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Erkül Bwaroo auf der Fabelinsel

von Ruth M. Fuchs (Autor:in)
248 Seiten
Reihe: Erkül Bwaroo ermittelt, Band 2

Zusammenfassung

Der Fall der Sieben Geißlein ist ganz anders, als es das Märchen vermuten lässt. Es ist ein spannender Krimi in bester Agatha Christie-Manier. Graf Alexander von und zu Saragessa ist der Regent einer Insel, die vor allem von Fabelwesen bewohnt wird. Als zwei Geißenmädchen ermordet werden, spricht alles dafür, dass der einzige auf der Insel lebende Wolf der Mörder ist. Doch Alexander von und zu Saragessa ist sich da nicht so sicher und bittet Erkül Bwaroo um Hilfe. Der Elfendetektiv wappnet sich also gegen seine Seekrankheit und reist auf die Insel. Schnell muss er erkennen, dass Fabelwesen so ihre Eigenheiten haben. Und das Morden ist noch nicht zu Ende. Auch in seinem zweiten Fall steht dem Elfen mit dem stattlichen Schnurrbart und dem belgischen Akzent sein unerschütterlicher Diener Orges zur Seite. Allerdings wird der von den amourösen Absichten einer Katzenfrau etwas abgelenkt. Und welche Rolle spielt Bernard Fokke, den man auch den Fliegenden Holländer nennt?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Bwaroo sticht in See

Erkül Bwaroo stand an der Reling und blickte gequält in die Gischt. Obwohl die Sonne schien, hatte er drei Seidenschals um den Hals geschlungen und trug außerdem noch einen Mantel. Ja, gegen die Gefahr eines Schnupfens hatte er alles unternommen, aber was konnte man schon gegen die Seekrankheit tun? Der Elf fühlte sich überhaupt nicht wohl. Da half es auch nicht, einfach nicht daran zu denken, wie ihm sein Diener Orges geraten hatte. Erkül Bwaroo wusste, dass er seekrank wurde, sobald er auch nur einen Fuß auf ein Schiff setzte. Und genau so geschah es auch.

„Sieh mal“, hörte er da eine hohe, fast schon schneidende Frauenstimme ein Stück neben sich, „dieses helle Grün ist genau die Farbe, die mein neues Abendkleid haben soll!“

„Welches helle Grün?“ fragte jemand neben ihr, der offenbar ihr Mann war.

„Na, wie das Gesicht dieses Elfen da! Das ist genau die Farbe.“

Unwillig wandte Bwaroo den Kopf in Richtung der Stimme und gewahrte eine pummelige Frau mittleren Alters, die mit dem Finger auf ihn wies. Ihr Gatte neben ihr fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Ob es daran lag, dass seine Frau ein neues Kleid haben wollte oder weil ihm ihre Unhöflichkeit peinlich war, ließ sich unmöglich sagen.

„Ja, Liebling“, presste er schließlich hervor und wandte sich in die andere Richtung, um zu gehen. Aber seine Frau war noch nicht fertig: „Komischer kleiner Kerl“, sie sprach nun nur noch halblaut, doch Bwaroo hatte ausgezeichnete Ohren und verstand jedes Wort. „Guck mal, für einen Elfen ist er aber ziemlich klein. Das ist doch ein Elf oder? Mit einem Kopf wie ein Ei. Vielleicht ist er ja auch ein Mischling. Und er muss kugelrund sein. Obwohl man das ja nicht genau sagen kann, so eingemummelt wie er ist. Bei diesem herrlichen Wetter! Meinst du, der Schnurrbart ist echt?“

Bien sûr, Madame“, wandte Erkül Bwaroo sich da direkt an sie. „Selbstverständlich ist mein Schnurrbart echt. Wie alles andere übrigens auch, einschließlich meiner Anfälligkeit für Zugluft.“

Wenn er die Absicht gehabt hatte, die Dame in Verlegenheit zu bringen, hatte er keinen Erfolg. Sie lächelte und nickte. Nur widerstrebend ließ sie sich von ihrem Mann wegführen, der zunehmend beschämt schon eine geraume Weile an ihrem Ärmel zupfte.

Der seekranke Elf nahm derweil genau in der Mitte der Bank Platz, die sich vor der Brücke des Postschiffs befand. Dort, so würde er jedem erklärt haben, der ihn danach gefragt hätte, schlingerte das Boot am wenigsten. Wobei man sagen muss, dass das Boot ohnehin nicht schlingerte, denn die See war spiegelglatt und völlig ruhig. Und Bwaroo benahm sich, als würden sie das Meer bei einem Sturm mit Windstärke 7 befahren. Dass ihn das vielleicht lächerlich erscheinen ließ, war ihm, das muss man bewundernd anmerken, völlig egal.

Erkül Bwaroo zupfte seine Seidenschals zurecht und dachte daran, wie er nur in die missliche Situation hatte geraten können, mit diesem Schiff auf dem Meer zu reisen.

Es war nun vier Tage her, dass ihn eine Winddepesche erreicht hatte. Solche Depeschen waren die neueste Mode. Man fing dazu auf magische Art einen Windhauch ein, der dann einen Brief durch die Luft transportierte. Das ging wesentlich schneller als jeder Botendienst und war inzwischen auch für Nichtzauberer nutzbar. Die verschiedenen Vereinigungen der Berufsboten hatten anfangs protestiert und ein Verbot dieser Windnutzung gefordert – mit der Begründung, es handele sich hier um nicht vertretbare Luftbewegungsquälerei. Jedoch stellte sich schnell heraus, dass so ein Wind nicht mehr als ein einzelnes Blatt tragen konnte und dass es sich insgesamt um einen Luxus handelte, den sich nur wirklich betuchte Menschen leisten konnten. Die Botendienste waren überhaupt nicht gefährdet und prompt verebbte auch die Besorgnis um das Wohlbefinden der Winde.

Der Absender der Depesche an den Elfendetektiv war in der Tat reich genug, sich haufenweise Winddepeschen leisten zu können: Graf Alexander von und zu Saragessa, Hochwohlgeboren und gewählter Regent der Insel Saragessa im Jaspischen Meer bat um einen Termin bei Erkül Bwaroo.

Als der Graf tags darauf das Büro des Elfendetektivs betrat, wirkte der eigentlich geräumige Raum plötzlich klein. Der Besucher war aber auch eine sehr stattliche Erscheinung, obwohl er seine Flügel eng angelegt hatte und den Kopf gesenkt hielt. Er versuchte gar nicht erst, auf einem der Stühle Platz zu nehmen.

Erkül Bwaroo blieb deshalb ebenfalls stehen und betrachtete Alexander von und zu Saragessa mit kaum verhohlener Neugier. Denn obwohl er bereits mit den ungewöhnlichsten Fällen und bizarrsten Orten und Wesen zu tun gehabt hatte, war er bisher noch nie einem Greifen begegnet. Und dieser hier war fürwahr ein Prachtexemplar seiner Spezies. Der Rumpf des Greifen ähnelte dem eines Löwen, der Vorderleib samt Flügeln und Kopf dem eines Adlers. Allerdings hatte er keine Vogelkrallen, sondern Hände ähnlich denen eines Menschen. Federn und Fell waren im gleichen Goldton gehalten, doch um den Hals war ein Ring aus Federn in tiefstem Blau. Auch die großen Ohren hatten an ihren Spitzen einige Federchen in dieser Farbe. Der Elf erinnerte sich daran, dass ein Greif, wie es hieß, ein Pferd mitsamt Wagen emporheben und wegtragen konnte. Das erschien ihm nun gar nicht mehr so unglaublich.

„Sie sind Erkül Bwaroo, der Detektiv?“ eröffnete der Graf das Gespräch.

A votre service“, der Elf verneigte sich. „Womit kann ich Ihnen dienen, Graf Saragessa?“

Statt einer Antwort fragte der Greif: „Sie kennen Saragessa?“

„Ich war noch nie persönlich dort, aber natürlich kenne ich die dortigen Verhältnisse“, nickte Bwaroo.

„Gut. Dann wissen Sie auch, dass die Insel einst meinem Urgroßvater gehörte. In der schlimmen Zeit, als die Fabelwesen noch nicht als freie Bürger des Landes anerkannt waren, bot er sie den Verfolgten als Zuflucht an. Jetzt ist sie ein eigenständiger Staat, dessen Bewohner ihr Staatsoberhaupt frei wählen...“

„Wobei sie seit vielen Jahren immer wieder Sie wählen.“ Der Elf schmunzelte und fragte sich, ob der Graf sich immer so umständlich ausdrückte oder nur, wenn er nervös war. Denn nervös war er mit Sicherheit. So, wie sich die Federn an seinem Hals sträubten.

„Nun ja.“ Der Greif entspannte sich ein wenig.

„Das spricht doch nur für Ihre weise Regierung“, vermutete der Detektiv.

„Es ist nicht schwer, Fabelwesen glücklich zu machen“, wehrte der Graf in wohl einstudierter Bescheidenheit ab. Er schloss einen Moment die Augen, als müsste er sich selbst dazu zwingen, zum Grund seines Besuches zu kommen.

„Wir sind ein friedliches Volk, Herr Bwaroo“, begann er schließlich. „Wir liegen mit niemandem in Streit und auch untereinander leben wir in Frieden. Doch nun wird unsere kleine Welt von unvorstellbaren Verbrechen heimgesucht.“

Saragessa ist eine weitläufige Insel im Jaspischen Meer, das seinen Namen von den intensiven Rottönen hat, in denen es wegen einer besonderen Algenart schimmert, die dort überall in Ufernähe wächst. Auf der einzigen Insel inmitten dieses Meeres leben fast ausschließlich Fabelwesen. Diese sind sehr darauf bedacht, unter sich zu bleiben. So sind sie vor übereifrigen Großwildjägern sicher. Denn auch heute noch gibt es Personen, die glauben, dass Fabelwesen einfach nur Tiere sind, die zufällig sprechen können. Da es solche Jäger sowohl unter den Menschen als auch bei den Feien gibt, brauchen beide Völker gleichermaßen eine Besuchserlaubnis, um die Insel betreten zu dürfen. Die Überwachung ist streng, die Zahl der erteilten Erlaubnisse gering – was sie umso begehrter bei Touristen macht. Das wiederum hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Wirtschaft und den Wohlstand Saragessas. Natürlich befinden sich nicht sämtliche existierenden Fabelwesen auf der Insel. Da es umgekehrt keinerlei Beschränkungen gibt, leben viele auch auf dem Festland. Erkül Bwaroo hatte zum Beispiel schon einmal einem Einhorn geholfen, das in den Wäldern hinter Laundom, der Heimatstadt des Elfen lebte, und seine Jungfrau verloren hatte. Außerdem war er gut mit einem Drachen befreundet, den er hin und wieder gerne zu einem gemütlichen Grillabend besuchte.

„Ein brutaler Mörder auf Saragessa? Erzählen Sie mir mehr“, bat der Elf nun den Greifen, der ihn völlig verblüfft anschaute.

„Woher wissen Sie?“ brachte er endlich heraus und raschelte unbehaglich mit den Flügeln.

