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Misteln, Schnee und Winterwunder

(Winterknistern 2)

von Stina Jensen (Autor:in)
250 Seiten
Reihe: Winterknistern-Reihe, Band 2

Zusammenfassung

Stell dir vor, Du wünschst dir etwas so sehr, und übersiehst dabei, was dir wirklich fehlt.

Sina wünscht sich sehnlichst ein Kind, allerdings driften sie und ihre Jugendliebe Nils momentan immer weiter auseinander. Nach einem Streit flüchtet sie in die vorübergehend leerstehende Wohnung ihrer Eltern und trifft im Haus auf die kleine Leila. Das marokkanische Mädchen scheint genauso einsam zu sein wie sie. Erst als sie Leilas Vater Elyas kennenlernt, wird Sina klar, dass sie das Mädchen keineswegs bedauern muss. Nach einer unfreiwilligen Schlittenfahrt würde sie selbst am liebsten jede freie Minute mit dem anziehenden jungen Witwer verbringen. Mitten in dieses Gefühlschaos hinein sendet ihr Körper Signale, dass es mit einem Baby von Nils endlich geklappt haben könnte …

Dies ist der zweite Teil der WINTERknistern-Reihe. Alle Romane können unabhängig voneinander gelesen werden.

Die WINTERknistern-Reihe: Plätzchen, Tee und Winterwünsche; Misteln, Schnee und Winterwunder; Sterne, Zimt und Winterträume; Muscheln, Gold und Winterglück; Vanille, Punsch und Winterzauber; Mondschein, Flan und Winterherzen; Engel, Blues und Winterfunkeln

Lesen Sie auch die Insel- und Gipfelfarben-Reihe von Stina Jensen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DIE AUTORIN

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm.

Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

* * *

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Stina Jensen

DIE WINTERKNISTERN-REIHE

Bisher erschienen (2023):

1. Plätzchen, Tee und Winterwünsche

2. Misteln, Schnee und Winterwunder

3. Sterne, Zimt und Winterträume

4. Muscheln, Gold und Winterglück

5. Vanille, Punsch und Winterzauber

6. Mondschein, Flan und Winterherzen

7. Engel, Blues und Winterfunkeln

Alle Titel sind in sich abgeschlossene Romane und können unabhängig voneinander gelesen werden.

DAS BUCH

Stell dir vor, Du wünschst dir etwas so sehr, und übersiehst dabei, was dir wirklich fehlt.

Sina wünscht sich sehnlichst ein Kind, allerdings driften sie und ihre Jugendliebe Nils momentan immer weiter auseinander.

Nach einem Streit flüchtet sie in die vorübergehend leerstehende Wohnung ihrer Eltern und trifft im Haus auf die kleine Leila. Das marokkanische Mädchen scheint so kurz vor Weihnachten genauso einsam zu sein wie sie.

Erst als sie Leilas Vater Elyas kennenlernt, wird Sina klar, dass sie das Mädchen keineswegs bedauern muss. Nach einer unfreiwilligen Schlittenfahrt würde sie selbst am liebsten jede freie Minute mit dem anziehenden jungen Witwer verbringen.

Mitten in dieses Gefühlschaos hinein sendet ihr Körper Signale, dass es mit einem Baby von Nils endlich geklappt haben könnte …

DREI JAHRE ZUVOR

In der Mitte der Sahnetorte prangte ein rotes Marzipanherz. Es war von Buchstaben aus Zuckerguss umrahmt. Mit klopfendem Herzen trat ich näher und entzifferte die zierlichen Lettern: Und meine Frau werden? Da vergaß ich zu atmen.

Um mich herum schwebten bunte Luftballons. An ihnen hatte Nils Zettel befestigt und mich auf diese Weise zuvor gefragt, ob ich mit ihm zusammenziehen wollte.

»Du Lump!« Johanna stürzte sich auf Nils und hämmerte auf seine Brust. Lachend fiel sie ihm und gleich danach mir um den Hals. »Er hat mir nichts verraten!«, rief unsere beste Freundin. »Dabei hätte ich es schwören können! Herzlichen Glückwunsch!«

Nils schob Johanna sanft beiseite. »Warten wir doch erst einmal Sinas Antwort ab, was meinst du? Dann kannst du immer noch gratulieren.«

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Nach all den Zweifeln der letzten Wochen, in denen ich sogar eine Zeitlang geglaubt hatte, Nils hätte eine andere, kamen dieser Antrag und die Aussicht darauf, dass wir zusammenziehen würden, überraschend. Dabei hatte ich mir das doch sehnlichst gewünscht!

All unsere Freunde, darunter meine Zwillingsschwester Milla und ihr neuer Schwarm Jochen, sahen mich erwartungsvoll an.

Mein Zögern bemerkten sie hoffentlich nicht.

Ich nahm Nils’ Gesicht in meine Hände. »Ja, ich will«, hauchte ich und küsste ihn lang und innig.

1

Es war an einem nebligen Freitagmorgen Mitte November, fast drei Jahre später. Von unserem Fenster im dritten Stock der Oskar-von-Miller-Straße in Frankfurt sah man direkt auf den Main. Die Nebelschwaden lichteten sich langsam. Durch den Dunst zog die Silhouette eines Kahns auf dem Wasser ihre Bahn.

Ich saß an der ›Bar‹, wie Nils und ich die Abtrennung von der Küche zum Wohnzimmer in unserer Dreizimmerwohnung nannten, und trank eine Tasse Kaffee. Morgens checkte ich E-Mails auf dem Smartphone, surfte ein bisschen im Netz und las die neuesten Nachrichten, bis ich mich für die Arbeit fertigmachte.

Aus dem Badezimmer schallte Nils’ Pfeifen unter der Dusche. Ich scrollte übers Display und klickte auf einen Link zu einem Online-Fragebogen zum Thema Beziehungen.

Wie glücklich bist du mit deinem Herzensmenschen? fragte die Überschrift.

Nachdenklich drehte ich meinen Ehering.

Es gab ein paar Dinge, die mich in meiner Ehe störten. Zum Beispiel ließ Nils mich immer wieder auf Feiern der Baufirma, bei der er als Ingenieur angestellt war, allein herumstehen. Er war damit beschäftigt, ›Kontakte zu pflegen‹. So auch wieder gestern Abend auf der Weihnachtsfeier. Aus Langeweile hatte ich mich an der Gänsekeule mit Knödeln und Rotkraut so überfressen, dass mir immer noch der Magen wehtat.

Gedankenverloren wickelte ich eine Haarsträhne um meinen Finger und machte mich daran, die Felder des Fragebogens auszufüllen.

Bist du in einer festen Beziehung?

Ja | Nein

Falls ja: Verheiratet | zusammen lebend | in getrennten Wohnungen lebend?

Falls verheiratet: Seit wie vielen Jahren?

1-3 | 4-10 | 10-20 | mehr

Auf einer Skala von 1-10 (1 schlechteste Note, 10 Bestnote):

Wie zufrieden bist du mit deinem Liebesleben?

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Weißt du immer, was in deinem Mann vorgeht?

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Weiß dein Mann, was in dir vorgeht?

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Wann habt ihr euch das letzte Mal gesagt, dass ihr euch liebt?

Noch nie | kann mich nicht genau erinnern | vor ein paar Wochen | gestern | heute

Habt ihr gemeinsame Ziele?

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Ich blies die Wangen auf und starrte die Frage an.

In diesem Moment hörte ich das Klappen der Badezimmertür und legte das Handy ab.

Nils’ feuchte Haare standen ihm wie bei einem Igel zu Berge, als er in seinen anthrazitfarbenen Bademantel gehüllt die Küche betrat und in den Raum hinein sagte: »Alexa, wie wird das Wetter heute?«

Das ›Smarthome‹ rasselte die erwarteten Temperaturen und Regenwahrscheinlichkeiten für Frankfurt herunter, und Nils drückte an unserer Kaffeemaschine den Knopf für zwei Espressi. Morgens trank er immer einen Doppelten.

Milla bezeichnete Nils gern als ›Sunnyboy‹. Er hatte dunkelblondes Haar, das er einen Ton aufhellte, sodass es aussah, als sei er gerade aus einem Urlaub im Süden zurückgekommen. Der Farbton harmonierte perfekt mit seinen blau-grauen Augen – und kontrastierte ebenso perfekt zu meinen dunklen Augen und den überschulterlangen braunen Haaren. Wir waren ein schönes Paar, sagten zumindest all unsere Freunde.

Während der Kaffeeautomat brummte, wandte mein Mann sich zu mir um. »Na?«

»Na?«, gab ich zurück und dachte an die Frage aus dem Psychotest: »Habt ihr gemeinsame Ziele?«

Mein Blick ging zu dem dunklen, antiken Wohnzimmerschrank, der einen bezaubernden Gegensatz zu unserer hellen Einrichtung bildete. Die hellgrauen Wände hoben sich edel von der weiß angelegten Decke ab, dazu die Möbel in Weiß und hellem Holz, unser sandfarbenes Sofa. Als Eyecatcher hatte ich auf einem Bord meine Matroschkas aufgereiht. Das waren traditionelle, russische Püppchen, die ich leidenschaftlich sammelte.

In einer Schublade des Wohnzimmerschranks lagerten die Strampler und Stofftiere für das Kind, das Nils und ich einmal haben würden. Der Gedanke an ein Baby begleitete mich nun seit rund zwei Jahren. Endlich ein kleines Wesen mit Haaren so weich wie Mohair und einem Duft nach Himmel in den Armen zu halten, in seinen Augen zu versinken – ich wünschte mir nichts mehr. Besonders dann, wenn der Eisprung nahte. Und danach noch mehr, da ich in mich hineinhorchte und nach Anzeichen suchte, die für eine Schwangerschaft sprechen könnten. Wie heute zum Beispiel.

Es war der erste Tag meines neuen Zyklus’ und in meinem Unterleib machte sich ein Ziehen bemerkbar. Dies konnte zwei Dinge bedeuten: Ein Ei nistete sich ein. Oder die Periode kündigte sich an. Heute schmerzten auch meine Brüste.

