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Erkül Bwaroo und der Mord im Onyx-Express

von Ruth M. Fuchs (Autor:in)
190 Seiten
Reihe: Erkül Bwaroo ermittelt, Band 4

Zusammenfassung

Als Erkül Bwaroo mit seinem Freund Dr. Artur Heystings im „Onyx-Express“ reist, geschieht ein Mord. Natürlich macht sich Bwaroo mit seinen kleinen grauen Zellen schnell daran, den zu finden, der die blutige Tat vollbrachte. Außer Bwaroo und Heystings fahren noch zwölf weitere Fahrgäste in diesem Zug. Alle kannten den Toten, dessen Verlobte sich vor einigen Jahren umbrachte. Jeder hat ein Motiv. Möglicherweise wollte die Mutter der Verlobten ja Vergeltung üben. Oder die Schwester der Toten beging den Mord, um Rache zu nehmen. Vielleicht war es aber auch die kapriziöse Operndiva, die so schlecht auf ihren Eiderdaunendecken schlief? Ist die Pianistin, die Heystings den Kopf verdreht, wirklich so harmlos, wie sie scheint? Und was versucht der kämpferische Zwerg zu verbergen? Der Elfendetektiv und sein Freund finden sich bald in einem Netz von Geheimnissen, Skandalen und Intrigen wieder, als sie versuchen, den Täter zu entlarven. Zwölf Verdächtige, zwölf Motive. Ein Mörder. Oder ist doch alles ganz anders? Dieses Buch ist eine humorvolle Hommage an eine große, englische Kriminalautorin, ihren berühmten, belgischen Detektiv und ihren 'Mord im Orient-Express'.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Reise beginnt

Mein alter Freund Erkül Bwaroo und ich saßen auf der Terrasse des „Café Feenpalast“. Wir genossen den Blick auf die Teims und die Docks, tranken Tee und lasen Zeitung. Während ich mich der 'Zeiten' widmete, studierte mein Freund eines dieser zahlreichen Boulevardblättchen. Es ist mir ja unbegreiflich, warum ein Mann von seinem Format so gerne die Klatschseiten liest. Aber genau das tat er.

„Der Herrscher des Ostreiches soll Königin Rosalinde einen Antrag gemacht haben, den sie höflich aber bestimmt zurückwies“, las er vor.

„Tatsächlich“, meinte ich ohne großes Interesse. „Wenn es überhaupt stimmt. Diese Reporter dichten sich doch gerne was zusammen.“

„Stimmt“, gab Bwaroo zu. „Aber hier – hören Sie: Der berühmte Riesendiamant, den man nach seinem Fundort 'Stern des Nordens' genannt hat, wurde gestern versteigert. Die Familie Kreidell erhielt den Zuschlag, nachdem ihr Mittelsmann sogar das Königshaus des Nordens überboten hatte. Die königliche Familie wollte das Kleinod im eigenen Land behalten, wo es einst auch gefunden worden war, heißt es. Doch nun nennt ihn eine Elfenfamilie ihr Eigen.“ Er blätterte um. „Oh!“, rief er dann. „Das wird Sie freuen, Heystings! Die berühmte Sopranistin Berenice Arundel wird die Saison im Opernhaus von Pendrin eröffnen. Sie wird den Part der Titania im 'Wintertagsmärchen' von Benjamin Nettirb singen. Da trifft es sich doch ausgezeichnet, dass wir beide gleich in Ihre Heimatstadt aufbrechen werden.“

„Falls noch ein zweites Abteil frei sein sollte“, brummte ich. Denn noch hatten wir keine Bestätigung, dass auch ich einen Platz im Onyx-Express finden würde, dem Zug, in dem Bwaroo nach Pendrin zu reisen vorhatte. Aber eigentlich war es nicht das, was mir Sorgen bereitete. Ich kann mit Oper einfach nichts anfangen, Bwaroo aber ist verrückt danach. So befürchtete ich, dass er mich zu einer Vorstellung einladen könnte.

„Singt sie vielleicht auch einmal in einer Operette?“ fragte ich hoffnungsvoll.

Ah, mon ami, c'est absurde“, regte sich mein Freund da aber auf. „Eine Operette – diese Frau! Ein Sopran so klar wie ein Kristall! Non, jamais! Operetten! Seichte Musik und früher oder später stehen alle mit einem Glas Champagner herum und singen davon, wie schön es ist, wenn man betrunken ist.“

„Sie übertreiben“, wandte ich ein und hob meine Zeitung, um vielleicht auf die Schnelle ein Thema zu finden und Bwaroo damit abzulenken. Zum Glück wurde ich fast sofort fündig.

„Hören Sie, Bwaroo“, rief ich also, „hier steht, dass der neue Dämpfungszauber ein wahrer Verkaufsschlager ist. Alle Welt will ihn haben. Die Gräfin Ohlstein hat bei einem Interview erklärt, dass sie früher immer nur Zug gefahren ist, weil ihr das Gerüttel und Gerumpel in einer Kutsche einfach unerträglich war. Doch mit dem neuen Dämpfungszauber ist die Fahrt so bequem geworden, dass sie jetzt ausschließlich ihre Kutsche nutzt.“

Bwaroo hatte sich schon wieder beruhigt.

„Natürlich hat die Meinung der Gräfin nichts mit Klatsch zu tun“, kommentierte er und zwinkerte mir zu.

„Natürlich nicht!“ Ich stutzte. „Na ja, vielleicht geht das doch in die Richtung ...“ gab ich dann zu, wollte mich aber nicht so schnell geschlagen geben. „Aber das Hauptaugenmerk liegt doch auf dieser neuen Errungenschaft!“ fügte ich daher dazu.

Bien sûr“, lenkte er ein und lächelte mich an. „Und was Ihren Platz im Onyx-Express angeht – seien Sie unbesorgt. Sollte wirklich nichts mehr frei sein, werde ich auf mein Abteil in diesem Zug verzichten und mit Ihnen in der ganz normalen Bahn fahren.“

Ich war gerührt. In einem gewöhnlichen Zug zu reisen, wäre tatsächlich eine Zumutung für meinen Freund. Sein Hang zum Luxus und zum Perfektionismus hatte wahrlich etwas Possierliches an sich. Ihn sich in einem gewöhnlichen Liegewagen mit drei anderen Personen vorzustellen – undenkbar. Obwohl ich zugeben muss, dass Bwaroo sich sicher damit abgefunden hätte. Es wäre wohl eher so gewesen, dass er die drei anderen Reisenden mit seinen Ratschlägen, wie man am besten begrenzten Platz nutzen kann, oder wie man sich auf den schmalen Liegen betten muss, um sicherzustellen, dass man nicht herunterfällt, sicherlich zur Verzweiflung getrieben hätte. Nein, Bwaroo in einem einfachen Zug war völlig unmöglich. Aber dass wir gemeinsam in meine Heimatstadt reisen würden, war auch gar nicht vorgesehen gewesen. Ich hatte Bwaroo am Vorabend aus einer Laune heraus besucht, als ich geschäftlich in Laundom zu tun hatte, und fand ihn beim Packen. Wie es der Zufall wollte, hatte er vor, tags darauf, also heute, nach Pendrin zu fahren. Was lag da näher, als dass wir zusammenfuhren? Allerdings reiste mein alter Freund eben nicht mit der einfachen Eisenbahn, sondern hatte sich den Onyx-Express ausgesucht, einen Luxuszug, der jede erdenkliche Bequemlichkeit bietet und zudem noch eine besonders reizvolle Strecke fährt. Der Zug wird vor allem von Adligen und der begüterten Oberschicht genutzt, um nach Pendrin zu reisen, das ein bekannter, ja geradezu mondäner Kur- und Ferienort ist. Im Frühling treffen sich dort alle bekannten und einflussreichen Persönlichkeiten, und natürlich auch solche, die dafür gelten wollen. Man trinkt dann das heilwirkende Wasser und spaziert die luxuriösen Boulevards auf und ab. Dort während der Saison gesehen zu werden und zu den zahlreichen Abendgesellschaften geladen zu werden, ist mindestens ebenso wichtig wie die Sorge um die eigene Gesundheit. Mir war das natürlich sehr recht, denn während der Saison hatte ich so viele Patienten, dass ich den Rest des Jahres meine Praxis eigentlich schließen konnte.

Eigens für die Reichen und Schönen, die nach Pendrin fuhren, gab es den Onyx-Express. Und bei dem Geltungsbedürfnis, das mein Freund Erkül Bwaroo, das muss ich leider sagen, zweifellos besitzt, kam kaum ein anderer Zug in Frage. Dass Bwaroo bereit war, darauf zu verzichten, um in meiner Gesellschaft zu sein, bedeutete für ihn ein großes Opfer.

„Na ja, es wird schon noch etwas frei sein“, meinte ich daher lächelnd. „Wenigstens in den Zweibettabteilen.“

„Ah, mon ami, da bin ich nicht so sicher“, widersprach Bwaroo jedoch. „Der Onyx-Express fährt nicht mehr jede Woche während der Saison, sondern nur noch viermal. Ich glaube, das liegt an dem von Ihnen so gepriesenen Dämpfungszauber. Die Leute steigen nun lieber auf die Kutsche um, so seltsam das auch ist. Denn selbst eine Kutsche, die einen nicht durchrüttelt, bietet nicht die Annehmlichkeit einer heißen Schokolade bei sausender Fahrt und dergleichen mehr.“

„Aber es hat doch auch Vorteile, wenn man nicht an Fahrpläne gebunden ist“, gab ich zu bedenken. „Oder an eine durch Schienen vorgegebene Strecke. Mit der eigenen Kutsche ist man einfach unabhängiger.“

„Gut, man ist unabhängiger“, gestand Bwaroo zu. „Mais c'est rien. Dafür muss man auf fast alle anderen Behaglichkeiten einer Reise verzichten.“ Er hielt kurz inne und strich sich gedankenvoll seinen enormen Schnurrbart. „Wer die zu schätzen weiß, muss nun einmal früh sein Abteil reservieren, denn da der Zug selten fährt, sind die Plätze entsprechend begehrt. Einige Leute, die Behaglichkeit der Unabhängigkeit vorziehen, gibt es eben doch noch.“

Ich lächelte. Auch ich hatte ja vorgehabt, einen anderen Zug zu nehmen. Doch ich muss zugeben, dass mir die Aussicht durchaus auch behagte, so luxuriös und komfortabel nach Hause zu reisen, und das auch noch schneller.

„Wie kommt es eigentlich, dass Sie nach Pendrin fahren, Bwaroo?“, wollte ich wissen.

„Ich will mich erholen und ausspannen“, erklärte Bwaroo mit gewichtiger Miene. „Mein Arzt hat zumindest behauptet, ich hätte das nötig, als ich bei der letzten Untersuchung über ein wenig Atemnot klagte. Er sagte auch, ich sollte ein paar Pfund abnehmen, mais c'est absurde. Es ist ja wirklich nur eine ganz seltene, kurze Atemnot, eigentlich nicht mehr als das Bedürfnis, ab und an stehenzubleiben und tief Luft zu holen. Nichts Besonderes. Das hat doch jeder manchmal. Ein erholsamer Urlaub wird ausreichen, um das wieder ins Lot zu bekommen.“

„Natürlich.“ Ich lächelte. Von Bwaroo zu verlangen, dass er sich beim Essen – vor allem bei Leckereien wie Würzmilch, Schokolade oder Törtchen – mäßigen sollte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Und so war ich recht froh darüber, dass Bwaroo einen anderen zu seinem persönlichen Arzt erkoren hatte, der ihm solch unangenehme Dinge sagen musste. Ich lebte ja auch zu weit weg, um ihn angemessen zu betreuen. Aber selbst wenn ich in seiner unmittelbaren Nachbarschaft gewohnt hätte, hätte ich es vorgezogen, nicht sein Leibarzt zu sein. Es hätte mit Sicherheit unserer Freundschaft geschadet.