Erkül Bwaroo zuckte die Schultern: „Sie haben in der Mehrzahl gesprochen. Und wenn es unvorstellbare Verbrechen sind, kann es sich wohl kaum um simple Diebstähle oder ähnliches handeln, ja noch nicht einmal um 'einfache' Morde. Denn dergleichen hätte die zuständige Behörde vor Ort sicher selbst aufgeklärt. Voilà, was bleibt, sind mehrere Morde, und sie müssen grausam gewesen sein.“

„Das ist allerdings richtig“, gab der Graf zu. „Wenn man Ihnen so zuhört, klingt es ganz logisch.“

Zufrieden zwirbelte der Elf seinen Schnurrbart und wippte auf den Fußsohlen auf und ab. Wer ihn kannte, wusste, dass ihm ein solches Kompliment sehr gefiel. Da Alexander von und zu Saragessa dem Detektiv bisher noch nie begegnet war, blickte er etwas irritiert drein. Dann beschloss er jedoch, Bwaroos Verhalten zu ignorieren und stattdessen von den Bluttaten zu sprechen: „Die Morde geschahen vor ungefähr zwei Wochen. Zwei Geißenmädchen wurden getötet.“

„Zwei Geißenmädchen?“ Erkül Bwaroo musste zugeben, dass er mit dieser Bezeichnung nichts anfangen konnte.

„Meines Wissens gibt es nicht viele Geißenmenschen“, klärte der Graf ihn großmütig auf. „Man könnte sie auch Ziegenmenschen nennen, aber der andere Begriff hat sich eben eingebürgert... Nun, diese Wesen haben die Gestalt eines Menschen, gehen auch auf zwei Beinen, die allerdings in Ziegenhufen enden statt in Füßen und sie sind ganz und gar von weißem Ziegenfell bedeckt, haben Ziegenohren und Ziegenhörner. Die Männer tragen außerdem auch noch einen Geißbart. Man darf sie auf keinen Fall mit Satyrn, Silenen oder Faunen verwechseln, denn sie sind tatsächlich eine ganz eigene Rasse.“

„Aha“, der kleine Detektiv nickte, „und gleich zwei Mädchen dieser Rasse wurden getötet? Wie waren die genaueren Umstände?“

„Sie wurden auf einem Felsenplateau am Meer gefunden. Ihre Kehlen waren zerfetzt. Ein Wolf oder etwas in dieser Art, den Bissspuren nach zu urteilen, war über sie hergefallen.“

Erkül Bwaroo machte ein bedauerndes Gesicht: „Pauvres petites. Was für eine Familie ist das, die derart heimgesucht wird?“

„Eine ganz normale, allseits beliebte...“ Der Graf schüttelte ungehalten sein Gefieder. „Eine Geiß mit Namen Zieglinde Geißler mit sieben Kindern, äh, ursprünglich sieben Kindern. Sie ist seit drei Jahren verwitwet und arbeitet als Heilerin, da sie ein überragendes Wissen hat, was Heilpflanzen und deren medizinische Wirkung angeht. Besonders ihre Salben und Tees sind sehr gefragt. Die Kinder sind – waren – alle wohlerzogen und freundlich – als sie noch kleiner waren, nannte sie die Nachbarschaft liebevoll nur ‚Die sieben Geißlein’. Die Familie ist nicht reich, aber schuldenfrei und allgemein beliebt. Auch die beiden Mädchen waren überall gern gesehen.“

„Also keine Verdächtigen?“

„Nun ja“, der Greif wiegte den Kopf. „Wenn man nach den Spuren an den Leichen geht... Die Bissspuren gleichen, wie gesagt, denen eines Wolfes.“

„Gibt es denn auf Ihrer Insel Wölfe?“

„Nur einen.“

„Und der kann es nicht gewesen sein?“

„Nun, ja, vielleicht schon. Aber ich kann das nicht glauben!“ Eine energische Kopfbewegung unterstrich die Ablehnung des Greifen. „Wenn Sie ihn kennen würden, wüssten Sie, wovon ich spreche, aber natürlich kann ich mich irren. Wenn er jedoch tatsächlich unschuldig ist, obwohl alle Beweise auf ihn zu deuten scheinen...“ er holte tief Luft. „Ich will Gerechtigkeit und die Sicherheit, dass der Richtige bestraft wird.“

„Sie wollen deshalb, dass ich den Fall untersuche“, folgerte der Elf. „D’accord. Ich bin einverstanden.“

„Wunderbar! Wir fliegen am besten gleich zurück, und Sie können Ihr Gepäck nachschicken lassen“, freute sich Alexander von und zu Saragessa.

Erkül Bwaroo wurde blass.

„Wie meinen Sie das, Herr Graf?“ fragte er unbehaglich.

„Nun, ich nehme Sie auf meinen Rücken und wir fliegen zu meiner Insel.“ Der Greif schien das für die natürlichste Sache der Welt zu halten.

Absolument pas! Das muss ich zu meinem Bedauern entschieden ablehnen“, wehrte der Elf jedoch sofort vehement ab. „Ich werde leider luftkrank. Ich habe das Fliegen einmal mit einem befreundeten Drachen versucht... Nein, es ist leider ganz unmöglich. Ich werde das Schiff nehmen.“

„Damit verlieren wir aber Zeit“, gab der Graf zu bedenken. Doch der kleine Elfendetektiv blieb hartnäckig bei seiner Weigerung, den Rücken des Greifen zu besteigen. Schließlich hob dieser resigniert die breiten Schultern: „Nun gut, wenn Sie Schiffsreisen besser vertragen...“

„Durchaus nicht“, Bwaroo schüttelte bedauernd den Kopf. „Aber, wissen Sie, wenn einem auf einem Schiff schlecht wird, dann fällt man wenigstens nicht so tief.“

Um nach Saragessa zu gelangen, musste man das Postschiff nehmen, das regelmäßig zwischen der Insel und dem Hafen von Cadric auf dem Festland verkehrte. Bei günstiger Witterung dauerte die Fahrt zwei Tage. Neben Bwaroo und seinem Diener waren die einzigen Passagiere die beiden Menschen, deren nicht gerade salonfähige und entsprechend unwillkommene Bekanntschaft der Elf schon gemacht hatte. Der Kapitän hatte alle zusammen zu einem gemeinsamen Abendessen eingeladen. Doch Erkül Bwaroo verzichtete darauf und begab sich lieber in seine Kabine, um dort still vor sich hin zu leiden. Sein Butler Orges war in solchen Fällen auch kein Trost, da er nicht das leiseste Mitleid zeigte, sondern einfach in seiner stoischen Ruhe verharrte.

So fanden sich nur der Kapitän, der Erste Maat und das Ehepaar bei Tisch ein.

„Nun, Herr und Frau Hagedorn, wie gefällt Ihnen denn die Reise bisher?“ machte der Kapitän höflich Konversation, während die Suppe serviert wurde.

„Sehr schön“, versicherte Herr Hagedorn. Doch seine Frau schien mit dieser knappen Antwort nicht zufrieden: „Es ist ganz zauberhaft! Ich weiß natürlich, dass das Jaspische Meer Jaspisches Meer heißt, weil da ein Pilz im Wasser wächst... Oder war es eine Schneckenart? Egal, jedenfalls weil das Wasser ganz rot erscheint. Zumindest am Anfang. Jetzt ist es ja ganz normal blaugrün, aber immer noch wunderschön. Besonders, wenn die Sonne auf das Wasser scheint und es so schön glitzert. Wirklich ganz entzückend. Ich freue mich ja schon so auf Saragessa. Meinem Mann Berthold und mir ist natürlich bewusst, dass es eine große Ehre ist, die Insel besuchen zu dürfen...“ Vor Stolz bekam Frau Hagedorn ganz rote Bäckchen. Sie warf dem Kapitän einen neckischen Blick zu, was diesen leider nur peinlich berührte, und den Ersten Maat wiederum zu einem breiten Grinsen veranlasste, bis sein Vorgesetzter ihn mit einem vernichtenden Blick bedachte.

Frau Hagedorn aber strich sich kokett das hennarote Haar zurück, bevor sie gewichtig fortfuhr: „Wissen Sie, wir besuchen unseren Neffen Gerald, mein Mann und ich. Er ist der Privatsekretär von Graf Alexander von und zu Saragessa, Hochwohlgeboren.“

„Ach lass doch, Malvine“, versuchte Berthold Hagedorn den Redestrom seiner Frau einzudämmen.

„Aber warum denn? Den Kapitän interessiert das!“ wehrte sie jedoch nur ab. „Sie haben ja bestimmt nicht oft Passagiere, nicht wahr Kapitän?“

„Eher selten“, murmelte der Angesprochene, während er dem Matrosen, der bediente, seinen leeren Suppenteller reichte.

„Siehst du?“ sagte Malvine Hagedorn triumphierend zu ihrem Mann. Ohne weiter auf ihn zu achten, wandte sich Frau Hagedorn gleich wieder an den Kapitän: „Wir haben ja auch wirklich geglaubt, dass wir die Einzigen wären. Aber nun ist dieser Elf auch da – seltsamer Bursche. Ist sich wohl zu fein, um zu uns zu stoßen.“

„Er ließ sich entschuldigen, da er seekrank ist“, bemerkte der Erste Maat.

„Pah!“ winkte Frau Hagedorn verächtlich ab. „Wie kann man bei einem so ruhigen Meer seekrank werden?“

Die beiden Seeleute tauschten einen Blick. Auch ihnen war es unverständlich, doch sie sagten nichts dazu.

Inzwischen wurde der Hauptgang aufgetragen.

„Ich habe wirklich eine zarte Konstitution“, versicherte die Dame am Tisch derweil eifrig. „Aber ich fühle mich ausgezeichnet! Aber dieser Elf...“

„Lass doch, Malvine!“

„Aber nein! Das ist doch wichtig!“ Malvine Hagedorn wedelte ungeduldig mit der Hand. „Ich meine, er ist doch wirklich ein Elf, oder? Ich meine, weil er doch so klein ist. Und so rundlich. Ich dachte immer, Elfen wären alle groß, schlank und schön, aber dieser hier... Mit einem Kopf wie ein Ei und einem riesigen Schnurrbart. Und dann so eingemummelt, dass man gar nichts weiter erkennen kann. Ich würde ja schon gern wissen, warum der eine Erlaubnis erhält, die Insel zu besuchen.“

„Zweifellos gib es ernste Gründe, warum Herr Erkül Bwaroo nach Saragessa eingeladen wurde“, versicherte der Kapitän, schnell eine kurze Atempause von Frau Hagedorn nutzend. „Er ist ein berühmter Privatdetektiv.“

„Nanu, berühmt? Also, ich hab noch nie von ihm gehört. Hast du schon von ihm gehört, Berthold?“

„Ich meine schon von ihm gelesen zu...“

„Na bitte! Mein Mann hat auch noch nie von ihm gehört. Sind Sie sicher, dass er nicht nur so ein kleiner Hochstapler ist, der auf die Insel fährt, um die dort lebenden Wesen auszunehmen?“

„Neinnein, bestimmt nicht“, nun lachte der Kapitän zu Malvines Ärger doch tatsächlich laut auf, als hätte sie einen Witz gemacht. Was für ein grober Kerl! Na ja, was wollte man von einem rauen Seemann schon erwarten. Und überhaupt, die Männer waren doch alle gleich. Hatten alle nichts übrig für weibliche Intuition. Malvine Hagedorn fand ihre Vermutung jedenfalls kein bisschen lächerlich. Und so nahm sie sich fest vor, selbst auf diesen seltsamen Elfen ein Auge zu haben.

Inzwischen war man beim Dessert angelangt, und Frau Hagedorn löffelte das fruchtige Sorbet mit geradezu grimmiger Entschlossenheit in sich hinein.