Ein weiteres Ziel war das Haus mit Garten, auf das Nils und ich sparten. Das brauchten wir allerdings nur, wenn sich auch ein Kind ankündigte. Meinte Nils.

Der Espresso war fertig, und ich wartete ab, bis mein Mann zu mir an die Küchenbar trat. Er schob die Schale mit meiner Herbstdeko aus kleinen Zierkürbissen und glänzenden Maiskolben beiseite, und stellte seine Tasse ab.

»Und? Wie ist die Lage?«, fragte er wieder.

Mir war klar, worauf er anspielte. Ob oder ob nicht. Nicht, dass mich das unter Druck gesetzt hätte. Haha. Außerdem war da dieses Gefühl. Möglicherweise hoffte Nils, dass es nicht geklappt hatte. Seit unsere Freundin Johanna vor fünf Monaten einen kleinen Jungen bekommen hatte, war Nils’ Begeisterung für ein Kind abgekühlt.

Oskar raubte Johanna und Rahul den Schlaf, und unsere einstmals unternehmungslustige Freundin lag abends um halb neun im Bett, um zusammen mit dem Kleinen überhaupt ein paar Stunden Ruhe zu bekommen.

»Es wäre durchaus möglich«, antwortete ich.

»Das hast du schon so oft gedacht.« Nils nippte am Espresso.

»Diesmal ist es anders. Also diese Art von Ziehen. So war es noch nie«, widersprach ich leise.

»Meinst du so ein heftiges Ziehen in der Brust? Oder das im Unterleib, das sich so anfühlt, als ob deine Periode käme, von dem du aber gehört hast, dass eine Schwangerschaft sich ganz genauso ankündigt?«

Ich blinzelte. »Mir ist klar, dass es dich nervt, und mich macht es, wie du weißt, ebenfalls völlig fertig. Aber diesmal«, ich nahm seine Hand und sah ihn eindringlich an, »könnte es wirklich sein.«

Ich sagte ihm lieber nicht, dass ich in diesem Zyklus nicht nur den Mondkalender konsultiert, sondern auch Ovulationsstäbchen benutzt hatte, die den Eisprung exakt bestimmten. Von Zucker auf der Fensterbank, damit es ein Mädchen wurde, hatte ich gerade noch Abstand nehmen können.

Nils tätschelte meine Hand. »Aber bitte keine Tränen, wenn das Ziehen wieder einen anderen Ursprung hat.«

Konnte es sein, dass er mit mir sprach wie ein Vater mit seinem Kind, das noch an den Weihnachtsmann glaubte?

Der ewige Sex nach Plan tat unserer Beziehung keineswegs gut. Manchmal befürchtete ich, Nils könnte mich wegen meines unerfüllten Kinderwunsches verlassen. Nicht, weil er mir die Schuld zusprach, sondern weil es zwischen uns kaum noch ein anderes Thema gab. Angeblich. Meiner Meinung nach stimmte das nicht. Unser Hauptthema war und blieb die Arbeit.

Nils arbeitete als Bauingenieur an Großprojekten, war viel auf Baustellen unterwegs und beschäftigte sich auch fast jedes Wochenende mit Planungen, für die er unter der Woche keine Zeit gefunden hatte.

Und auch mein Job war fordernd. Meine Kundinnen waren russische und ukrainische Oligarchen-Gattinnen, die ihre Männer oft monatelang nicht zu Gesicht bekamen. Diese Typen brachten ihre Frauen und Kinder in Frankfurt, Bad Homburg oder Wiesbaden unter, damit sie in der Nähe der Finanzmetropole ein angenehmes Leben führen konnten. Und das taten sie. Mit meiner Hilfe.

Ich war Einrichtungsberaterin. Mein Chef Popow war ein russischer Bauunternehmer, für den Nils als Projektleiter arbeitete. Seine Baufirma lieh ihn quasi an Oleg Popow aus. Oleg hatte vor knapp drei Jahren einen Laden in der Nähe unserer Wohnung gekauft und mich – wir kannten uns über meinen vorherigen Job – gefragt, ob ich für ihn arbeiten und mich der extravaganten Einrichtungswünsche seiner russischen Kundinnen annehmen würde.

Außerdem bin ich ebenfalls gebürtige Russin. Mein Geburtsname lautet Zinaida Jerschowa. Unaussprechlich für deutsche Zungen, deshalb nennen mich alle Sina. Als Kind kam ich mit meiner Familie nach Offenbach. Meine Großeltern waren sogenannte Russlanddeutsche, und meine Oma hatte meine Eltern zu diesem Schritt überredet. Meine Zwillingsschwester Milla (von Ljudmilla) und ich haben uns im Gegensatz zu unseren Eltern rasch integriert. Als Kinder sprachen wir zu Hause Deutsch und Russisch. Die beste Voraussetzung für Popows Geschäft. Im Laufe der Zeit hatte ich schon etliche von Popows anspruchsvollen Kundinnen mit meinen Ideen für ihre Häuser und Wohnungen glücklich gemacht.

Seit knapp einem Jahr war ich nahezu ausschließlich für Tatjana Zhabenko tätig, eine mit einem Russen verheiratete Ukrainerin, deren Muttersprache zwar ukrainisch war, die aber besser Russisch sprach als ich.

Meiner Zwillingsschwester Milla fielen jedes Mal die Augen aus dem Kopf, wenn ich ihr die Fotos von den Messen zeigte, auf denen ich Einrichtungsgegenstände für meine Kundinnen auswählte: Ohrensessel in Tigermuster mit Blattgold überzogenen Füßen. Goldene Wasserhähne in Schwanen- oder Delfinform. Aufwendig verzierte goldene Bilderrahmen, Spiegel und Deckenleuchten: Hauptsache Gold, Gold, Gold.

Natürlich sparte meine dunkelhaarige Kundin auch bei sich selbst nicht mit teurem Schmuck. Ihr Mann hatte ihr zur Geburt ihrer Tochter Sascha einen Brillantring geschenkt, der bei jeder Handbewegung schimmerte.

Zuerst hatte ich ein Haus im Frankfurter Westend für sie und Sascha eingerichtet, das vor Prunk nur so strotzte. Vor ein paar Monaten kam sie dann mit der Nachricht, dass ihre Schwester spätestens an Weihnachten nach Deutschland kommen würde, und sie kaufte eine Vierzimmerwohnung in Bad Homburg, deren Renovierung ich seither begleitete.

Bei der Einrichtung dieses Objekts hielt sie sich mit Gold und Glimmer etwas zurück. Vermutlich hatte ihre Schwester, die zwei Kinder zu haben schien – ich richtete ein Mädchenzimmer und ein Babyzimmer für einen Jungen ein – nicht so viel Budget zur Verfügung.

Ich hatte mir abgewöhnt, meiner Kundin persönliche Fragen zu stellen. Wenn ich sie etwas fragte, worauf sie nicht antworten wollte, stellte sie sich taub. Tatjanas Mann hatte ich – bis auf ein paar Fotos, die einen untersetzten goldbehangenen Russen zeigten – noch nie zu Gesicht bekommen. Meine und Millas Theorie war, dass es sich bei ihm um einen König der Unterwelt handelte, und die beiden sich nur im Verborgenen trafen.

Doch ich wollte mich nicht beklagen. Natürlich hatte ich unendliches Glück, mein Hobby zum Beruf gemacht zu haben. Allerdings hatte er auch seine Schattenseiten: Oleg und Tatjana beschränkten ihre Wünsche und Anforderungen nämlich nicht auf Montag bis Freitag. Es war üblich, am Wochenende – und sei es nur für ein paar Stunden – zur Verfügung zu stehen. Am Samstagabend konnte ein Anruf von Tatjana kommen, die die Idee hatte, das Flurkonzept mit dem Deckenleuchter von dem Künstler aus Lissabon und den abstrakten Skulpturen aus geriffeltem Blech über den Haufen zu schmeißen und doch auf bewährtes Gold und Glimmer zu setzen. Und zwar sofort. Oder Popow bat mich sonntagmorgens darum, einen Blumenstrauß für seine Frau zu organisieren, um ihr eine Freude zu machen. Das fertige Teil holte er dann höchstpersönlich im Blumenladen ab, ohne auch nur eine Sekunde darauf warten zu müssen.

Und auch Tatjanas Wünsche standen stets über meinen. Sie mochte zwar eine anstrengende Kundin mit all ihren Sonderwünschen sein, so meinte Oleg, doch sie zahlte ihm eben auch jeden Preis, den er für seine Umbaumaßnahmen veranschlagte. Und auch für meine Dienste legte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, zweihundert Euro pro Stunde hin. Von denen ich selbstredend nie etwas zu Gesicht bekam. Immerhin war mein Gehalt hoch genug, dass ich mich nicht traute, mich allzu lautstark zu beschweren. Je schneller Nils und ich eine Anzahlung für ein Haus angespart hatten, umso besser.

Außerdem war die Arbeit für Tatjana auch nicht wirklich anstrengend. Im Gegenteil. Bei den Renovierungsarbeiten im Haus hatte ich überwacht, dass jede einzelne Fliese im rechten Winkel verlegt und kein Kratzer im Putz zu sehen oder ein Lichtschalter einen halben Zentimeter zu hoch oder zu niedrig gesetzt war. Und auch bei der Wohnung konnten wir inzwischen mit dem Einrichten anfangen.

Es war immer in den Phasen der Absprachen, in denen es zwischen meiner Kundin und mir zu kriseln begann. Wobei sie nichts von diesen Krisen ahnte. Die meiste Zeit saß ich auf einem ihrer unbequemen Prunksessel herum und wartete darauf, dass sie aufhörte, zu telefonieren. Dabei wechselte sie vom Ukrainischen mit ihrer Verwandtschaft oder Freunden zum Russischen, wenn sie mit ihrem Mann sprach. Ich durfte ihrem Geschwätz und Liebesgesäusel lauschen, bis sie fertig war. Es drehte sich immer entweder um Geld, Alkohol, Kinder oder Putin und Poroschenko, deren Namen nie genannt wurden. Genauso wenig wie der Name ihres Mannes, den sie stets »Ljubimi« nannte, das so viel wie Liebling heißt. Anscheinend gehörten die beiden Präsidenten sowie ihr Mann zur Liste derer, deren Namen man nicht aussprechen durfte. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich in ihrer Heimat nicht viele Freunde gemacht hatte, indem sie einen Russen heiratete. Eine Rückkehr war für sie als Überläuferin quasi unmöglich.

