auch nichts Näheres.

Schließlich erhielt ich eine Message von meinem Bruder, bis heute die letzte.

Hi. Danke für die Kohle. Wollte nur sagen, ich bin dann weg. Ich fange ein neues Leben an, ist besser so. Such nicht nach mir, vielleicht melde ich mich irgendwann mal, wenn ich das alles verkraftet hab. Aber vielleicht auch nie. Atti.

Erschrocken schrieb ich zurück, bombardierte ihn mit Fragen, doch Funkstille. Ich rief an, er nahm nicht ab.

Ich leitete die Nachricht an Mama weiter, die mehrere Stunden brauchte, um mir zu antworten, nämlich: Da kann man nichts machen.

Mein Herz raste vor Ratlosigkeit und Furcht. Was ist zwischen euch vorgefallen? Was muss er verkraften??, tippte ich und erntete Schweigen.

Ich fuhr zu Attis Wohnung – einer Zweizimmerwohnung in Bahnhofsnähe – doch sein Name war nicht mehr an der Klingel. Ich läutete trotzdem. Ein junger Typ öffnete mir, ein Student, der sein Glück kaum fassen konnte, wie schnell das mit dieser Wohnung gegangen war. Dem Vormieter hätte er für die Möbel Abstand bezahlt.

Erst dann rief ich auf Attis Arbeit an und erfuhr von der Kündigung. Panisch begab ich mich auf den Weg zum Boxclub, wo er seine halbe Freizeit verbrachte; aber auch dort wusste niemand etwas.

Es dauerte ein paar Tage, bis mir dämmerte, dass er wirklich alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte. Unter seiner Nummer ertönte schließlich die Ansage: kein Anschluss. Natürlich hatte ich auch das Internet nach ihm befragt. Atti heißt wie ich mit Nachnamen Mensah – einer der häufigsten Familiennamen im westafrikanischen Raum. Wenn man nach einem Mann fahndet, dessen Name Charles Kofi Ata Mensah lautet, erhält man unzählige Treffer. Alles, was ich fand, war nutzlos. Und alle Fragen, die ich meinen Eltern stellte, blockten sie weiterhin ab.

Ich verschwieg ihnen allerdings auch etwas. Seit ich Atti das Geld geliehen hatte, war ich finanziell klamm. Von beidem ahnten sie nichts. Zehntausend Euro. Natürlich hätte ich es ihnen sagen und sie um Unterstützung bitten können, aber ich wollte nicht, dass mein Bruder in ihren Augen noch mehr sank. Er hatte es immer so viel schwerer gehabt als ich. Während sie von allem, was ich anpackte, stets begeistert waren und mich unterstützten, verursachte Atti nur Stirnrunzeln und Zweifel. Worüber hatten sie sich diesmal nur so schrecklich überworfen?

Obwohl ich meine Eltern über alles liebe, war unser Verhältnis seitdem angespannt. Ich hätte unmöglich längerfristig bei ihnen wohnen können. Zum Glück meldete sich am späten Nachmittag mein Vermieter und teilte mir mit, ich dürfe zumindest kurzfristig ins Atelier, um die Dinge herauszuholen, die ich für meine Arbeit benötigte. Die akute Einsturzgefahr sei gebannt, doch später würde ein Gutachter entscheiden müssen, wie es weitergehen sollte. Sanierung oder Abriss? Das würde sich in den nächsten Tagen bis Wochen klären.

Und bis dahin?, dachte ich verzweifelt. Wo sollte ich arbeiten? Wo meinen Schmuck verkaufen? Wie Geld verdienen? Wenn ich dieses Jahr keinen Umsatz mehr generierte, konnte ich einpacken. Den ganzen Sommer arbeitete ich auf das Weihnachtsgeschäft hin, nahm auch die schlechteren Monate in Kauf, weil ich wusste, dass das Geschäft zum Jahresende es rausreißen würde. Und nun das.

Zurück in der Werkstatt war ich noch immer nicht ganz bei mir, vollendete mechanisch die letzten Arbeiten an dem Verlobungsring, zu dem ich beauftragt worden war. Dabei lauschte ich immer wieder angstvoll nach Geräuschen, die darauf hindeuten könnten, dass das Haus doch noch zusammenkrachte.

Während ich meine Auftragsarbeit in Schwefelsäure badete, damit der Ring nach dem Erhitzen wieder seine normale Farbe erlangte, begann ich mit dem Abräumen des Werktischs. Ich packte Rundzangen, Flachzangen und Hämmer ein, verstaute den Ringriegel, das Filz und die Punzen, den Schmelztiegel und die Walzen. Besonders sorgsam ging ich mit den Laugen, Säuren und anderen Chemikalien um, die ich in meiner Giftküche zur Bearbeitung der Edelmetalle aufbewahrte. Der Hängebohrer mitsamt Fußbedienung wanderte in den Originalkarton, von dem ich geglaubt hatte, ich würde ihn nie wieder benötigen. In einem Sortierkasten bewahrte ich Mineralien, Perlen, Bernstein, hübsche Scherben und Muscheln auf. Die teuren Materialien verwahrte ich in einer Schatulle im Tresor. Auch diesen räumte ich aus. Mein Meisterstück – ein aufwendig geschmiedeter Ring mit Perle – ruhte in einer durchsichtigen Präsentationsbox. Die Idee hatte mir ein Stück geliefert, das ich mir einst aus der Schmuckschatulle meiner ghanaischen Großmutter aussuchen durfte. Das ursprüngliche Exemplar war in seiner Ausführung simpler gewesen, aber die Grundidee hatte mich seit Jahren fasziniert. Bei diesem Ring hatte eine Perle in einem Gewebe aus Goldfäden gelegen, sie war darin herumgepurzelt wie ein Ball in einem Korb. Mit dem Meisterstück hatte ich etwas geschaffen, das an ein Nest erinnerte, in dem ein kostbares Ei lag. Mein Ziel war es gewesen, die Perle nicht festkleben zu müssen, wie es sonst üblich ist. Der Goldschmiedekammer hatten der Entwurf und der Prototyp so gut gefallen, dass sie mir die Arbeit als meine Abschlussarbeit genehmigten. Die Prüfung legte ich mit Prädikat ab.

Schweren Herzens packte ich alles in einen weiteren Karton und ging hinüber in mein liebevoll eingerichtetes Atelier. Seit zwei Wochen war es weihnachtlich geschmückt. Es glänzte und glitzerte. Auf einem Beistelltisch hatte ich sogar einen Adventskranz dekoriert. Letzten Montag hatte daran die erste Kerze geflackert.

Ich hob den Kopf und erkannte meinen Vermieter vor der Ladentür. Er winkte mir zu.

»Es gibt doch Versicherungen«, wandte Herr Wenzel ein, nachdem ich ihm mein Leid geklagt hatte. Dabei hatte er es gerade auch nicht leicht. »Haben Sie vielleicht eine dieser Verdienstausfallpolicen?«

»Nein«, antwortete ich deprimiert. Mit so etwas hatte doch kein Mensch rechnen können. Jedenfalls besaß ich keine. Ich hatte das Minimum an Policen abgeschlossen. Solche Dinge kosteten zu viel.

»Wie wäre es mit einem Ausverkauf im Internet?« Seine Hand ging über die Auslagen hinweg. »Vor Weihnachten werden Sie den ganzen Kram bestimmt im Nullkommanichts los.«

Kram hatte meinen Schmuck noch niemand genannt. Vielleicht vermutete er, ich hätte die Schmuckstücke aus Ghana zu einem Schnäppchenpreis importiert. Er könnte nicht mehr daneben liegen. Alles im Atelier war von mir gefertigt. Jedes Stück war mit Hingabe entworfen.

Nachdem Herr Wenzel wieder gegangen war, saß ich minutenlang auf meinem Platz und ließ alles sacken. Fast hätte ich mir gewünscht, keine Einzelstücke anzufertigen, sondern Massenware. Dann hätte ich vielleicht den von Herrn Wenzel empfohlenen Ausverkauf starten können. Doch es gab bei mir kaum zwei Teile, die einander ähnelten. Zwar hatte ich das ein oder andere Design im Programm, das sich als Verkaufsschlager erwiesen hatte, aber es war mir eigentlich zuwider, Duplikate anzufertigen. Das war mir zu langweilig, es sei denn, es handelte sich um eine echte Herausforderung, wie mein Meisterstück eine gewesen war.

Im letzten Jahr hatte ich eine Kopie dieses Rings angefertigt, um zu schauen, ob ich noch über die nötige Konzentration und Präzision verfügte. Diesmal hatte ich eine andere Perle und einen wärmeren Goldton gewählt. Und wieder war es mir gelungen, die filigranen Goldbänder so miteinander zu verweben, dass sie die Naturperle einfingen, ohne dass ich sie festkleben musste. Kaum war ich mit der Arbeit fertig gewesen, hatte ich sie mit in den Verkaufsraum genommen und dort in eine Schublade gelegt. Es war überhaupt nicht meine Absicht, den Ring einem Kunden zu zeigen – doch genau das war geschehen. Und das auch bloß, weil ausgerechnet Johanna mit ihrem damaligen Chef bei mir auftauchte. Zu dieser Zeit waren noch gar nicht so gut befreundet wie heute. Ihr Boss suchte einen Verlobungsring, und da hatte Johanna an mich gedacht – immerhin hatte ich auch ihren Ehering geschmiedet, nachdem wir uns bei einem Zumba-Kurs angefreundet hatten. Und weil ich mich so über ihre Empfehlung freute, holte ich den Ring aus der Schublade.

Johannas Chef war hin und weg. Obwohl mir nicht ganz wohl dabei war, verkaufte ich ihm das Schmuckstück. Doch er brachte es wenige Wochen später zurück. Seine Verlobte hatte sich von ihm getrennt. Als hätte die Kopie meines Meisterstücks, das so persönlich für mich war, wieder zu mir zurückgewollt.

Ein Gutes hatte die Sache: Immerhin hatten Johanna und ich uns darüber näher angefreundet. Über Weihnachten wollte sie mit ihrem Sohn und ihrem neuen Freund nach Indien reisen, wo der verstorbene Vater ihres Kleinen geboren war. Der Junge sollte seine Wurzeln kennenlernen.