Ankunft

Die Sonne stand hoch am Himmel, als das Schiff am nächsten Tag vor Saragessa vor Anker ging. Die drei Passagiere und Orges, Bwaroos Diener, mussten nun in ein kleines Boot umsteigen, das sie, ihr Gepäck und zahlreiche Postsäcke zur Anlegestelle brachte.

Kaum hatte Erkül Bwaroo wieder festen Boden unter den Füßen, vollzog sich mit ihm eine erstaunliche Verwandlung. Schon nach wenigen Schritten knöpfte er seinen Mantel auf und lockerte die Seidenschals. Und kurze Zeit später legte er beides ganz ab. Während Orges die Kleidungstücke sorgfältig über dem Arm faltete, holte sein Herr tief Luft, straffte die Schultern und hob das Kinn. Er strich sich gewichtig den Schnurrbart und putzte ein unsichtbares Stäubchen vom Ärmel seines eleganten Jacketts.

„Oh, sieh nur, Berthold, da ist Gerald!“ rief da eine Frauenstimme hinter ihm. Und da rannte bereits eine verzückt glucksende Malvine Hagedorn Bwaroo fast über den Haufen, als sie an ihm vorbei stürmte. Augenscheinlich wollte sie möglichst schnell zu einem jungen Mann gelangen, der am Kai wartete. Ihr Mann folgte um einiges gemächlicher.

Der Elf räusperte sich ein wenig unmutig und näherte sich schlendernd der Gruppe. Er wurde Zeuge, wie Frau Hagedorn den als Gerald bezeichneten, dem das sichtlich peinlich war, ausgiebig herzte und abküsste und wie ihm Herr Hagedorn kräftig die Hand schüttelte. Er war eine angenehme Erscheinung mit dunklem Haar und einem Dreitagesbart, wie er zur Zeit bei den Männern modern war. Seine Figur verriet, dass er ausgiebig Sport trieb. Eine Beschäftigung, die Bwaroo stets unverständlich gewesen war. Gekleidet war der junge Mann in einen leichten Anzug mit am Kragen offenem Hemd.

„Onkel, Tante“, lachte er nun gutmütig, „schön dass ihr da seid. Aber ihr müsst mich kurz entschuldigen. Ich bin eigentlich in offizieller Mission...“

Mit diesen Worten wandte er sich dem Detektiv zu, der die Gruppe inzwischen erreicht hatte. „Herr Erkül Bwaroo, nicht wahr?“ rief er und reichte dem Elfen die Hand. „Ich bin Gerald Hagedorn, der Sekretär des Grafen, welcher mich gebeten hat, Sie abzuholen und in sein Haus zu geleiten.“

„Sehr nett“, nickte der Elf, „Dies ist mein Diener Orges und hier mein Gepäck...“

„Und wo werden wir wohnen, Gerald?“ mischte sich da Tante Malvine ein.

„Ich habe Zimmer für euch gemietet...“

„Aber ich dachte, wir wohnen bei dir!“

„Das geht leider nicht. Ich bewohne das kleine Gartenhäuschen auf dem Anwesen des Grafen. Da ist leider kein Platz.“

„Man sollte meinen, der Graf bietet seiner rechten Hand eine bessere Unterkunft...“

„Aber Tante! Ich hatte extra darum gebeten, dort wohnen zu dürfen. Dort ist es ruhig und ich störe niemanden, wenn ich mal länger arbeite.“

„Nun ja, aber ein Gartenhäuschen...“

„Du wirst sehen, es ist ganz wunderbar im 'Harpyiennest'! Podarge, das ist die Harpyie, die das kleine Hotel führt, ist sehr zuvorkommend, und ihr habt die schönsten Zimmer bekommen.“ Gerald drängte seine Tante sanft, aber bestimmt zu der Kutsche, auf die das Gepäck der Hagedorns bereits geladen worden war. „Podarge freut sich schon sehr auf euch – ihr seid zur Zeit die einzigen Gäste.“

„Also, ich kann nicht sagen, dass mich das besonders überzeugt“, klagte Malvine und machte ein unglückliches Gesicht. Sie ließ sich jedoch von Gerald in die Kutsche schieben. Berthold kletterte hinterher.

„Ich besuche euch bald“, versprach ihr Neffe noch, während er dem Kutscher schon ein Zeichen gab loszufahren.

„Verwandte“, wandte er sich dann entschuldigend an Erkül Bwaroo. „Tante Malvine ist eine Seele von Mensch und meint es gut, aber...“

Pas de problème! Ich verstehe vollkommen“, versicherte Bwaroo großmütig. Im Stillen beglückwünschte er sich jedoch, dass er selbst nicht mit einer Tante dieses Formats gesegnet, oder besser geschlagen war.

Gerald wies ihm derweil den Weg zu einer Kutsche und half ihm beim Einsteigen. Während sie zum Haus seines Auftraggebers fuhren, erkundigte der Elf sich bei Gerald Hagedorn, wie er zu seiner Stellung gekommen war. Der berichtete ihm mit sichtlichem Stolz, dass er sich vor einigen Monaten aufgrund eines Inserats für den Posten beworben habe. Der Graf hatte Gefallen an ihm gefunden und ihn angestellt. Das, so erzählte der junge Mann weiter, sei ein großes Glück für ihn gewesen, denn er habe sich schon immer für Fabelwesen interessiert.

„Soweit ich weiß, bin ich der einzige Mensch, der dauernd auf der Insel lebt“, erklärte er. „Es gibt den einen oder anderen Kobold hier, einige Zwerge, eine Handvoll Gnome und ein paar Elfen. Ein wunderbares Volk, wenn ich so frei sein darf, Herr Bwaroo. Und so vielfältig. Sie sind ein Beltaneelf, nicht wahr? Bei diesen überaus spitzen Ohren...“

„Samhain. Ich wurde an Samhain gezeugt. Aber die Form der Ohren ist ziemlich ähnlich.“ Der Detektiv lächelte freundlich.

„Oh, das wusste ich nicht.“ Gerald machte ein betretenes Gesicht.

Cela arrive souvent“, winkte Bwaroo aber nur ab. „Selbst Elfen irren sich da schon mal.“

Sie plauderten noch ein wenig, während sie so dahinfuhren. Schließlich wagte Gerald eine Frage, die ihn schon eine Weile beschäftigte.

„Bitte verzeihen Sie meine Neugierde, aber...“ er zögerte, sichtlich verlegen. Doch dann platzte er heraus: „Hat Ihr französischer Akzent denn auch etwas mit Ihrer Samhainnatur zu tun, Herr Bwaroo?“

Ah non! Keineswegs!“ Erkül Bwaroo lachte herzlich. Der junge Mann an seiner Seite aber atmete hörbar auf, als er merkte, dass der große Detektiv die Frage weder als dreist noch als dumm betrachtete.

„Es ist eigentlich nur eine Grille von mir, une caprice, n'est-ce pas?“ gestand ihm Bwaroo da auch schon. „In meiner Jugend, wissen Sie, bin ich viel gereist. Auch in die Parallelwelt. Dort besuchte ich ein Land, das sich Belgien nennt. Diese Belgier sind ein wunderbares Volk, sehr aufgeschlossen, gerade für uns Feien. Ich habe mich sehr wohlgefühlt dort und blieb entsprechend lange. Und weil man in Belgien französisch spricht, blieb ein wenig davon hängen.“

„Ah, verstehe“, stimmte Gerald eifrig zu.

Zu mehr kam er nicht, denn sie hatten das Haus des Grafen erreicht, wobei 'Haus' eine ziemliche Untertreibung war. Es war eindeutig ein Schloss. Sie standen vor einem dreistöckigen Gebäude mit Seitenflügeln. Das Haupthaus hatte eine säulengestützte Vorhalle, die man über drei Stufen erreichte. Zahlreiche große Rundbogenfenster durchbrachen die ansonsten völlig schmucklose Fassade aus hellen Backsteinen. Das Haus wurde eingerahmt von uralten, efeubewachsenen Eichen und davor befand sich ein Rasen, so akkurat geschnitten, als hätte der Gärtner die Halme einzeln und mit dem Lineal gekürzt. Erkül Bwaroo bewunderte mit einem anerkennenden Nicken die strenge Symmetrie der drei Gebäudeteile und die Leistung des Gärtners. Doch es blieb ihm keine Zeit für lange Betrachtungen, denn Gerald bat ihn schon ins Innere des Hauses, wo Graf Alexander von und zu Saragessa seinen Gast bereits in seinem Arbeitszimmer erwartete.

„Schön, dass Sie endlich da sind“, begrüßte er den Elfendetektiv und lud ihn mit einer Handbewegung ein, auf einem Sessel Platz zu nehmen. „Die Situation hat sich inzwischen merklich zugespitzt.“

„Noch ein Mord?“ fragte Erkül Bwaroo erschüttert.

„Das nicht“, räumte der Greif ein und nahm gegenüber seinem Gast auf dem Boden Platz, „aber am Tag vor meiner Rückkehr verschwand ein Sohn der Familie Geißler und zwar das zweitjüngste Kind. Wir haben alles abgesucht, aber er bleibt verschwunden.“

„Aber dann könnte er zumindest noch leben“, gab Bwaroo zu bedenken.

„Oder die Leiche wurde irgendwo verscharrt.“ Der Graf seufzte. Mit einer einladenden Geste bot er dem Elfen verschiedene Getränke an, die zwischen den Sesseln auf einem Servierwagen aufgereiht standen.

„Weiß man, wann und wo der Junge verschwand?“ wollte der nun wissen und lehnte zugleich mit einer verneinenden Kopfbewegung etwas zu Trinken ab.

„Er verließ nach dem Mittagessen sein Elternhaus, um mit einem Freund spielen zu gehen, wie er sagte. Als er nicht zur vereinbarten Zeit zurückkehrte, ging Zieglinde Geißler zu dem Haus des Freundes, um ihren Sohn abzuholen, erfuhr jedoch, dass er dort gar nicht gewesen war. Man hatte ihn auch nicht erwartet.“

„Seltsam.“

„Wenn Sie mich fragen, hat man ihn mit irgendwelchen Versprechungen weggelockt. Heimtückisch und hinterhältig.“ Graf Alexanders Schnabel zitterte vor lauter Empörung. „Die Bevölkerung ist entsprechend aufgebracht. Außerdem gibt es inzwischen Gerüchte, obwohl ich angeordnet hatte, dass die Sache mit den Bissspuren geheim gehalten werden muss. Aber es ist wohl trotzdem etwas durchgesickert, und die Leute wissen natürlich, dass es auf der Insel nur einen einzigen Wolf gibt. Erste Rufe nach Selbstjustiz konnte ich noch zum Verstummen bringen. Ich habe daran erinnert, dass es ja auch ein großer Hund sein könnte, und es gibt hier mindestens zwei Bewohner, die sich große – und auch scharfe – Hunde halten. Einer davon bin übrigens ich.“

Ah, c'est très intelligent!“ Der Detektiv schmunzelte. „Es ist natürlich nicht so einfach, den eigenen Regenten zu beschuldigen.“

„Richtig“, bestätigte Alexander von und zu Saragessa mit ernster Miene. „Aber ich weiß nicht, wie lange das noch anhalten wird, zumal man unseren Wolf sowieso etwas misstrauisch betrachtet.“

„Wieso das?“

„Nun ja... Am besten machen Sie sich selbst ein Bild von ihm, denn ich möchte Sie da nicht beeinflussen. Ich nehme an, Sie werden auf jeden Fall mit ihm reden wollen.“

„Allerdings. Aber vorher möchte ich mit der Mutter der Familie Geißler sprechen.“

„Muss das sein? Zieglinde Geißler ist mit ihren Nerven verständlicherweise am Ende und völlig am Boden zerstört.“

„So gern ich auf ihre Trauer Rücksicht nähme...“ Bwaroo richtete sich selbstbewusst in seinem Sessel auf. „Aber es ist unumgänglich, dass ich mit ihr, ihren Kindern und eventuellen Zeugen spreche. Ich brauche Informationen aus erster Hand, damit die kleinen grauen Zellen effektiv arbeiten können.“

„Natürlich wissen Sie am Besten, was zu tun ist“, lenkte der Greif, wenn auch widerwillig, ein. Dann erhob er sich. Ein klares Zeichen, dass er das Gespräch als vorerst beendet betrachtete.