Ich hielt mir den Bauch und spürte dem Ziehen in meinem Unterleib nach, das nichts Gutes verhieß. Ich hatte gelesen, dass es etwas wehtun konnte, wenn die Bänder sich auf eine Schwangerschaft einstellten. Diese Schmerzen sollten nicht krampfartig sein, sondern wie ein gleichmäßiger Druck. Ich fühlte jedoch etwas anderes. Wahrscheinlich hatte es wieder nicht geklappt.

Diesen Befürchtungen nachhängend rutschte ich von meinem Hocker. Nils räumte unsere leeren Tassen in die Spülmaschine, rückte die Dekoschale mit den Zierkürbissen gerade und verschwand im Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

Ich sah zum grauen Himmel hinauf und spürte in diesem Moment, wie sich der erste Tropfen Blut seinen Weg in meine Unterwäsche bahnte. Eine Weile ließ ich den Tränen freien Lauf. Dann ging ich ins Bad und machte leise die Tür zu. Ich wusch mein Gesicht und kramte nach einer Schachtel Tampons. Immer nahm ich mir vor, beim nächsten Mal nicht enttäuscht zu sein. Oder wütend auf Nils. Was, wenn es an ihm lag? Er weigerte sich beharrlich, sich testen zu lassen.

Aus der Diele vernahm ich, wie Nils den Schlüssel vom Bord nahm. »Alexa, mach das Licht im Schlafzimmer aus«, sagte er in die Wohnung hinein. Dann rief er: »Ciao, Süße. Bis heute Abend.«

Kein Abschiedskuss, schon seit langem nicht mehr. Als sollten die Küsse beim Sex alle vier Wochen ausreichen.

Ich tappte aus dem Bad in die Küche, wo noch immer mein Handy auf der Bar lag.

Habt ihr gemeinsame Ziele?, fragte der Psychotest beharrlich.

Nicht mehr, dachte ich und schloss die Anwendung. Ich war des Hoffens müde. Warum dem sinnlosen Wunsch nach einem Kind und einem Haus nachhängen und dafür meine Ehe aufs Spiel setzen? Ich würde wieder mehr für unsere Partnerschaft tun. Mich ändern.

Es war an der Zeit, meine Ehe zu retten.

2

Das Wochenende verbrachten Nils und ich im üblichen Einkaufen-Putzen-Arbeiten-Modus. Es ergab sich keine einzige Gelegenheit für eine Unterhaltung über uns. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich mit ihm auszusprechen und einen gemeinsamen Neuanfang zu planen.

Stattdessen rief Tatjana am Samstagnachmittag an und zitierte mich zu sich. Sie wollte einen der bereits fertig gestrichenen Räume in der Vierzimmerwohnung umstreichen lassen, weil ihr der gewählte Pink-Ton in Kombination mit Türkis für das eine Kinderzimmer doch nicht gefiel. Geduldig durchforstete ich zum gefühlt hundertsten Mal Farbkarten mit ihr, bis wir uns auf die Änderung von Türkis in Flieder einigten.

Abends, als Zeit für ein Gespräch mit Nils zum Thema Rettung unserer Ehe gewesen wäre, checkte mein Mann E-Mails und hämmerte Antworten an schwierige Bauherren in die Tastatur seines Laptops, bis ich resigniert zur Fernbedienung griff. Ich tröstete mich mit Liebe braucht keine Ferien, einem Film, den ich schon ein dutzend Mal gesehen hatte. Ich mochte es, genau zu wissen, wie diese Story endete.

Natürlich bekam Nils mit, dass meine Periode eingesetzt hatte. Doch außer einem Kuss auf die Stirn und einem »Ach, Schatz« verlor er kein Wort darüber.

Montagmorgens reiste er für eine Woche nach München, um mit Architekten an der Ausschreibung für ein Projekt zu feilen.

Die Woche über beschäftigte ich mich weiter mit Tatjana und der Einrichtung der Bad Homburger Wohnung, besuchte Johanna und Milla und ging früh ins Bett.

Als Nils am Freitagabend von seiner Geschäftsreise zurückkehrte, präsentierte ich ihm einen Plan für die vor uns liegenden Tage. Ich hatte nicht, wie sonst, im Vorfeld meines Eisprungs ›romantische Abende‹ mit elektrischem Kaminfeuer und Kuschelmusik aus Alexas unerschöpflichem Musikfundus auf dem Zettel, sondern für Sonntag eine Stadtführung in der restaurierten Frankfurter Altstadt gebucht. Wozu lange reden? ›Handeln‹ lautete die Devise.

Und siehe da, der erste Teil des Eherettungsplanes gelang halbwegs. Zwar schrieb Nils zwischendurch die eine oder andere E-Mail, dennoch lauschte er unserem Führer im historischen Stadtkern aufmerksam. Anschließend tranken wir noch einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, der gerade erst seine Pforten geöffnet hatte. Das gemeinsame Weihnachtsfest mit meinen Eltern kam mir dabei noch unendlich fern vor.

Am Montagabend, dem Tag, an dem mein Zyklus in die ›heiße Phase‹ für eine erfolgreiche Befruchtung eintrat, führte ich meinen Mann zu einem Japaner, der das Essen vor unseren Augen auf einer heißen Platte zubereitete. Wir saßen nebeneinander mit Papierschürzen um den Hals. Zuvor hatten wir uns an heiß-feuchten Tüchern die Hände gesäubert. Ich genoss die exotische Stimmung und verschwendete keine Gedanken an eventuell aphrodisierende Wirkungen der Speisen.

Vielleicht erwartete Nils, dass ich früher oder später auf ein Baby zu sprechen kommen würde, aber das hatte ich nicht vor. Stattdessen verwickelte ich ihn in ein Gespräch über weitere Besichtigungsziele, weil die Führung in der Altstadt so schön gewesen war. Nils brauchte immer ein Ziel. Nur am Main spazieren zu gehen oder durch die Stadt zu schlendern, war nicht sein Ding. »Kino«, schlug Nils vor – und ich versprach, mich nach den aktuellen Filmen umzuhören. Natürlich hätte ich Alexa fragen können. Aber das war mehr Nils’ Ding.

Als das japanische Matcha-Eis vor uns stand, beugte ich mich zu ihm hinüber und legte meine Hand auf seine. »Nils?« Ich lächelte ihn liebevoll an. »Was hältst du davon, wenn wir zusammen eine Weltreise machen würden?«

Bei diesem Thema hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. Als wir uns kennenlernten, hatte er mir von diesem Traum erzählt. Aber in reelle Planungen waren wir nie eingestiegen. Eine Weltreise und ein Baby, das schloss sich gegenseitig aus. Der Gedanke zu dem Vorschlag war mir erst in diesem Moment gekommen.

»Das würdest du wirklich tun?«, fragte er lebhaft und nahm meine Hand. »Ein halbes Jahr um die Welt reisen?«

Ich riss die Augen auf. »So lange?«

»Weniger lohnt sich kaum. Die Welt ist groß.«

Es war ja nicht so, dass ich nicht gern verreiste. Aber wenn ich länger als zwei Wochen weg war, sehnte ich mich nach Daheim. Ich vermisste mein Bett, den Bäcker an der Ecke und Spaziergänge am Main. Selbst das Frankfurter Wetter ging mir nach einiger Zeit ab. Vielleicht war mein Vorschlag doch etwas zu voreilig gewesen. Aber da ich nun einmal damit angefangen hatte … Ich nahm einen Schluck Mineralwasser.

»Wo würdest du denn hinwollen?« Ich konnte mir Fjorde in Norwegen vorstellen, die Toskana, meinetwegen auch einen Robinson-Club in Tunesien.

Mein Mann saß aufrecht am Tisch. Das Dessert war vergessen. Er hatte den Löffel neben das vor sich hinschmelzende Eis gelegt. »Nun, zum Beispiel Afrika. Südamerika. Oder Indien.« Seine Augen leuchteten.

»Ist das nicht zu gefährlich?«, wandte ich ein. »Krankheiten, Überfälle, Monsunregen, Malar–.«

»Das ist lächerlich.« Nils ließ meine Hand los und rückte ein Stück von mir ab. »Es gab schon Reisewarnungen für Deutschland, weil irgendwer in Bayern in einem Zug randaliert und dabei einen Koreaner verletzt hat. Nicht überall auf der Welt herrschen Krieg, Kriminalität und Krankheiten. Die meisten Menschen sind ausgesprochen friedlich, gastfreundlich und sogar gesund. Zur Risikominimierung gibt es Impfungen und sichere Reiserouten. Glaub nicht alles, was in den Medien berichtet wird.«

Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem wäre unser ganzes Geld weg, das wir vielleicht irgendwann …« Den Rest ließ ich offen. Ich hatte das Thema doch meiden wollen.

Nils sah mich resigniert an. »Ich weiß.« Langsam nahm er den Dessertlöffel auf und stieß ihn in den kläglichen Rest Eis.

Ich war frustriert. Der Abend hatte mir gezeigt, dass es gar nicht so leicht war, sich zu ändern.

Für Dienstagabend suchte ich den Kinofilm Ein ganzes halbes Jahr für uns aus. Ich hatte schon viel Gutes darüber gehört und dachte, es sei ein romantischer Film über zwei Menschen, die gegen jede Chance zueinanderfanden.

Doch leider hatte ich nicht bedacht, wie sehr mich dieser Film, in dem es um einen sterbenskranken Mann ging, berühren würde. Schon bald liefen mir die Tränen über das Gesicht. Selbst bei den lustigen Szenen. Ich steigerte mich so sehr in meinen eigenen zerplatzten Traum hinein, dass ich mitten im Kino einen Heulkrampf bekam.