„Ich dachte mir ...“, fuhr er da auch schon fort, „dass das berühmte Wasser aus Pendrins Heilquellen ganz sicher nicht schaden kann. Und die Saison dort fängt gerade an. Alles, was Rang und Namen hat, wird dort sein.“

Das stimmte. Schließlich war das auch der Grund, warum ich jetzt zurückfuhr. Es war höchste Zeit, meine Praxis wieder zu öffnen, denn an Patienten würde es mir in den nächsten Wochen nicht mangeln.

Ich wollte gerade eine entsprechende Bemerkung machen, als ein Mann auf uns zugeeilt kam. Er war mittleren Alters und eine sehr gepflegte Erscheinung in einem eleganten Tagesanzug. Bwaroo kannte ihn offensichtlich nicht, denn er blickte ihn sehr verwundert an. Der Fremde aber schien meinen Freund sehr wohl zu kennen.

„Herr Bwaroo!“ rief er, noch ehe er unseren Tisch erreicht hatte. „Der berühmte Herr Bwaroo! Ich habe ja schon so viel von Ihnen gehört. Der bekannte Detektiv in meinem Zug ...“

Als er uns erreicht hatte und unsere verwirrten Mienen sah, riss er sich jedoch zusammen, räusperte sich und fuhr leiser fort: „Entschuldigung. Ich habe mich hinreißen lassen. Der Onyx-Express ist natürlich nicht direkt mein Eigentum, ich bin nur der Direktor der Gesellschaft, die ihn betreibt.“

„Dann ist ein Platz frei?“ fragte Bwaroo und ließ alles andere außer Acht.

„Ja, einer der Mitreisenden scheint nicht zu kommen. Eine der Einzelkabinen steht damit zu Ihrer Verfügung.“

Parfaitement!“ freute sich Bwaroo und erhob sich sogleich. „Heystings, ich habe es doch gesagt! C'est formidable. Das Abteil ...“, wandte er sich dann freundlich an den Direktor, „ist für meinen guten Freund hier, Artur Heystings.“ Er wies auf mich. „Wäre kein Platz mehr frei gewesen, hätte auch ich auf die Reise in Ihrem schönen Zug verzichtet.“

„Das wäre aber wirklich bedauerlich gewesen!“ Dieser Zugdirektor nahm mich kaum zur Kenntnis, was mich etwas ärgerte. Ich bin schließlich kein lästiges Anhängsel von Erkül Bwaroo, so groß sein Ruhm als Elfendetektiv auch sein mag. Aber ich beschloss, ihn seinerseits einfach zurück zu ignorieren, und griff deshalb nach meinem Gepäck.

Als Bwaroo es mir gleichtun wollte, kam ihm der Direktor jedoch zuvor.

„Nicht doch, Herr Bwaroo, das nehme ich“, erklärte er lächelnd. „Mein Name ist übrigens Christopher, Jonas Christopher. Ich werde ebenfalls mit dem Zug reisen. Die Gesellschaft hält für solche Fälle eine Extra-Kabine für die Gesellschafter bereit. Da werden wir uns also öfter sehen! Das freut mich außerordentlich. Es gibt so viel, das ich Sie fragen will. Am besten essen wir zusammen. Ich werde dem Kellner entsprechende Anweisungen erteilen.“

Forsch eilte er voran.

„Machen Sie sich nichts draus, mon ami“, wandte sich Bwaroo tröstend an mich. „Nicht jeder erkennt auf Anhieb Ihre Qualitäten.“

Damit trippelte er Christopher hinterher und mir blieb nichts anderes übrig, als mit meinen zwei Koffern den beiden zu folgen.

Ich hatte mir schon öfter überlegt, woher der Zug wohl seinen Namen hatte. Schließlich war das nicht unbedingt eine naheliegende Bezeichnung – Pendrin-Express hätte sich eher angeboten, fand ich. Doch als wir den Zug erreichten, verstand ich, warum er Onyx-Express genannt wurde. Der ganze Zug, einschließlich der Waggons, war bis auf einige Elemente in Gold in glänzendem Schwarz lackiert. Jetzt, da die Morgensonne den Lack zum Leuchten brachte, erinnerte er tatsächlich an jenen schwarzen Edelstein, den Onyx. Bewundernd blieb ich einen Moment stehen. Aber Bwaroo und Christopher stiegen bereits ein, also beeilte ich mich, es ihnen gleich zu tun.

Drinnen war es beinahe so eng wie in jedem anderen Zug. Ich stieß fast mit einem Zwerg zusammen, der im Gang vor einer offenen Kabine stand. Er war groß für einen Zwerg, gehörte jedoch eindeutig dieser Spezies an. Obwohl er ein einfaches Lederwams trug und barhäuptig und unbewaffnet war, ließen die gerade Haltung, die zurückgenommen Schultern und das vorgeschobene Kinn sofort den Militär erahnen. Sein gewaltiger brauner Bart war in mehrere Zöpfe geflochten, die jeweils von einem Goldring gehalten wurden. Er stand vor der offenen Tür seines Abteils und hatte eine Pfeife in der Hand. Anscheinend war er auf dem Weg zu einem Plätzchen, wo er sie schmauchen durfte – in den Kabinen selbst war es nicht gestattet, wie an der Tür zu lesen stand. Ich nickte ihm zu und stellte die Koffer ab, um ihn vorbei zu lassen.

In diesem Moment kam aus der anderen Richtung ein Zugbegleiter. Zumindest nahm ich das an. Eigentlich waren ja nur seine Beine zu sehen hinter dem Berg von Eiderdaunendecken, den er trug. Der Zwerg trat in das offene Abteil, um ihm Platz zu machen. Aber genau in diesen Raum wollte der Deckenträger, und so stand der Zwerg noch mehr im Weg als vorher. Bei dem Versuch, dem Zugbegleiter auszuweichen, ließ er auch noch seine Pfeife fallen und musste sich erst nach ihr bücken, ehe er sich endlich vorbei zwängen konnte.

„Hasse es, im Weg zu sein“, murmelte er ärgerlich. Dann bemerkte er, dass ich zugeschaut hatte, und wandte sich mir zu. „Hauptmann a.D. Gerdel Gneiß“, stellte er sich vor.

„Dr. Artur Heystings.“ Wir schüttelten uns die Hände. Dann schauten wir beide zu, wie der Zugbegleiter seine Decken auf dem Bett ausbreitete.

„Sie gehen davon aus, dass es extrem kalt wird, Hauptmann?“ fragte ich.

„Ich? Wieso?“ Er sah mich verblüfft an.

„Nun ja, wenn Sie so viele Decken ...“

„Potz Blitz, das fehlte noch! Nein, nein. Das ist nicht mein Abteil.“ Er lachte dröhnend. „Hab eine Zweibettkabine. Das genügt vollauf für einen Soldaten wie mich. Auch wenn ich inzwischen außer Dienst bin. Ich teile sie mit einem Menschen, was vollauf in Ordnung ist. Hatte schon Angst, dass es der Troll sein würde. Ziemlich breit, so ein Troll.“

„Es fährt ein Troll mit?“ staunte ich.

„Hab zumindest einen vorbeigehen sehen“, nickte der Hauptmann. „Wenn Sie mich nun entschuldigen würden. Ich muss dringend auf die hintere Plattform. Dumme Angewohnheit, das Rauchen ...“ Er grinste breit und zuckte die Achseln. „Woanders ist es nicht erlaubt. Kann wahrscheinlich froh sein, dass es überhaupt irgendwo geht.“

„Ach, jeder von uns raucht doch hin und wieder gerne mal eine Zigarre oder eben eine Pfeife“, meinte ich. „Da muss auch ein Ort angeboten werden, wo man das tun kann. Besonders in einem Luxuszug wie diesem, der den Anspruch erhebt, keine Wünsche offen zu lassen.“

„Stimmt schon“, nickte Gneiß. „Hab ja auch Verständnis für die Einschränkung. Kalter Rauch im Schlafzimmer ist wirklich was Ekelhaftes.“

Ich stimmte ihm aus vollstem Herzen zu. So etwas ist wirklich ausgesprochen unangenehm, und ich war der Eisenbahngesellschaft durchaus dankbar, dass sie die Abteile rauchfrei halten wollte. Gneiß und ich tauschten noch ein paar Höflichkeiten, und dann ging er davon.

„Heystings, wo bleiben Sie denn?“ rief mir da auch schon Bwaroo zu. Er stand in der Tür zum letzten Abteil in diesem Waggon. „Ist das nicht praktisch? Sie haben die Kabine gleich neben meiner.“ Er wies auf die noch verschlossene Tür zwischen seiner und der, in der der Zugbegleiter eben seine Arbeit beendete.

Ich öffnete also diese Tür und nahm meine beiden Koffer, um sie hineinzutragen.

„Aber das ist die Kabine von Herrn Hendrick“, protestierte da eine Dame empört. Sie erinnerte mich an ein Segelschiff, denn sie trug einen Schal, der sich bei der Eile, die sie an den Tag legte, hinter ihr blähte wie ein Segel. Sie hätte allerdings auch ein Dampfschiff sein können, denn sie schnaubte entrüstet und blieb mit in die Seiten gestemmten Armen drohend vor mir stehen.

„Ich bin ganz sicher“, fuhr sie fort. „Er sollte die Kabine neben meiner haben. Mit einer Verbindungstür.“

„Da Herr Hendrick ganz offensichtlich nicht kommen wird, hat dieser Herr hier die Kabine erhalten“, klärte der Zugbegleiter sie da jedoch auf. Er trat eben aus der Tür des Abteils mit den vielen Federbettdecken. Die waren also für diese Dame bestimmt.

„Aber das ist unerhört! Herr Hendrick hat für die Kabine schließlich im Voraus bezahlt!“ ereiferte sich die Dame weiter und stach mit dem Zeigefinger regelrecht ein Loch in die Luft. „Eine bodenlose Frechheit! Und was ist, wenn er doch noch kommt?“

„Das ist unmöglich, weil wir gerade losfahren und die Türen bereits verriegelt sind“, erläuterte der Zugbegleiter geduldig. „Herrn Hendrick wird sein Geld selbstverständlich erstattet ...“

„Unverschämtheit!“ rief die Dame aber nur, stürzte in ihr Abteil und knallte die Tür hinter sich zu.

Der Zug schwankte leicht, was aber nicht am Temperament der Dame lag, sondern daran, dass wir den Bahnhof verließen.

„Mir scheint, Sie haben eine heißblütige Nachbarin, Heystings“, kommentierte Bwaroo die Szene.

„Das tut mir sehr leid“, versicherte der Zugbegleiter verlegen.

„Es ist ja nicht Ihre Schuld“, beruhigte ich ihn jedoch. „Und die Dame wird sich gewiss damit abfinden. Können Sie mir übrigens sagen, wer sie ist?“

„Das ist Frau Berenice Arundel“, kam es vom Zugbegleiter wie aus der Pistole geschossen. „Die berühmte Sopranistin.“

„Die Opernprinzessin!“ Bwaroo nickte. Er hatte sie offenbar erkannt.