„Gestatten Sie mir noch eine Frage“, bat der Elf, während er ebenfalls aufstand.

„Bitte.“ Der Graf nickte, schaute jedoch ein wenig missbilligend drein.

„Nur um es ein für allemal ausschließen zu können... Wo waren Sie in der Nacht in der die Mädchen ermordet wurden? Wie Sie ja selbst sagten, haben auch Sie ein paar Hunde, die die Bissspuren verursacht haben könnten.“

„Verstehe, das müssen Sie natürlich fragen.“ Jetzt schien Graf Alexander sogar ein wenig zu lächeln. „Meine Gattin hat vor kurzem zwei Eier gelegt und hütet das Nest. Daher verbringe ich jeden Abend bei meiner Gemahlin und den zukünftigen Kleinen.“

„Ich gratuliere“, versicherte Bwaroo. „Und danach?“

„Gehe ich gewöhnlich schlafen.“

„In der Nacht, in der das Verbrechen an den Mädchen geschah, auch?“

„Weshalb... nun ja, doch.“ Der Graf geriet etwas aus der Fassung. „Ich erinnere mich, an diesem Abend sogar besonders früh schlafen gegangen zu sein.“

„Was bestimmt jemand von der Dienerschaft bestätigen kann?“

„Das nehme ich an. Genau weiß ich es selbstverständlich nicht.“ Graf Alexander bemerkte Bwaroos skeptischen Blick. „Was wollen Sie denn damit andeuten?“ begehrte er auf. „Wollen Sie mir etwa unterstellen, dass ich diese entzückenden Mädchen...“

„Ich unterstelle gar nichts“, verwahrte sich der Elf. „Ich sammle nur die Fakten. Wie etwa die, dass die Mädchen in Ihren Augen entzückend waren.“

„Ach Unsinn. Ich kannte die Mädchen ja gar nicht.“ Unmutig sträubte der Greif sein Nackengefieder. „Oder besser, nur vom Sehen. Sie waren hübsch, aber sehr schüchtern. Das ist alles, was ich über sie weiß.“

Mais laissons cela de côté.“ Der Detektiv machte eine abschließende Handbewegung. „Und wo waren Sie an dem Tag, an dem der Junge entführt wurde?“

„An diesem Tag war ich mit meinem Aufseher am Hafen, um eine Lieferung zu überwachen. Leuchtkugeln, wissen Sie? Wir haben keinen eigenen Magier auf der Insel, deshalb müssen wir solche Dinge vom Festland importieren. Der Aufseher kann bestätigen, dass ich den ganzen Nachmittag mit ihm zusammen war.“

Bon“, nickte der Elf zufrieden und machte Anstalten, sich nun wirklich zurückzuziehen.

„Gerald kann Sie bei Ihren Besuchen auf der Insel überall hin begleiten“, merkte Graf Alexander noch an, während er nach einer kleinen silbernen Glocke griff, die auf dem Tischchen stand, und läutete. „Er kennt die Wege und die Bewohner der Insel inzwischen bereits ganz gut, und ich habe ihn bereits vorerst von all seinen anderen Aufgaben entbunden, damit er Ihnen ganz zur Verfügung stehen kann. Sicherlich wollen Sie jetzt ein wenig ruhen und sich etwas frisch machen. Ich lasse Sie zu Ihrem Zimmer bringen.“

Er gab einem livrierten Diener, der inzwischen eingetreten war, entsprechende Anweisungen und Bwaroo folgte diesem in den rechten Flügel des Schlosses, wo ein Gästezimmer im zweiten Stock auf ihn wartete.

***

Erkül Bwaroo stand in der Mitte des ihm zugewiesenen Zimmers und sah sich unglücklich um.

„Leider erwies sich das Bett als zu schwer, um es verschieben zu können“, erklärte ihm Orges mit unbewegter Miene.

Sein Dienstherr legte den Kopf schief und betrachtete das besagte Möbelstück. Es war ein Himmelbett aus massiver Eiche, reich mit Schnitzereien versehen und mit schweren, grünen Vorhängen. Ein schönes Bett. Und sicherlich auch sehr bequem. Aber es stand an der rechten Wand, etwa ein Drittel der Wandbreite vom Fenster entfernt. Das war für Erkül Bwaroo ein ernstzunehmendes Problem. Sein ausgeprägter Ordnungssinn war nur bei symmetrischen Anordnungen zufrieden. Alles andere bereitete ihm Unbehagen. Die Bettstatt hätte also in der Mitte der Wand stehen müssen. Dass es das so beharrlich nicht tat und durch seine Unverrückbarkeit auch noch jede Korrektur verhinderte, verdross den Elf.

Zur Beruhigung wandte er sich dem offenen Kamin zu, der sich an der gegenüberliegenden Wand und glücklicherweise in deren Mitte befand. Fast unbewusst begann er, die Gegenstände auf dem Kaminsims neu zu ordnen: Der Kerzenständer aus Messing kam in die Mitte und zu beiden Seiten in genau gleichem Abstand vier Porzellanfiguren, die ländliche Charaktere wie Schäfer und Bauern darstellten.

Als er sich wieder umdrehte, fiel sein Blick erneut auf das Bett und er seufzte.

„Besteht die Möglichkeit“, fragte er schließlich, „wenn wir gemeinsam schieben, dass...“

„Ich fürchte, nein“, erwiderte Orges. „Ich hatte mir erlaubt, den jungen Mann, der das Gepäck herauf brachte, um Mithilfe zu bitten. Das Bett bewegte sich jedoch nicht einmal um Haaresbreite, wenn ich das so sagen darf.“

„Oh, je comprend“, bedauerte der wohlbeleibte Elf.

Eine Weile blickte er sinnend auf das störrische Möbelstück. Doch dann richtete er sich auf.

„Ich werde nicht zulassen, dass dieses Bett meine Arbeit beeinträchtigt“, verkündete er mit Nachdruck. „Erkül Bwaroos graue Zellen werden nicht in Mitleidenschaft gezogen werden, selbst wenn ich keine Nacht ein Auge zu tun werde.“

Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Vor ihm breitete sich ein Park nach englischer Art aus – scheinbare Wildnis, von kundiger Hand gebändigt. Der Elf hätte einen Barockgarten natürlich bevorzugt, musste jedoch anerkennen, dass der Park auf seine Art sehr gepflegt war. Das Unterholz zwischen den Bäumen war praktisch entfernt worden, die Wege ordentlich gekiest. Büsche und Blumen standen in ansprechenden Gruppen beisammen. Na, wenigstens etwas.

„Orges“, wandte er sich nach einer Weile an seinen Diener. „Was halten Sie davon: eine Geißenfamilie, deren Kinder nach und nach ermordet werden?“

Der Angesprochene hüstelte diskret.

„Vielleicht haben sie zu viel gemeckert“, merkte er dann an.

„Oh, ich denke, Ziegenmenschen bedienen sich durchaus unserer gebräuchlichen Sprache“, klärte sein Herr ihn auf.

„Ich meinte dies im übertragenen Sinne“, korrigierte Orges jedoch sofort, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ah! C'est une chose différente!“ Der Elfendetektiv schmunzelte. „Sie meinen, dass die Familie jemandem lästig ist? Oder wenigstens die Kinder?“

„In der Tat.“

„Ja, das wäre tatsächlich möglich“, sinnierte Bwaroo. „Um das beurteilen zu können, muss ich sie aber erst einmal kennenlernen.“

„Persönliche Erfahrung ist in der Regel zweifelsohne von Nutzen.“

„Wie recht Sie doch haben!“ Der Elf strahlte seinen Diener an. „Bitte veranlassen Sie doch, dass Monsieur Hagedorn sich bereit macht, mich zu dieser Familie zu führen.“

Orges nickte knapp und entfernte sich, den Wunsch seines Dienstherrn zu erfüllen.

***

„Meinst du wirklich, es war eine gute Idee, diesen Elfen mit den Ermittlungen zu beauftragen?“

„Aber gewiss doch, Theodora.“ Graf Alexander wandte sich seiner Gattin zu. Sie lag in einem Nest aus feingesponnenem Gold, wo sie ihre zwei Eier ausbrütete. Da die beiden Greifen schon fast nicht mehr daran geglaubt hatten, jemals Nachkommen zu haben, hütete die Mutter ihre Eier geradezu wie besessen und schob immer wieder den Agathon-Stein penibelst zurecht, der zwischen ihnen lag: ein prachtvoller Smaragd mit besonderen Fähigkeiten. Er befand sich schon seit Generationen in Alexanders Familie und diente mit seinen magischen Eigenschaften gleichzeitig zum Schutz der Nachkommenschaft wie auch als positive Kraft zu deren Entwicklung.

„Ich habe vom Fenster aus gesehen, wie er angekommen ist“, fuhr die werdende Mutter fort. „Dieser komische Eierkopf und der übertrieben große Schnurrbart! Und dann die Kleidung... Er scheint mir mehr ein großer Angeber zu sein, als ein großer Detektiv. Diese unverhältnismäßige Eleganz. Und seine affektierte Art, als er ausstieg...“

Im Grunde war Alexander ihrer Meinung. Als er Erkül Bwaroo zum ersten Mal gesehen hatte, war er sehr enttäuscht gewesen. Statt eines stattlichen, sportlichen Mannes in den besten Jahren hatte da ein kleiner, rundlicher und ältlicher Elf vor ihm gestanden, mit einem riesigen Schnurrbart und gekleidet wie ein Geck. Und dann seine Unart, immer wieder französische Brocken einzustreuen, wenn er sprach! Aber er war dem Grafen von mehreren Personen wärmstens empfohlen worden. Man hatte geradezu in den höchsten Tönen von seinem Scharfsinn gesprochen. Fürstin Sontheim, der der Elf ein wertvolles Collier noch in der Nacht des Diebstahls wieder zurückgebracht hatte, war geradezu ins Schwärmen geraten.

„Lass dich davon nicht täuschen“, mahnte Alexander also seine Gattin. „Ich glaube, das ist seine Art, um den Gegner in die Irre zu führen. Jedenfalls habe ich bisher nur Gutes von ihm gehört und danach scheint er ein genialer Kopf zu sein.“

„Meinst du? Mir kommt er seltsam vor. Was nun, wenn er mit Verdächtigungen um sich wirft. Wenn er vielleicht sogar dich beschuldigt!“

„Aber meine Liebe. Es stimmt zwar, dass die beiden Mädchen von mir und meinen Hunden... zumindest theoretisch...“ Der Graf stockte und warf seiner Gattin einen alarmierten Blick zu. „Willst du mir etwa unterstellen...“

„Aber nein“, beeilte sie sich, ihm zu versichern. „Du und die Mädchen? Lächerlich.“

Graf Alexander atmete auf.