Es gibt Menschen, die werden fürsorglich, wenn jemand weint. Nils stand meinen Tränen früher hilflos gegenüber. In letzter Zeit war er von meiner monatlich wiederkehrenden Trauer sichtlich genervt. Im Kino wurde er wütend. Vielleicht nahm er mir auch meine Reaktion auf seine Weltreisepläne noch zusätzlich übel?

Jedenfalls drängte er mich aus dem Saal und stürmte zum Auto. Auf der Rückfahrt wartete er nicht einmal ab, bis ich mich angeschnallt hatte. Er raste so schnell durch die Innenstadt, dass ich mich im Sitz festkrallte. Zuhause knallte er mir die Schlafzimmertür vor der Nase zu. Ich hatte nicht das Bedürfnis, ihm zu folgen. Denn in der aufgeladenen Atmosphäre hätte ich eh nicht schlafen können. Und wahrscheinlich hätten wir uns nur gestritten. So legte ich mich aufs Sofa. Einmal meinte ich, dass er telefonierte, aber ich mochte es mir auch nur eingebildet haben.

Mittwochmorgens saß ich niedergeschlagen an der Küchenbar vor meinem Müsli. Der von mir arrangierte Kinobesuch vom Vorabend steckte mir in den Knochen.

Wie sollte das mit Nils und mir noch enden? Meine Eherettungsversuche schienen zum Scheitern verurteilt.

Als Nils aus dem Schlafzimmer kam, hob ich den Kopf und sah ihm verzagt entgegen.

»Morgen«, brummte er.

»Hi«, grüßte ich gedämpft und beobachtete ihn dabei, wie er sich seinen doppelten Espresso zubereitete und sich zu mir setzte.

»Du fragst Alexa ja gar nicht, wie das Wetter heute werden soll«, versuchte ich mich an einem Scherz.

Nils sah nach draußen in den wolkenverhangenen Himmel und zuckte die Schultern. »Das kann ich mir ja auch irgendwie denken.«

Ich rutschte von meinem Hocker und ging um die Bar herum, schlang die Arme um Nils und küsste ihn in den Nacken. »Tut mir leid wegen gestern«, flüsterte ich. »Ich weiß auch nicht, was los war.«

Nach einer Weile löste Nils meine Umarmung und drehte sich zu mir. Er strich mir das vom Schlafen zerzauste Haar aus der Stirn und blickte mir in die Augen. Seine Lippen umspielte ein trauriges Lächeln.

Zärtlich streichelte er über meinen Arm. Nach kurzem Zögern nahm er meine Hand, führte sie nach unten und legte sie auf seinen Schritt.

»Oh.« Verblüfft sah ich ihn an. Es war neu, dass Nils beim Sex den Anfang machte. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wann das zuletzt passiert war.

Ohne mich aus den Augen zu lassen, rutschte er vom Barhocker und ließ seine Schlafshorts zu Boden fallen.

Ich schluckte. Was war er nur für ein schöner Mann! Kein Gramm Fett zu viel und man sah seinem Körper immer noch an, dass er mal viel Sport getrieben hatte.

Nils Finger berührten die spezielle Stelle hinter meinem Ohr. Er wusste genau, dass ich dort extrem empfindlich war. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Seufzend biss ich mir auf die Unterlippe.

Seine Hände glitten über meinen Hals, liebkosten einen Moment die Kuhle am Schlüsselbein, um dann wie absichtslos über meine Brüste zu streichen. Deren Knospen reagierten sofort.

Ich starrte ihn an. Aber er sah mir nicht in die Augen, sondern beobachtete seine Hände auf ihrem Weg nach unten. Sie fuhren die Kurve meiner Taille nach, streichelten sanft über meine Hüften, verweilten am Gummi meines Slips.

Nils war sehr konzentriert, als er mir behutsam aus der Unterwäsche half. Dann schob er meine Beine auseinander und kam noch näher. In einer fließenden Bewegung umfasste er meinen Po, hob mich hoch und drang in mich ein. Ich zog scharf die Luft ein und umschlang ihn mit meinen Beinen, hielt mich an ihm fest. Nils bewegte sich mit geschlossenen Augen in mir. Ich versuchte, in seinen Rhythmus zu finden, doch wir wippten unbeholfen auf und ab, hatten gar keine Erfahrung mit dieser Stellung. Schon spürte ich, wie er in mir erschlaffte.

»Tut mir leid.« Nils glitt aus mir heraus. Mit gesenktem Kopf nahm er seine Hose vom Boden und zog sie wieder an.

Ich legte kurz die Hand auf seine Schulter. »Schon gut.«

Als er ging, verabschiedeten wir uns mit einem kurzen Kuss. Allerdings lag so viel Traurigkeit darin, dass es wirkte wie ein Abschied für immer.

3

Ich saß noch eine Weile an der Bar und aß niedergeschlagen mein Müsli. Immerhin passte das graue Wetter zu meiner Stimmung.

Die Türglocke riss mich aus meinen Gedanken.

Über die Gegensprechanlage vernahm ich das Rauschen des Berufsverkehrs auf der Hanauer Landstraße. »Hallo?«

»Ist Oleg. Kannst du bitte aufmachen?«

In den letzten Jahren hatte sich Popows Deutsch verbessert. Er war mit einer Deutschen verheiratet, Barbara, sie hatten zwei Söhne. Inzwischen sprach er nur noch selten Russisch mit mir.

Ich drückte auf den Öffner und fragte mich, was mein Chef hier wollte. Oleg war selten hier, normalerweise meldete er sich telefonisch oder per SMS. Das wäre auch jetzt besser gewesen, denn ich war noch immer im Schlafshirt. Ich hatte erst gegen elf einen Termin im Laden mit der studentischen Aushilfe, die unsere hochwertigen Dekorationsstücke sowie Lampen, Bilder und andere Einzelstücke verkaufte. Ursprünglich war vereinbart gewesen, dass ich viel öfter im Laden sein sollte. Aber im Laufe der Zeit hatte sich herausgestellt, dass ich meine Arbeit besser bei den Kundinnen vor Ort verrichtete.

Ich eilte ins Schlafzimmer, tauschte die T-Shirts und schlüpfte in eine Jeans.

Schon klopfte es einmal kräftig an der Wohnungstür.

Schnell fuhr ich mir durch die Haare und setzte das strahlende Lächeln auf, das Popow von mir gewohnt war.

»Hi«, flötete ich, als ich ihm öffnete – und stutzte. Sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an den meines Vaters, wenn er übellaunig war. Popow hatte die Augenbrauen zusammengezogen und die Lippen fest aufeinandergepresst. Die Mundwinkel zeigten nach unten.

»Darf ich reinkommen oder reden wir in Treppenhaus?«, blaffte er.

»Bitte.« Ich gab den Weg frei, ging vor ihm her ins Wohnzimmer und bot ihm einen Platz auf unserem sandfarbenen Sofa an. »Magst du einen Kaffee?«

Popow ließ sich auf die Couch fallen. »Gibst du dir keine Mühe. Vielleicht ich brauche Wodka.«

Das war ein schlechtes Zeichen. Im Gegensatz zu etlichen meiner Landsleute trank Popow keinen Tropfen Alkohol. Dies hatte er mit Johanna gemeinsam. Mit den beiden zu feiern, war nicht einfach.

»Ist was passiert?« Ich blieb abwartend stehen.

Mein Chef schnalzte mit der Zunge. »Was hast du nur dir bei das gedacht, Sina?«

»Wobei denn?« Hatte Nils etwa gestern mit ihm telefoniert und ihm erzählt, dass ich den falschen Kinofilm ausgewählt hatte? Das konnte doch nicht sein, oder?

»Du hattest versprochen, das kommt nie wieder vor«, antwortete Oleg. »War das Voraussetzung dafür, dass ich dich stelle ein.«

Ich runzelte die Stirn. Spielte er darauf an, weswegen ich meinen Job in der Anwaltskanzlei verloren hatte, bevor er mich vom Fleck weg für seinen Laden engagierte? Tatsächlich stand in meinem Arbeitsvertrag mit Popow, dass ich Zugang zu den privaten Räumlichkeiten meiner Kunden haben würde und unter keinen Umständen etwas ohne Rücksprache mit den Eigentümern entwenden dürfte. In Klammern stand dort sogar: Nicht einmal eine Rolle Toilettenpapier.

Dabei war diese Sache in der Kanzlei damals ein totales Missverständnis gewesen. Jeder im Büro hatte mal hier einen Stift, dort einen Block mitgehen lassen. Aber bei mir war es gleich ein Kündigungsgrund! Als Kind, ja, da war es vielleicht zwanghaft, dass ich die glitzernden Stifte oder Sticker meiner Mitschülerinnen mopste. Aber ich war da irgendwann rausgewachsen. Wirklich.

Popow deutete auf das weiße Bord an der Wand, auf dem ich meine Matroschka-Sammlung aufgereiht hatte.

Eine Matroschka besteht aus fünf bis neun Hohlpüppchen, die ineinandergesteckt sind. Ein traditionelles Spielzeug, das in keiner russischen Familie fehlt. Meist tragen die Matroschkas eine Tracht und es ist spannend, die Einzelheiten dieser klassischen Kleidung zu entdecken. Allein die fein gezeichneten Gesichter der rundlichen Frauen sind kleine Kunstwerke. Ich sammelte sie mit Leidenschaft; da kam wohl meine russische Abstammung durch. Die bunten Püppchen waren ein Hingucker in unserem Wohnzimmer, und ich hoffte, dass meine Eltern mir zu Weihnachten wieder ein hübsches Exemplar schenken würden. Mama betrieb inzwischen viel Aufwand, um neue Matroschkas zu finden, die meine Sammlung ergänzen konnten.

Jetzt dämmerte mir, worauf Popow anspielte. Er meinte die Matroschka aus dem Kleiderschrank im Babyzimmer der Bad Homburger Wohnung von Tatjanas Schwester.

Shit. Wo war die Puppe denn abgeblieben?

»Ich kann das erklären«, setzte ich an.