Schon dachte ich wieder an Atti. Hatte er sich vielleicht auf die Suche nach seiner Herkunft begeben? Lebte er inzwischen in Ghana, wo er wie mein Vater herstammte? Was hätte ich dafür gegeben, wenn mein Bruder jetzt hier gewesen wäre. Er hätte mich in die Seite gestoßen, mir einen Witz erzählt und mich mit seinem breiten Grinsen zum Lachen gebracht. So, wie er es oft wegen Enno getan hatte. Er und Johanna waren die Einzigen, die von dieser Affäre wussten.

Mit Atti verband ich die lustigsten Momente meines Lebens; mit ihm war es niemals langweilig geworden. Am liebsten hatte er sich im Dunkeln vor mir versteckt. Durch ein paar Ritzen in den Rollläden war immer noch Licht in die Räume gefallen. Doch wegen Attis schwarzer Haut, und weil er sich zu diesen Gelegenheiten stets etwas Dunkles anzog, hatte ich ihn erst in der allerletzten Sekunde entdeckt. Dann sprang er mich an, und ich brach in hysterisches Gelächter aus. Wäre er hier gewesen, hätte ich ihn vielleicht sogar dazu überreden können, mich mit einer seiner wohltuenden Nackenmassagen zu entspannen.

Müde rieb ich mir die Augen. Ob ich wegen der Räumung Schadensersatz vom Bauherrn nebenan fordern könnte? Vielleicht konnte mir Johanna einen Rechtsanwalt empfehlen. Immerhin arbeitete sie in einer Kanzlei.

Es tutete nur einmal in der Leitung, schon ging sie an den Apparat. Meine Freundin begrüßte mich mit den Worten: »Wie lustig, dass du dich meldest! Ich habe gerade letztens mit jemandem über dich gesprochen.« Im Hintergrund vernahm ich das Bimmeln einer Straßenbahn und das Plappern eines Kleinkindes. Wahrscheinlich hatte sie ihren Jungen vom Hort abgeholt.

»Etwa mit deinem ehemaligen Chef?«

»Mit Henning?« Sie schnaubte. »Mit dem hab ich doch gar nichts mehr zu tun. Aber mit seiner Ex, du weißt schon, Sandra, die die Verlobung mit ihm wieder aufgelöst und ihm den Ring von dir zurückgegeben hat. Sie ist doch inzwischen nach Sylt gegangen, wir chatten hin und wieder. Und die Tage hat sie mich gefragt, ob du nicht vielleicht Lust hättest, im Dezember die Urlaubsvertretung für eine Sylter Goldschmiedin zu übernehmen. Diese Berufskollegin von dir hat auf dem Wintermarkt in Westerland einen Stand gemietet, aber jetzt fliegt sie stattdessen nach Teneriffa, und der Platz würde verfallen.«

»Sprechen wir von der Nordseeinsel Sylt?«

Johanna lachte. »Gibt’s sonst noch eine? Ich hab Sandra natürlich schon längst gesagt, dass du ja deinen eigenen Laden hast. Aber immerhin nett, dass sie an dich gedacht hat, oder?«

Mir fehlten die Worte. Ein Wintermarkt auf Sylt? Meine Frage nach rechtlichem Beistand rückte in den Hintergrund.

Nun hörte ich Johannas Schritte auf dem Bürgersteig. Ein Auto hupte.

»Puh, das ist wirklich interessant«, fand ich die Sprache wieder und erklärte meiner Freundin, dass ich seit heute auf der Straße saß. »Eigentlich wollte ich dich nach einem Anwalt fragen. Aber jetzt –«

Die Stimme meiner Freundin klang ehrlich betroffen. »Tut mir total leid, was da passiert ist. Das ist ja furchtbar.« Plötzlich kicherte sie. »Na ja, obwohl … für mich klingt das irgendwie nach Fügung, findest du nicht? Also nicht, dass ich dir so etwas gewünscht hätte, aber –«

»In gewisser Weise …«, murmelte ich.

»Soll ich Sandra deine Nummer geben?«

Meine Gedanken flogen. »Könnte ich auf diesem Markt denn auch meine eigenen Sachen verkaufen – also nicht nur die der anderen Goldschmiedin?«

»Bestimmt, warum nicht? So wie ich das verstanden habe, könntest du in der Zeit auch in der Wohnung von dieser Antonia wohnen. In Kampen ist auch ihr Atelier, das sie in der Zeit des Wintermarkts aber geschlossen hält.«

Diese ganzen Neuigkeiten musste ich erst einmal verdauen. Sylt war die angesagteste Insel Deutschlands, und wenn ich mich nicht irrte, die teuerste. Dort würde es bestimmt jede Menge potentieller Kunden geben, die Gefallen an ausgefallenem Schmuck fanden. Womöglich war Antonia eine Goldschmiedin mit einem festen Kundenstamm? Vielleicht war das meine Chance, das Weihnachtsgeschäft zu retten!

»Dann reiche ich deine Nummer an Sandra weiter«, versprach Johanna abschließend. »Vielleicht wendet sich ja noch alles zum Guten. Nur nicht verzagen.«

2

Den Rest des Tages wartete ich auf den Rückruf der Sylter Goldschmiedin. Zwischendurch recherchierte ich im Netz nach der Seite des Wintermarkts. Er öffnete am zehnten Dezember seine Pforten und lief bis zum dritten Januar.

Aufgeregt rief ich Mama an und platzte mit den Neuigkeiten heraus. »Ist das nicht genial? Auf Sylt finde ich doch genau meine Zielgruppe!«

»Sylt?«, fragte Mama. »Aber wieso denn ausgerechnet Sylt?« Ihre Stimme klang, als herrsche dort Krieg oder eine Seuche.

»Na ja, das Atelier ist nun mal da.«

»Will?!«, rief sie nach meinem Vater. Ich hörte die beiden miteinander tuscheln. Als Mama wieder mit mir sprach, fragte sie: »Heißt das, du wärst dann auch über Weihnachten fort?«

Daher wehte also der Wind. »Es wäre doch nur ein einziges Mal. Schau mal, was kann mir im Moment denn Besseres passieren? Ich brauche die Einnahmen!«

»Dann legen wir dir eben was aus. Du kannst außerdem wieder bei uns wohnen. Dein altes Zimmer räumen wir frei, das wäre kein Problem«, wiederholte sie ihre Einladung vom Morgen.

Es klopfte in der Leitung. Schnell verabschiedete ich mich von Mama und schaltete auf den eingehenden Call.

»Antonia Zivo hier! Mir ist zu Ohren gekommen, dass du vielleicht Lust hättest, hier meine Vertretung zu übernehmen?« Die Stimme der Frau klang warmherzig.

Mein Herz klopfte. »Eventuell schon. Es ist nämlich so …«

Die Sylterin gab mitfühlende Laute von sich, als ich ihr von meiner Misere erzählte. »Nach diesem Schreck wird es dir hier bestimmt total gut gefallen. Zwar kann ich dir nicht sagen, wie der Markt laufen wird, da ich auch das erste Mal mitmachen wollte. Aber abgesehen davon kannst du natürlich Strandspaziergänge unternehmen und dir den Wind um die Nase wehen lassen. Darüber wirst du deine Sorgen vielleicht ein bisschen vergessen.«

Und ich könnte Muscheln sammeln, ergänzte ich im Inneren. Unwillkürlich dachte ich an die Schmuckschatulle meiner ghanaischen Großmutter, aus der ich als Fünfjährige den Ring gefischt hatte. Darin waren auch unzählige Ketten aus Muschelschalen gewesen, die Granny angefertigt hatte. Mama hatte sich eine davon ausgesucht.

»Überleg es dir einfach in Ruhe – bisher habe ich keine Alternative«, fuhr Antonia fort. »Ich lass nicht gern jeden an meinen Schmuck, aber da du mir empfohlen wurdest, hätte ich bei dir ein gutes Gefühl.«

»Meine Sachen dürfte ich doch auch verkaufen?«, vergewisserte ich mich.

»Klar. Wir machen einfach getrennte Kassen. Und du darfst jederzeit meine Werkstatt benutzen, wenn du sie pfleglich behandelst. Vielleicht bekommst du hier ganz neue Inspirationen.«

»Wohnt Sandra eigentlich auch bei dir in der Nähe?« Die Frau, für die Johannas Chef den Verlobungsring ausgesucht hatte, kannte ich nur von Fotos.

»Sie wohnt eine Straße weiter. Wir haben zwar kein sehr enges Verhältnis, aber immerhin hat sie mir den Tipp mit dir gegeben. Bestimmt schaut sie mal vorbei, falls du wirklich kommen solltest.«

»Verbleiben wir einfach so«, brachte ich bald darauf das Telefonat zum Abschluss, »ich lasse mir noch mal alles durch den Kopf gehen, und dann melde ich mich wieder bei dir.«

»Einverstanden.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mir Enno ein. Eine stille Furcht kroch in mir hoch, dass es sicher keine gute Idee wäre, Anna für vier Wochen das Feld zu überlassen. Was, wenn er sein Versprechen, sich in diesem Jahr von ihr zu trennen, wegen dieses Sylttrips nicht wahrmachen würde? Für Freitag würde ich ihm absagen müssen. Wo hätten wir uns denn treffen sollen?

Schnell tippte ich eine Nachricht.

Freitag klappt nicht, ich muss aus der Wohnung, das Haus ist einsturzgefährdet. Komme bei meinen Eltern unter. Melde mich irgendwann.

Es war schon nach halb acht, als Papa bei mir eintraf, um mich und meine Kartons aus meinem Geschäft abzuholen. Mein Vater trug seinen beigefarbenen Lodenmantel und einen grauen Filzhut, dazu einen Gehstock, mit dessen Hilfe er innehalten konnte, wenn ihn ein Spaziergang zu sehr anstrengte. In diesem Outfit sah er aus wie ein alternder Geheimagent. Papa war im Sommer achtzig geworden, er litt unter Diabetes und chronischer Bronchitis. Abgesehen davon hatte er seit einigen Jahren einen Tremor in der rechten Hand, der es ihm unmöglich machte, einen Löffel Zucker in eine Tasse zu geben, ohne dass etwas danebenging. Meine alte Nachbarin aus dem Erdgeschoss zeigte sich stets beeindruckt, wenn er sich für einen Moment im Hausflur mit ihr über ihre Arthritis unterhielt. Als habilitierter Mediziner lehrte er noch immer an der Frankfurter Uniklinik. Er war einer der Vorreiter der In-vitro-Fertilisation in Deutschland und war auch heute als Experte gefragt. Mama und er hatten sich im Dienst kennengelernt; sie war Krankenschwester. Meine Nachbarin fand, dass Papa der höflichste Mann war, den sie kannte, und sie hatte mir obendrein den Tipp gegeben, mir einen feinen jungen Kerl wie ihn zu suchen. Dass ich ab und zu Besuch von einem »Burschen« bekam, der nicht unwesentlich älter war als ich, hatte sie mitbekommen.