„Dieser Erkül Bwaroo soll angeblich der Beste sein“, nahm er den ursprünglichen Faden wieder auf. „Wenn jemand den Fall lösen kann, dann er.“

„Nun, wie du meinst. Hoffen wir, dass er diesen Wahnsinnigen bald entlarven wird.“ Theodora verlagerte vorsichtig ihr Gewicht, um eine bequemere Haltung einzunehmen. „Die arme Frau. Sieben wunderbare Kinder und nun sind es ganz plötzlich nur noch vier. Ich glaube, ich würde irrsinnig werden, sollte uns dergleichen geschehen.“

Liebevoll betrachtete Alexander seine Angetraute. Obgleich sie nun schon beinahe zehn Jahre verheiratet waren, war er immer noch entzückt von ihrer Schönheit und ihrer Anmut. Ihr glänzendes Gefieder, das in einem so eleganten Bogen in das goldbraune Fell ihres Körpers überging, suchte wahrhaftig seinesgleichen. Und der Ring aus leuchtend blauen Federn um ihren Hals harmonierte perfekt mit dem Blau ihrer Augen.

„Keine Angst, ich würde nie zulassen, dass dir oder unserem Gelege ein Leid geschieht“, versicherte der Graf und rieb liebevoll seinen Schnabel an ihrem. „Erkül Bwaroo hat den Ruf, der beste Privatdetektiv unseres Landes zu sein, und er wird diesen abscheulichen Verbrecher entlarven und die Wahrheit heraus finden. Man sagt ihm nach, dass kein Geheimnis vor ihm verborgen bleibt.“

„Wenn du meinst, Lieber...“ Theodora neigte graziös den Kopf. „Nun gut, du hast sicher recht.“ Doch sie sah nicht überzeugt aus, sondern eher beunruhigt.

Erste Ermittlungen

Gerald Hagedorn stand seine Verwunderung ins Gesicht geschrieben, als Erkül Bwaroo in der Eingangshalle zu ihm stieß. Der Elfendetektiv trug einen maßgeschneiderten, dreiteiligen Anzug und dazu schwarze Lackschuhe, die so auf Hochglanz poliert waren, dass man sich in ihnen spiegeln konnte. In der Hand hielt er einen leichten Spazierstock. Für den Besuch des einsam gelegenen Weilers, den die Geißlerfamilie bewohnte, war das nach Geralds Meinung entschieden zu elegant. Er selbst trug einen legeren, hellen Anzug und bequeme Laufschuhe. Nun ja, sagte er sich jedoch, der große Detektiv konnte natürlich nicht wissen, wo die Familie wohnte. Vielleicht ging er davon aus, dass sie mitten im Dorf lebten. Obwohl die elegante Kleidung selbst dann noch übertrieben gewesen wäre. So wie Bwaroo kleidete man sich bestenfalls in der Hauptstadt und auch dann nur, wenn man zu einem Empfang oder Ähnlichem geladen war. Aber Gerald Hagedorn war viel zu wohlerzogen, um dergleichen laut auszusprechen, und so geleitete er stattdessen den Elfendetektiv zu einer bereits wartenden offenen Kutsche, einem leichten Zweisitzer, der von nur einem Pferd gezogen wurde. Er öffnete den Schlag, damit der Detektiv Platz nehmen konnte und schwang sich dann selbst auf den Kutschbock. Mit einem leichten Schütteln der Zügel signalisierte er dem Pferd, dass es sich in Bewegung setzen sollte, was es auch gehorsam tat.

Eine Weile fuhren sie schweigend auf einer staubigen Straße dahin, die sich durch Wiesen schlängelte, die in der Ferne in Wald übergingen.

„Ich muss gestehen, ich bin furchtbar aufgeregt, dass ich Sie begleiten darf“, rief Gerald schließlich über die Schulter seinem Fahrgast zu. „Ich habe ja schon so viel über Sie gelesen. Und ich wollte schon immer sehen, wie Sie in einem Mord ermitteln.“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, erschrak der junge Mann über sich selbst. „Damit wollte ich natürlich nicht sagen... Ich meine, es ist entsetzlich, was mit den Kindern geschehen ist... Ich wollte nur....“

„Ich verstehe Sie sehr gut“, beruhigte ihn da der Elfendetektiv mit einem wohlwollenden Neigen seines Kopfes. „Mord ist immer ein abscheuliches Verbrechen. Und doch gibt es nichts Anregenderes für die kleinen, grauen Zellen als die Jagd nach einem Mörder. Aber ich hoffe, ich halte Sie nicht von anderen wichtigen Dingen ab? Schließlich haben Sie Besuch von Ihren Verwandten.“

„Oh nein!“ versicherte Gerald. „Ich werde sie heute Abend besuchen. Meine Tante ist natürlich enttäuscht, dass ich ihr nicht meine gesamte Zeit widmen kann. Wir haben uns schon länger nicht mehr gesehen. Nach dem Tod meiner Eltern, da war ich noch ein Kind, wuchs ich bei Berthold und Malvine auf. Sie betrachten mich als eine Art Sohn, nachdem sie selbst keine Kinder haben.“

„Dann ist das Ihr erstes Wiedersehen, seit Ihrem Umzug auf die Insel?“

„Ja, aber dass ich die beiden das letzte Mal sah, liegt noch länger zurück. Ich wollte etwas von der Welt sehen und bin viel herumgereist.“ Gerald lachte. „Davon war meine Tante natürlich nicht begeistert. Zumal ich mir mit Gelegenheitsjobs meinen Lebensunterhalt verdiente, statt einen soliden Beruf in einem Büro in Laundom zu ergreifen. Ich fürchte, ich habe sie sehr betrübt.“

„Manchmal muss man seinem Herzen folgen“, erwiderte der Elf bedächtig. „Es hat keinen Sinn, unzufrieden oder gar unglücklich zu leben, nur um jemand anderem einen Gefallen zu tun.“

„So habe ich versucht, es ihr zu erklären. Mein Onkel hat es verstanden. Aber Malvine war erst wieder froh, als ich die Stelle hier antrat. Obwohl es sie natürlich sehr stört, dass ich so weit weg von ihr wohne.“

„Was aber auch seine Vorteile hat, eh?“ Der Detektiv zwinkerte dem jungen Mann an seiner Seite zu.

„Oh, na ja, schon“, Gerald verzog verlegen das Gesicht. „Meine Tante kann ganz schön anstrengend sein. Aber im Grunde meint sie es gut.“

„Und Ihr Arbeitgeber? Wie ist er so?“ forschte Bwaroo.

„Er ist sehr auf Gerechtigkeit bedacht“, meinte Gerald. „Ich glaube, das ist seine herausragendste Eigenschaft. Dadurch erscheint er etwas überheblich. Na ja, er ist wirklich etwas überheblich. Mit dem einfachen Volk gibt er sich kaum ab. Aber wenn es Ärger gibt oder Streit, dann kümmert er sich darum und sein Urteil ist immer unparteiisch, soweit ich das sagen kann.“

Erkül Bwaroo nickte zufrieden. Diese Beschreibung deckte sich mit seiner eigenen Wahrnehmung.

Den Rest der Fahrt erzählte Gerald von den Bewohnern der Insel, die in der Mehrzahl Fabelwesen waren. Sie hatten sich vor langer Zeit hierher gerettet, als die restliche Welt noch nicht so tolerant und aufgeschlossen ihnen gegenüber gewesen war und ihnen noch nicht die gleichen Rechte eingeräumt hatte wie allen anderen intelligenten Wesen. Und auch wenn diese Absonderung mittlerweile nicht mehr notwendig war, hatten viele Nachfahren der ersten Siedler es vorgezogen, weiter unter sich zu bleiben.

„Seltsamerweise ist es bei den Geißenmenschen etwas anders“, beendete er seine Ausführungen. „Familie Geißler ist die einzige, die noch hier lebt. Alle anderen sind aufs Festland zurückgekehrt. Aber hier sind wir ja schon! Das ist der Weiler, in dem die Familie lebt.“

Gerald sprang vom Wagen und hielt Erkül Bwaroo den Schlag auf. Als dieser ausstieg, fand er sich vor einem niedrigen Haus mit einem steilen Schindeldach wieder, nur wenige Schritte von einem kleinen Fluss entfernt. Das Haus hätte dringend einen neuen Anstrich gebraucht, und das Dach war an einer Stelle nur notdürftig repariert. Aber vor jedem der kleinen Fenster hing ein mit blühenden Blumen überquellender Kasten. An beiden Seiten der Eingangstür standen Pflanztröge mit prachtvoll blühenden Stauden, und auch in dem Garten, der sich seitlich vom Haus erstreckte, grünte und blühte es in geradezu verschwenderischer Fülle. Hinter dem Haus stand ein verwitterter Holzschuppen, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Das war alles an Gebäuden weit und breit.

Der Elf folgte Gerald, der an die Tür klopfte. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und dann wieder geschlossen. Ein leises viermaliges Rasseln verriet, dass vier Riegel zurückgeschoben wurden. Dann öffnete sich die Tür, und Bwaroo trat vor Gerald ein. Der Raum, in dem er sich fand, war groß und geräumig. Doch er war nur spärlich mit einem groben Tisch möbliert und ein paar Stühlen, die nicht zusammenpassten. An der linken Wand stand außerdem noch ein großes Sofa, das mit zwei bunten Decken bedeckt war, vielleicht um zu verbergen, dass es schon ziemlich abgenutzt war. Jedenfalls legten die beiden Sessel, die links und rechts davon standen, diesen Schluss nahe, denn sie wirkten schon ziemlich durchgesessen. Das einzig wertvolle Möbelstück im Raum war eine große Standuhr an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand, neben einem offenen Durchgang. Doch so ärmlich und abgenutzt die Möbel schienen, alles war peinlich sauber und ordentlich.

Erkül Bwaroo wandte sich der Frau zu, die mit einem kleinen Mädchen, das sie an der Hand hielt, mitten im Zimmer verharrte. Sie wirkte gefasst, wenn auch ihre geröteten Augen und die tiefen Schatten darunter zeigten, dass sie viel geweint und wenig geschlafen hatte. Sie hatte ein menschliches Gesicht, allerdings mit Ziegenohren und kleinen Hörnern auf ihrer Stirn. Ihr Haar war lang und schneeweiß. Auch das Fell, das ihren Körper bedeckte, war weiß. Sie hatte Hände mit fünf Fingern, doch statt Füßen Ziegenhufe, die unter einem einfachen, geblümten Kleid hervorschauten. Das kleine Mädchen war offensichtlich ihre Tochter, die Ähnlichkeit der Gesichtszüge war unverkennbar.

Gerald stellte den Elfendetektiv vor, und die Frau bot ihren Besuchern mit einer Handbewegung zwei Stühle an. Dann setzte sie sich selbst, wobei sie das Mädchen auf ihren Schoß hob.

„Graf Alexander hat mich informiert, dass Sie kommen werden“, erklärte sie. Ihre Stimme klang kraftlos und resigniert.

Ein leichtes flatterndes Geräusch ließ den Elfen den Kopf drehen. Ein großer Vogel schloss die Eingangstür und hüpfte dann zu Frau Geißler und ihrer Tochter. Doch nein, das war gar kein Vogel. Das Wesen hatte einen menschlichen Frauenkopf, nackte menschliche Arme unter der Flügeln und eine weibliche Brust, die es jedoch mit einem breiten Stoffstreifen bedeckte. Dieses leuchtend rote Band, das auf ihrem Rücken verknotet war, bildete einen auffälligen Kontrast zu dem dunkelgrauen Federkleid.