Doch Popow stoppte mich mit einer Handbewegung. »Musst du nicht. Ist zu spät. Tatjana hat Zusammenarbeit mit dir beendet. Und ich kann auch nicht mehr dich beschäftigen. Du weißt, dass Tatjana hat viel, wie sagt man, Einfluss. Bei Russen jeder kennt der andere. Die Sache ist, Sina, ich muss dich schmeißen raus.«

Ich schnappte nach Luft. »Aber es war nur ein Versehen! Das Ding ist … in meine Tasche gerutscht … ich fahre sofort zu Tatjana und bringe sie zurück. Ich rede mit ihr.« Mit meiner Kundin zu reden, würde zwar schwierig werden, keine Frage. Aber wenn ich ihr erklärte, wie es zugegangen war …

Popow faltete die Hände und wandte bedrückend langsam den kurzgeschorenen Schädel von links nach rechts. »Ist zu spät, Sina. Du gibst jetzt mir Matroschka, ich nehme mit. Fahrer von Tatjana sitzt unten ins Auto und wartet. Damit ist Ding erledigt.«

Sie hatte Popow mit einem Fahrer geschickt und ließ das Holzpüppchen abholen?

»Es war kein Diebstahl«, sagte ich bestimmt und ging mit betont festen Schritten in den Flur. Dort hingen meine Handtaschen an den Garderobenhaken, die in Hüfthöhe für Kinderjacken angebracht waren. Ich würde ihm jetzt die Puppe geben und morgen, wenn sich meine Kundin etwas abgekühlt hatte, Tatjana anrufen.

Systematisch durchsuchte ich eine Tasche nach der anderen. Welche hatte ich noch mal getragen, als dieses dumme Missgeschick geschehen war? Langsam wurde ich unruhig. Ich war bei der letzten angelangt und hatte die Matroschka noch immer nicht gefunden. Hektisch nahm ich wieder die erste Tasche zur Hand, drehte sie um und schüttelte. Nur ein alter Parkschein fiel heraus, aber keine Holzpuppe.

»Ich habe mich an unsere Vereinbarung gehalten«, rief ich zu Popow hinüber, »und nie wieder etwas mitgehen lassen.«

Das Wort ›stehlen‹ war mir im Zusammenhang mit dem, was ich früher getan hatte, noch nie über die Lippen gekommen. Als Kind hatte ich die Sachen, die ich von meinen Mitschülern mitgehen ließ, nicht einmal benutzt, sondern in einem Kästchen aufbewahrt, um sie gelegentlich zu betrachten.

Aber das mit Tatjanas Matroschka war völlig anders gewesen – falls sie überhaupt ihr gehörte und nicht ihrer Schwester.

Ich hatte das Teil beim Ausmessen der Kleiderstange im Babyzimmer entdeckt. Diese Matroschka zeigte nicht die übliche Frau in traditioneller russischer Tracht, sondern ihre äußere Hülle war schwarz und mit roten Herzchen übersät. Die Neugierde, wie die weiteren Figuren aussahen, trieb mich dazu, nach ihr zu greifen. Ich hatte so ein Teil noch nicht in meiner Sammlung, brannte darauf, sie mir näher ansehen.

Kaum hielt ich sie in der Hand, rief Tatjana ein strenges »Njet!«, als rufe sie Sascha einen Befehl zu. »Nicht anfassen!« Dann nahm sie mir das Püppchen ab, stellte es zurück und schloss demonstrativ die Schranktür.

Meiner Neugierde auf das Innenleben der Figur tat ihr Verbot natürlich keinen Abbruch. An diesem Tag wagte ich es jedoch nicht mehr, sie mir heimlich näher zu betrachten. Doch bald ergab sich eine neue Gelegenheit.

Ich war schon fast auf dem Heimweg, als Sascha mich zu sich ins halbfertige Zimmer ihres Babycousins rief. Sie hockte auf dem frisch verlegten Fußboden und spielte mit einem Playmobil-Puppenhaus, das schon in der Wohnung Einzug gehalten hatte. Sie wollte mir zeigen, wie man mit einer Kurbel einen Fahrstuhl auf und ab bewegte.

Ich tat, als betrachte ich mir den Vorgang, schielte aber auf den Kleiderschrank. Ich hatte Sascha noch nie mit einer Matroschka spielen sehen. Deshalb konnte ich lange warten, bis das Kind sie mal aus dem Schrank nehmen würde. Ich musste schon selbst handeln.

Leise entfernte ich mich von Sascha, öffnete die Schranktür und griff nach dem Püppchen in der obersten Regalreihe. Das Teil ließ mein Herz höher schlagen. Vorsichtig strich ich über das lackierte Holz. Jedes einzelne rote Herzchen auf dem schwarzen Untergrund war handgemalt und pulsierte. So kam es mir wenigstens vor. Es war ein Meisterwerk, das sah ich gleich.

Eben wollte ich die Matroschka aufschrauben, als ich Tatjanas klackernde Schritte im Flur vernahm. Vor Schreck ließ ich das Ding in meine Handtasche gleiten, machte zwei Schritte auf Sascha zu und lächelte Tatjana entgegen.

Meine Kundin bemerkte die offenstehende Schranktür sofort, schnalzte mit der Zunge und warf ihrer Tochter einen tadelnden Blick zu.

Mit den Gedanken ganz bei ihrem Problem schloss sie, ohne hinzublicken, die Tür und sagte auf Russisch zu mir: »Ich hab mir was anderes wegen dem Wasserhahn in der Gästetoilette überlegt. Nur so ein ganz gewöhnlicher aus Edelstahl ist ja langweilig für meine Schwester. Es könnte schon ein Schwan sein, meinst du nicht? In Weiß fände ich ihn hübsch. Komm mit, ich zeig dir, was ich meine.«

Das war nochmal gut gegangen, dachte ich und folgte ihr scheinbar geflissentlich. Als ich hinter ihr herlief, fiel mir wieder ihr kerzengerader Gang auf und das über den Rücken fallende dunkle, glatte Haar. Natürlich wusste ich genau, um welche Armatur es ging. Aber Tatjana liebte es, alles an Ort und Stelle mit ausholenden Bewegungen zu beschreiben. Und am nächsten Tag fiel ihr garantiert etwas Neues ein. Vielleicht ein Wasserhahn in Form eines Kolibris. Bei dieser Frau wusste man nie. Vielleicht kam die Idee mit dem Schwan aber auch von ihrer Schwester. Mit der telefonierte sie nämlich andauernd und schickte ihr Fotos.

Über Tatjanas Ausführungen vergaß ich die Matroschka jedenfalls total.

»Wo bleibst du?«, rief Popow und holte mich aus meinen Erinnerungen.

Immer verzweifelter wühlte ich in meinen Taschen. Aber umsonst. Ich musste der Wahrheit ins Gesicht sehen: Die Matroschka war verschwunden.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, streckte Popow die Hand aus. »Gibst du mir also? Damit wir haben Sache hinter uns.«

Ich schloss die Augen. Wie sollte ich meinem Chef erklären, dass die Holzfigur gar nicht hier war? Ich musste sie verlegt haben. An das Wort ›verloren‹ wagte ich nicht einmal zu denken. Sie war in meiner Handtasche gewesen, als ich die Vierzimmerwohnung verließ, so viel stand fest. Anschließend war ich einkaufen gegangen, hatte Erledigungen gemacht – Nils’ Hemden aus der Reinigung geholt und etwas für ihn im Apple-Store besorgt beispielsweise. Hatte ich zu irgendeinem Zeitpunkt die Figur aus der Tasche genommen? Ich erinnerte mich einfach nicht daran!

Popow hielt noch immer die Hand ausgestreckt. »Sina, du musst hergeben. Ist doch wohl klar das.«

»Weißt du, Oleg, es ist so …« Ich leckte mir über die Lippen. »Die Matroschka«, ich holte tief Luft, »ist nicht hier.«

Er fixierte mich misstrauisch. »Wieso? Wo hast du?«

»Ich weiß nicht«, krächzte ich.

Popows Blick verdüsterte sich noch mehr. »Verstehe ich nicht. Ist nicht Knopf von Hose, ist so groß wie Barbiepuppe.«

Ich nickte stumm. Vielleicht hatte ich sie in der Reinigung stehen lassen. Oder bei Rewe. Oder …

Mit einem Mal wurde mir heiß. Hatte ich die Figur auf der Suche nach meinem Autoschlüssel aus der Handtasche genommen und auf dem Autodach abgestellt? Das sähe mir ähnlich. Ein Eierkarton war auf diese Weise auch schon mal zu Bruch gegangen. Die Matroschka musste in Trümmern in irgendeinem Straßengraben liegen, vielleicht auch in einem Gulli!

Popow sah mich an, als könnte er meine Gedanken lesen. »Sag nicht, dass sie ist kaputt. Zerstört?« Er fuhr sich mit beiden Händen über den Schädel. »Das ist sehr wichtige Puppe, Sina!«

O Gott, ich hatte es geahnt. »Wie teuer war sie denn?« Meine Frage war fast nicht zu hören.

Popow legte den Kopf schräg. »Hast du nicht auseinandergemacht Puppe? Hast du nicht gesehen, was ist drin?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich sagte dir doch, dass sie in meine Tasche gerutscht ist. Und seitdem … ist sie weg!«

Popow atmete tief durch. »Ich kann nicht das glauben, wirklich. Tatjana ist größte Kundin mit so viel Einfluss. Was soll ich sagen zu ihr?«

»Dass ich sie wieder beschaffe«, wisperte ich. »Ich werde alles tun, um sie –.«

Popows erneutes Kopfschütteln stoppte mich.

»Du feuerst mich doch nicht wirklich?«, wagte ich nachzufragen. »Wegen dieses einen Fehlers?«

Oleg schnaubte. »Ich mag dich gern, Sina, wirklich das tue ich. Aber muss ich setzen Zeichen für Tatjana. Sie hat gesagt zu dir, sollst du nicht anfassen. Aber hast du. Und du hast sogar mitgenommen. Und jetzt du hast verloren!«

»Aber wen willst du denn meine Arbeit machen lassen?«, piepste ich. »Du sagst doch immer, es gibt keine Bessere als mich. Ich spreche außerdem Russisch, verstehe die Mentalität. Das bietet dir niemand sonst.«

Popow wiegte den Kopf. »Werde ich finden jemanden. Gibt viele russische Studenten von Architektur, die warten auf diese Chance. Da machst du dir keine Sorgen. Niemand ist unersetzlich.«

Es tat weh, das aus seinem Mund zu hören.