„Sie scheint ja sehr kälteempfindlich zu sein“, bemerkte ich.

Doch der Zugbegleiter lachte nur.

„Nein, die Federbetten hat sie nicht bekommen, weil es ihr zu kalt ist“, deutete er völlig richtig, worauf ich anspielte. „Sie hat sich vielmehr beklagt, dass die Matratze zu hart ist, und darauf bestanden, dass wir noch zwei Steppdecken darauf legen, damit sie weicher liegt.“

„Ah, eine Diva, auch wenn es ums Schlafen geht“, kommentierte Bwaroo schmunzelnd. „Es ist sicher nicht einfach, hier alle Wünsche zu erfüllen.“

„Oh, die meisten Gäste sind sehr angenehm und nicht übermäßig anstrengend“, versicherte der Zugbegleiter jedoch. Der Zug hatte inzwischen Fahrt aufgenommen und schwankte rhythmisch, allerdings überraschend wenig. Ich hatte eigentlich mehr Rumpeln erwartet, da wir auf dem Weg aus der Stadt ja einige Weichen zu passieren hatten. Aber dieser Luxuszug besaß anscheinend eine bessere Federung als die herkömmlichen Züge. Vielleicht gab es ja auch einen Dämpfungszauber für Luxuszüge wie diesen.

Während unserer Unterhaltung war ein Mann herangetreten. Ohne auch nur einen kurzen Gruß öffnete er die Tür der übernächsten Kabine und verschwand darin. Ich hatte ihn nur flüchtig wahrgenommen, doch er schien mir ausgesprochen gutaussehend zu sein. Sein Anzug saß perfekt und kostete sicher mehr, als ich in einer Woche verdiente. Ich hatte außerdem spitze Ohren bemerkt und schloss daraus, dass es sich um einen Elfen handeln musste.

„Kabine 4. Herr Moris Kreidell ...“, quittierte der Zugbegleiter weiter meine nur zu offensichtliche Neugierde. Er war es wohl gewöhnt, nach den Mitreisenden ausgefragt zu werden.

Erkül Bwaroo nickte nur wissend. Aber selbst ich, der ich wirklich kaum die Klatschpresse lese, kannte den Namen: Moris Kreidell war ein junger Elf, der einzige Sohn reicher Eltern. Man konnte oft in den einschlägigen Magazinen über ihn lesen, von seinen wechselnden Liebschaften oder wenn er sich auf irgendeiner Party mal wieder daneben benommen hatte. Sein Charakter schien wenig in Einklang zu stehen mit seinem guten Aussehen.

„Sie kennen die Namen aller Passagiere dieses Waggons?“, staunte Bwaroo.

„Ich mache es mir zur Aufgabe, mir alle Namen schon vorab einzuprägen“, erklärte der Zugbegleiter und zupfte verlegen an der Goldlitze, die den Aufschlag seiner blauen Uniform zierte. Er war noch sehr jung und fuhr sicherlich noch nicht lange in diesem Luxuszug. „Es sind mit Ihnen fünfzehn Reisende in diesem Zug – plus dem Direktor. Ach ja, er bittet Sie, in einer Stunde im Speisewagen zu sein. Er will alle Fahrgäste begrüßen und so ...“

Merci bien. Ich werde da sein, Monsieur ... äh ...“

„Tony. Einfach nur Tony.“

„Danke Tony.“ Erkül Bwaroo drückte ihm lächelnd ein Trinkgeld in die Hand.

Tony bedankte sich, lächelte uns freundlich zu und tippte sich zum Gruß an die Mütze. Dann ging er weiter nach vorn in den zweiten Waggon, in dem die Zweibettkabinen untergebracht waren.

Endlich konnte ich meine beiden Koffer ins Abteil bringen. Die erwies sich als erstaunlich geräumig, ganz in Mahagoni getäfelt, mit einem breiten Bett auf der einen Seite, einem Schrank und einer Waschgelegenheit auf der anderen. Und vor dem Fenster hatten sogar noch ein Sessel und ein Tischchen Platz gefunden, wobei Letzteres mit einer Seite an der Wand befestigt war. Eine kleine Schublade unter der Tischplatte enthielt, wie mir ein kurzer Blick hinein zeigte, in vorgefertigten Fächern Schreibpapier mit dem Schriftzug des Onyx-Express' und diverses Schreibzeug: zwei Bleistifte, ein kleines Tintenfass und ein Federhalter. Die Vorhänge am Fenster, der Sessel und die Tagesdecke des Bettes waren alle im selben Muster aus Dunkelgrün und Ocker gehalten, was sehr gut zu dem rötlichen Mahagoni passte. Das kleine Waschbecken und die Ablage unter einem schlichten Spiegel waren aus weißem Marmor. Wie schon erwähnt, fahre ich normalerweise mit ganz normalen Personenzügen und höchstens einmal im Liegewagen. Ich wusste die elegante Ausstattung des Abteils also durchaus zu schätzen und sah mich zufrieden um.

Gerade hatte ich das letzte Kleidungsstück aus meinem Koffer im Schrank verstaut, als mich ein Schrei aufschreckte. Er kam aus der Kabine meines Freundes. Sofort stürzte ich hinüber – vielleicht war Bwaroo ausgeglitten oder hatte sich sonst wie verletzt ...

Ich fand ihn vor seinem kleinen Marmorwaschbecken stehen und es missbilligend anstarren.

„Was ist geschehen, Bwaroo?“ rief ich erschrocken.

„Sehen Sie nur, Heystings ...“ Mein Freund wies auf das kleine Becken.

Ich trat näher heran und nahm es näher in Augenschein. Bwaroos Zahnbürste und die Zahnpasta waren neben einer Bürste, einer kleinen Schere und einer Tube Schnurrbartpomade ordentlich auf der Ablage unter dem Spiegel aufgereiht, in exakt demselben Abstand, soweit ich es beurteilen konnte. Ansonsten konnte ich nichts Auffälliges oder gar Schreckliches entdecken.

„Ich kann nichts Besonderes finden, Bwaroo“, gab ich nach einer Weile zu. „Was ist denn so Furchtbares passiert, dass Sie sich so echauffieren?“

„Aber sehen Sie es denn nicht, mon ami“, erregt deutete Bwaroo mit dem Finger auf das Becken. „Dort – der Marmor, er hat einen Sprung!“

Ich beugte mich tiefer hinunter und konnte tatsächlich einen haarfeinen Riss im Stein ausmachen.

„Keine Angst, Bwaroo, da sickert nichts durch“, beruhigte ich meinen Freund. „Sie können getrost etwas unter das Becken stellen. Falls es das ist, was Ihnen Sorge bereitet.“

Ce n'est pas le problème!“ Bwaroo sah mich mit allen Zeichen der Entrüstung an. „Aber ein Riss in einem Waschbecken in einem Zug wie diesem! C'est scandaleux.“

Ich unterdrückte ein Lächeln. Mein alter Freund konnte wirklich aus einer Kleinigkeit ein Riesenproblem machen, wenn ihm danach war.

„Allmählich wird es Zeit, dass wir in den Speisewagen gehen“, versuchte ich ihn abzulenken. „Direktor Christopher will doch dort eine Ansprache halten.“

C'est vrai“, gab Bwaroo zu.

Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, zog einen kleinen Kamm hervor und strich damit über seinen Schnurrbart mit den gewachsten Spitzen. Kritisch zupfte er noch das eine oder andere Härchen zurecht, drehte den Kopf nach links und rechts und begutachtete sein Spiegelbild von allen Seiten. Zufrieden mit dem Ergebnis nickte er seinem Abbild zu. Noch ein Blick auf das Becken und ein despektierliches Kopfschütteln, dann folgte er mir endlich aus der Kabine.

Wir hatten gerade das Abteil der Operndiva passiert, als Bwaroo plötzlich stehen blieb und mir bedeutete, still zu sein. Er beugte sich seitlich gegen die Kabinentür, vor der er stand, und lauschte.

Es hat mich schon immer irritiert, dass Bwaroo überhaupt nichts dabei fand, an Türen zu horchen oder durch Schlüssellöcher zu spähen. Er fand auch nichts Anstößiges daran, fremde Briefe zu lesen, wenn sie offen herumlagen. Ich hatte schon mehrfach mein Missfallen darüber zum Ausdruck gebracht, doch Bwaroo hatte es nur mit einem Schulterzucken abgetan.

Dieses Mal aber war Lauschen gar nicht nötig. Selbst ich konnte eine Frauenstimme hören, die ausrief: „Nein! Sie darf es nie erfahren. Es war Unrecht. Und nichts vermag das wieder gut zu machen!“

Eine Männerstimme antwortete. Jedoch konnte ich nicht verstehen, was sie sagte.

Mit einem zufriedenen Lächeln richtete Bwaroo sich wieder auf.

„Das wird eine interessante Reise werden, Heystings“, konstatierte er und ging ohne ein weiteres Wort an mir vorbei Richtung Speisewagen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Unser Waggon war der mittlere des Zuges. In Fahrtrichtung gab es noch einen weiteren Wagen, in dem die Zweibettkabinen untergebracht waren. Der Waggon zum Ende des Zuges hin war der Speisewagen. Als wir ihn betraten, fanden wir die meisten Tische schon besetzt. Es gab hier genau genommen eigentlich zwei Abteile, die durch eine Faltwand getrennt werden konnten. Die war jedoch jetzt zurückgeschoben und so war der Blick frei auf acht Tische mit jeweils vier Plätzen, die in zwei Reihen entlang der Wände angeordnet waren. Dahinter konnte man die Tür zur Küche sehen. Ein schmaler Gang führte daran vorbei. Er musste zu der Plattform führen, die Gerdel Gneiß als den einzigen Ort erwähnt hatte, an dem man rauchen durfte. Bwaroo und ich nahmen nebeneinander an einem leeren Vierertisch Platz, der sich gleich neben dem Eingang befand. Ich hatte den Fensterplatz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und sah gerade noch, wie die letzten Häuser von Laundom hinter einer Kurve verschwanden. Wir hatten also die Ebene erreicht, die sich mit ihren Feldern und Dörfern östlich der Metropole erstreckt. Doch der Blick auf die Landschaft war nun durch hohe Büsche und Bäume versperrt, die zu beiden Seiten der Schienen wuchsen. Da es also nichts Interessantes dort draußen zu sehen gab, wandte ich meine Aufmerksamkeit den Mitreisenden zu, die ich von meinem Eckplatz aus unbemerkt gut betrachten konnte.

Ganz vorne saß Frau Arundel mit einer zierlichen Frau an einem Tisch. Diese Frau hatte graues Haar und trug ein mausgraues Kleid. Überhaupt schien sie mir seltsam farblos, und ich vermutete, dass sie krank war, was ja auch ihre Reise nach Pendrin erklärte. Am Tisch daneben saßen ein älterer Mann und eine Frau etwa gleichen Alters einander gegenüber. Die Frau litt zweifellos an Minotaurese, denn sie hatte Kuhohren, Hörner und einen gegabelten Schwanz, mit dem sie hin und her wedelte. Unter ihren Vorfahren musste ein Minotaurus gewesen sein, also ein Wesen mit menschlichem Körper, aber mit Stier- bzw. Kuhkopf. Manchmal mit Fell und Schwanz, manchmal ohne. Mischehen zwischen den Völkern sind meistens unfruchtbar. Soweit ich weiß, kommt es überhaupt nur bei einer Mensch-Zwerg-, Mensch-Elf- und Mensch-Minotaurus-Beziehung zu Nachkommen. Über Generationen kann so etwas gar nicht weiter auffallen und dann kommt plötzlich ein Baby mit den Attributen einer Kuh zur Welt – sei es, dass es Kuhaugen hat oder gar ein Kuhfell. Die Frau jedenfalls schien sehr gut mit ihrer Besonderheit zurechtzukommen. Die Ohren standen ihr ganz ausgezeichnet, und ihre Hörner waren so blank poliert, dass sie blitzten, wenn das Licht sie traf. Ihr rotbraunes Haar hatte sie außerdem zu einem Zopf geflochten, den sie um den Kopf gelegt hatte. Hinter den Hörnern, wodurch diese noch betont wurden.