Mein Vater wartete ab, bis das Läuten des Glöckchens über der Eingangstür verklungen war und nahm seinen Hut ab. Auf der Stelle schwand der Geheimagent, und mein Dad kam zum Vorschein. Er sah aus, als wollte er mir etwas Wichtiges mitteilen. Vermutlich hatten Mama und er sich eine Strategie zurechtgelegt, wie sie mich zugunsten des gemeinsamen Weihnachtsfestes von der Sylt-Idee abbringen könnten.

Ich trat zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Papa roch nach Babyshampoo. Er benutzte nie etwas anderes.

»Ach Hummelchen«, klagte er und setzte sich auf einen der beiden Stühle vor dem Verkaufstisch. Mein Vater sprach astreines Deutsch. Er rollte lediglich das R, was – neben seinem Aussehen natürlich – seine ausländische Herkunft verriet. Hummelchen nannte er mich, seit ich denken konnte. Als ich ein rundgesichtiges Baby war, hatte meine Großmutter ein gelbes Mützchen und Jäckchen für mich gestrickt. Mit meiner dunklen Haut hatte ich ausgesehen wie eine kleine Hummel.

»Papa.« Ich faltete die Hände. »Ich weiß, ihr seht es nicht gerne, wenn ich ausgerechnet jetzt für vier Wochen verreise. Aber für die aktuelle Notlage kann ich nichts. Ich muss Geld verdienen – dass ihr mich wochenlang durchfüttert, das möchte ich nicht. Dieses Angebot auf Sylt ist vielleicht ein Zeichen, verstehst du? Das kann ich nicht einfach ignorieren.«

»Das weiß ich doch«, antwortete mein Vater versöhnlich, »aber hier gibt es auch ein Zeichen. Sogar ganz in der Nähe.«

»Ach?«

Papa knöpfte seinen Mantel auf. »Ich habe da einen Bekannten«, begann er. »Er zahlt nicht schlecht.«

Ich ließ mich vor Dad auf den Verkaufsstuhl plumpsen. Fragend sah ich ihn an.

»Ein früherer Student von mir betreibt inzwischen erfolgreich eine Kinderwunschpraxis in Kronberg.« Seine Augen blitzten. »Und er ist alleinstehend.« Mein Vater wiegte den Kopf. »Frisch geschieden, um genau zu sein. Aber sie hatten Gütertrennung. Jedenfalls braucht er Unterstützung.«

Ich musste achtgeben, nicht zu lachen. Neben der Moral gab es einen weiteren Grund, weshalb ich meinen Eltern bisher nichts von Enno erzählt hatte. Ihr Traumschwiegersohn kam aus Ghana und war Mediziner. Genau wie Papa.

»Sag bloß«, schlug ich einen spöttelnden Tonfall an, »da gibt es also einen alleinstehenden Ghanaer mit erstklassiger Bildung und gutem finanziellem Polster – der muss ja wohl genau der Richtige für mich sein.« Ich schlug die Beine übereinander. »Um welche bezahlten Dienste handelt es sich denn?«

Papa entging die Ironie in meiner Stimme. Er lehnte sich vertraulich nach vorn. »Harry hat große Schwierigkeiten, gutes Personal zu finden. Die Leute heutzutage sind unzuverlässig und faul. Und du bist schlau, du wirst dich ganz rasch in alles einarbeiten.« Er deutete auf den Kalender auf meinem Schreibtisch. »Termine vereinbaren kannst du ja. Und außerdem bist du ein empathischer Mensch. Du wirst den Patientinnen auf die notwendige feinfühlige Art begegnen.«

»Ich soll als Sprechstundenhilfe arbeiten, verstehe ich das richtig?« Leise schmunzelte ich in mich hinein. Das Ganze musste Papa erscheinen wie ein Sechser im Lotto. Wenn er mich gleichzeitig in den medizinischen Sektor schleusen und mit einem Ghanaer verkuppeln konnte, wäre er zu Weihnachten bei der Skype-Sitzung mit dem westafrikanischen Klan der gemachte Mann. Zwar hatte er meine Berufswahl immer unterstützt. Aber insgeheim hätte er sich gewünscht, ich würde in seine Fußstapfen treten.

»Wenn du dich klug anstellst, kannst du vielleicht auch andere Aufgaben übernehmen«, lockte er.

»Kochen und Putzen könnte ich noch«, sagte ich leichthin und beobachtete ihn.

Endlich lachte Papa sein ansteckendes Lachen, für das ich ihn seit jeher liebte. Früher, wenn er gelegentlich zusammen mit Atti und mir im Halbdunkel der Wohnung Verstecken gespielt hatte, hatte er sich mit diesem Gelächter verraten. »Ach, es wäre doch gar nicht das Schlechteste«, wiegelte er ab. »Und sicher hätte Harry nichts dagegen, wenn du im Hobbykeller ab und zu etwas schmiedest. Vielleicht stellt er dir in seiner Praxis sogar eine Vitrine zur Verfügung.«

Eine Schmuckvitrine in einer Kronberger Kinderwunschpraxis wäre ein Novum. Und bei guten Nachrichten wäre der Ring am Finger der Frau gleich zur Stelle. Innerlich zeigte ich mir einen Vogel. »Frag mich nicht weshalb, aber Sylt reizt mich mehr.«

Papa sah frustriert aus. »Wir hätten dich einfach gern bei uns«, murmelte er. »Und diese Goldschmiedin – wie ist die eigentlich auf dich gekommen?«

In kurzen Sätzen erläuterte ich ihm die Zusammenhänge.

Papa nickte nachdenklich. »Wenn wir dich also gar nicht umstimmen können … wir werden dann wohl alleine feiern.«

»Habt ihr denn wirklich nichts von Atti gehört?«, platzte ich heraus. Letztes Weihnachten hatte ich fest mit einem Überraschungsbesuch von ihm gerechnet und war bitter enttäuscht worden.

»Nein, haben wir nicht.«

»Wollt ihr nicht doch mal einen Suchdienst beauftragen? Ich meine … wie könnt ihr nur mit dieser Ungewissheit leben?«

»Wir haben es dir schon oft genug erklärt: Es war seine Entscheidung zu gehen.«

»Und meine ist es, nach Sylt zu gehen«, erwiderte ich fest. »Es sind ja auch nur wenige Wochen.« In diesem Moment kam mir eine Idee. »Außerdem könntet ihr doch auch über Weihnachten dorthin kommen. Es findet sich bestimmt ein schönes Hotel vor Ort.«

Mein Vater sah mich nachdenklich an. »Und diese Goldschmiedin ist wirklich ganz zufällig an dich herangetreten?«

»Aber ja!«

»Die Idee ist nicht schlecht«, sagte er schließlich und sah auf seine Armbanduhr. »Wollen wir? Dann können wir gleich mit deiner Mutter darüber reden.«

Auf dem Weg zur Wohnung meiner Eltern betrachtete ich Papa verstohlen von der Seite. Anders als früher, wenn er bei einer rhythmischen Melodie aus dem Radio den Takt mitgetrommelt hatte, hielten heute seine Finger das Lenkrad fest umklammert. Wie alt er inzwischen war. Dabei war Dad in meinen Augen eigentlich schon immer alt gewesen. Als ich geboren wurde, war er sechsundvierzig. Es hatte recht lange gedauert, bis er mit meiner Mutter die Richtige fand. Das lag daran, dass er ziemlich wählerisch war.

Als mein Dad, der mit vollem Namen William Kofi Anan Mensah heißt, als junger Medizinstudent von Ghana nach Frankfurt gekommen war, hatte er sich geschworen, einmal eine Frau wie Romy Schneider zu heiraten. Für ihn war sie die schönste Lady, die er sich vorstellen konnte. Und tatsächlich hat Mama, die Katharina heißt, ein ähnlich feingezeichnetes Gesicht wie die berühmte Schauspielerin.

Papa hatte also all die Jahre auf eine Dame gewartet, bei deren Anblick es Klick machen würde wie bei Romy Schneider. Und da stand sie plötzlich bei einem Nachtdienst in der Klinik vor ihm. Mamas Eltern waren entsetzt. Es waren die Achtziger, und wenn eine Frau sich mit einem Schwarzen einließ, war ihr Ruf ruiniert. Da nutzte es nichts, dass besagter Mann ein renommierter Mediziner war, der sich vor Jahren um ein Auslandsstipendium beworben und dann auf den Weg ins ferne Deutschland gemacht hatte. Lange Zeit hatte Papa in einer Souterrainwohnung in einem Hinterhaus in Offenbach bei einem Vermieter gewohnt, der ihm riet, sich unauffällig zu verhalten. Die Nachbarn starrten ihn an und machten einen weiten Bogen um ihn. An der Uni jedoch freundete er sich schnell mit Kommilitonen an, die ihn auf Partys einluden. Und wenn die Freunde sich telefonisch verabredeten und fragten, ob sie einen Neuen mitbringen könnten, hieß es: »Er heißt William, und er ist übrigens schwarz.« Als Vorwarnung dafür, dass die anderen sich nicht erschrecken sollten.

Mama schlug die Warnungen ihrer Eltern in den Wind. Sie hatte sich auf den ersten Blick in Papas makellose Haut verliebt, die im künstlichen Kliniklicht glänzte. In seine strahlend weißen Zähne, die sein Gesicht zum Leuchten brachten, sobald er den Mund aufmachte. Und in seine breiten Schultern und seinen athletischen Körper. Vor allem aber in seinen Humor. Wenn mein Vater lachte, dann bebte das Haus.

Zu diesem Zeitpunkt war Papa schon längst aus der Souterrainwohnung in eine Vier-Zimmer-Eigentumswohnung im Frankfurter Stadtteil Bornheim gezogen. Vorausschauend hatte er sie für seine zukünftige Familie angeschafft, die damals noch auf sich warten lassen sollte. Aber schließlich war es so weit, und sie heirateten. Selbst der Standesbeamte meiner Eltern nahm Mama vor der Trauung beiseite. »Überlegen Sie sich das gut, ob Sie wirklich einen Afrikaner heiraten wollen«, warnte er.