»Jetzt du kannst dich voll konzentrieren darauf, dass du wirst schwanger, Sina.« Er erhob sich. »Ich wünsche dir dabei viel Glück.«

Überrascht sah ich ihn an. Wieso wusste er von meinen Plänen? Hatte Nils ihm davon erzählt? Oder hatte er mitbekommen, dass ich gelegentlich vom Laden aus auf Kinderwunschforen surfte?

Als die Tür hinter meinem Chef ins Schloss fiel, legte ich die Hände vors Gesicht, starrte auf den Boden zu meinen Füßen und kämpfte mit den Tränen. Dann machte ich es wie Papa und ging an den Kühlschrank, griff nach der Flasche Wodka und nahm zwei große Schlucke. Und noch einen.

Jetzt war auch schon alles egal.

4

Als sich alles um mich herum zu drehen begann, stellte ich die Flasche ab. Ich musste sofort mit Milla reden. Normalerweise telefonierten wir mehrmals pro Woche oder wir trafen uns. Nur war jetzt in der Vorweihnachtszeit bei ihr im Café so viel los, dass sie kaum Zeit für ein Schwätzchen fand. Am besten ich fuhr gleich zu ihr. Sie würde mich in den Arm nehmen und mir solange gut zureden, bis es mir besser ging. Umgekehrt machte ich es immer genauso.

Milla betrieb zusammen mit ihrem Mann Jochen im Frankfurter Stadtteil Bornheim eine Konditorei, die ich für sie im Stil der Fünfzigerjahre eingerichtet hatte. Oft schaute ich zwischen Terminen bei ihr vorbei und wir tranken einen Kaffee oder Tee, ich knabberte ein paar ihrer selbstgebackenen Ingwer- und Orangenplätzchen oder kostete von Jochens leckeren Torten. Zum Hausangebot gehörte ein eigens für ihr Café kreierter Teller mit einer Kuchenauswahl in Sushigröße, sodass man viele ihrer Erzeugnisse probieren konnte. Auch die köstlichen Tees aus aller Welt, die Milla in verschiedenen Samowaren zubereitete, waren ein Alleinstellungsmerkmal in Frankfurt.

Ein Samowar ist ein russischer Teekocher. Er besteht aus zwei Teilen. Im unteren Teil wird Wasser gekocht und dann den ganzen Tag auf gleichbleibender Temperatur warmgehalten. In der eigentlichen Teekanne, die obenauf sitzt und vom heißen Kessel gewärmt wird, befindet sich Teesud, mit dem man seine Tasse zu etwa einem Drittel befüllen und anschließend mit dem Wasser aus dem Kessel aufgießen kann. Auf diese Weise kann man viele Portionen zubereiten und den ganzen Tag frischen Tee genießen.

Manchmal riefen Milla und ich, wenn ich bei ihr im Café war, gemeinsam bei Mama und Papa in Moskau an. Die Wohnung meiner Eltern in Offenbach stand seit ihrer Rückkehr in die Heimat leer. Die Miete war günstig, und meine Eltern wussten nicht, ob sie nicht doch eines Tages wieder öfter als nur zu Weihnachten hier sein würden. Milla und ich sahen in der Wohnung alle paar Monate nach dem Rechten. Wenn mich mein Gefühl nicht trog, waren wir lange nicht dort gewesen.

Milla und ich verstehen uns blind. Wir gleichen einander wie das berühmte Ei dem anderen, allerdings kleiden wir uns unterschiedlich. Während sie Kleider der Vierziger, Fünfziger und Sechziger liebt – Etuikleider, Petticoats und schlichte Jerseykleider –, bevorzuge ich den American-Countrygirl-Look: Jeans mit Nietengürtel, Stiefel, Hemdblusen, dann und wann ein langer Blümchenrock. Ich schminke mich gern, trage das braune, überschulterlange Haar offen, während Milla ihres früher am liebsten in einer hübschen Flechtfrisur unter Kontrolle hielt. Vor einiger Zeit hatte sie es sich kürzer schneiden lassen und föhnte sich meist im Stil der Fünfzigerjahre eine hübsche Welle hinein. Ihr liebstes Hobby war das Häkeln. Nichts war vor ihr sicher. Milla häkelte sogar Deckeldeckchen für Marmeladengläser.

Man würde uns nicht für Schwestern halten, hätten wir nicht – zumindest für Außenstehende – nahezu identische Gesichter, Stimmen und Gesten. Wir haben die ausdrucksstarken dunklen Augen unseres Vaters geerbt. Viele halten uns eher für Italienerinnen als für Russinnen.

Früher machten wir uns natürlich einen Spaß daraus, uns für die andere auszugeben. Doch inzwischen würde uns das keiner mehr abnehmen. Nicht nur unser Kleidungsstil war nicht zu verwechseln, auch unsere Figuren hatten sich im Laufe der Jahre verändert. Während ich immer noch so schlank wie mit Anfang zwanzig war, hatte sich Milla Rundungen zugelegt. Sie war nicht dick, auf keinen Fall. Aber sie hatte sicherlich eine Körbchengröße mehr als ich.

Eines jedoch war unverändert geblieben: Wenn es der einen nicht gut ging, spürte es die andere.

Kaum saß ich im Auto, traf eine Nachricht von ihr ein. Was machst du? <3

Bin auf dem Weg zu dir, schrieb ich zurück und schickte ein Smiley hinterher. Der Gedanke an Milla brachte mich wieder ein klein wenig zum Lächeln.

Den Mini hatte mir Popow als Geschäftswagen zur Verfügung gestellt, und bis er und Tatjana sich wieder beruhigt hatten, würde er hoffentlich nichts dagegen haben, wenn ich ihn weiter benutzte. Kurz erinnerte ich mich daran, dass ich ja vorhin einiges an Wodka getrunken hatte, und ich horchte in mich hinein. Aber nein. Alles in Ordnung. Ich fühlte mich völlig fahrtauglich.

Inzwischen hatte sich der düstere Himmel gelichtet, und die Sonne spitzte durch die Wolken. Es war knapp unter null, eine ideale Temperatur für ein wenig Schnee.

Es wäre so schön, wenn es schneien würde. Ich liebte Winterlandschaften wie aus dem Bilderbuch. So wie im letzten Winter. Da waren wir – Milla und Jochen, Johanna und Rahul sowie Nils und ich – ein paar Mal im Taunus durch den verschneiten Wald spaziert und anschließend in einem romantischen Restaurant eingekehrt. Johanna war bereits schwanger gewesen und wir hatten gemeinsam davon geträumt, dass unsere Kinder zusammen aufwachsen würden. Aber nun hatte nur sie ihren kleinen Oskar. Außerdem war ich seit heute nicht nur nicht schwanger, sondern stand auch noch ohne Job da. Mir kamen schon wieder die Tränen.

Energisch wischte ich mir über die Augen. Selbstmitleid brachte mich keinen Schritt weiter. Nicht Jammern war die Devise, sondern Handeln. Genau! Ich könnte zum Beispiel bei der Reinigung und dem Rewe-Markt nachfragen, ob dort jemand die Matroschka abgegeben hatte. Möglicherweise war sie noch heil, und alles wurde wieder gut. Ich wollte meinen Job behalten, unbedingt, aber ohne dass Oleg Tatjana und all die anderen wohlhabenden Russinnen als Kundinnen verlor.

Ich fuhr gleich schneller, als mir all die Pläne in den Sinn kamen, die ich noch verwirklichen wollte. Die Kuhfelle! Indische Kühe, deren Farbe so anders war als die unserer Rinder. Die hatte ich Tatjana noch zeigen wollen. Oder die margeritengelb schimmernden Gardinen, die ich fürs Babyzimmer ihrer Schwester vorschlagen wollte. Wir hatten schon so viel Blau an den Wänden: Dunkelblaues Meer, hellblauer Himmel, Piratenschiff mit blauem Segel – die gelben Vorhänge würden sich fantastisch vor den Fenstern machen. Sie durfte mich einfach nicht feuern!

Langsam wich die Trauer der Wut. Ich hasste es, wenn die Leute mich nicht einmal anhören wollten.

Schwungvoll bog ich vom Ring in den Sandweg ein und drückte aufs Gas. In meinem Kopf schwirrten neue Einfälle für die Wohnung wie Wespen herum. Da tauchte von rechts ein Lieferwagen auf. Ich sah die rote Kühlerhaube neben mir aufragen, stieg augenblicklich auf die Bremse – doch hier hatte die Sonne den Bodenfrost noch nicht geschmolzen – und der Mini rutschte auf den Lieferwagen zu, ich schlug die Hände vors Gesicht, und es krachte. Mit einem Knall platzten die beiden Airbags. In meinen Ohren pfiff es und mir wurde für eine Sekunde schwarz vor Augen. Mein Herz raste wie noch nie.

Wie hatte mir das nur passieren können? Ich fuhr mir durch die Haare. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf von einer Seite zur anderen. Ich konnte ihn noch bewegen. Glück gehabt. Zaghaft öffnete ich die Augen und sah grün. Vor meiner Windschutzscheibe war alles grün und stachlig. Langsam begriff ich: Das waren Weihnachtsbäume! Auf der Motorhaube stapelten sich Weihnachtsbäume. So eine verdammte …

»Junge Frau, ist Ihnen was passiert?« Der Fahrer war aus seinem Wagen gesprungen und pochte nun an meine Scheibe.

Hinter uns hupten die ersten Autos.

Er riss die Fahrertür auf und berührte mich an der Schulter. »Gott sei Dank, Sie sind unverletzt. Na, na, wer wird denn da weinen? Ist doch nur Blech.«

»Das sagen Sie«, schniefte ich und drückte auf meine Ohren, damit der Pfeifton aufhörte. Der Wagen war Popows Eigentum. Warum hatte ich nicht den Bus genommen? Jetzt war der Mini Schrott und ich würde Oleg informieren müssen genauso wie die Polizei.

»Fahren Sie doch mal an die Seite, Sie blockieren ja den ganzen Verkehr!«, rief jemand von hinten.