Ihr Gegenüber konnte ich nur von hinten sehen. Aber sein üppiges rotes Haar und der grüne Zylinder, den er keck auf dem Kopf trug, legten nahe, dass es sich bei ihm um einen Leprechaun handelte.

Der Vierertisch davor war mit zwei Männern besetzt. Der Ältere mit Brille und graumeliertem Haar war ganz in eine Zeitschrift vertieft, während der andere ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte. Ein Vierertisch in unserem Teil des Wagens war mit einem männlichen Elfen besetzt und, tatsächlich, einem Troll. Der Hauptmann hatte also recht gehabt. Trolle sieht man hier im Westen mit seinen eher moderaten Bergen eher selten. Sie sind nämlich eigentlich im Gebirge Zuhause, da, wo es am Unzugänglichsten ist. Dementsprechend leben die meisten im Naumtalgebirge im Königreich des Nordens oder dessen Ausläufern im Norden des Ostreiches, die man das Rostgrasgebirge nennt.

Trolle sind von Natur aus von großer und breiter, ja, massiger Statur, mit dichtem dunkelgrauem bis schwarzem Haar, das nicht nur auf dem Kopf, sondern den ganzen Rücken hinab wächst. Auch ihre Beine sind ziemlich behaart, Gesicht und Arme jedoch nicht, wenn man von den besonders buschigen Augenbrauen einmal absieht. Es heißt, dass sie ausgezeichnete Kletterer sind und für ihren Körperbau geradezu unglaublich wendig. Da ich selbst kein großer Liebhaber der Berge und des rauen Wetters bin, kann ich das nicht aus eigener Erfahrung bestätigen. In alten Legenden werden Trolle gern als tumb und schwer von Begriff und manchmal sogar von Natur aus gewalttätig beschrieben. Das ist aber blanker Unsinn. Dieser Troll hier jedenfalls trug einen schlichten, aber kleidsamen Anzug und blickte mit so intelligenten wie freundlichen Augen um sich. Obgleich er ein wenig eingeklemmt wirkte zwischen dem Tisch und seiner Bank, schien er doch gute Laune zu haben. Als er in meine Richtung schaute, nickte ich ihm grüßend zu und ließ dann den Blick weiterwandern, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich ihn anstarrte.

Der Hauptmann a.D. Gerdel Gneiß saß, wie ich als Nächstes feststellte, allein an dem Tisch vor dem unseren und polierte an etwas herum. Er war in diese Arbeit so vertieft, dass es sich von selbst verbot, ihn anzusprechen und aus seiner Konzentration zu reißen. Also grüßte ich ihn auch nicht.

An dem Tisch direkt neben uns aber hatte der Elf Platz genommen, den ich gesehen hatte, als er sein Abteil betrat: Moris Kreidell. Er saß ganz allein für sich, schaute gelangweilt aus dem Fenster und spielte gedankenverloren mit seinem Spazierstock – einem auffälligen Stück mit einem Silbergriff in Form einer drohend aufgerichteten Kobra.

Während ich diesen reichen Schönling betrachtete, traten noch zwei Personen in den Speisewagen und setzten sich auf die noch freien Plätze am Tisch der Operndiva und ihrer Begleiterin. Die Neuankömmlinge waren noch relativ jung. So, wie der Mann den Arm um seine Begleiterin gelegt hatte, musste es sich um ein Paar handeln, wahrscheinlich jung verheiratet.

Und dann betrat sie den Raum. Sie schwebte herein wie eine Göttin. Schlank war sie, mit einer Haut wie Alabaster, einem Mund wie eine Rosenknospe, und ihr leicht gewelltes, tizianrotes Haar schimmerte in der Sonne wie rotes Gold.

Ja, ich sage tizianrot. Erkül Bwaroo ist nicht der Einzige, der die Parallelwelt bereist hat. Und so, wie er Belgien liebt, hat mich Venedig gefangen genommen, die Kanäle, die Prachtbauten und die Malerei. Aber anders als Bwaroo spiele ich nicht ständig auf meine Reisen an, indem ich Brocken der Sprache meines Lieblingslandes in meine Rede einflechte. Das wäre mir zu albern. Va bene, Bwaroo, va bene!

Herr Christopher riss mich aus meinen Betrachtungen, als er eintrat und sich in seiner typischen großspurigen und überheblichen Art vor der Tür zur Küche aufbaute.

„Meine Damen und Herren“, begann er und strahlte die Passagiere an, als wären sie alle seine geladenen Gäste. „Ich darf Sie an Bord des Onyx-Express begrüßen. Ich bin Jonas Christopher, der Direktor der Zuggesellschaft. Als Erstes möchte ich Sie zu einem kleinen Willkommensschluck einladen ...“ Er gab Tony, der hinter dem Tresen stand, ein Zeichen. Eifrig nahm dieser ein vorbereitetes Tablett auf und eilte zu den Tischen, um vor jedem der Anwesenden ein Glas Champagner abzustellen.

„Meine Damen und Herren“, sprach Christopher derweil weiter. „Der Passagierliste entnehme ich, dass Sie alle bis nach Pendrin durchfahren. Der Fahrplan liegt in Ihren Abteilen auf. Außerdem hängt noch einer ...“ er deutete hinter sich, „...im Gang, der Sie zu unserem Barbereich führt und zur Aussichtsplattform. Wir halten als Erstes in Byonn, wo wir um 12 Uhr 15 ankommen und zwei Stunden Aufenthalt haben werden. Der Bahnhof verfügt über ein ausgezeichnetes Restaurant, wo Sie zu Mittag essen können. Marsille erreichen wir um 6 Uhr 30 abends und fahren um 7 Uhr 20 wieder weiter. Von 8 bis 9 Uhr abends wird im Speisewagen eine Abendmahlzeit serviert.

Ungefähr eineinhalb Stunden nach Mitternacht werden wir Kimuria und die Grenze zum Ostreich erreichen. Doch darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern, da dort niemand den Zug verlassen oder besteigen darf. Danach haben wir freie Strecke bis Remus, wo wir ohne weiteren Halt um 6 Uhr 50 abends eintreffen. Remus verlassen wir um 7 Uhr 10. Von dort ist es nur noch ein Katzensprung nach Pendrin, wo wir um 9 Uhr 20 eintreffen werden.

Der Speisewagen steht Ihnen jederzeit zur Verfügung. Um 6 Uhr abends öffnet außerdem unsere Bar, welche sich, wie schon gesagt, im hinteren Bereich dieses Wagens befindet. Der dazugehörige Aufenthaltsraum führt direkt zu der verglasten Aussichtsplattform. Der Tageszugbegleiter Tony ...“, Christopher zeigte auf den jungen Zugbegleiter, der inzwischen seine Runde mit dem Champagner beendet hatte, „wird sich gern Ihrer Bedürfnisse und Wünsche annehmen. Ab 9 Uhr abends bis 9 Uhr vormittags kümmert sich dann der Nachtbegleiter Harald um alles. Das Abteil der Zugbegleiter finden Sie am Ende des mittleren Waggons. Selbstverständlich dürfen Sie sich aber auch jederzeit an mich wenden.

Ich muss darauf aufmerksam machen, dass das Rauchen in den Abteilen, im Gang und im Speisewagen nicht gestattet ist. Diejenigen unter Ihnen, die zu rauchen wünschen, können dies jedoch jederzeit auf der Aussichtsplattform am Heck des Wagens tun.“ Der Bahndirektor strahlte uns alle an. „Ich hoffe, Sie haben alle eine angenehme Reise“, beendete er seine Ansprache dann und kam schnurstracks an unseren Tisch.

„Wie wäre es mit einem leichten Imbiss?“, fragte er. Natürlich wandte er sich dabei ausschließlich an Bwaroo.

„Mein Freund Dr. Heystings und ich haben eben erst etwas zu uns genommen“, wehrte der jedoch ab. Ich rechnete ihm hoch an, dass er meine Anwesenheit betonte und sogar noch mit meinem Titel unterstrich. Tatsächlich wandte Christopher den Kopf und schien mich zum ersten Mal wirklich zu bemerken. Er schenkte mir ein kurzes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, und wandte sich dann gleich wieder Erkül Bwaroo zu.

„Ich hoffe, das Abteil ist zu Ihrer Zufriedenheit“, meinte er eifrig.

„Das Waschbecken hat einen Sprung“, beschied ihn Bwaroo jedoch. Und ich hatte schon gehofft, dass mein alter Freund diese Kleinigkeit vergessen hatte.

„Tatsächlich? Das ist mir jetzt aber sehr peinlich!“ Der Bahndirektor sah in der Tat sehr bestürzt aus. „Was ist da zu tun? Vielleicht wäre einer der anderen Reisenden bereit, mit Ihnen zu tauschen ... leider sind wir voll besetzt ...“

„Es ist nicht so tragisch“, wehrte Bwaroo da aber freundlich ab. „Wie mein Freund Heystings schon sagte, 'es sickert nichts durch'. Erkül Bwaroo wird sich also damit abfinden.“

„Nichtsdestotrotz, es ist mir sehr unangenehm“, stammelte Christopher. Er wollte noch mehr sagen, kam jedoch nicht dazu, denn Berenice Arundel meldete sich zu Wort.

„Es ist ein Skandal“, lamentierte sie lautstark. „Ich muss schon sagen – an dem Fenster in meinem Abteil klemmt die Jalousie! Nicht nur, dass Ihre Betten zu hart sind – man kann den Raum noch nicht einmal verdunkeln! Ich muss in absoluter Dunkelheit schlafen können, um mich zu entspannen.“

„Berenice, beruhige dich.“ Die Frau in Mausgrau legte beruhigend die Hand auf ihren Arm. „Es ist noch nicht einmal Mittag. Bis du dich schlafen legst, ist das kleine Problem bestimmt behoben. Und hast du mir nicht selbst erzählt, dass man alles getan hat, damit du weich liegst?“

„Tony wird sich sofort darum kümmern“, versicherte der Direktor, während er an den Tisch der beiden Damen eilte. „Sicher nur eine Kleinigkeit ...“ Er winkte dem jungen Zugbegleiter zu, und der machte sich auch gleich auf den Weg. Christopher bemerkte, dass das Glas der Diva bereits leer war, und stürzte persönlich davon, um es wieder aufzufüllen.

„Ich habe eine sehr empfindliche Haut“, klagte Berenice Arundel weiter, „und meine Nerven! Diese Anspannung! Darunter leidet meine Stimme ...“

„Deine Sprechstimme klingt doch genau so, wie sie soll! Dann hat ganz sicher auch deine Singstimme nicht gelitten. Du wirst wunderbar sein, wie immer“, beruhigte sie ihre Freundin und lächelte sie an. „Und du hast ja gehört, dass der kleine Schaden jetzt sofort behoben wird.“

„Nun ja, wenn du meinst.“ Die Sängerin schien enttäuscht, dass sie keinen Grund mehr hatte, sich noch länger aufzuregen.