„Oh, eine Freundin?“ Bwaroo lächelte die Gestalt freundlich an.

„Ja“, Frau Geißler wirkte einen Moment sehr verlegen. „Wenn ich bekannt machen darf...“

„Ich kann für mich selbst reden“, unterbrach sie das Vogelwesen da und musterte den Elfendetektiv misstrauisch. „Ich bin Podarge“, erklärte sie dann und ließ es wie eine Herausforderung klingen.

„Ah, die Harpyie, die das 'Harpyiennest' betreibt“, nickte Erkül, noch immer mit freundlicher Miene.

„Genau die“, bestätigte Podarge. Es ließ sich nicht erkennen, ob sie erfreut darüber war, dass der Elf bereits von ihr wusste oder nicht. Sie starrte Bwaroo weiterhin an.

Der Elfendetektiv öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, als er durch eine Bewegung abgelenkt wurde, die von dem Durchgang neben der Uhr kam. Eine junge Frau trat ein. Sie musste ebenfalls eine Tochter des Hauses sein, denn auch sie hatte die typischen Merkmale einer Ziege. Trotzdem musste sich Bwaroo eingestehen, dass er keine Elfe und keine Menschenfrau kannte, die sich mit der Schönheit dieses Mädchens hätte messen können. Sie hatte zierliche Hörner, die wie aus Elfenbein gedrechselt knapp hinter dem Haaransatz hervorlugten. Das seidige Haar war in der Mitte gescheitelt, was ihre großen, blauen Augen noch betonte. Kleine, rosig schimmernde Ziegenohren hielten die langen Haare an beiden Seiten davon ab, in das schmale Gesicht zu fallen. Die Haut des Mädchens, soweit sie nicht von flaumweichem Fell bedeckt wurde, war blass, aber zart und schimmernd. Ihre niedlichen, kleinen Hufe glänzten, als wären sie aus Silber. Die junge Frau war gertenschlank und bewegte sich mit einer natürlichen Anmut, wie sie nur Wesen besitzen, die sich dessen nicht bewusst sind.

Anscheinend war sie gerade aus der Küche gekommen, denn sie war im Begriff, die Schürze abzunehmen, die sie um hatte, während sie Bwaroo neckisch anlächelte.

„Lassen Sie sich bitte durch mich nicht stören“, meinte sie, als Bwaroo von seinem Stuhl aufsprang. Sie nickte ihrer Mutter zu und setzte sich dann in eine Ecke des Zimmers.

„Meine Tochter Geisella“, murmelte Zieglinde Geißler etwas verspätet. Sie schien Probleme zu haben, in die Wirklichkeit zu finden.

„Madame“, begann Bwaroo mitfühlend, „ich bedauere sehr, Sie belästigen zu müssen...“

„Schon in Ordnung“, winkte Frau Geißler ab. „Sie wollen schließlich den Mörder meiner Kinder finden. Meiner beiden Mädchen und meines kleinen Jungen...“ Die Stimme versagte ihr, und sie verzog das Gesicht in der Anstrengung, nicht in Tränen auszubrechen.

„Na na...“ Podarge hüpfte neben sie und legte ihr tröstend einen Flügel um die Schultern. „Du weißt nicht, ob es Ziegfried wirklich auch getroffen hat. Bei ihm ist noch Hoffnung. Das darfst du niemals vergessen.“

Die Stimme der Harpyie klang nun weich und teilnahmsvoll.

Die Geißin nickte. Ein kurzes Schluchzen, dann hatte sie sich wieder gefasst. Der Elf bewunderte ihre Willenskraft. Sie war zweifelsohne eine starke Persönlichkeit. Auch für die Harpyie empfand er Respekt. Eine starke Kämpfernatur, kein Zweifel. Aber offensichtlich auch eine einfühlsame Freundin.

„Ich bin nur mal schnell her geflogen, um zu sehen, wie es Zieglinde geht“, erklärte Podarge da. „Ich kam gleichzeitig mit dem Boten an, den der Graf geschickt hat, um Sie anzukündigen. Da habe ich mir gedacht, dass ich lieber da bleibe, nicht dass es meiner Freundin zu viel wird.“

Sie lächelte Zieglinde aufmunternd zu, ergriff ihre Hand und drückte sie, was die Geißenfrau dankbar erwiderte.

Bwaroo bemerkte, dass Podarge den Augenblick nutzte, um ihrer Freundin einen Kuss aufs Haar zu hauchen. Vielleicht war die Harpyie ja sogar eine ganz besondere Freundin? Nachdenklich legte der Elf den Kopf schief, was ihn ein wenig wie einen Spatz aussehen ließ.

Dabei fiel ihm auf, wie Gerald reglos dasaß, ganz versunken in den Anblick Geisellas. Das konnte der Elf ihm nicht verdenken. Doch Geisella schien der Blick des jungen Mannes nicht zu behagen. Sie erhob sich brüsk und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. Der junge Mann fuhr auf, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht. Wahrscheinlich war er das tatsächlich, sagte sich der Elf teilnahmsvoll. Aber so, wie die junge Dame reagiert hatte, würde es wohl beim Träumen bleiben müssen.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Mutter des Mädchens zu. Doch noch ehe er eine Frage stellen konnte, kam ihm Gerald zuvor, als wollte er unbedingt wieder gut machen, dass er sich hatte ablenken lassen.

„Wir sind gekommen, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen“, verkündete er.

„Sicher wollen Sie erfahren, was ich von den Vorgängen weiß“, antwortete Zieglinde mit einem kleinen Seufzer.

„Wenn Sie mir vielleicht erzählen könnten, was geschehen ist“, übernahm nun wieder Bwaroo das Gespräch.

„Nun ja, vor drei Wochen gingen meine zwei Mädchen an den Strand. Die beiden sind – waren Zwillinge, müssen Sie wissen. Sie hingen sehr aneinander und unternahmen eigentlich alles gemeinsam. An diesem Abend wollten sie bei Mondschein schwimmen gehen und die Sterne bewundern. Die sternenklaren Nächte hier auf unserer Insel sind immer etwas Besonderes, und die beiden waren vernünftige Mädchen, die auf sich aufpassen konnten. Deshalb dachte ich mir nichts dabei. Erst als Mitternacht vorüber war, und sie immer noch nicht zurück waren, begann ich mir Sorgen zu machen.

Ich ging also los und suchte nach ihnen. Als ich sie am Strand nicht finden konnte, und auch keiner ihrer Freunde etwas von ihnen wusste, verständigte ich die Wache. Korporal Habemus und seine Männer begannen mit der Suche, sobald der Morgen graute. Sie... fanden meine Mädchen.“ Zieglinde Geißler schluckte.

Bwaroo legte ihr die Hand auf den Arm.

„Sie sind sehr tapfer, Madame“, versicherte er. „Ich bedauere sehr, dass ich Sie diesen Erinnerungen noch einmal aussetzen muss. Wenn Sie es vorziehen würden...“

„Nein, nein!“ Die Geißenfrau schüttelte energisch den Kopf. „Ich will alles tun, damit der gefunden wird, der meinen Kindern das angetan hat.“ Sie holte ein Taschentuch aus ihrem linken Ärmel, und atmete tief durch. Das Kind auf ihrem Schoß sah mit großen Augen zu ihr auf und streckte sich dann, um die Arme um ihren Hals zu legen. Liebevoll zauste seine Mutter ihm das Haar und drückte es an sich.

„Sie waren beide in der Felsenbucht“, fuhr sie dann fort. „Damit hätte ich nie gerechnet, denn es ist sehr ungemütlich und wenig einladend dort. Kein Sand, wissen Sie? Man... hatte sie schrecklich zugerichtet...“

„Ich denke, wir müssen uns jetzt nicht mit den Einzelheiten beschäftigten“, unterbrach Erkül Bwaroo sie taktvoll. „Ich werde darüber diesen Korporal, wie heißt er noch, Habemus befragen. Und dann verschwand einer Ihrer Söhne?“

„Ja, Ziegfried. Er ist nur ein Jahr älter als Zusi hier...“ Zieglinde Geißler schlang den Arm um ihr kleines Mädchen, als wollte sie es schützen. „Das war vor ein paar Tagen. Er sagte er würde zu einem Freund zum Spielen gehen und sollte zum Abendessen zurück sein. Aber er kam nicht. Dabei ist er sonst immer pünktlich. Ich bekam wahnsinnige Angst und lief sofort zu den Wachen. Aber weder sie noch ich fanden eine Spur.“

„Nun, dann kann er durchaus noch am Leben sein“, stellte der Elf fest.

„Meinen Sie?“ In Zieglindes Augen glomm ein wenig Hoffnung.

„Genau, du musst daran glauben, dass er noch lebt.“ Podarge nickte eifrig.

„Halten Sie mich bitte nicht für unhöflich, aber...“ Erkül Bwaroo wog jedes seiner Worte sorgfältig ab, „jemand hat es da anscheinend gezielt auf Ihre Familie abgesehen. Haben Sie irgendwelche Feinde?“

„Ich komme mit allen gut aus“, Zieglinde schüttelte heftig den Kopf. „Ich konnte schon vielen hier helfen. Mit meinen Kräutern und Salben, wissen Sie? Nein, ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand mich und meine Kinder so sehr hassen sollte.“

„Vergiss Babenka nicht“, ermahnte Podarge sie da.

„Babenka?“, hakte Bwaroo sofort nach.

„Ach, das war eigentlich nichts“, die Geißenfrau setzte sich ihr Kind auf dem Schoß zurecht, als es herunterzurutschen drohte. „Babenka ist eine Sphinx. Als sie schwanger wurde, kam sie zu mir und fragte, ob es ein Mittel gäbe, um das Ungeborene, nun, zu verlieren. Sie war damals nicht verheiratet, und der Vater des Kindes hatte sich aus dem Staub gemacht. Aber ich konnte ihr nicht helfen...“

„Konnten oder wollten Sie nicht?“

„Ich wollte nicht. So etwas mache ich nicht.“

Zieglinde verstummte und blickte gedankenverloren vor sich hin. Da nahm die Harpyie den Faden der Erzählung auf: „Babenkas Kind kam tot zur Welt. Keine Ahnung, was geschehen war. Aber statt dass die dumme Pute froh war, begann sie nun herum zu erzählen, dass Zieglinde daran Schuld sei, sie hätte das Kind in ihrem Leib verhext. Zum Glück hat dieser Verrückten keiner geglaubt.“

„Lass es gut sein, Podarge. Schließlich hat sie sich später entschuldigt“, widersprach Frau Geißler müde.

„Aber erst, nachdem du ihrem Vater geholfen hast, als er diesen schlimmen Husten bekam.“

„Und sonst niemand?“ lenkte der Elf die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Vielleicht haben Ihre Töchter...“

„Es waren gute, liebe Kinder“, beteuerte Zieglinde. „Dass sie jemand gehasst hat, kann ich mir nicht vorstellen.“

„Soweit ich weiß, haben Sie noch mehr Kinder.“

„Ja, zwei Jungs. Sie sind mit Freunden unterwegs. Ich würde meine Kinder ja inzwischen am liebsten immer daheim haben, aber die beiden sind in einem Alter, da geht das einfach nicht. Sie haben mir jedoch versprochen, immer in Gesellschaft zu bleiben und vor Sonnenuntergang heim zu kommen. Daran haben sie sich bisher immer gehalten. Es sind gute Jungs.“

Ihre Freundin machte indessen ein Gesicht, als sei sie ganz anderer Meinung.