Der Fahrer des Lieferwagens machte eine beruhigende Handbewegung in Richtung der wartenden Autos und zeigte auf die Weihnachtsbäume, die auf, neben und unter meinem Mini lagen.

Beherzt griff er sich einen nach dem anderen und warf sie zurück auf die Ladefläche, verschloss die Klappe und gab mir ein Zeichen, dass ich zurückstoßen sollte.

Machte man nicht Fotos für die Beweisaufnahme? Na, er wusste hoffentlich, was er tat. Der Motor des Minis lief noch, und ich setzte zurück. Meine Knie zitterten. Es knirschte entsetzlich, als das Blech meines Autos wieder unter der Laderampe hervorgezogen wurde. Das Nummernschild segelte scheppernd zu Boden. Ich quetschte den Wagen in eine Lücke zwischen zwei Autos am Straßenrand, der Fahrer des Lieferwagens fuhr rückwärts in die Straße, aus der er gekommen war. Kurz darauf war er wieder bei mir und rief die Polizei an.

5

Du musstest in ein Röhrchen pusten und dir Blut abnehmen lassen?«, fragte Milla fassungslos, als ich drei Stunden später bei ihr in der Konditorei an einem Tisch saß und die Hände an einer Tasse heißer Schokolade wärmte. Meine Schwester trug eines ihrer Etuikleider und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Zum Glück hatte ich gar nicht so viel Promille. Das liegt wahrscheinlich am russischen Blut in meinen Adern«, scherzte ich, obwohl mir nicht danach zumute war. Oder am Müsli, das ich vorher gegessen hatte. Nachdem ich die Versicherung informiert hatte, war das Auto in die nächste Werkstatt gebracht worden. Natürlich hätte ich sofort Popow über den Unfall informieren sollen, aber dazu fehlte mir der Mut.

Ich knallte die Tasse auf den Tisch. »An allem ist nur Oleg schuld! Oder noch eher Tatjana, diese verwöhnte Kuh! Was stellt sie sich so an wegen einer Matroschka? Hätte sie mich das Püppchen ansehen lassen, wäre das alles nicht passiert. Sie hat den ganzen Schneeball erst ins Rollen gebracht!«

»Du klingst wie früher, Schwesterherz.« Milla schürzte belustigt die Lippen. »Du hättest auch akzeptieren können, dass sie es dir nicht zeigen wollte. Und dann die Finger davon lassen.«

»Aber du weißt doch, wie ich bin! Du sagst selbst immer, ich wäre wie ein Trüffelschwein, wenn es um schöne Dinge geht. Ich muss sie berühren und ergründen. Vor allem bei den Matroschkas. Da muss ich wissen, wie sie aufgebaut sind, welche Farben und Muster als nächstes zu sehen sind.« Ich warf meine Hände in die Luft. »Das ist doch verständlich! Bist du nie neugierig?«

»Curiosity kills the cat«, antwortete meine Schwester lakonisch und hob bedauernd die Schultern. Dann setzte sie sich zu mir auf die Bank, legte den Arm um mich und drückte mich an sich. »Ich bin mir sicher, dass alle sich beruhigen werden. Solange Tatjana oder ihre Schwester keine Juwelen oder Drogen in der Puppe versteckt haben, deren Fehlen sie jetzt in die Pleite stürzen, wird sie sich schon wieder einkriegen.«

Entsetzt sah ich meine Schwester an, doch sie lachte. »Ich mach nur Spaß.«

In diesem Moment zog es wieder in meinem Unterleib und ich klagte: »Zu allem Unglück bin ich auch diesen Monat nicht schwanger geworden. Dabei standen alle Zeichen so gut. Ich war mir diesmal so sicher, Milla!«

Meine Schwester wischte ein unsichtbares Staubkorn vom Tisch. »Bald wird es klappen, du wirst sehen, ganz bestimmt.«

»Hauptsache, du drängelst nicht vor«, versuchte ich mich an einem Witz, um meine Trauer zu überspielen.

Milla und Jochen wollten noch keine Kinder. Sie hatten bei unserer Doppelhochzeit vor zweieinhalb Jahren gesagt, dass sie damit warten wollten. Ihnen wäre es zu riskant gewesen, gleichzeitig die Konditorei zu eröffnen und eine Familie zu gründen.

Milla war noch immer mit der Sauberkeit ihres glänzenden Tischs beschäftigt. »Was sagt denn eigentlich Nils zu Popows Maßnahme? Die beiden kennen sich gut, arbeiten eng zusammen. Vielleicht kann er mit ihm reden?«

»Davor bangt es mir doch am meisten«, rief ich aus. »Nils wird so sauer sein. Und enttäuscht. Nicht nur wegen der Sache mit der Matroschka, sondern auch wegen dem Unfall. Wenn der wenigstens nicht auch noch passiert wäre.« Ich schluckte. »Dabei läuft es zwischen uns beiden schon die ganze Zeit total mies.«

»Vielleicht solltet ihr mal ein Wochenende wegfahren«, schlug Milla vor.

Wahrscheinlich war das keine schlechte Idee, besonders hinsichtlich meiner Pläne, unsere Ehe zu retten. Ob Nils sich loseisen konnte? Schließlich war nur ich arbeitslos.

Das Vibrieren meines Handys riss mich aus meinen Gedanken.

Milla erhob sich von ihrem Platz und begrüßte hereinkommende Gäste. Ich fischte mein Smartphone aus den Tiefen meiner Handtasche. Auf dem Display lachte mir Nils’ Konterfei entgegen. Normalerweise schrieb er mir lediglich Textnachrichten, mein Mann war kein großer Telefonierer. Es sei denn, es brannte.

»Hallo Schatz«, meldete ich mich zögernd. »Was gibt’s?«

»Du fragst mich, was es gibt, ist das dein Ernst?« Er stieß einen unfrohen Lacher aus. »Wo steckst du denn?«

»Bei Milla«, sagte ich. »Hat Popow dich etwa –.«

»Du bist zu Milla gefahren, anstatt mich mal kurz darüber zu informieren, dass du fristlos gekündigt wurdest? Wann hättest du mir das denn sagen wollen?«

Schon wieder stiegen mir Tränen in die Augen. »Ich wollte einfach nur zu ihr. Natürlich hätte ich mich bei dir gemeldet.«

»Und jetzt sitzt du da seit wie vielen Stunden rum, statt dich um diese Figur zu kümmern?« Seine Stimme klang ätzend. »Du musst diese Matroschka besorgen, Sina. Popow hat mich vom Projekt abgezogen, weil Tatjana ihm Druck macht. Weißt du, was das für mich bedeutet? Es kann passieren, dass meine ganze Vorarbeit über den Haufen geworfen wird, wenn ein anderer das anpackt. Popow weiß das, aber ihm sind die Hände gebunden. Meint er. Ich weiß nicht, was ich von dem Ganzen halten soll, mir erscheint es überzogen, aber er sitzt nun mal am längeren Hebel.«

Mein Herz rutschte mir immer tiefer in die Hose. Das mit dem Auto hatte ich ihm ja noch nicht mal gesagt. Am besten ich brachte es gleich hinter mich, sonst warf er mir das nachher nur vor. »Da ist noch etwas, das du wissen musst, Nils«, begann ich weinerlich.

»Hast du etwa wieder im großen Stil geklaut, Sina? Ich fasse es nicht, wie kannst du nur!?«

»Nein, habe ich nicht!«, rief ich beherrscht. »Und auch die Matroschka habe ich nicht gestohlen, ich habe sie lediglich«, ich suchte nach Worten, »ausgeborgt. Und dann habe ich sie verloren. Ich weiß nicht, wo sie ist! Nach Popows Kündigung wollte ich sofort zu Milla, aber ich war so aufgeregt, und dann, und dann …«

»Und dann …?« Nils klang resigniert, als ahnte er bereits, was ich ihm sagen wollte.

»Der Mini ist kaputt«, hauchte ich.

Mein Mann schwieg. Dann tat er etwas, das er noch nie getan hatte: Er legte einfach auf.

Als Milla zurückkam und zu mir in die Bank rutschte, lagen drei vollgeweinte Papiertaschentücher in meinem Schoß.

»So geht es nicht weiter, Sina.« Meine Schwester streichelte mir über die Wange. »Ich wollte dir das schon so lange sagen, aber ich habe gedacht, es geht mich nichts an. Du hast auch den Eindruck gemacht, dass dir zumindest dein Job gefällt. Aber wenn du mich fragst, brauchst du eine Auszeit von der Arbeit und deinem Kinderwunsch. Schau mal, Nils verdient doch genug. Ihr kommt auch eine Weile ohne dein Gehalt über die Runden. Vielleicht machst du was Ehrenamtliches, tust was Gutes, kümmerst dich um andere. Ich habe das Gefühl, du lebst in dieser russischen Blase und weißt gar nicht mehr, was andere Menschen bewegt. Diese Tatjana hat dir ohnehin nicht gutgetan mit ihrem Gold hinten, Gold vorne. Sei froh, dass du sie los bist. Und Popow ist auch nicht besser. Er behandelt dich wie seine Leibeigene. Und sobald es schwierig wird, lässt er dich fallen. Statt zu dir zu stehen, feuert er dich. Das geht gar nicht.«

Sie hatte ja recht. Mit allem. Aber noch viel schlimmer war, dass Popow Nils von den Projekten abgezogen hatte. Sein Boss im Bauunternehmen war garantiert nicht begeistert, wenn er davon hörte. Vielleicht wusste er es sogar schon und machte Nils zusätzlichen Druck.

Leise berichtete ich meiner Schwester, was geschehen war. »Dieser Mann spinnt doch.« Sie tippte sich ungläubig an die Stirn. »Ich hoffe nur, dass Nils das genauso sieht.«

Der Knoten in meinem Bauch sagte mir etwas anderes. Wenn jemand Nils beruflich in die Quere kam, kannte mein Mann kein Pardon. Man konnte mir vorwerfen, dass ich die Babyplanung zu akribisch verfolgte. Aber Nils war bei seinen Bauprojekten nicht anders. Zu mir sagte er, ich sollte loslassen, aber er selbst ließ nie los. Er war ein strenger Projektleiter, der seinen Mitarbeitern unerbittlich auf die Finger schaute. Er war geachtet und gefürchtet. Ich hatte seinen Ruf ruiniert, meinetwegen zog Popow ihn vom Projekt ab. Ob mein Mann mir das würde verzeihen können? Ich war mir nicht sicher. In der Branche würde diese Degradierung sofort die Runde machen, und keiner würde glauben, dass es daran liegen könnte, dass ich ein Holzpüppchen verloren hatte.