Ich war froh, dass ihr Ausbruch uns immerhin diesen Jonas Christopher vom Hals geschafft hatte. Der Schnösel hatte nicht nur so getan, als sei ich überhaupt nicht da. Er hatte obendrein genau so gestanden, dass er mir der Blick auf die schöne Elfe verstellt hatte. Nun aber sah ich sie neben dem anderen Elfen und dem Troll gegenüber sitzen. Leider verhielt sie sich genauso wie der Bahndirektor. Sie bemerkte mich überhaupt nicht. Nicht, dass mir das wirklich etwas ausgemacht hätte, aber es ist immer ein wenig leidig, wenn eine schöne Frau so gar keine Notiz von einem nimmt.

Mon ami“, schreckte mich Bwaroo da auf. „Wie wäre es, wenn wir uns einmal die Aussichtsplattform anschauen und ein wenig die Aussicht genießen. Auf dem Weg dorthin kommen wir auch an einem bestimmten Tisch vorbei, und vielleicht lässt Mademoiselle dann gerade ihr Taschentuch fallen ...“ Er schmunzelte wissend, was mich arg in Verlegenheit brachte.

„Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden“, stammelte ich.

„Ach, Sie haben die reizende rothaarige Elfe noch gar nicht bemerkt, zu der Sie dauernd hinüberschauen?“, neckte mich Bwaroo und strich sich den Schnurrbart.

Um nicht antworten zu müssen, beeilte ich mich, aufzustehen und ihm voran zu gehen.

Leider nahm die schöne Elfe keinerlei Notiz von mir, als ich an ihr vorbei ging. Sie war zu sehr in das Gespräch mit ihren Tischnachbarn vertieft. Ich schnappte etwas von 'D-Dur' und 'forte fortissimo' auf und schloss daraus, dass die drei Musiker waren. Zwar spiele ich selbst kein Instrument und kann mit Opern nichts anfangen, aber ein wenig von Musik verstehe ich doch. Während wir durch den Speisewagen und den Gang an der Küche vorbei entlang gingen, um in den Barbereich zu gelangen, überlegte ich, ob die Elfe vielleicht eine Sängerin war, wie Berenice Arundel. Wahrscheinlicher schien mir jedoch, dass sie Tänzerin war. Ich konnte sie direkt vor mir sehen, wie sie schön und ätherisch mit unglaublicher Anmut über die Bühne schwebte. Für solche Dinge habe ich einen untrüglichen Spürsinn. Und obwohl ich auch Ballett nicht allzu viel abgewinnen kann, nahm ich mir doch vor, eine Aufführung zu besuchen. Es ist doch etwas anderes, wenn einem jemand aus dem Ensemble bekannt ist. Und es hätte mich nicht im Mindesten gewundert, wenn die Elfe die Prima Ballerina persönlich gewesen wäre.

Vom Barbereich führte eine Tür zum verglasten Ende des Waggons, in dem mehrere Bänke zum Sitzen einluden. Dorthin lenkten wir also unsere Schritte. Die Aussicht war wirklich wunderbar. Mittlerweile standen keine Büsche mehr im Weg, und vor uns breitete sich die Ebene östlich von Laundom in strahlendem Sonnenschein aus. Es war Frühling, und einige Felder zeigten schon ein erstes Grün. Die Hecken dazwischen hatten sich mit dem frischen Grün junger Blätter geschmückt, und die Obstbäume auf den Streuwiesen standen bereits in voller Blüte. Ein wunderbarer Anblick, der selbst die schwärzeste Stimmung aufhellen musste. Ich nutzte die Gelegenheit, eine Zigarre hervorzuziehen. Bei besonderen Gelegenheiten rauche auch ich hin und wieder gern. Natürlich nur selten, und meinen Patienten rate ich stets, das Rauchen ganz aufzugeben. Aber bei einem so entspannenden Anblick machte ich mit Vergnügen einmal eine Ausnahme.

Ich hatte gerade meine Zigarre beschnitten und entzündet, als sich Gerdel Gneiß zu uns gesellte. Ich machte ihn und Bwaroo miteinander bekannt, und er setzte sich zu uns.

„Sie sind außer Dienst? Dafür sind Sie aber noch ziemlich jung“, stellte Bwaroo nach dem Austausch der üblichen Höflichkeiten fest.

„Habe meinen Abschied genommen. Trete das Erbe meines Vaters an“, antwortete Gneiß. „Meine Familie hat ein Gut am Stadtrand von Pendrin und betreibt eine Silbermine in den Bergen nördlich davon. Als einziger Sohn bin ich verpflichtet, die Leitung nach dem Tod meines Vaters zu übernehmen.“

„Es tut mir leid, dass Ihr Vater verstorben ist“, kondolierte ich.

„Er hat ein gutes, erfülltes Leben geführt. Aber ich hatte irgendwie immer gedacht, er würde ewig leben. Hab mich nie mit Bergbau beschäftigt und muss jetzt eine Menge lernen.“ Der Zwerg zeigte ein schiefes Lächeln. „Mein Vater scheint ein Genie gewesen zu sein. Meiner Treu, es wird schwer sein, seine Stiefel zu tragen.“

Ich stutzte einen Moment, bevor ich verstand. Anscheinend meinte er damit, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten müsse, wie man bei uns sagt. Gneiß stopfte sich umständlich seine Pfeife, entzündete sie und lehnte sich nach einem tiefen Zug zurück.

„In Zukunft wird mein Leben sehr viel bequemer sein als bisher in der Kaserne“, meinte er. „Habe deshalb auch diesen Luxuszug genommen, um mich schon mal daran zu gewöhnen.“

„Aber Sie haben keine Einzelkabine“, stellte ich fest.

„Ich wollte es langsam angehen lassen!“ Er lachte. „Bin Luxus nicht gewöhnt. Bei uns Zwergen schläft auch der höchste Offizier noch mit mindestens drei Mann in einem Zimmer. Wir legen Wert drauf, nicht zu verweichlichen.“

Moris Kreidell betrat die Plattform. Er trug einen vollen Tabaksbeutel am Gürtel und eine kunstvolle Meerschaumpfeife in der Hand. Doch statt sie zu stopfen und anzuzünden, trat er lediglich zu einem Fenster und stand dann einfach nur mit dem Rücken zu uns da und schaute hinaus.

Bwaroo betrachtete eine Weile nachdenklich den jungen Elfen oder besser, dessen Kehrseite.

„Monsieur Kreidell“, lud er ihn schließlich freundlich ein, „möchten Sie sich vielleicht zu uns setzen?“

Bwaroo hatte Kreidell wohl aus seinen Gedanken gerissen, denn der junge Mann zuckte ein wenig zusammen. Doch er drehte sich zu uns um und nickte uns zu. Das heitere Lächeln meines Freundes erwiderte er jedoch nicht.

„Danke, aber, nein danke“, erwiderte er nur schroff, „ich ziehe es vor, allein zu bleiben.“

Er blickte auf seine Pfeife, dann auf uns drei. Besonders den Zwerg musterte er mit fast finsterem Blick. Dann drehte er sich wortlos um und ging wieder hinein.

„Mir scheint, Sie beide kennen sich“, wandte sich Bwaroo an den Hauptmann a.D. Doch der zuckte nur die Schultern.

„Nicht, dass ich wüsste“, meinte er. „Wir verkehren auch nicht in denselben Kreisen, will ich meinen.“

„Dann hat der junge Mann vielleicht einfach etwas gegen Zwerge“, vermutete Bwaroo und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Vielleicht schlechte Erfahrungen ...“

„Womöglich ist er bei einer der zahlreichen Festivitäten, an denen er so gerne teilnimmt, einmal mit einem Zwerg aneinandergeraten und der war der Stärkere“, schlug ich vor.

„Kann gut sein“, stimmte Gneiß mir zu. Er klopfte seine Pfeife aus und erhob sich. „Entschuldigen Sie mich. Bin noch nicht mit Auspacken fertig“, bat er, nickte uns noch einmal zu und ging dann in Richtung seiner Kabine.

Mittagessen in Byon

„Was halten Sie davon, wenn wir in Byonn die Gelegenheit nutzen und uns ein wenig die Beine vertreten“, schlug ich vor, als die kleine Stadt in Sicht kam. Wie ich gelesen hatte, liegt Byonn an einem malerischen See, der vom Danver gespeist wird, einem kleinen Fluss, der später in die Teims mündet. Seinem Lauf flussaufwärts würde der Zug von dort an eine ganze Weile folgen. Außerdem vereint sich hier der Danver mit einem zweiten Fluss, dessen Namen mir aber entfallen ist. Der wiederum mäandert durch die Hügel, zu deren Füßen Byonn liegt. Ihnen verdankt der Ort letztlich auch seine Berühmtheit, des würzigen Weins wegen, der dort angebaut wird.

Unser Zug fuhr zuerst jenseits des Sees entlang, was uns einen wunderbaren Blick auf das Städtchen am See bot, um dann über eine kleine Brücke den Bahnhof zu erreichen.

Die Weinhügel verliefen fast halbmondförmig um Byonn, in dem es überall grünte und blühte. Die Stadt schien ganz aus kleinen, weißen Häusern zu bestehen, denen farbige Rahmen um Fenster und Türen ein fröhliches, buntes Aussehen gaben. Ein wenig abseits erhob sich, wuchtig wie eine Festung und entsprechend irgendwie fehl am Platz, die Residenz des Elfenherzogs, der hier herrschte. Überhaupt war das hier zu einem großen Teil Elfenland. Und hinter den Weinhügeln, schon an der Grenze zum Nordreich und darüber hinaus, lag der dichte Wald, in dem Oberon und Titania residierten, das Herrscherpaar der Elfen. Ich muss gestehen, dass ich mich gar nicht für Politik interessiere, und die sich immer wieder überschneidenden Territorien der Menschen, Elfen, Zwerge und so weiter sind mir herzlich egal. Der Herzog hier schien seine Sache jedenfalls sehr gut zu machen, denn die ganze Gegend strahlte Wohlstand aus. Häuser und Straßen waren gepflegt, die Bewohner, Menschen wie Feien, sahen zufrieden aus.

Zwischen der ersten Häuserzeile und dem Wasser verlief eine Uferpromenade, die mit Mandelbäumchen bepflanzt war, welche gerade in Blüte standen. Es sah wirklich ganz zauberhaft aus, und ich stellte mir vor, wie angenehm es sein müsste, dort entlang zu spazieren.

Ich hätte mir das Städtchen gern genauer angesehen. Dafür reichte jedoch die Zeit nicht. Aber ein kleiner Spaziergang – ich sah Bwaroo fragend an.

„Die Beine vertreten? Mais pourquoi?“ Bwaroo war ganz erstaunt. „Bwaroos Beine sind gut, so wie sie sind.“

„Nur eine Redensart“, erklärte ich ihm. Bei solchen Anlässen weiß ich nie so genau, ob er mich auf den Arm nimmt oder mich wirklich falsch versteht. Die Art, wie er mich dabei angrinste, machte es nicht besser.