Sollte nicht jeder, der heiratete, sich das vorher gut überlegen? Warum wurden andere vor der Hochzeit nicht beiseitegenommen?

Jedenfalls waren Mama all diese Unkenrufe einerlei. Fünf Jahre später kam ich zur Welt. Dass Papas großer Schwarm Romy Schneider vor meiner Geburt so tragisch ums Leben gekommen war, fand er so traurig, dass er ihr ein Denkmal setzen wollte, und er nannte mich mit erstem Namen Romy. Dann folgen die Vornamen Efua und Abedi sowie mein Nachname Mensah.

Der erste Name klingt meist international, damit der Träger damit überall gut zurechtkommt. Doch dann wird es speziell. Der zweite Rufname gibt über das Geschlecht des Kindes und darüber Auskunft, an welchem Wochentag es geboren ist. Dann folgt ein weiterer Name mit einer tieferen Bedeutung, bei mir ist es Abedi – die Herbeigesehnte. Immerhin hatte mein Vater viele Jahre auf mich warten müssen. Bei der Geburt erlitt meine Mutter einen Riss in der Plazenta, der sie fast das Leben kostete. Meinen Eltern wurde davon abgeraten, weitere Kinder zu bekommen. Für Papa war das ein schlimmer Schlag, hatte er sich immer einen Sohn gewünscht.

Als ich drei Jahre alt war, adoptierten sie Atti aus einem ghanaischen katholischen Waisenhaus. Sein erster Vorname lautet Charles, darauf kommt Kofi. Auch er wurde an einem Freitag geboren. Anschließend folgt Ata. Dieser Name bedeutet »erster Zwilling«, doch meine Eltern berichteten, sein Geschwisterchen sei bei der Geburt verstorben. Genau wie seine Mutter. Mehr wüssten sie auch nicht.

Dieses tote Kind spielte in Attis Fantasie eine große Rolle. Manchmal stellte er sich vor, der Junge oder das Mädchen sei noch an seiner Seite. Und wenn es ein eineiiger Zwillingsbruder gewesen wäre, dann hätten sie Rollen tauschen können. Einer hätte sich bei Streichen für den anderen ausgegeben, und niemand hätte je einen Schuldigen finden können. Und sie hätten alle Geheimnisse miteinander geteilt.

Immer, wenn er davon anfing, war ich insgeheim froh, dass es diesen Zwilling nicht gab, denn ich war doch seine Vertraute. Und er meiner.

Bis Atti in den Kindergarten kam, war er ein Sonnenschein, doch dann fingen die Schwierigkeiten an. Er war wild und aufsässig, hielt sich an keine Regeln. Oft kamen seine Zornesattacken wie aus dem Nichts. Dann schlug er andere Kinder und auch die Erzieherinnen. Meine Eltern gingen mit ihm zum Psychologen, keiner konnte helfen. Schließlich entdeckte Atti den Sport als Ventil und stählte seinen Körper. Er trat einem Boxverein bei und hing mit Jungs ab, von denen unsere Eltern nichts hielten; doch beim Boxen gelangte er zur Ruhe. Außerdem erfuhr er in diesem Verein von seiner Gabe, angespannte Muskeln der Mitstreiter zu entspannen. Bald hielt ein Massagetisch im Boxstudio Einzug, an dem Atti die brennenden Muckis seiner Kollegen wieder weichklopfte oder mit bestimmten Handgriffen Blockaden löste. Wenn man mich fragt, hat mein Bruder magische Hände.

Durch den Sport und die Anerkennung wurden seine Wutanfälle seltener. Was lag da näher als eine Ausbildung zum Masseur? Zum ersten Mal verfolgte Atti ein Ziel und schloss die Lehre im praktischen Teil mit »Sehr gut« ab.

Unser Vater hat uns Kindern immer gepredigt, wir müssten wegen unserer Hautfarbe besser sein als andere. Zumindest bei mir fruchtete diese Ansage – ich habe mich immer angestrengt wie verrückt. Zwar bestand meine Gedankenwelt in der Schule nicht aus Zahlen oder aus Buchstaben, so wie Papa es gemeint hatte. Meine Vorstellungen bewohnten Muster, Formen und Farben, am liebsten Gold. Bereits als kleines Mädchen liebte ich Schmuck. Und besonders ansprechenden gab es in Ghana, wohin wir zum ersten Mal gemeinsam flogen, als ich fünf Jahre alt war. Es war kein schöner Anlass, denn meine ghanaische Großmutter lag im Sterben.

Mein Vater verwandelte sich in dem Moment, in dem er heimatlichen Boden betrat und seine Muttersprache auf der Straße vernahm, in einen waschechten Afrikaner. In Grannys Haus, das in einem Fischerdorf am Atlantischen Ozean lag, wechselte mein Vater das Outfit, indem er sich den traditionellen buntbedruckten Stoff um den Körper wickelte. In diesem Dorf lebten die Menschen von der Fischerei, und auf dem Wochenmarkt wurden lebende Ziegen verkauft. All das beeindruckte mich tief. Auf dem Markt gab es auch Schmuck, und wie sich herausstellte, hatte meine Großmutter früher selbst welchen hergestellt. In einer alten Bastkiste neben ihrem Bett verwahrte sie die schönsten Ketten, Ringe und Bänder aus Gold, die ich je gesehen hatte.

Um die vierzig Verwandte fanden in der kleinen Dorfhütte von Granny Platz, um sich von ihr zu verabschieden. Dort lernte ich zum ersten Mal, dass meine Haut in den Augen der afrikanischen Verwandtschaft weiß war. Das wirkte sehr verwirrend auf mich, denn in meiner deutschen Heimat galt ich doch als schwarz.

Lange Zeit wusste ich nicht, wo ich hingehörte. Genauso ging es aber auch Atti. Wenn wir zu viert unterwegs waren, konnte man nur mich zuordnen.

In Ghana zeigten mir Tanten und Cousinen, wie man hübsche Bänder knüpft und aus Holz zierliche Figürchen schnitzt, und damit beschäftigte ich mich fortan. Selbst die Feierlichkeiten zur Beerdigung meiner Großmutter konnten mich nicht lange von den Basteleien abbringen.

Als wir wieder nach Deutschland aufbrachen, durfte ich mir ein Schmuckstück aus der Schatulle von Granny aussuchen. Ich wählte den Ring, der mir später als Vorlage für mein Meisterstück diente.

3

Am Wochenende erhielten die heimatlosen Bewohner der Nummer siebzehn die Erlaubnis, die wichtigsten Habseligkeiten aus dem Gebäude zu holen. Die Anweisung war deutlich: Immer nur ein Mieter mit einem Feuerwehrmann durfte ins Gebäude. Und jeder nur zwei Koffer. Das Technische Hilfswerk hatte die Wände inzwischen abgestützt; nach dem Jahreswechsel würden die Sanierungsarbeiten beginnen. Dauer: ungewiss.

An der Tür des Ateliers befestigte ich ein Schild mit dem Hinweis, im Dezember würde ich auf dem Wintermarkt auf Sylt zu finden sein. Mit Antonia hatte ich mich für Dienstag verabredet. Am Mittwoch ging ihr Flug nach Teneriffa.

Einmal telefonierte ich mit Johanna und dankte ihr überschwänglich für den Tipp mit Sylt, wünschte ihr abschließend eine gute Reise nach Indien. Dann widmete ich mich den letzten Vorbereitungen für meine Abreise.

Papa hatte meine Misere zum Anlass genommen, Attis und mein altes Kinderzimmer auszumisten, um Platz für meine Kartons aus dem Atelier zu schaffen. Das Werkzeug würde ich mit nach Sylt nehmen, den Rest wie den Tresor und die Giftküche stellte ich hier ebenfalls unter. Bei Papas Aufräumarbeiten kam eine Kiste zum Vorschein, auf der Attis Name stand. Mama hatte immer besondere Basteleien aus Kindergarten und Schule von uns aufgehoben. Meine eigene hatte ich bei meinem Auszug mit nach Sachsenhausen gebracht. Darin befand sich mein erstes Stofftier: ein kleines Äffchen namens Chita. Außerdem bewahrte ich darin die Babyausstattung auf, nach der Papa mir meinen Spitznamen gegeben hatte. Atti hatte seine Kiste bei seinem Auszug vor einigen Jahren hiergelassen.

»Die wirst du doch wohl nicht wegwerfen wollen?«, fragte ich meinen Vater, als er sie im Flur neben all den anderen Dingen abstellte, die ausgemustert wurden.

»Warum nicht? Offenbar hat er kein Interesse mehr daran.«

»Aber vielleicht irgendwann mal. Wenn er zurückkommt.«

Mein Vater presste die Kiefer aufeinander.

Kopfschüttelnd sah ich ihn an. Wie konnte man die Hoffnung auf sein Kind aufgeben? Oder wusste er doch Näheres über Attis Verbleib? Was, wenn er die Ergebnisse seiner eigenen Nachforschungen nur für sich behielt? Innerlich verwarf ich den Gedanken sofort wieder. Dann hätte er sie Mama erzählt. Und sie mir. So etwas hätte sie niemals für sich behalten.

Zweifelnd wandte ich den Kopf zu ihr um. Meine Mutter stapelte meine Habseligkeiten platzsparend auf- und nebeneinander. Ihr Haar, das sie seit einigen Jahren grau trug, hatte sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, der sich zu lösen drohte. Sie lächelte mir traurig zu, als sei sie ganz Papas Meinung.

Ich verkniff mir weitere Kommentare, doch als wir später vor den dampfenden Tellern saßen, wagte ich endlich den Einstieg in eine Unterhaltung, die wir jetzt schon länger nicht mehr geführt hatten.

»Wo wir ja vorhin aufgeräumt haben und Erinnerungen hochgekommen sind«, begann ich, »da möchte ich endlich von euch wissen, worüber ihr zuletzt mit Atti gestritten habt. Was genau gab es für ihn zu verkraften? Findet ihr nicht, dass ihr langsam mal damit herausrücken könntet? Ich bin kein kleines Kind, mit dem man nicht offen sprechen kann.«

Papa hatte gerade seine Gabel mit Lasagne vollgeladen. »Hummelchen«, sagte er matt, als wäre ich entgegen meiner Worte genau das: ein Kind.