„Und die Tochter, die eben hier war?“ fragte Gerald unvermittelt.

„Das war Geisella, meine Älteste.“

„Sie lebt bei Ihnen?“

„Nun ja, zumindest noch fürs Erste...“ Frau Geißler zögerte einen Moment, „sie plant gerade ihre Hochzeit.“

„Oh“, Gerald schoss das Blut in die Wangen. „Wer ist denn der Glückliche?“

„Er heißt Krotos und ist ein Faun“, antwortete Podarge. „Ein guter Junge, der Geisella aufrichtig liebt.“

„Ja, vermutlich“, murmelte die Geißin, wirkte jedoch nicht überzeugt.

Erkül Bwaroo hatte die Ablenkung derweil genutzt, um die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich zu lenken. Mit einem breiten Grinsen ließ er das Kind seine rechte Hand sehen, während er die linke auf seinen Spazierstock stützte. Er wedelte ein wenig mit der leeren Hand, machte dann eine schnelle Drehbewegung und hielt mit einem „È Voilá!“ wie aus dem Nichts ein Sahnebonbon zwischen den Fingern. Das Mädchen hatte erst verschämt, dann immer neugieriger seine Bewegungen verfolgt. Und als er ihm dann das Bonbon hinhielt, griff es zu.

„Wie sagt man, Zusi?“ fragte die Mutter ihre Tochter sanft.

„Danke“, hauchte die so leise, dass man es kaum hörte. Aber in ihren Mundwinkeln stand ein Lächeln, als sie eifrig die Süßigkeit auspackte und in den Mund schob.

Wohlwollend und milde betrachtete der Elf sie dabei. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Mutter zu, die nun ebenfalls ein wenig lächelte.

„Mit ist aufgefallen, dass Sie und ihre Kinder anscheinend die einzigen Geißenmenschen auf der Insel sind“, erklärte er unvermittelt.

„Ja, alle anderen sind weggezogen, wenn ihnen eine Stelle auf dem Festland angeboten wurde. Unsere Art versteht sich von Natur aus gut auf Pflanzen, wissen Sie? Wir sind geblieben, weil mein Mann sich um den Garten des Grafen kümmerte. Als er dann vor ein paar Jahren starb, habe ich überlegt, ebenfalls wegzugehen. Aber es gefiel mir und den Kindern hier, und wir hatten viele Freunde. Also sind wir geblieben.“

Merci, Madame.“ Erkül Bwaroo erhob sich. Er fragte nicht nach, woran der Geißenmann gestorben war. Er wollte nicht auch noch an dieses Leid erinnern. Diese Frage würden ihm auch andere beantworten können. „Ich bitte noch einmal um Entschuldigung, dass wir Sie belästigt haben. Nein, bitte, behalten Sie Platz. Wir finden allein hinaus.“ Er machte eine kleine Verbeugung vor Zieglinde und Podarge, zwinkerte dem Kind zu und verließ dann das Haus, gefolgt von Gerald Hagedorn.

„Haben Sie bemerkt, dass die Tür mit vier neuen Vorhängeschlössern gesichert ist?“, fragte der, als sie außer Hörweite waren.

Ah, vous êtes très attentif“, antwortete der Elf anerkennend. „Sehr aufmerksam, wirklich. Es ist ein Glück, das ich Sie an meiner Seite habe.“

Gerald lächelte geschmeichelt und strebte der Kutsche zu. Bwaroo aber blieb stehen und sah sich um.

„Diese Stelle am Strand – ist das weit von hier?“ fragte er.

„Nein, nicht sehr weit. Es ist übrigens ein Felsenplateau über dem Wasser, kein Strand. Man muss erst etwas hinunter klettern, wenn man das Meer erreichen will. Insgesamt ist es dort nicht gerade bequem, auch wenn es an und für sich ein hübsches, verborgenes Plätzchen ist. Aber wir werden zu Fuß gehen müssen. Es führt nur ein Trampelpfad dorthin, und der ist nicht breit genug für die Kutsche.“

Bwaroo besah sich skeptisch den Weg, auf den Gerald zeigte, und blickte dann auf seine Lackschuhe. Doch schließlich entschied er sich dafür, den Gang zu wagen. Der Pfad schien eben zu sein, und noch drückten die Lackschuhe nicht. Er bedeutete Gerald also, voran zu gehen, und folgte ihm forsch, oder besser, so forsch es in Lackschuhen und einem eleganten Anzug eben ging.

Am Tatort

Der Platz, den sie schließlich erreichten, lag wirklich sehr versteckt. Von dem Verbrechen, das dort geschehen war, war nichts mehr zu ahnen. Wind und Wetter hatten alle Spuren beseitigt. Nichts deutete mehr auf das Verbrechen hin, das dort geschehen war. Der ganze Platz bestand aus flachen Felsen ohne jede Vegetation. Zum Meer hin stürzte das Gestein gut zwei Meter zum Wasser hinab. Dichtes Buschwerk, das an den nicht dem Meer zugewandten Seiten wuchs, schützte vor fremden Blicken. Es gab nur eine Lücke zwischen dem Gebüsch. Dort mündete der Trampelpfad. Als Bwaroo sich umschaute, gewahrte er jedoch noch eine Bresche etwas weiter links, die etwas Großes geschlagen haben musste, um zu den Felsen zu kommen. Äste waren zerbrochen, Blätter von den Zweigen gefegt und einem Busch war so heftig zugesetzt worden, dass er mit halb herausgerissenen Wurzeln zur Seite geneigt vor sich hin welkte.

Erkül Bwaroo betrachtete diesen Busch aufmerksam und arbeitete sich dann sogar ein Stück in das Buschwerk hinein. Es war klar zu erkennen, dass sich hier jemand brachial einen Weg gebahnt hatte.

„Haben Sie etwas gefunden?“ Gerald war dem Detektiv gefolgt.

„Nur, dass hier jemand durch die Büsche gebrochen ist“, erklärte der nachdenklich. „Ob es etwas mit dem Verbrechen zu tun hat, kann ich allerdings nicht sagen. Es gibt vermutlich eine Menge Tiere, die hier entlang gekommen sein könnten.“

„Die Fauna hier ist tatsächlich beachtlich“, stimmte Gerald ihm zu. „Jede Menge Kaninchen – sprechende und ganz normale – Marder, Waschbären, Eichhörnchen, Maulwürfe, Biber und Dachse...“

„Alles eher kleine Tiere, die wohl kaum einen ganzen Busch entwurzeln können. Aber das bringt uns ohnehin kaum weiter“, unterbrach Bwaroo die Aufzählung. Er signalisierte seinem Begleiter, dass er zurück gehen wollte, und trat wenig später hinter ihm wieder auf die Felsenplatte hinaus.

Dort blieb er stehen, um aufs Meer hinaus zu blicken. Die inzwischen bereits sinkende Sonne konnte man zu dieser Seite hin nicht sehen, aber bei Nacht musste der Anblick des Sternenhimmels ganz wunderbar sein.

„Man sollte meinen, dass dieser Platz viel besucht wird“, überlegte er laut.

„Im allgemeinen werden die Sandstrände bevorzugt“, widersprach Gerald jedoch. „Tatsächlich wird der größte Teil der Insel von Sand gesäumt. Nur ein paar Hundert Meter weiter zum Beispiel findet man herrlichen, feinen, weißen Sand. Hier dagegen kann man kaum sitzen. Liegen dürfte auch nicht bequem sein, nehme ich an. Und ins Wasser kann man auch nur mit Mühe.“

„Verstehe“, der Elf nickte und blickte dann wieder schweigend aufs Meer hinaus.

„Äh, Herr Bwaroo...“, sprach Gerald Hagedorn ihn schließlich an, „nicht, dass ich Sie unterbrechen will. Aber... nun ja, meine Verwandten...“

Pardonnez moi, mon ami!“ Erkül Bwaroo hob mit einer entschuldigenden Geste die Hände, „Natürlich, ich verstehe. Ich wollte Sie keinesfalls aufhalten.“

„So schlimm ist es nicht“, wehrte der junge Mann ab. „Aber so langsam sollten wir umkehren.“

Bwaroo nickte. Die beiden Männer kehrten also zu ihrer Kutsche zurück.

„Könnten Sie mich bei der Wache absetzen?“ bat Bwaroo seinen Begleiter. „Ich möchte ein Wort mit diesem Korporal Habemus sprechen.“

„Werden Sie mich da nicht brauchen?“ fragte der zurück. „Vielleicht um Notizen zu machen.“

Non, mon ami, non“, widersprach der Elf jedoch. „Das kommt gar nicht in Frage. Sie werden zu Ihren Verwandten gehen. Die Wache – das ist nur Routine und Höflichkeit.“

Erleichtert nickte Gerald und lenkte die Kutsche zu der kleinen Stadt, in der die Wache ihren Sitz hatte.

„Der Ort heißt Unterschloss“, erläuterte er unterwegs, „weil er in unmittelbarer Nähe des gräflichen Anwesens liegt. Der Name ist etwas irreführend, denn eigentlich liegen beide, das Schloss und der Ort, auf gleicher Höhe. Es gibt da übrigens auch noch Oberschloss, auf der anderen Seite der Insel. Das ist aber nur ein Dorf. Nun ja, Unterschloss ist eigentlich auch nicht viel mehr als ein Marktflecken, aber es ist die größte Ortschaft auf der Insel.“

Bwaroo sah sich aufmerksam um. Kleine schmucke Häuser säumten die Straße. Die meisten waren aus Stein gebaut, mit einem Dach aus Schindeln oder aus Stroh und hatten einen kleinen Garten. Bis auf wenige Ausnahmen sahen alle gepflegt und sauber aus. Und selbst die Ausnahmen wirkten nicht so richtig verwahrlost, sondern eher, als würden seine Bewohner es lieber ein wenig lockerer angehen. Alles in allem ein angenehmes, munteres, liebenswertes Dorf, entschied der Elf.

***

„Du hättest ihm davon erzählen müssen“, tadelte Podarge ihre Freundin.

„Ach Unsinn!“ Zieglinde schüttelte den Kopf. „Das hat doch mit diesen schrecklichen Vorfällen nichts zu tun.“

„Wer weiß?“

„Du willst doch bestimmt nicht allen Ernstes behaupten, dass Anigone oder ihr Mann meine Zwillinge umgebracht und meinen Sohn geraubt haben, um sich dafür zu rächen, dass ich meiner Tochter den Umgang mit ihrem Sohn verboten habe!“

„Vermutlich nicht“, gab Podarge zu. „Zum Glück hat der Junge trotz deiner Widerstände weiter um Geisella geworben, bis du nicht mehr nein sagen konntest. Mir ist sowieso völlig schleierhaft, was du gegen Krotos hast. Er ist doch ein anständiger und zuverlässiger Kerl und er meint es ernst mit deiner Tochter. Einen besseren wird sie kaum finden. Was stört dich nur an ihm?“

„Er ist ein Faun.“

„Na und?“

„Geisella sollte sich einen Mann ihresgleichen suchen.“

„Und wo soll sie den hernehmen? Ihr seid nun mal die einzige Geißenfamilie auf der Insel. Willst du einen per Inserat suchen und dann herkommen lassen?“ Podarge lachte.

Aber Zieglinde blieb ernst.

„Ich habe überlegt, von hier weg zu ziehen“, sagte sie schließlich leise.