„Ich fürchte, ich kann Sie nicht begleiten“, fuhr er jedoch fort und warf einen kurzen Blick auf seine blankpolierten Lackschuhe. „Ich kenne meine Schuhe genau. Sie würden anfangen zu drücken.“

„Also wirklich, Bwaroo“, entrüstete ich mich. „Das ließe sich ganz schnell ändern, und zwar mit vernünftigem Schuhwerk! Diese Lackschuhe sind so etwas von unpraktisch ...“

„Sie sind erforderlich für das Erscheinungsbild von Erkül Bwaroo“, unterbrach mich mein Freund jedoch und warf sich gewichtig in die Brust.

Ich verzog in einer Mischung aus Ärger und Belustigung den Mund.

„Sie übertreiben es mit Ihrer Erscheinung“, warf ich Bwaroo dann aber doch noch vor.

„Schon gut, Heystings“, sagte der versöhnlich. „Wir vertreten uns die Beine, während wir zum Bahnhofsrestaurant gehen. Es hat einen ausgezeichneten Ruf. Die Küche soll wirklich fantastisch sein.“

„Byonn! Wir erreichen in wenigen Minuten Byonn!“ Tony eilte durch die Gänge der beiden Waggons und klopfte an jede Tür. Bwaroo und ich sahen ihm dabei zu, denn wir hatten, wie auch der Troll und seine beiden elfischen Freunde, im Speisewagen Platz genommen. „Im Bahnhofsgasthof 'Zur eisernen Krone' sind bereits Tische reserviert“, verkündete Tony, als er uns erreicht hatte. „Ich bin sicher, Sie werden mit dem Essen zufrieden sein. Wir werden pünktlich um 12 Uhr 15 eintreffen. Weiterfahrt um Viertel nach zwei.“ Er nickte uns allen freundlich zu und eilte dann weiter in den Barbereich, um die restlichen Fahrgäste ebenfalls zu informieren.

Ich bemerkte erst jetzt, dass ich wirklich Hunger hatte. Unauffällig schielte ich zu der Elfe und ihren Begleitern. Vielleicht ergab sich ja im Restaurant eine Gelegenheit zu einem Gespräch. Diese Aussicht hob meine Stimmung. Byonn konnte ich ja auch noch ein andermal erkunden. So eine Stadt pflegt ja nicht wegzulaufen.

Um zum Gasthof zu gelangen, mussten wir die Wartehalle durchqueren. Dort herrschte ein reges Kommen und Gehen. Einige Leute waren Reisende, die ihre Karten kauften oder auf ihren Zug warteten, andere warteten wiederum auf Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte, die mit einem der nächsten Züge ankommen würden. Es gab freudige Begrüßungen und tränenreiche Abschiede. Menschen und Feien liefen geschäftig herum, riefen einander etwas zu, schimpften, lachten. Die Halle war erfüllt vom Summen vieler verschiedener Stimmen. Nur manchmal erhob sich darüber eine Stimme, die lauter, oder aber greller war als der Rest.

„Eliza! Tu mich mal die Tasche nehmen. Du weißt, Mama ist Rücken.“

Diese schrille Stimme war nicht zu überhören. Bwaroo stoppte abrupt und drehte sich dann langsam zu der Frau um, die diese Worte geäußert hatte. Sie war mittleren Alters, etwas dick und nicht gerade gut gekleidet. Sie drückte gerade einem Mädchen, das vielleicht vierzehn Jahre alt war, eine große Tasche in die Hand.

„Tu das mal aufpassen“, sagte sie noch. „Mama tut fix den Fahrkarten kaufen.“ Mit diesen Worten stand sie schwerfällig auf und sah sich mit Bwaroo konfrontiert, der an sie herangetreten war. Sein Schnurrbart bebte vor Empörung, als er sie fixierte und sagte: „Madame! Sie ermorden Ihre Sprache.“

„Hä?“ Die Frau sah ihn nur verständnislos an.

„Sprache ist wichtig!“, dozierte Bwaroo mit erhobenem Zeigefinger. „Nur unserer gemeinsamen Sprache haben wir es zu verdanken, dass Feien und Menschen heute in Frieden leben. Ohne Sprache hätten wir keine Kultur. Und Sie – Sie meucheln sie.“

Da kam ein Mann dazu, der von Figur und Kleidung her der Ehemann der Frau sein musste. Er bemerkte Bwaroo überhaupt nicht.

„Wem ist das Schinkenbrot?“, fragte er stattdessen.

„Mich!“, schrie die Frau begeistert und drehte sich zu ihrem Mann um.

„Issn das?“, wollte der wissen, als er nun doch auf Bwaroo aufmerksam wurde, der stocksteif und vor Erbitterung bebend noch immer am selben Fleck stand.

„Keine Ahnung nich.“ Die Frau zuckte die Achseln. „Nu komm endlich, Eliza. Den Zug tut nich warten“, wandte sie sich dann an das Mädchen. Von Bwaroo nahm sie einfach keine Notiz mehr.

Ihr Mann schaute meinen Freund noch einmal kurz geringschätzig an, dann ging er hinter seiner Familie her, das Essenspaket unter den Arm geklemmt.

Er hatte es offenbar in dem kleinen Imbissladen erworben, der sich hinter ihm an der Wand der Halle befand. Gerade, als ich dorthin blickte, verließ den Laden eine bekannte Gestalt mit einem kleinen Paket unter dem Arm.

„Schauen Sie, Bwaroo“, machte ich meinen Freund darauf aufmerksam. „Der junge Kreidell hat sich offenbar gerade mit Lebensmitteln eingedeckt.“

Bwaroo folgte meinem Blick, während der junge Elf Richtung Zug davon ging.

„Er hat wohl nicht vor, mit uns zu speisen“, vermutete er.

Immerhin hatte ihn meine Beobachtung von der dicken Frau und ihrer Ausdrucksweise abgelenkt. Er warf den Dreien noch einen vernichtenden Blick nach, den sie natürlich nicht bemerkten. Ich konnte sehen, dass sie inzwischen ihre Brote ausgepackt hatten und Eltern wie Tochter damit beschäftigt waren, ihr Schinkenbrot und was sonst noch gleichermaßen mit großen Bissen und heftigem Kauen zu vertilgen.

Kopfschüttelnd setzte Bwaroo seinen Weg zum Restaurant fort und ich folgte ihm auf dem Fuße.

Der Gasthof war sonderbar dekoriert. An einer Wand stand eine Rüstung, Schwerter und Bögen hingen an den anderen Wänden. Die sonst inzwischen überall gebräuchlichen Leuchtkugeln, magische Kugeln, die Licht spendeten, fand man hier nicht. Dafür hingen Kronleuchter von der Decke, auf denen jedoch statt der Kerzen kleine magische Leuchtkügelchen brannten. Eigentlich wäre das überflüssig gewesen, denn durch die hohen Bogenfenster fiel helles Sonnenlicht herein. Doch da Decke und Wände mit dunklem Holz getäfelt waren, war das zusätzliche Licht ganz angenehm.

Für uns war im einzigen Nebenzimmer eine lange Tafel eingedeckt worden. An deren oberem Ende hatte die Opernprinzessin Platz genommen, und ihre Freundin saß ihr gegenüber. Neben der Diva saß der junge Mann und auf der anderen Seite die junge Frau, die sich schon im Zug zu den beiden gesetzt hatten. Erst jetzt fiel mir die Ähnlichkeit der jungen Dame mit der Frau neben ihr auf. Die beiden mussten Mutter und Tochter sein.

Gerdel Gneiß war auch schon da. Er saß am anderen Ende des Tisches und schaute betont in die andere Richtung. Es schien ihm sehr daran gelegen, jeden Kontakt zu den drei Damen und dem jungen Mann zu vermeiden.

Ich sinnierte noch darüber nach, welchen Grund das wohl haben mochte, als die ältliche Frau mit den Hörnern sich an mir vorbei drängte.

„Monica, wie schön dich wiederzusehen!“ rief sie geradezu enthusiastisch der Tochter zu. Doch dann blieb sie abrupt stehen. „Verzeihung, wie konnte ich mich so vergessen“, jammerte sie und machte ein ganz bestürztes Gesicht, „ich meine natürlich Frau Quental. Wie dumm von mir ...“ Sie schaute hilfesuchend zu ihrem Mann, der auf der anderen Seite des Tisches herankam. „Bert hat schon vorhin im Zug gesagt ... und deshalb habe ich nichts gesagt ...“ Sie verstummte.

„Aber Minna“, lächelte da die junge Dame und schob einladend den noch freien Stuhl neben sich zurück, „für dich bin ich immer noch Monica. Ich habe mich schon gewundert. Ich freue mich wirklich, dich endlich wieder zu sehen. Setz dich doch.“

Monicas Gegenüber wandte sich derweil freundlich dem älteren Herrn zu. Den sah ich jetzt zum ersten Mal von vorne und schloss aus dem krausen roten Haar, das auf seinem Kopf spross und als Backen- und Kinnbart sein Gesicht umrahmte, dass er wirklich ein Leprechaun war. Er trug noch immer seinen Zylinder, obwohl das hier und zum Essen wirklich nicht angebracht und geradezu unhöflich war. Ich fragte mich im Stillen, ob das Ding vielleicht auf seinem Kopf festgewachsen war. Der junge Mann jedoch schien keinen Anstoß daran zu nehmen.

„Heribert! Fein, dass Sie es doch noch einrichten konnten!“ rief er und bot dem Angesprochenen ebenfalls den Platz neben sich an.

„Ich bin so frei, Herr Quental“, meinte der und setzte sich. „Sehr nett von Ihnen.“

„Na hören Sie mal, Sie gehören doch praktisch zur Familie“, winkte der Angesprochene jedoch ab. „Und bitte, nennen Sie mich doch Claus! Wir sind doch unter uns.“

„Kommen Sie, setzen Sie sich doch zu mir“, wandte sich Gneiß da an uns. Dagegen ließ sich nichts sagen. Ich ließ mich also neben ihm nieder, während Bwaroo den Platz ihm gegenüber wählte.

Da kamen auch schon die restlichen Passagiere. Dabei ergab sich jedoch ein Problem. Der Troll bat Bwaroo, mit ihm den Platz tauschen zu dürfen, denn er hätte durch seine Breite seine Nachbarn behindert. Stattdessen schob er den Stuhl, den Bwaroo ihm freundlich überließ, um die Ecke des Tisches, so dass der an der Kopfseite stand. Dann holte er sich aus dem Hauptraum noch einen zweiten Stuhl und ließ sich dann auf beiden nieder.

„So ist es besser“, erklärte er und strahlte uns alle an.

Bwaroo hatte sich derweil neben mich gesetzt. Der Elf und die schöne Elfe, die den Troll wieder begleiteten, setzten sich auf die gegenüberliegenden Plätze. Nun waren noch drei Stühle frei, der am anderen Ende des Tisches und je einer auf jeder Seite in der Mitte. Letztere wurden fast sofort von dem älteren und dem jüngeren Herrn besetzt, die eilig hereinkamen. Blieb nur noch der Stuhl an der Stirnseite. Mir fiel ein, dass Moris Kreidell ja nicht kommen würde. Für ihn war der Platz wohl gedacht gewesen. Damit waren wir also vollzählig.