Mama presste die Lippen aufeinander. »Das ist und bleibt eine Sache zwischen deinem Bruder und uns«, presste sie hervor. »Es tut mir zwar leid, dass er auch zu dir den Kontakt abgebrochen hat, aber …«, sie wechselte mit Papa einen Blick, »… es ist wahrscheinlich besser so.«

Sofort brodelte es wieder in mir. »Was soll daran besser sein? Er ist mein Bruder! Wir hatten manchmal Streit, aber nie schlimm. Meistens waren wir ein Herz und eine Seele. Wisst ihr eigentlich, wie schrecklich das für mich ist?«

»Doch, doch.« Mit der Gabel zerpflückte Papa den Auflauf auf seinem Teller. »Es ist für uns alle schlimm. Aber es ist seine Entscheidung. Was sollen wir denn da machen?«

Mit der Gabel deutete ich vage in Richtung Flur. »Dann hebt wenigstens Attis Kiste auf. Wenn ich zurück in die Wohnung kann, nehme ich sie mit. Ihr könnt ihn vielleicht aus eurem Leben streichen. Ich schaffe das nicht.« Ich nahm eine Gabelspitze Lasagne in den Mund und kaute. »Habt ihr seit seinem Weggehen eigentlich mal einen Blick in diese Kiste geworfen? Vielleicht gibt es ja einen Hinweis, den ihr übersehen habt.« Daran dachte ich selbst gerade zum ersten Mal.

Meine Eltern tauschten schon wieder einen Blick. Ich sah sie fragend an, dann schob ich meinen Stuhl zurück und war im Nu im Flur, riss das Klebeband vom Falz.

Schon stand Mama hinter mir. »Romy, am besten …«, sagte sie, doch ich stoppte sie mit einer Handbewegung.

In der Kiste befand sich aller möglicher Krimskrams. Attis erstes Schulmäppchen mit dem Konterfei von Yoda und dem Slogan May the forth be with you darauf. Etliche Playmobilfiguren, vornehmlich Ritter. Ein abgegriffenes Bilderbuch mit Petterson und Findus. Der aus einer Frauenzeitschrift herausgerissene Artikel über meinen Vater, den Kinderwunschpapst, der ein Kind aus Ghana adoptiert hatte. Ein ferngesteuertes Auto. Zwischen Attis ersten Schuhen, bei denen die Spitzen vom Bobbycarfahren vollkommen abgestoßen waren, lagen seine Schulhefte mit ungeschickten Schreibversuchen und Zeichnungen. Eines zeigte blaue Wachsmallinien auf schwarzem Papier. Ich wandte es um. Eine Erzieherin hatte den Titel auf die Rückseite geschrieben. Er lautete: »Mama als Wal verkleidet.«

Ich kramte zwischen den Dingen herum. »Wo ist denn der Strampler abgeblieben, den er damals getragen hat? Der war doch hier drin.« Manchmal hatten Atti und ich uns diese alten Erinnerungen angeschaut. Als meine Eltern ihn aus dem Waisenhaus in Accra, der Hauptstadt von Ghana, abholten, trug er einen Strampelanzug mit einer Giraffe auf der Brust. Angeblich war es ein brüllend heißer Tag, und Atti hatte die ganze Zeit geschrien. Er war sechs Monate alt.

Ich wühlte weiter. »Und seine Geburtsurkunde ist auch nicht mehr da.«

Mein Vater war uns inzwischen gefolgt. »Das Essen wird kalt«, mahnte er.

»Hat Atti die Sachen mitgenommen?«, überging ich seinen Einwand.

Papa hob die Hände. »Hat er, jawohl. Genauso wie das Geburtsarmband aus dem Krankenhaus, in dem er geboren wurde.«

»Also wollte er sich nach Ghana aufmachen«, schlussfolgerte ich. »Um seine Herkunftsfamilie zu suchen.« Diese Idee kam mir ja nicht erst jetzt, und der Moment wäre geeignet gewesen, meinen Eltern zu sagen, dass ich Atti Geld gegeben hatte. Doch noch immer wäre es mir wie ein Verrat vorgekommen. Und außerdem würde ich zugeben, dass auch ich nicht hundertprozentig ehrlich zu ihnen gewesen war.

»Seine Mutter ist bei der Geburt gestorben, Romy, das weißt du doch«, widersprach Mama. »Ihr Name war außerdem ein Allerweltsname, wie er tausendfach in Ghana vorkommt. Und über seinen Vater gab es keinerlei Angaben.« Sie seufzte. »Wie auch immer. Wir hoffen natürlich, dass dein Bruder gefunden hat, was er sucht.«

»Und wenn er tot ist?«, platzte ich heraus. »Es kann doch sein, dass ihm sonst was zugestoßen ist!«

»Atti ist taff«, widersprach Dad. »Den haut so schnell nichts um. Das schließe ich wirklich aus.«

Missmutig schloss ich die Kiste und befestigte das Klebeband, schob den Karton zu den anderen. »Nicht wegschmeißen!«, betonte ich und sah meine Eltern fest an. »Wenn ihr die Sachen nicht wollt – ich will sie auf jeden Fall.«

Am Freitagabend saßen wir wieder zum Essen beisammen, die Stimmung war noch immer gedrückt. Man hörte nichts als das Klappern des Bestecks auf unseren Tellern. Mama hatte die letzten Tage meine Lieblingsspeisen durchgekocht, heute gab es Braten, dazu Rosenkohl, den keine so gut beherrschte wie sie. Was Sylt betraf: Damit hatten sie sich abgefunden und mir zugesagt, mich dort über die Feiertage zu besuchen.

Ich dachte an Enno, den ich heute getroffen hätte, wäre das Haus nicht unbewohnbar geworden. Seit meiner Absage hatte er sich nicht mehr bei mir gemeldet. Dieses Schweigen sprach Bände. Er interessierte sich nicht für meine Probleme, wahrscheinlich nicht mal für mich als Mensch. Ich war die Frau, mit der er gelegentlich schlief und das auftankte, was er in seiner Ehe vermisste. Es war irrsinnig gewesen, zu glauben, er würde seine Frau meinetwegen verlassen. Für ihn stand zu viel auf dem Spiel.

Enno und Anna hatten zwar keine Kinder, aber ihr Leben war perfekt aufeinander abgestimmt. Sie waren ein typisches »Double-income-no-kids«-Paar und hatten ihr Privatleben um ihre Berufe organisiert. Enno war Abteilungsleiter in einem exklusiven italienischen Möbelhaus, Anna beriet als Wirtschaftspsychologin Unternehmen bei ihren Mitarbeiterprogrammen. Sie waren ein erfolgreiches Paar, wurden gern zusammen eingeladen. Angeblich langweilte er sich bei diesen Verabredungen – doch war das wirklich so? Was hätten Freunde und Kollegen gesagt, wenn er plötzlich mit mir aufgekreuzt wäre?

Dabei hatte er mir von Anfang an versichert, dass seine Gefühle für Anna bereits vor der Hochzeit abgeflaut wären, doch er hätte gehofft, so ein Band für die Ewigkeit würde alle Zweifel verscheuchen. Und als er mir dann wiederbegegnete, hätte er nicht den Mut gehabt, die lange geplante Hochzeit von heute auf morgen platzen zu lassen. Außerdem hatte er darauf gebaut, der Schwur vor dem Standesbeamten würde die Empfindungen von früher zurückbringen, als er Anna in einem Frankfurter Club kennenlernte. Doch dem war nicht so, und wenn ich Enno Glauben schenken sollte, lebten sie wie Bruder und Schwester miteinander.

Theoretisch hätte einer Trennung nichts im Wege gestanden, doch eine Sache verkomplizierte die Angelegenheit: Kurz nach der Hochzeit hatte Anna ihre Eltern bei einem tragischen Unfall verloren, und nun war er die einzige Konstante in ihrem Leben. Anna brauchte ihn. Aber im Moment hatte ich ihn genauso nötig!

»Hummelchen, mir fällt gerade eine Anekdote ein«, unterbrach Papa meine Gedanken. Strahlend zeigte er mit der Gabel auf mich, offenbar froh darüber, dass ihm ein unverfängliches Thema eingefallen war. »Ich habe meinem Kollegen wegen deiner Mithilfe in seiner Praxis ja leider einen Korb geben müssen. Aber als wir dann noch mal darauf zurückkamen, dass du ja eigentlich Goldschmiedin bist, ist ihm eingefallen, dass er sich letztens mit einer Patientin über dich unterhalten hat.«

»Ach ja?« Mit der Gabel versuchte ich ein Röschen Kohl aufzuspießen, doch es flutschte weg.

»In der Tat. Ihm ist nämlich ihr hübscher Ehering aufgefallen, und da erwähnte sie, dass sie ihn von einer gewissen Romy Mensah hat anfertigen lassen.«

»Wow«, sagte ich staunend. Dass mir mein Ruf inzwischen bis nach Kronberg vorausgeeilt war, war neu. Endlich gelang es mir, den Rosenkohl aufzuspießen.

»Vielleicht erinnerst du dich an die Frau, ihr Nachname ist ungewöhnlich, sie heißt Rossi. Wie in ›Herr Rossi sucht das Glück‹.«

Verblüfft sah ich meinen Vater an, die Gabel schwebte halb in der Luft. »Anna Rossi?«

»Könnte sein.« Papa schnitt ein Stück Braten ab. »Den Vornamen hat er nicht erwähnt.«

Langsam ließ ich die Gabel sinken und legte sie klirrend auf dem Teller ab. Meine Kehle wurde eng. Das passiert manchmal, wenn mir emotional etwas nahegeht.

Mama streichelte mir über den Arm. »Ist dir nicht gut?«

Ich ignorierte sie. »Weißt du, wie lange sie schon bei deinem Kollegen in Behandlung ist?«, wandte ich mich an meinen Vater.

Papa fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Selbst wenn ich es wüsste, ich darf dir das gar nicht … O je.« Offenbar wurde ihm bewusst, dass sein Fachgenosse Harry gegen das Patientengeheimnis verstoßen hatte, und Papa gleich mit. »Du wirst die Frau doch bitte nicht darauf ansprechen?«

Ich legte das Besteck beiseite und schob den Stuhl zurück. Meine Eltern sahen mich mit offenen Mündern an.