Ich legte mein Gesicht in die Hände. Wie sollte ich meinem Mann unter die Augen treten? Diese Sache würde er mir ewig vorwerfen. Es sei denn, ich beschaffte die Matroschka. Angenommen, sie war nicht vom Autodach gerutscht. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass ich sie woanders gelassen hatte. Erst einmal sollte ich also beim Rewe anrufen und fragen, ob dort eine traditionelle russische Holzfigur abgegeben worden war.

»Was ist?«, fragte meine Schwester, die noch immer neben mir saß. Zärtlich strich sie mir über den Arm. In Gedanken ging ich die Plätze durch, die ich an jenem Tag aufgesucht hatte.

»Rewe, Reinigung, Apotheke«, sprach ich vor mich hin und gab die Begriffe in mein Handy ein. Außerdem war ich bei H&M gewesen, hier bei meiner Schwester und bei Johanna. Ich sah auf. »Könntest du mit Sicherheit sagen, wo du in den letzten drei Wochen überall warst?«

Milla lachte und zählte an den Fingern auf. »Hier im Café, auf der Bank, beim Einkaufen, beim Arzt …«

»Bei welchem Arzt?«, fragte ich. »Fehlt dir was?«

»Nichts Schlimmes«, murmelte sie, tippte auf ihre Zähne und grinste mich an. »Zahnreinigung.«

Ich hob die Schultern. »Jedenfalls ist dein Radius kleiner.«

In diesem Augenblick fiel mir ein, dass ich zwischendurch auch in Wiesbaden gewesen war. Eine Freundin von Tatjana und ich hatten uns zum Kaffee getroffen. Ich erinnerte mich nicht einmal an den Namen des Lokals. Diese Freundin, Ekaterina, hatte aber weniger über die Ausstattung ihres Hauses als über Tatjana reden wollen. Ob mir an ihr ›etwas Verdächtiges‹ aufgefallen sei.

Wahrscheinlich spielte sie auf die Vierzimmerwohnung für Tatjanas Schwester an, aber ich hatte Tatjana mein Wort geben müssen, dass von dieser Wohnung niemand etwas erfahren dürfte. Russen sind große Geheimniskrämer. Wer kein Geheimnis hat, ist bedeutungslos. Und wer eines verrät, wird geächtet. Ich wollte mit ihren ganzen Machenschaften nichts zu tun haben und hatte mich bald verabschiedet.

Entmutigt ließ ich die Schultern sinken. Es gab so viele Orte, an denen die Figur sein konnte.

Milla sah mich aufmunternd an. »Ruf einfach überall an. Vielleicht hast du ja Erfolg. Und das ein oder andere fällt dir sicher noch ein.« Sie stand wieder vom Tisch auf, um sich um ihre Gäste zu kümmern. Die meisten waren Stammgäste und kannten mich.

Der Anblick von uns Zwillingsschwestern fasziniert viele Menschen. Manche Leute fragten uns, ob es stimmte, dass wir den Schmerz der anderen spürten, wenn diese krank war. Tatsächlich hatte sich Milla als Kind den Arm gebrochen und mir hatte sofort mein eigener Arm wehgetan. Ebenso war es uns schon mit Beulen gegangen oder einem verstauchten Fuß. Die Windpocken hatten wir gleichzeitig gehabt genauso wie unsere erste Periode. Auch unser Zyklus pendelte sich immer wieder gleich ein. Milla und ich waren wie ein Uhrwerk aufeinander abgestimmt.

Während ich erfolglos die Orte auf meiner Liste abtelefonierte, wurde mir mein Herz immer schwerer. Bei Rewe auf dem Parkplatz hatte niemand etwas gefunden. Genauso wenig in der Apotheke, in der Reinigung und bei H&M. Das Ding war weg, so viel stand fest. Schon der Gedanke, am Abend Nils gegenüberzutreten, verursachte mir Übelkeit. Die Vorstellung, in sein enttäuschtes Gesicht schauen zu müssen, war grauenhaft.

Vielleicht sollten Nils und ich einfach alles hinter uns lassen und von hier abhauen. War seine ersehnte Weltreise die Lösung all unserer Probleme? Beziehungsweise für mich das kleinere Übel? Aber selbst wenn ich mich dazu überwinden könnte, in den wanzenverseuchten Betten der weiten Welt zu schlafen, funktionierte das nicht. Eine Weltreise verlangte Planung. Außerdem kamen bald Mama und Papa aus Russland, um mit uns Weihnachten zu feiern. Die beiden wollte ich auf keinen Fall verpassen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich mir bis dahin fast einen ganzen Monat lang die Zeit vertreiben sollte. In unserer perfekt eingerichteten Wohnung hatte ich nichts zu tun.

Ich würde die ganze Zeit nur darüber nachdenken, wie ich ein Baby bekommen könnte und warum es bis jetzt noch nicht geklappt hatte. Langsam, aber sicher würde ich verrückt werden. Nils dagegen würde andere Projekte zugeteilt bekommen. Und den Rest der Zeit wäre ich seinem Zorn ausgeliefert.

6

Um kurz vor zwei kehrte ich nach Hause zurück. Als ich unsere Wohnungstür öffnete, roch ich Zigarettenrauch. Normalerweise war mein Mann nie vor halb acht zu Hause, genauso wenig wie ich. Das Rauchen hatte er vor zwei Jahren aufgegeben, als wir beide beschlossen hatten, ein Kind zu zeugen. Nach dem Desaster am Morgen schien dieser Traum endgültig zerplatzt. Was war nur mit uns passiert?

Ich schlüpfte aus den Schuhen, hängte Jacke und Mütze an die Garderobe und betrat das Wohnzimmer. Als ich Nils sah, blieb ich ängstlich stehen.

Er lehnte an der halbgeöffneten Balkontür und blies Zigarettenrauch in die eiskalte Novemberluft. Er hielt das Handy am Ohr und fuchtelte mit der Zigarette in der Luft herum.

»… kann aber so nicht weitermachen, Johanna«, vernahm ich seine Stimme. »Angenommen ich bleibe hier – wie soll das werden? Ich drehe durch bei dem Gedanken, dass es den ganzen Tag kein anderes Thema geben wird als ein Baby. Noch mehr als je zuvor.« Er nahm einen Zug. »Sie steht kurz vorm Eisprung und hat die Taktik geändert. Anscheinend soll jetzt ich die Initiative für Sex ergreifen – was vorher immer sie gemacht hat –, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, es geht nicht!« Er fasste sich an die Brust. »Sie hat sogar so getan, als hätte sie Interesse an einer Weltreise, um mich damit zu ködern. Als ob! Irgendwann flippe ich noch aus!«

Johanna war nicht nur meine, sondern auch Nils’ beste Freundin. Wir hatten uns auf ihrem Geburtstag kennengelernt, und es funkte sofort zwischen uns. Johanna hatte mir davor erzählt, dass ihr alter Freund Nils seit jeher ein Faible für Frauen mit osteuropäischem Akzent hatte. An diesem Geburtstag bot ich ihm mein gesamtes Repertoire aus Schlafzimmerblick und sowjetischem Gemurmel, und es war um ihn geschehen.

Als ich dann bei unserem ersten Date akzentlos redete, blickte er zuerst enttäuscht drein. So kam es mir wenigstens vor. Deshalb hielt ich es am Anfang unserer Beziehung für angebracht, öfters eine Showeinlage der naiven russischen Immigrantin für ihn hinzulegen. Zu meiner Erleichterung schlief dieses Spielchen irgendwann wieder ein.

Jedenfalls war es legitim, dass er mit Johanna über seine Probleme sprach; ich hatte ja auch mit Milla geredet. Ich verstand ihn sogar. Ich hielt es ja auch nicht mehr mit mir aus. Ich verursachte nur Probleme. War ständig auf Hilfe angewiesen. Verlor einen Job nach dem anderen, weil ich Sachen mitgehen ließ. Trank am frühen Morgen Wodka und fuhr Autos zu Schrott, die mir nicht gehörten.

Nils schüttelte den Kopf und nahm wieder einen tiefen Zug von der Zigarette, hustete leise. »Das habe ich ja auch gar nicht vor, aber ich kann unmöglich heute Abend oder morgen früh mit ihr hier sein. Ich hab Angst, dass ich Sachen sagen werde, die ich hinterher bereue. Dass Popow mich von den Projekten abgezogen hat … ich meine … Johanna, das läuft so einfach nicht. Verstehst du das?«

Er lauschte konzentriert Johannas Entgegnung und trat seine Zigarette auf den Balkonfliesen aus. »Zur Not gehe ich in ein Hotel.«

Fassungslos starrte ich auf seinen Rücken.

»Natürlich nicht für immer, aber ich brauche mal eine Auszeit, keine Ahnung für wie lange.« Er schlug mit der flachen Hand an den Türrahmen. »Nein«, schnauzte er. »Es renkt sich überhaupt nichts ganz schnell ein. Allein, wenn ich an Weihnachten und Silvester denke! Es wird wieder losgehen mit dem Thema, ob wir nächstes Jahr um diese Zeit zu dritt sein werden. Sie verpackt jedes Jahr ein Geschenk für unser ungeborenes Kind. Das ist doch bekloppt!«

Still wandte ich mich ab und tappte ins Schlafzimmer, schloss die Tür hinter mir und ließ mich aufs Bett fallen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739433127
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Liebesromane Romantische Weihnachtsroman Frauenliteratur Winterroman Frauenroman Komödie Humor Weihnachtsgeschichte

Autor

  • Stina Jensen (Autor:in)

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm. Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.
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Titel: Misteln, Schnee und Winterwunder