„Nachdem wir ja nun einige Zeit miteinander verbringen werden“, wandte sich der ältere Herr an alle, kaum, dass er saß, „sollten wir uns vielleicht vorstellen. Ich bin Gunther Aschheim senior. Und das ...“ er zeigte auf seinen jüngeren Begleiter, „ist mein Sohn Gunther.“

„Gunther junior, also“, lachte der Troll. „Freut mich sehr. Ich heiße Borris Helmer. Und meine zwei Freunde hier sind Edelin Granoon und Antülla Tendrav.“

„Antülla Tendrav, die Pianistin!“, rief da der junge Aschheim begeistert. „Die ganze Zeit schon habe ich mir überlegt, ob Sie es wirklich sind! Ich war bei einem Ihrer Konzerte. Sie waren großartig.“

„Oh, Sie schmeicheln mir.“ Antülla hob neckisch die Hand an die Wange und lächelte dem jungen Mann über die Fingerspitzen zu.

„Sind Sie alle drei Musiker?“, wollte Bwaroo wissen.

„Sind wir“, nickte der Elf, der also Granoon hieß. „Und Sie sind ...?“

Pardonnez moi“, entschuldigte sich Bwaroo. „Dies hier ist mein Freund Dr. Artur Heystings, und ich bin Erkül Bwaroo.“

Wenn Bwaroo gehofft hatte, dass die Anwesenden nun in staunende Ausrufe ausbrechen würden, hatte er sich getäuscht. Keinem schien sein Name etwas zu sagen. Nur Heriberts Kopf zuckte herum, und er sah meinen Freund scharf an. Er sagte jedoch kein Wort und sah so schnell wieder weg, dass ich mich fragte, ob ich mich nicht geirrt hatte.

Meinem alten Freund war die Enttäuschung anzusehen. Doch er wurde abgelenkt, denn gerade da kam die Bedienung heran und reichte jedem von uns eine Speisekarte. Sie war kurz, aber verlockend. Ich hatte mich schnell für die Tagessuppe, gebackenen Fisch, ein Ragout, Salat und Heidelbeersorbet entschieden. Dazu schien mir ein leichter Weißwein passend. Bwaroo brauchte länger, um zu wählen. Genaugenommen war er der Letzte, als er endlich nach der Suppe eine marinierte Rotbarbe mit Apfel, Erbsen und Minze wählte, Wildbret auf Polenta mit Nüssen und als Dessert einen Schokoladenpudding mit Mandelsahne. Ich verkniff mir ein Schmunzeln. Auf den Schokoladenpudding hätte ich wetten können. Schließlich kannte ich seine Schwäche für Schokolade. Außerdem entschied er sich für einen Rotwein und suchte einen '68 Unkenulm aus. Die Bedienung nahm alles auf und wandte sich bereits zum Gehen, als er sie zurückhielt.

„Und zum Abschluss eine Crème de Menthe“, sagte er.

„Ich ... ich fürchte, das haben wir hier nicht“, stotterte das Mädchen.

„Einen Pfefferminzlikör“, sprang ich ein.

„Ach so“, sagte sie da und atmete erleichtert auf. Dann aber stutzte sie. „Dieses grüne, süße Zeug? Das verwenden wir aber eigentlich nur für Cocktails.“ Sie neigte den Kopf zur Seite und schien ernsthaft zu überlegen, ob der ältliche Elf, als den sie Bwaroo wohl ansah, sie auf den Arm nehmen wollte.

Doch Bwaroo warf sich in die Brust und sah sie entrüstet an.

„Ich nehme ihn lieber pur“, erklärte er entschieden, wandte sich von ihr ab und würdigte sie fortan keines Blickes mehr.

Die Bedienung aber zuckte nur mit den Schultern und ging.

Incroyable“, beschwerte sich Bwaroo. „Tiefste Provinz.“

„Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum wir hier essen, statt im Zug“, ließ sich Aschheim Senior vernehmen. „Ich habe gehört, dass sie erst hier den Proviant aufnehmen, weil es billiger ist als in der Hauptstadt.“

„Ich glaube eher, die Zuggesellschaft hat eine Vereinbarung mit dem Wirt“, widersprach Helmer. „Sie nötigen uns, hier zu essen, und kriegen dafür einen Teil vom Gewinn.“

„Wahrscheinlich ist der Wirt dringend darauf angewiesen. Das Interieur hier ist ja zum Fürchten“, stellte Fräulein Tendrav fest und verzog das Gesicht, als hätte sie in etwas Bitteres gebissen. „Dieser Mann aus Eisen im anderen Gastraum ...“

„Eine Ritterrüstung“, klärte Granoon sie auf. „Ich habe hier schon einmal übernachtet, wissen Sie. Da hat mir ein Kellner erzählt, dass der Wirt mal in der Parallelwelt war und auf einer Burg solche Rüstungen gesehen hat. Er war so fasziniert, dass er sich eine hat nachbauen lassen, als er wieder hier war. Danach hat er dann auch sein Gasthaus im Stil einer solchen Burg dekoriert.“

„Sieht mir eher nach einer Räuberspelunke aus“, stellte Gneiß fest. „Rüstung – Blödsinn. Wer trägt denn so etwas? Schwer, unhandlich und absolut unbrauchbar. Ich habe mir das genau angesehen. Man kommt prima mit einem Schwert durch die Nähte zwischen den einzelnen Teilen. Und der Träger muss doch viel zu langsam sein, um kämpfen zu können. Mal abgesehen davon, wie er in sowas schwitzt ...“

„Dann wäre es ja das Richtige für mich!“ lachte Helmer. „Wir Trolle sind keine schnellen Kämpfer, aber dafür stark. Ich glaube, ich würde diese Panzerung kaum spüren. Und ich würde sicher sehr eindrucksvoll aussehen! Stellt euch das mal vor! Mit so einer blankpolierten Rüstung und einem Breitschwert eine Burg stürmen, um eine schöne Prinzessin zu retten! Oder einen Drachen zu töten!“

„Wenn so ein Drache Feuer atmet, möchte ich nicht in einem Haufen schmelzendem Metall stecken“, winkte Gneiß jedoch ab. „Bin immer gut mit einem Lederwams ausgekommen. Mit Nieten besetzt ...“

Als die Suppe kam, lugte ich verstohlen zu Heribert hinüber. Mir war aufgefallen, dass seine Frau für ihn mitbestellt hatte und er darüber gar nicht glücklich war. Nun sah er erst auf die Suppenschale und dann hilflos auf das viele Besteck, das vor ihm lag.

„Den großen Löffel über dem Teller“, herrschte seine Frau ihn an. „Und dann immer von außen nach innen. Meine Güte, was für eine Plumage ...“

Federn? Ich stutzte. Doch dann sagte ich mir, dass ich mich wohl verhört hatte. Die Dame hatte sicherlich nicht 'Plumage', sondern 'Blamage' gesagt.

„Ist schon ein Kreuz mit dem dämlichen Besteck!“ lachte derweil Quental. „Ich bin mir da auch nie sicher. Aber um ehrlich zu sein ...“ Er zwinkerte Heribert zu. „Die anderen wissen es meistens auch nicht.“

Minna warf ihm einen entrüsteten Blick zu, sagte aber nichts, sondern rieb sich nur irritiert das rechte Horn. Monica aber lachte laut, und, wie mir schien, etwas gekünstelt auf.

Im Laufe des Essens kristallisierte sich heraus, dass hier eigentlich zwei Gruppen am Tisch saßen, und die beiden Aschheims bildeten so eine Art Trennlinie. Während Aschheim Senior sich vor allem über Minnas Kopf hinweg mit Monica unterhielt, nützte Aschheim junior die Gelegenheit, seiner Nachbarin, Fräulein Tendrav, Komplimente über ihr Spiel zu machen. Nur einmal wurde er dabei unterbrochen, als er voller Begeisterung die Hände in die Luft warf und fast die Kellnerin getroffen hätte, die gerade hinter ihm vorbeiging. Aschheim senior schlug sehr energisch mit seinem Messer gegen den Tellerrand und sah seinen Sohn missbilligend an. Dem schoss das Blut in die Wangen, und er legte betreten die Hände in den Schoß. Wenig später aber plauderte er wieder mit der Pianistin, allerdings nur noch im Flüsterton und wesentlich weniger gestenreich.

Nachdem das schöne Fräulein leider so voll und ganz von dem jungen Aschheim in Anspruch genommen wurde, unterhielten Bwaroo und ich uns mit Gneiß und den beiden anderen Musikern. Besonders Helmer erwies sich dabei als witziger Geselle, während Granoon sich die meiste Zeit in vornehmer Zurückhaltung übte und lediglich zuhörte, während er immer wieder die Finger bewegte, als hätte er Angst, dass sie steif werden könnten.

„Ich spiele Schlagzeug“, verriet uns der Troll augenzwinkernd. „Die große Pauke mag ich am liebsten. Oder den Gong! Aber der kommt bei einem klassischen Orchester nicht so oft zum Einsatz. Hätte vielleicht lieber Bergmönch werden sollen.“

„Verzeihen Sie, wenn ich das sage.“ Gneiß zupfte sich am Bart und blickte den Troll neugierig an. „Jemanden von Ihrem Volk in einem klassischen Orchester sieht man eher selten.“

„Stimmt!“ Helmer lachte schallend. „Wäre auch nie auf die Idee gekommen, wenn ich nicht entdeckt worden wäre. Und ich bin schon oft in seltsame Situationen deswegen gekommen. Im Laundomer Opernhaus zum Beispiel steht das Geschläge hinten an der Wand. Nur, wo ich da noch stehen sollte, das war gar nicht klar. Bisher hatten sie dort nur menschliche Schlagzeuger. Aber man sollte meinen, wenn sie einen Troll engagieren, wissen sie, dass das ein massiges Wesen ist, das viel Platz braucht … Pustekuchen! Ich hoffe, in Pendrin ist es besser.“

„Dort spielst du ja nicht zum ersten Mal“, ließ sich Granoon da vernehmen und hielt einen Moment lang die Finger still. „Dort kennt man deine Ausmaße.“

Von den Gesprächen am anderen Ende des Tisches bekam ich leider nichts mit. Nur als der Fisch abgetragen wurde, hörte ich, wie Quental ein Bier für Heribert orderte. Minna hatte für ihren Mann lediglich Wasser bestellt.

„Für einen ordentlichen Mann braucht es ein Bier zum Essen!“, rief Quental, der selbst auch einen Krug vor sich hatte. „Ein Bier wird Ihnen wohl nicht schaden, Heribert, oder?“

„Ich bin so frei“, antwortete Heribert, schob seinen Zylinder in den Nacken und lächelte erfreut. Den vorwurfsvollen Blick seiner Gattin ignorierte er geflissentlich.

Quental schenkte ihr jedoch ein strahlendes Lächeln, woraufhin sie den Kopf senkte und an ihrer Serviette herum spielte. Sie wirkte äußerlich ruhig, doch ihr Schwanz zuckte nervös hin und her. Ihr Mann auf der anderen Seite des Tisches konnte das natürlich nicht sehen, aber ich hatte den Eindruck, dass es ihm ohnehin egal gewesen wäre. Er hielt seinen Humpen in der Hand und schien rundherum glücklich. Ich fragte mich, weshalb seine Frau so dagegen war, dass er Bier trank. Er schien kein Alkoholiker zu sein, dafür trank er zu langsam und zu bedächtig. Vielleicht war seine Frau einfach nur mit ihrem Leben unzufrieden und ließ es an ihm aus. Bei diesem Gedanken war ich doch ganz froh, Junggeselle geblieben zu sein. Obwohl es bei der richtigen Frau … ich schielte zu Antülla Tendrav hinüber. Doch die war vollauf damit beschäftigt, sich von Aschheim junior Komplimente machen zu lassen. Ich seufzte in mich hinein.