„Was?“ die Harpyie starrte sie fassungslos an. „Du willst fort von hier? Und das erfahre ich so ganz nebenbei? Wann hattest du denn vor, es mir mitzuteilen? Wenn ich dich mit den gepackten Koffern erwische?“

„Nein, natürlich nicht.“ Unwillig schüttelte die Geißin den Kopf. „Ich hätte es dir bei einer passenden Gelegenheit gesagt. Es ist ja auch noch gar nicht sicher, ob überhaupt etwas daraus wird. Geisella ist schon so mit Hochzeitsplänen beschäftigt – womöglich weigert sie sich.“

„Ich kenne dich doch! Im Grunde hast du dich längst entschieden“, klagte Podarge jedoch. „Und Geisella würde sich schweren Herzens fügen. Dafür würdest du schon sorgen. Wahrscheinlich weißt du bloß noch nicht, wohin du als Erstes gehen willst. Vermutlich hast du gleich mehrere Angebote.“

„Podarge! Also wirklich!“

„Tu doch nicht so. Eine Frau, die so aussieht wie du – und mit diesem umfassenden Wissen... du wirst niemals hilflos und allein in der Welt stehen.“ Der Harpyie stiegen die Tränen in die Augen und sie begann, hektisch an den Federn ihrer Flügel zu zupfen, damit die Freundin es nicht bemerkte. „Na ja, ich bin ja auch nicht deinesgleichen, nicht wahr? Ich bin nur eine Harpyie.“

„Podarge. Das ist nicht fair!“ beschwerte sich Zieglinde. „Die Beziehung zwischen uns beiden – das ist doch etwas ganz anderes.“

„Ach ja? Wie würdest du sie denn beschreiben?“

„Na, du... äh... bist meine Freundin.“

„Deine leicht ersetzbare Freundin.“

„Was hätte ich machen sollen? Dich bitten, mit mir zu gehen? Du hast dein Hotel...“

„Wenigstens fragen hättest du können!“

„Vielleicht hätte ich das noch getan.“

„Natürlich.“ Podarge bedachte die Freundin mit einem spöttischen Blick.

Die hob den Kopf, um den Blick zu erwidern. Doch dann schlug sie die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.

„Jemand ermordet meine Kinder“, schluchzte sie. „Dabei habe ich doch niemandem etwas getan! Ich habe Angst. Ich habe solche Angst! Wir können nicht hier bleiben, sonst habe ich bald keins meiner Kinder mehr.“

Sofort war die Harpyie bei ihr, nahm sie in die Arme und breitete schützend ihre Flügel um sie.

„Verzeih mir“, bat sie. „Ich war dumm und egoistisch. Natürlich hast du Angst. Das hätte jeder. Aber dieser Bwaroo wird den Schuldigen finden, ganz bestimmt! Alles wird wieder gut.“

„Nichts wird gut. Zwei meiner Mädchen sind schon tot. Und wer weiß, was aus meinem Buben geworden ist. Ich hasse diese Insel. Wir werden von hier weggehen.“

Nun, so, wie die Dinge stehen, wirst du auf jeden Fall noch eine Weile auf der Insel festsitzen“, stellte Podarge fest. „Solange jedenfalls, bis die Ermittlungen zu den Verbrechen an deinen Kindern abgeschlossen sind. Aber hab keine Angst, ich bin immer für dich da.“

Zieglinde sah sie jedoch nur zweifelnd an.

Auf der Polizeiwache

Gerald zügelte das Pferd. Die Kutsche hielt vor einem Bau, der im Verhältnis zu den Dorfhäusern wuchtig wirkte, obwohl er genau genommen auch wieder nicht so groß war. Die Mauern aus behauenen Steinen waren unverputzt und grau, die Fenster schmal.

„Da wären wir“, deutete der junge Mann. „Das ist die Wache.“ Er sprang vom Kutschbock, um wieder den Schlag zu öffnen, doch diesmal kam ihm der Elfendetektiv zuvor und stieg ohne Hilfe aus.

„Ich könnte einem Diener sagen, dass er Sie wieder abholt“, bot Gerald an. „Das wäre gar kein Problem.“

„Das ist sehr freundlich, merci“, winkte Bwaroo jedoch ab. „Aber ich denke, ich werde zurück laufen. Wenn ich mir das richtig gemerkt habe, ist es nicht ja allzu weit.“

„Weit ist es nicht, das stimmt.“ gab der junge Mann zu. „Na gut. Wie Sie meinen.“

Erkül Bwaroo drehte ihm bereits den Rücken zu, da rief er den Detektiv noch einmal an: „Ach, Herr Bwaroo!“

Der Elf blickte fragend zu ihm zurück.

„Meine Verwandten und ich werden zusammen Abendessen“, erklärte Gerald, nun sichtlich verlegen. „Und ich dachte mir... also, vielleicht... es wäre uns eine große Ehre, wenn Sie zu uns stoßen würden. Das Lokal, das ich gewählt habe, hat wirklich eine ausgezeichnete Küche.“

Der Elfendetektiv zögerte. Erneut Malvine Hagedorn zu begegnen, war nicht gerade etwas, worauf er erpicht war. Doch schließlich gab er sich einen Ruck und sagte tapfer zu. Gerald gewann dadurch schlagartig seine gute Laune zurück. Sein Onkel und seine Tante würden sich sicher sehr freuen, behauptete er. Bwaroo bezweifelte das, nahm jedoch an, dass der junge Mann sich gerne damit brüsten wollte, wie er dem berühmten Detektiv zur Hand ging. Er schmunzelte, nickte ihm noch einmal heiter zum Abschied zu und wandte sich dann an den Wachmann, der am Eingang stand.

„Zu Korporal Habemus“, bat er.

Der Wachhabende musterte den rundlichen Elfen diskret, aber ausgiebig. Was konnte dieser lächerliche, kleine Kerl mit dem riesigen Schnurrbart und der viel zu eleganten Kleidung wohl von seinem Vorgesetzten wollen?

„Erwartet Sie der Korporal?“ wollte er mürrisch wissen.

Bien sûr. Das will ich doch sehr hoffen“, antwortete der Elf herablassend und tippte ungeduldig mit dem Spazierstock auf den Boden. „Ich bin Erkül Bwaroo.“

Der Wachhabende zögerte. Da war doch tatsächlich eine Anweisung gewesen wegen eines Detektivs, den der Chef erwartete. Einem Elfen. Und der kleine Kerl hier mit dem Eierkopf war zweifellos ein Elf. Ein Elf mit bemerkenswert spitzen Ohren, wenn auch etwas klein und ungewöhnlich breit. Einen Detektiv stellte sich der Wachmann jedoch irgendwie ganz anders vor. Andererseits schien sich der Bursche seiner Sache wirklich sicher zu sein. Und wenn das der Erwartete war und er schickte ihn jetzt wieder weg, konnte das mächtigen Ärger bedeuten.

Also gab der Wachmann endlich zackig den Weg frei und bedeutete dem Elfen, ins Haus zu gehen. Sollte sich doch der am Empfang den Kopf darüber zerbrechen.

Drinnen wurde der Elf von einem Uniformierten begrüßt, der dem Aussehen nach eigentlich ein Zwerg sein sollte, aber auf gleicher Höhe mit dem Elfen hinter einem Tresen stand, der breit und abweisend den Weg versperrte.

„Sie sind also der berühmte Detektiv“, rief er begeistert, als Bwaroo sich vorstellte. Der Elf neigte geschmeichelt den Kopf, während der Wachmann eifrig um den Tresen herum trippelte und ihm plötzlich nur noch bis knapp über die Taille reichte.

„Der Chef erwartet sie schon!“, eröffnete er Bwaroo und eilte voran in einen Gang, der seitlich aus dem Zimmer führte. Bevor der Detektiv ihm folgte, beugte er sich noch schnell über den Tresen und entdeckte ein Trittbrett, das etliche Zentimeter über dem Boden am Tresen entlanglief. Befriedigt über die Lösung des kleinen Rätsels schritt er dann ebenfalls in den Gang und blieb vor einer Tür stehen, durch die auf das Anklopfen des Zwerges ein lautes „Herein“ zu ihnen drang.

Der Wachmann öffnete die Tür und hielt sie für Bwaroo auf, wobei er sich auch gleich wieder verabschiedete und davon eilte. Der Elf trat also ein und sah sich einem gewaltigen Löwen mit zinnoberfarbenem Fell gegenüber. Doch halt! Der Löwe hatte ein menschliches Gesicht, seine vorderen Tatzen endeten in Fingern und der Schwanz in einer Kugel aus scharf aussehenden Stacheln. Korporal Habemus war ein Mantikor.

„Ha! So sehen Sie also aus! Der berühmte Detektiv!“ Habemus' Stimme gemahnte ebenfalls an einen Löwen. „Hätte Sie mir größer vorgestellt.“

Erkül Bwaroo wollte gerade protestieren, da winkte der Korporal aber auch schon mit einem Grinsen ab. „Nichts für ungut. Bin eben Soldat. Und Körpergröße sagt ja nichts über Verstand aus, nicht?“

Er lachte so dröhnend, dass das Glas Milch erzitterte, das auf seinem Schreibtisch stand. Der Elf stimmte ein wenig gezwungen in das Lachen ein.

„Nun, die kleinen grauen Zellen beschränken sich im allgemeinen auf den Kopf“, stimmte er Korporal Habemus zu und deutete mit dem Finger an seine Stirn.

„Na, sag ich doch“, dröhnte der Korporal und drängte seinen Besucher zu einem Stuhl. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich! Bin der Ansicht, im Sitzen redet man leichter. Ein Glas Milch?“

Bwaroo setzte zu einer Antwort an, da brüllte der Korporal bereits: „Gilliver! Noch ein Glas Milch!“

Der Elf verzog gequält das Gesicht. Wahrscheinlich würde er taub sein, bis er diese Wachstation wieder verließ. Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da wurde die Tür aufgerissen und der Zwerg stürmte herein, ein volles Glas Milch in der Hand. Wie er es bei seiner Geschwindigkeit schaffte, keinen Tropfen zu verschütten, war Bwaroo ein Rätsel. So, schnell, wie er gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden.

„Guter Mann, Sergeant Gilliver“, lobte Korporal Habemus derweil. „Prächtiger Bursche. Einer meiner besten.“

Er prostete Bwaroo zu, der seinerseits das Glas hob und einen Schluck nahm. Die Milch war köstlich. Insgeheim dankte der Elf dem Korporal, dass er gar nicht erst auf die Idee gekommen war, ihm Tee anzubieten. Bwaroo liebte eine gute Tasse Tee, nur hatte sich leider eingebürgert, immer und überall Hagebuttentee zu trinken – die einzige Sorte, der er so gar nichts abgewinnen konnte.

„Sie wissen natürlich, dass ich wegen der Morde gekommen bin“, begann er schließlich das Gespräch.

„Versteht sich. Graf Alexander hat mich instruiert. Ist der Oberbefehlshaber hier. Nominell.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739302089
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Fantasy Krimi Humor Ermittler Thriller Spannung Satire Parodie

Autor

  • Ruth M. Fuchs (Autor:in)

Ruth M. Fuchs lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in der Nähe von München. Von April 2000 bis Dezember 2013 gab sie dreimal jährlich das Magazin „Neues aus Anderwelt“ heraus. Aufgrund ihrer dort erschienenen Artikel regte der Eulenverlag sie 2003 an, das Sachbuch „Die wunderbare Welt der Elfen und Feen“ zu schreiben und als Ruth Schuhmann, wie sie damals noch hieß, zu publizieren. Danach ließ sie das Schreiben nicht mehr los.
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Titel: Erkül Bwaroo auf der Fabelinsel