»Ich muss mal«, entschuldigte ich mich und ging in den Flur. Dort lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand, zog das Smartphone aus der Hosentasche, rief Ennos Chat auf. Seit meiner Absage hatte er sich nicht mehr gemeldet.

Ich blinzelte die Tränen fort und steckte das Handy zurück. Ich würde es auch nicht tun. Es gab keine anderen Rossis, die ihre Ringe bei mir gekauft hatten. So viel war sicher.

Am Samstagmorgen war ich mit dem Mann verabredet, für den ich den Verlobungsring geschmiedet hatte. Wir trafen uns in einem Café, weil das Atelier geschlossen war, und zu meinen Eltern wollte ich ihn auch nicht einladen. Den Rest des Wochenendes verbrachte ich dann mit den letzten Vorbereitungen für meinen Aufenthalt auf Sylt. Die Schmuckstücke, die ich im Verkaufsstand auf dem Wintermarkt ausstellen wollte, verpackte ich sorgsam zusammen mit dem Werkzeug in einem Extrakoffer, den ich auf der bevorstehenden Fahrt in den Norden keine Sekunde aus den Augen lassen würde. Ich hatte außerdem aus einer Laune heraus das Duplikat meines Meisterstücks eingepackt. Es ruhte in einer kleinen Schachtel, und ich hoffte, dass es mir als Glücksbringer dienen würde.

Meinen Eltern gegenüber gab ich mich zuversichtlich, doch innerlich war ich so niedergeschlagen wie selten. Die Neuigkeiten, die Papa mir unwissentlich über Enno erzählt hatte, setzten mir so sehr zu, dass ich die meiste Zeit mit den Tränen kämpfte. Ich konnte nur hoffen, dass die Luftveränderung mir guttun und mich auf andere Gedanken bringen würde. Mit vierunddreißig vor dem Nichts zu stehen, fühlte sich erbärmlich an. Noch nie hatte ein Mann mit mir zusammenleben wollen. Und nie hatte jemand »Ich liebe dich« zu mir gesagt. Was war an mir eigentlich so entsetzlich?

Stumm blinzelte ich die Tränen fort. Ich sollte besser an die unmittelbare Zukunft denken.

Es war schon Sonntagabend, als Enno dann doch anrief. Ich hatte gerade mit meinen Eltern fertig zu Abend gegessen; wir saßen über Reiseführer gebeugt, die Papa in der Stadtbibliothek besorgt hatte, um mich mit Informationen über die Insel zu versorgen. Dad liebte Fakten und saugte Fachliteratur in sich auf wie ein Schwamm. Er blätterte in den Handbüchern wie in einem Bilderbuch – meist waren Sandstrände und Dünen zu sehen. Jedenfalls fuhr ich zusammen, als Enno Rossis Name auf meinem Display aufleuchtete, und verzog mich mit dem Handy in den Flur, unschlüssig, ob ich abnehmen sollte. Was, wenn alles ein Missverständnis war? Vielleicht wusste Enno nichts von Annas Kinderwunsch. Konnte sie sich heimlich einer künstlichen Befruchtung unterziehen? Gab es eine uralte Spermienprobe von Enno?

Innerlich griff ich mir an den Kopf.

»Hi«, meldete ich mich kühl.

»Ciao Bella.« Enno sprach in seinem warmherzigsten Tonfall. »Ich wollte mal hören, ob bei dir ist alles in Ordnung? Ich habe gedacht, dass du dich noch mal meldest …«

Eine unsinnige Hoffnung machte sich in meiner Brust breit. Würde er mir gleich sagen, dass er ein freier Mann war? In dem Fall würde ich alle Reisepläne über den Haufen werfen.

»Warum du sagst nichts, Bella? Ich hoffe, du bist nicht böse auf mich? Es war so viel los in die Firma, du weißt ja, gerade vor die Weihnachten ist immer –«

»Enno, ich weiß einfach nicht, wie ernst es dir mit mir ist«, platzte ich heraus. »Das Jahr ist fast rum, und du erinnerst dich doch sicher daran, was du mir im Januar versprochen hast?«

»Daran denke ich, doch, natürlich.«

»Und? Wie ist dein Plan?« Etwa mit Anna ein Kind zu zeugen?

Durch die Leitung hörte ich, wie Enno sich den stoppligen Bart kratzte. »Hör zu, Amore. Es ist nicht so leicht in diese Moment, weil Anna … du weißt doch, dass ihre Eltern …«

»Nein, hör du mir zu, Enno«, unterbrach ich ihn. »Ich fahre am Dienstag nach Sylt. Für vier Wochen. Du hast bis Silvester Zeit, dir zu überlegen, was du willst. Ich werde nicht mehr länger warten.« Meine Finger schwitzten so sehr, dass mir das Telefon fast aus der Hand rutschte. Ich wischte sie an der Hose ab.

»Ich verstehe nicht. Was du willst mache auf Sylt?«

»Das ist eine längere Geschichte, von der du wissen würdest, wenn du schon mal früher nachgefragt hättest, was bei mir los ist. Ich hätte dich wirklich gebraucht, aber du hattest keine Zeit. Ich bin es so leid, Enno, so leid. Und Anna … ich weiß nicht, wie eure Beziehung funktioniert, aber …« Mein Herz klopfte so stark, dass ich meinte, er müsste es durch die Leitung hören. Natürlich wollte ich den Bekannten meines Vaters nicht in Schwierigkeiten bringen, aber es platzte aus mir heraus. »Ich weiß, dass ihr versucht, ein Baby zu bekommen, Enno. Du hast mich die ganze Zeit angelogen.«

Enno schwieg. Dann flüsterte er: »Amore, ich muss auflegen, Anna kommt gerade.«

»Ja, natürlich.« Meine Kehle wurde wieder so eng, dass ich meinte, nicht richtig durchatmen zu können.

»Ich melde mich wieder«, versprach Enno.

Ohne ein Wort des Abschieds legte ich auf.

4

Ich war nie zuvor an der Nordsee gewesen. Überhaupt war ich innerhalb Deutschlands nie weiter nördlich als in ein Landschulheim nach Bremen gekommen.

Nun saß ich im Zug nach Westerland und sah die immer flacher werdende Landschaft an mir vorüberziehen. Das Wetter zeigte sich nicht von seiner besten Seite. Es nieselte, und der Regen tauchte alles in Grau. Einige Wiesen waren überschwemmt, mittendrin ein paar Reiher, die darin unmöglich auf Fische hoffen konnten. Ich döste vor mich hin, verspeiste das Thunfischsandwich, das Mama mir vor meiner Abreise aufgeschwatzt hatte. Außerdem hatte sie mir eine Thermoskanne mit schwarzem Tee eingepackt, wie auf einen Klassenausflug. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte mir den Ratschlag erteilt, schön brav zu sein.

Mittlerweile hegte ich keine allzu großen Erwartungen an diesen Aufenthalt. Mir genügte die Tatsache, dass ich einen Tapetenwechsel bekommen würde. Am meisten zerrte es an meinem Herzen, wie sehr ich mich in Enno getäuscht hatte. Seit unserem Telefonat hatte er kein Wort mehr von sich gegeben. Wie hatte ich solche Scheuklappen tragen können? Aber Liebe machte blind. Und Hoffnung. Wenn man zu intensiv auf etwas hofft, will man all die Anzeichen, die dagegen sprechen, nicht erkennen.

Ich schlug die Beine übereinander und griff nach der Bahnzeitschrift auf dem Tisch, fächelte mir Luft zu. Vor einer Woche war meine Welt noch in Ordnung gewesen. Sie war nicht perfekt, aber ich hatte mich in vielen Punkten glücklich geschätzt. Und jetzt hatte ich auf unbestimmte Zeit weder meine Wohnung noch mein Geschäft und obendrein keinen Mann. Ach, und bevor ich es vergaß: Ich war pleite. Lief ich vor all diesen Problemen nicht nur davon? Was sollte Sylt an all dem fundamental ändern?

Eine Frau, die mir gegenübersaß, biss geräuschvoll in einen Apfel. Ich warf ihr einen missmutigen Blick zu und setzte meine Kopfhörer auf, starrte wieder nach draußen in die trübe Landschaft. In der Ferne tauchte ein Windpark auf, und dahinter meinte ich, die See ausmachen zu können. Über dem Horizont leuchtete ein heller Streifen. Irgendwo schien offenbar doch die Sonne.

Am Nachmittag traf ich in Westerland ein. Der Zug hatte mich über einen Damm auf die Insel gebracht, und nun stand ich mit den zwei Reisekoffern auf dem feucht glänzenden Bahnsteig. Eine steife Brise schlug mir ins Gesicht, blies mein Haar in alle Richtungen, und ich sah mich mit zusammengekniffenen Augen um. Es war dunkel, die Straßenlaternen verbreiteten ein diffuses Licht. In der Nähe des Bahnhofsgebäudes erblickte ich eine schlanke Frau in Mantel und Mütze, die mir zuwinkte und sich in Bewegung setzte.

»Herzlich willkommen auf Sylt«, begrüßte sie mich, als sie bei mir eintraf. »Ich bin Antonia. Schön, dass du da bist.« Lächelnd zeigte sie auf mein herumwehendes Haar, das ich mit beiden Händen zu bändigen versuchte. Der Wind schien von allen Seiten zu kommen. »Du brauchst eine Mütze!«

»Zumindest was für die Ohren«, antwortete ich lachend und fischte ein Haargummi aus der Tasche, band mir die fliegende Mähne im Nacken zusammen. So war es besser. Mützen kamen für mich nicht in Frage, ich besaß zu viel Haar. »So«, sagte ich. »Hi, freut mich auch, dich endlich persönlich kennenzulernen.«

Antonia griff nach einem der beiden Koffer und zog ihn hinter sich her zum nahegelegenen Parkdeck. Meine neue Bekannte besaß einen Golf, wir verstauten zwei Gepäckstücke im Kofferraum, die anderen auf der Rückbank. Dann nahm ich auf dem Beifahrersitz Platz. Kurz darauf fuhr Antonia mit quietschenden Reifen los.

Hinter dem Bahnhof erhaschte ich einen Blick in eine weihnachtlich geschmückte Fußgängerzone. Es gab einen hell erleuchteten Teeladen, eine Buchhandlung, und auf die Schnelle erblickte ich das Label einer Wäschemarke. In der Gasse waren nicht viele Menschen unterwegs, einige trugen Wanderrucksäcke. Gegenüber dem Bahnhof gab es eine Apotheke und eine Drogerie, dahinter passierten wir einen Platz mit einer Art Kunstinstallation aus übergroßen grünen Figuren, deren Köpfe falsch herum auf dem Körper saßen. Eine Windböe peitschte Regen gegen die Scheibe und verbarg mir die Sicht.

Antonia setzte den Scheibenwischer in Gang. »Es hat jetzt seit einer Woche durchgeregnet«, sagte sie und lenkte das Auto aus dem Ort hinaus auf eine Schnellstraße. Ein Schild wies in Richtung Kampen und List. »Ich hoffe, du hast in den nächsten vier Wochen mehr Glück. Um den Wind kommst du nicht herum, aber Spaziergänge am Meer sind bei Trockenheit eindeutig schöner. Die Wintersonne hier ist bezaubernd, aber ich habe sie bisher noch nicht oft zu Gesicht bekommen.«

Neugierig betrachtete ich sie. »Dann wohnst du noch gar nicht so lange auf der Insel?«

Sie machte ein verlegenes Gesicht. »Erst seit einem Jahr. Ich bin hierhergekommen, weil ich aus Kiel fortwollte. Da wohnt mein Vater mit neuer Frau und zwei Kids, und es gab Ärger. Ich hatte mir versprochen, hier endlich zur Ruhe zu kommen.« Sie hob lachend die Schultern. »Am Anfang sah es auch ganz danach aus, weil ich ziemlich schnell einen wahnsinnig tollen Typen kennengelernt habe. Aber dann wurde er mir vor der Nase weggeschnappt.«

»Oh«, erwiderte ich. Mit Liebeskummer stand ich schon mal nicht alleine da.

»Und jetzt willst du für vier Wochen nach Teneriffa?«, hakte ich nach. »Wegen der Sonne?«

Antonia zog die Nase kraus. »Auch. Aber hauptsächlich, weil ich dort im Sommer einen Spanier getroffen habe, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Und wenn ich hier schon nicht mein Glück finde, dann vielleicht auf einer anderen Insel. Von der Hacienda aus, auf der er lebt, hat man einen atemberaubenden Blick auf den Gipfel des Teide.«

»Offenbar läuft dein Geschäft ziemlich gut«, bemerkte ich, »dass du dir das einfach so aussuchen kannst.«

Plötzlich wurde ihr Gesichtsausdruck ernst. »Sagen wir es so, Geldsorgen hatte ich noch nie. Aber das gleicht nicht alle Defizite aus, die man im Leben noch so haben kann.«

Ich nickte verstehend.

Mein Handy vibrierte, und ich zog es aus der Tasche.

Amore, ich verspreche es dir hoch und heilig: Nach Silvester ich werde Anna verlassen. Bitte bist du nicht grausam und erwartest, dass ich das jetzt breche über das Knie.

Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte ich gelacht. Vielleicht war Anna in diesem Moment schwanger, und er schrieb mir diese Zeilen?

Ich glaub dir kein Wort, antwortete ich.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte Antonia.

»Nein, nein.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Die schlechtesten habe ich hoffentlich hinter mir.«

Antonias Zweizimmerwohnung war viel in Weiß und mit zarten Pastelltönen als Farbtupfer eingerichtet. Im Flur hing eine einzige Jacke an einem Haken, die Schuhe standen in Reih und Glied. Die Küche war perfekt aufgeräumt. Es roch außerdem in der ganzen Wohnung nach einem Raum-Erfrischer. Das Wohnzimmer war mit offenen Regalen ausgestattet, in denen nichts herumlag, was dort nicht hingehörte. Die Bücher waren farblich geordnet. Alles Hardcover, keine Taschenbücher. Ich inspizierte die Buchdeckel und fand jede Menge Lebensratgeber und literarische Romane, deren Namen mir aus der Presse oder von Buchpreisen bekannt waren. Nirgendwo gab es Fotos oder andere persönliche Dinge. Ich kam mir vor wie in einer Musterwohnung in einem Einrichtungshaus.

Antonia machte eine einladende Geste über das Bücherregal hinweg. »Bedien dich gern, aber bitte hinterlass keine Eselsohren, die hasse ich.«

»Keine Sorge, die mag ich auch nicht«, versicherte ich schnell.

Neben einem Fernseher in der Größe eines Heimkinos gab es ein stylishes, hellgraues Zweiersofa mit passenden Kissen. Darunter lag ein weißer Teppich.

Antonia führte mich weiter ins makellose Schlafzimmer. Ihr Bett war ein weicher Boxspringtraum, auf den ich mich jetzt schon freute. Sie hatte alles gewaschen, sogar die Matratzenauflage, wie sie mir erklärte.

»Und du tauschst diesen Luxus freiwillig gegen ein Landhaus auf Teneriffa?« Ich dachte an offene Feuerstellen und klappernde Fensterläden. An staubige Teppiche und tröpfelnde Duschen. Wie würde sie denn damit klarkommen?

Antonia lachte übermütig. »Kennst du das, wenn du in einer anderen Umgebung zu einem neuen Menschen wirst? Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber mit den richtigen Leuten an meiner Seite brauche ich diesen ganzen Schnickschnack nicht. Hier habe ich alles wohlorganisiert, damit ich den Überblick behalte, aber dort auf der Hacienda, auf der Pablo wohnt und arbeitet, da richtest du dich nach dem Sonnenauf- und -untergang, baust an, was du brauchst, erntest, kochst, hältst instand und sonst gar nichts.« Sie tippte auf ihre Armbanduhr. »Ich bin ein überpünktlicher und disziplinierter Mensch, aber als ich im Sommer dort war, hab ich vollkommen die Zeit vergessen. Ich bin nicht mit dem Wecker, sondern mit dem Hahnenschrei aufgestanden und habe meine Yogaübungen gemacht, ohne mich ein einziges Mal dazu zu zwingen. Das passiert mir hier wirklich selten.« Sie deutete mit dem Daumen zur Eingangstür. »Jetzt zeige ich dir am besten noch das Atelier und die Werkstatt, du darfst sie jederzeit benutzen. Nachher haben wir dann noch einen Termin mit dem Organisator des Wintermarkts. Und dann muss ich auch schon los. Mein Flieger geht morgen früh, ich werde in Hamburg übernachten.« Sie sah mich entschuldigend an. »Ich weiß, das ist alles ganz schön viel auf einmal. Aber was soll ich machen?« Sie deutete auf ihre zwei gepackten Koffer im Flur. »Hilfst du mir, die ins Auto zu verfrachten? Dann müssen wir das später nicht mehr tun.«

Antonias Goldschmiede lag nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Bewundernd betrachtete ich auf unserem Weg durch die Gassen die reetgedeckten Häuser und die niedrigen Steinmauern, die die Grundstücke Kampens einfassten. Alles war ordentlich und gepflegt. Ein Hinweisschild wies zu einem Spa-Hotel, ein anderes auf verschiedene Museen.

Das Atelier war in einem kleinen friesischen Haus untergebracht. Die Fassade des Reethäuschens war strahlend weiß, die Fenster mit einem blauen Holzrahmen eingefasst. Die Eingangstür mit Butzenscheiben erstrahlte in Rot.

Während Antonia die Tür entriegelte, betrachtete ich die leergeräumten Auslagen im Inneren. Nur im Schaufenster lagen ein paar filigrane Kreationen neben handfesten Ketten und Armreifen. Ein Schild an der Tür wies auf den Wintermarkt in Westerland hin, wo man Antonia Zivos Schmuck ab dem zehnten Dezember erwerben könne.

Sie trat ein und winkte mich hinter sich her. »Ich hab mich übrigens auf deiner Webseite umgeschaut. Du machst ja wirklich tolle Stücke. Die Wintermarktgäste werden an der Bandbreite unserer Kollektionen ihren Spaß haben.«

»Das hoffe ich«, murmelte ich und betrat hinter ihr den Laden. Obwohl nahezu alle Regale ausgeräumt waren, konnte ich mir gut vorstellen, wie es hier normalerweise aussah. Auch in diesem Raum stieß mir die frische Note einer Duftkerze in die Nase.

Wie bei meinem eigenen Atelier lag die Werkstatt hinter dem Verkaufsraum. Die Ausstattungen sind in den allermeisten Schmieden gleich und haben sich schon seit Jahrhunderten bewährt. Der Arbeitstisch weist eine Ausbuchtung auf, in deren Mitte der Feilnagel sitzt, auf den das zu bearbeitende Stück gelegt wird. Um den herabfallenden Metallstaub, der beim Arbeiten unweigerlich anfällt, aufzufangen, ist darunter ein Tierleder gespannt. Später kann man diese Reste dann in die Scheideanstalt bringen, wo sie eingeschmolzen und voneinander getrennt werden.

Andächtig betrachtete ich alles und lauschte nach draußen. Außer dem Wind war nichts zu hören. Hier würde ich gut arbeiten können. Ich liebte die Stille bei meiner Tätigkeit. Wenn ich mich stundenlang auf die kleine Fläche des Arbeitsbereichs konzentrierte und die filigransten Werke mit ruhiger Hand bearbeitete, hatte das etwas Meditatives.

Nachdem Antonia mir den Tresor gezeigt hatte, sah sie mich erwartungsvoll an. »Noch Fragen? Oder können wir uns jetzt zu der Besprechung mit dem Veranstalter aufmachen? Er erwartet uns wahrscheinlich schon.«

Ich warf einen letzten Blick in die Werkstatt, in der ich bald mit der Arbeit beginnen würde. Bestimmt bekam ich hier ein paar neue Ideen. »Gern, lass uns gehen.«

»Bevor ich es vergesse«, erklärte Antonia auf dem Weg zum Auto, »Sandra und ihr Freund haben dich morgen um neun zum Frühstück eingeladen, sie möchten dich gerne kennenlernen. Ole kann dich morgen früh mitnehmen und dir beim Tragen helfen; er ist sowieso vor Ort, um mit aufzubauen. Er ist Tischler und hat die Buden mit entworfen.« Sie seufzte. »Verguck dich nicht in ihn, auch wenn es schwerfällt. Halt dich lieber an die männlichen Gäste des Kurhotels, die gelegentlich durch den Ort streifen und sich freuen, wenn sie mit einer hübschen jungen Frau plaudern können.«

»Mein Bedarf an älteren Herren ist eigentlich gedeckt«, widersprach ich.

Sie sah mich neugierig an, doch ich ging nicht näher darauf ein.

Diesmal saß ich am Steuer und lenkte den Wagen nach Westerland. Später würde ich sie auch damit zum Bahnhof bringen. In den kommenden Tagen hatte ich dann ihr Auto zur freien Verfügung.

Wir parkten nicht weit von einem Platz, auf dem die ersten Wintermarktbuden aufgebaut waren. Rundherum erklang Hämmern und Klopfen, und gleich am Eingang versammelten sich Personen um ein Fass, das als Tisch diente. Es roch nach würzigem Glühwein. Die Bäume neben dem Eingang waren mit Lichterketten in Szene gesetzt.

»Moin allerseits.« Antonia schob mich mit sich zu der Versammlung. »Ich hab euch ja schon von Romy erzählt. Hier ist sie.«

Die Augenbraue eines Mannes, den ich auf um die Sechzig schätzte, ging bei meinem Anblick in die Höhe, und auch die anderen betrachteten mich neugierig. Ich kannte das schon. Bald würde man mich wahrscheinlich für mein gutes Deutsch loben.

»Immer rein in die gute Stube!«, sagte ein junger Kerl mit dunkelblauer Wollmütze; er überreichte uns Tassen mit dampfendem Glühwein. Ich schätzte ihn auf mein Alter.

Antonia stellte mir die Umstehenden mit Namen vor, ich behielt aber nur drei. Der mit der Wollmütze hieß Malte, er würde einen Waffelstand neben meinem betreiben. Luisa würde rechts von mir Ofenkartoffeln mit verschiedenen Toppings verkaufen. Der Markt war so konzipiert, dass sich Essensstände mit Kunsthandwerk abwechselten. Außerdem gab es selbstgestrickte Mützen und Schals, Pantoffeln und dicke Socken. Eine andere Frau betrieb einen Bücherstand mit Bildbänden von Sylt. Obendrein gab es thailändische Spezialitäten und einen Fischbrötchenstand. Der ältere Herr war der Organisator des Ganzen und mein zukünftiger Ansprechpartner für alle Fragen. Er hieß Hartwig.

Eine Windböe fuhr mir ins Haar und trieb mir eine Strähne zwischen die Lippen. Ich fischte sie heraus und steckte sie hinter dem Ohr fest. Wenn es so zugig blieb, würde ich Ohrenschützer brauchen, bei Wind reagierten meine Ohren empfindlich.

Malte hielt mir seine Tasse entgegen und stieß mit mir an. »Dir schon mal eine gute Zeit mit unserem wilden Haufen.«

Während die anderen sich gut gelaunt weiter unterhielten, betrachtete Hartwig mich argwöhnisch. Ihm brannten Fragen auf den Lippen, das war ihm anzusehen. Wahrscheinlich wollte er wissen, woher ich stammte. An diesem Abend führte er uns aber nur zu der Bude, in der ich bald jeden Tag arbeiten sollte. Sie bildete mit Maltes und Luisas Hütte ein kleines Karree in einer Ecke, in die sich hoffentlich Kunden verirren würden.

Schließlich hieß es Abschied nehmen, und ich brachte Antonia zum Bahnhof.

»Wird schon schiefgehen«, versicherte sie und umarmte mich. »Und noch mal Danke. Das war Rettung in letzter Sekunde. Ein leerstehender Stand wäre wirklich nicht schön gewesen.«

»Ich werde ihn mit Leben füllen«, versprach ich. Dann half ich ihr mit den Koffern und machte mich auf den Rückweg in eine fremde Wohnung, die nach Zitrone roch.

5

Am nächsten Morgen erwachte ich aus einem traumlosen Schlaf. Antonias Bett war ein Gedicht. Ich musste zugeben, dass ich bei der Einrichtung meiner Wohnung und beim Kauf der Möbel hauptsächlich auf den Preis geachtet hatte. Und mit Mitte zwanzig ist das ja auch ganz normal. Dass ich in meinem Bett nicht gut schlief, hatte ich als gegeben hingenommen. Nachts wälzte ich mich oft herum und schreckte auf. Die Matratze war hart, und obendrein knarrte das Bett bei bestimmten Bewegungen, was daran lag, dass beim Zusammenbau eine Schraube herausgebrochen war. Enno hatte öfter versprochen, er werde sich um dieses Knarren kümmern, es jedoch nie getan. Um ehrlich zu sein, hatte es uns beim Sex manchmal etwas abgelenkt.

Jedenfalls hätte ich am liebsten den ganzen Tag in Antonias Bett verbracht. Allerdings gab es genug für mich zu tun – angefangen mit der Frühstückseinladung von Sandra und Ole. Antonia hatte mir die Adresse der beiden auf einem Block notiert.

Ich setzte die Füße auf dem kühlen Holzboden ab und tappte in die Küche, fügte der Liste, die ich für Besorgungen begonnen hatte, neben den Ohrenschützern ein paar Hausschuhe hinzu. Dann brühte ich mir zum Wachwerden mit Antonias Kapselmaschine einen Kaffee.

Meine Kleider hatte ich abends auf die Bügel und in die Schrankfächer verteilt, die meine Kollegin mir freigeräumt hatte. Jetzt zog ich ein rotes Wollkleid mit kuschligem Kragen über und schlüpfte in eine graue Strumpfhose.

Meine Stiefeletten passen zu allem. Ich gehöre nicht zu den Frauen mit vielen Schuhen, tue mich immer schwer mit der Entscheidung für ein Paar. Wenn ich mal eines finde, in dem ich mich wohlfühle, trage ich es meist, bis es auseinanderfällt. Für den Fall, dass es kalt werden würde, hatte ich Moonboots eingepackt. Und für Heiligabend das einzige Paar hohe Schuhe, das ich besaß. Diese Vernachlässigung von Schuhwerk steht im krassen Widerspruch zu meiner Vorliebe für schöne Unterwäsche. Ich zähle zu den Frauen, die jeden Tag eine passende Kombination aus BH und Slip tragen. Es gibt mir ein ungeheuer gutes Gefühl, zu wissen, dass gerade das perfekt sitzt und zueinanderpasst, was man nicht sieht.

Pünktlich um neun traf ich bei Sandra und Ole ein. Die beiden wohnten in einem urgemütlichen Backsteinhaus mit Reetdach. Den Garten, den man vom Wohnzimmer aus sah, teilten sie sich mit dem Nachbargrundstück. Es gab eine Schaukel und ein Baumhaus. Für so etwas hätte ich als Kind alles gegeben, doch meine Eltern waren durch und durch Stadtmenschen. Und heute war ich es eigentlich auch.

Sandra hingegen, die ich bisher nicht persönlich kennengelernt hatte, hatte im Sommer ihren Job in Frankfurt als Familienrechtlerin an den Nagel gehängt und sich jetzt in Kampen als Mediatorin für Familien und Paare niedergelassen.

»Ich wollte einfach nicht mehr von hier weg«, sagte sie mit Blick auf Ole. Sie hatte die Ferien ihrer Kindheit auf Sylt verbracht; der Tischler und sie kannten sich schon genauso lange. Bei ihr hatte es erst Anfang des Jahres gefunkt.

Ich bewunderte das Selbstverständnis, mit dem die beiden mir all das erzählten, und fragte mich, ob ich irgendwann mal mit jemandem zusammen sein würde, dessen ich mir vollkommen sicher war. Zwischen ihnen schien es keine leeren Versprechungen zu geben. Sie waren verlobt und wollten im nächsten Jahr heiraten.

»Habt ihr denn schon Ringe ausgesucht?«, erkundigte ich mich. »Die übernimmt doch bestimmt Antonia?«

Sandra und Ole wechselten einen Blick. »Hat sie dir nicht erzählt, dass Ole und sie mal ein Paar waren?«, fragte sie.

»Echt?« Hatte sie etwa die zwei gemeint, als sie sagte, ihr hätte eine Frau den Mann vor der Nase weggeschnappt?

Ole griff nach Sandras Hand. »Nachdem du es schon ansprichst … wir wollten dich eigentlich fragen, ob du unsere Ringe schmieden könntest. Wir haben da eine ganz bestimmte Vorstellung …«

Staunend hörte ich mir an, welches Design sie sich für ihre Trauringe wünschten und war augenblicklich davon fasziniert. Außerdem freute ich mich über diesen ersten Auftrag auf der Insel. Ob ich die Ringe genauso hinbekommen würde, wie sie sie sich vorstellten? Ich würde mein Bestes geben!

Nach dem Frühstück verließ ich mit Ole das Haus. Zunächst beluden wir seinen Lieferwagen mit der Kiste, die Antonia für den Wintermarkt vorbereitet hatte und packten anschließend den Koffer dazu, in dem sich meine Stücke aus Frankfurt befanden. Auf der Fahrt notierte ich mir Sandras Telefonnummer und versprach, mich bald wieder zu melden.

Auf dem Marktplatz waren die Budenbesitzer damit beschäftigt, die letzten Schrauben anzubringen und alles festlich zu schmücken. Malte und Luisa, meine Nachbarn, begrüßten uns mit einem fröhlichen »Moin«.

Ole half mir, alles in meinen Stand zu verstauen, und verabschiedete sich. Später würde er mich wieder einsammeln.

Zunächst wickelte ich die Präsentierständer, die Antonia vorbereitet hatte, aus ihren Verpackungen. Der gebürstete Stahl der Halterungen wirkte eine Spur deplatziert auf dem dunklen Holz, aus dem die Theke gezimmert war. Skeptisch betrachtete ich alles. Mein verspielterer Schmuck würde hier nicht gut zur Geltung kommen.

»Darf ich dir eine Waffel anbieten?« Malte lugte um die Ecke, und augenblicklich schlug mir der Duft nach frischgebackenem Teig in die Nase. Ich hielt mir den Bauch. »Sorry, ich bin noch so voll vom Frühstück.«

Malte stellte den Teller auf meinem Verkaufstresen ab, stippte mit dem Finger Puderzucker auf. »Nach diesen vier Wochen hier hab ich sie mit Sicherheit auch über.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752116748
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
romantisch Liebesroman Winter Weihnachtsroman Frauenliteratur Winterroman Sylt Weihnachten Weihnachtsgeschichte Humor

Autor

  • Stina Jensen (Autor:in)

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm. Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.
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Titel: Muscheln, Gold und Winterglück