Bwaroo war mit dem Essen nicht sehr zufrieden.

Ce n'est pas bien savoureux“, murmelte er. „Nein, es schmeckt nicht besonders. Das Lob für diese Küche ist sehr übertrieben. C'est dommage!

„Aber Bwaroo. Ich finde, es schmeckt“, wagte ich zu widersprechen.

Mon cher Heystings. Es stimmt. Bwaroo hat schon schlechter gegessen. Aber öfter sehr viel besser!“

Mein Freund hatte schon den Schokoladenpudding vor sich, von dem er kaum gegessen hatte. Die Bedienung sah das wohl als Zeichen, ihm seinen Likör zu servieren.

Bwaroo nippte misstrauisch daran, hustete und riss sich die Serviette herunter, die er sorgsam in seinen Hemdkragen gesteckt hatte, um die Weste vor Flecken zu schützen.

Imbuvable!“, rief er aus. „Man will mich vergiften!“

Er presste sich die Serviette an den Mund, warf sie dann verärgert auf den Tisch und erhob sich.

„Nein, das ist zu viel!“, verkündete er mit einer Miene, als hätte man ihm eben ein großes Unrecht angetan. „Wir sehen uns im Zug, Heystings. An diesem Ort kann Bwaroo unmöglich länger bleiben.“

Damit stapfte er davon.

„Ein Feinschmecker, Ihr Freund, eh?“, kommentierte Gneiß. „Konnten wir uns beim Militär nicht leisten, solche Ansprüche. Da wäre so ein Essen als Delikatesse durchgegangen.“

„Ich fand es auch ganz gut“, nickte Granoon. „Aber ich bin auch ganz bestimmt kein Gourmet. Eigentlich ist Ihr Freund zu bedauern, Herr Heystings. Er hat wohl seinen Geschmack derartig verfeinert, dass er fast nichts mehr genießen kann. Wollen wir hoffen, dass der Koch im Zug besser ist.“

Ich stimmte ihm im Stillen zu. Bwaroos Verhalten war mir ein wenig peinlich, und ich schauderte bei der Vorstellung, wie er wohl reagieren würde, sollte ihm das Essen im Zug auch nicht zusagen.

Auf dem Weg zurück machte ich einen kleinen Umweg zur Uferpromenade. Inzwischen war ein leichter Wind aufgekommen und in der Luft lag diese seltsame, aufgeladene Stimmung, die oft vor einem Frühlingsgewitter herrscht. Ich spürte auch ein wenig unangenehm die Narbe an meiner linken Schulter. Auf sie angesprochen erzähle ich manchmal, es wäre die Erinnerung an eine Verletzung, die ich mir bei einem Duell zugezogen habe. Aber um ehrlich zu sein, ich habe sie mir eingehandelt, als ich einmal sehr unglücklich eine Treppe hinabstürzte und mit der Schulter einen schmiedeeisernen Schnörkel am Geländer rammte. Im Allgemeinen macht sie mir keinerlei Beschwerden. Doch bei einem Wetterumschwung spüre ich oft ein Ziehen und Stechen. So wie jetzt. Es würde bald regnen, da war ich mir sicher.

Doch noch war die Luft klar, und die Sonnenstrahlen tanzten auf den Wellen des Sees. Ich blieb stehen und genoss den Anblick. Als ich mich umdrehte, um wieder zum Zug zurückzukehren, bemerkte ich Herrn Kreidell, der sich anscheinend genau wie ich die Beine vertrat.

„Wie schade, dass Sie beim Essen nicht bei uns waren“, sprach ich ihn an.

„Mir ist nicht nach Gesellschaft“, knurrte er aber nur und ließ mich stehen.

Ob dieser Rüpel auch noch etwas anderes konnte, als Leute vor den Kopf zu stoßen? Ich gebe zu, dass mich sein Benehmen ärgerte. Wahrscheinlich würde er sich nur zu uns herablassen, wenn wir eine wilde, ausschweifende Feier mit vielen hübschen jungen Mädchen in leichter oder gar keiner Bekleidung veranstalten würden, dachte ich, stieg kopfschüttelnd in den Zug und suchte nach Bwaroo.

Wie erwartet fand ich ihn in seiner Kabine. Er saß in seinem Sessel am Fenster und hatte die Füße in eine Schüssel mit dampfendem Wasser gestellt, das nach Lavendel duftete.

„Ah, Heystings, was für eine Wohltat!“, begrüßte er mich.

„Bei solchen Schuhen wundert es mich gar nicht, wenn Sie Probleme mit Ihren Füßen haben.“ Ich warf einen Blick auf seine schwarzen Lackschuhe, die neben der Schüssel standen. „Warum legen Sie sich nicht ein paar ordentliche Wildlederschuhe zu? Die sind bequem und sehen gut aus.“ Zum Beweis deutete ich auf meine eigenen Schuhe.

Bwaroo sah sie sich an, dann hob er den Blick, um mir in die Augen zu sehen.

„Ich kann Ihnen nicht zustimmen“, sagte er entschieden. „Nein, ich kann Ihnen ganz und gar nicht zustimmen! Solche Schuhe passen nicht zu Erkül Bwaroo.“

„Wenigstens haben Sie den Likör gut verdaut“, wechselte ich da lieber das Thema. Doch das war eine schlechte Idee.

„Likör! Das war kein Likör. C'était une disgrâce! Reiner Zucker, grün gefärbt. Ich verstehe nicht, wie man einen solchen Gasthof so derart loben kann!“ Bwaroos Schnurrbart bebte vor Empörung.

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Um ihn doch noch irgendwie in bessere Laune zu versetzen, schlug ich vor, doch in die Bar zu gehen, die auch tagsüber dem ungezwungenen Zusammensein diente. Doch mein alter Freund lehnte ab. Er ziehe es vor, einen kleinen Verdauungsschlaf zu machen, erklärte er. Also ging ich wohl oder übel allein.

Tatsächlich fanden sich einige Männer in der Bar. Quental, Aschheim junior, Granoon und Gneiß saßen beisammen und spielten Briddel. Ich kenne natürlich die Regeln dieses Kartenspiels, wenn ich es auch selbst nicht gerade oft spiele. Es wird zu viert mit zweiundfünfzig Karten gespielt, wobei immer zwei Spieler ein Team bilden. Jeder erhält dreizehn Karten und versucht, durch Reizen den Gegner zu überbieten, indem man ansagt, wie viele Stiche man mit welcher Farbe zu machen gedenkt. Dann wird nacheinander ausgespielt. Wer die höchste Karte der ausgespielten Farbe oder den höchsten Trumpf zu einem Stich zugegeben hat, gewinnt den Stich und spielt zum nächsten Stich aus. Wenn alle dreizehn Karten gespielt sind, wird abgerechnet.

Das Ganze ist natürlich nicht so einfach, wie es sich anhört, und man muss schon geschickt und auch wagemutig sein, um hoch zu gewinnen. Ich gestehe, ich spiele es hauptsächlich deshalb so selten, weil ich ein miserabler Spieler bin. Aber ich schaue gern zu und so stellte ich mich in die Nähe des Tisches, um ein bisschen zu kiebitzen.

Schon bald gesellte sich Heribert zu mir, ein Glas Bier in der Hand. Darüber war ich ein wenig erstaunt, denn die Bar sollte ja eigentlich erst um sechs öffnen. Doch Quental, der meinen Blick trotz des Spiels bemerkte, grinste breit und zwinkerte.

„Hab Tony einen Taler zugesteckt, damit er es nicht so eng sieht“, erklärte er. „Und so hat er Bert ein Bier gegönnt.“

„Ich war so frei“, Heribert lächelte glücklich. Ich muss gestehen, ich konnte es ihm nicht verdenken. Seine Frau schien mir nicht gerade ein liebendes Weib zu sein. Eigentlich wunderte ich mich, dass sie ihn hier so einfach in Ruhe ließ.

Da kam Christopher dazu und runzelte die Stirn, als er das Bier sah.

„Aus meinem Privatvorrat“, beeilte sich Quental zu erklären. „Oh, verdammt! 'Tschuldigung, was wurde eben ausgespielt?“

Ein wenig ungehalten klärte Aschheim ihn auf.

Der Bahndirektor schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann jedoch anders und ging weiter zur Aussichtsplattform, wo, wie ich jetzt feststellte, ein paar der Damen versammelt waren.

„Zu dumm, dass man hier drin nicht rauchen darf“, knurrte Gneiß derweil. „Und da draußen sitzen die Dämchen wie die Hühner, und wenn man zum Rauchen hinausgeht, beschweren sie sich.“

Wie zum Ausgleich spielte er schnell und riskant. Aber es zahlte sich aus. Er gewann die Runde. Granoon, der sein Partner war und während des Spiels etwas unglücklich ausgesehen hatte, lächelte jetzt zufrieden.

„Ich brauche eine Pause“, verkündete der Zwerg da und erhob sich. „Herr Selb, wollen Sie für mich übernehmen?“ wandte er sich an Heribert, der mit einem 'Ich bin so frei' eifrig seinen Platz einnahm. Gneiß aber wandte sich der Aussichtsplattform zu. „Ist mir egal, was die Hühner denken, ich will jetzt meine Pfeife rauchen.“

Neugierig, wie die Damen wohl reagieren würden, schloss ich mich ihm an.

„... schon jetzt freue ich mich auf Ihre Darbietung der Titania im Wintertagsmärchen! Die Rolle ist ja wie geschaffen für Sie und Ihren wunderbaren Sopran. Ich hatte die Ehre, Sie diesen Part in Laundom singen zu hören ...“, hörten wir gerade Jonas Christopher auf die Operndiva einreden, als wir hinaustraten. „Ich hoffe, Sie werden Blau tragen. Sie sehen hinreißend aus in Blau ...“

„Wem sagen Sie das“, stimmte ihm die Freundin der Sängerin zu, die wie stets an deren Seite war.

Die dritte Frau auf der Plattform war Minna Selb. Sie lächelte so stolz, als hätte das Kompliment ihr gegolten. Ich überlegte, ob sie vielleicht eine Verwandte von Berenice Arundel sein könnte. Aber wie war sie dann dazu gekommen, diesen doch eher schlichten Leprechaun zu heiraten? Die Sopranistin war irgendwie mit dem westländischen Königshaus verwandt – mir war entfallen, wie genau. Cousine zweiten Grades der Königin oder so. Wenn Minna mit ihr verwandt war, musste sie dann doch auch ein paar Tropfen königliches Blut in den Adern haben. Ein Minotaurus in der königlichen Linie? Und, selbst wenn ... weiter kam ich nicht mit meiner Überlegung, denn Christopher fuhr begeistert mit seiner Lobeshymne fort.

„Natürlich können Sie mit Ihrem dunklen Haar jede Farbe tragen, Verehrteste ...“

„Der soll mal aufpassen, dass er nicht auf seiner eigenen Schleimspur ausrutscht“, murmelte Gneiß.

Er stand mit dem Rücken zu den Damen und dem Direktor und stopfte seine Pfeife. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Da ich der kleinen Gesellschaft aber ebenfalls den Rücken zukehrte, machte das nichts. Der Zwerg zwinkerte mir verschwörerisch zu, während er seine Pfeife anrauchte. Ich zog eine meiner kleinen Zigarren heraus und beschnitt sie.

„Sie werden doch wohl hoffentlich nicht hier rauchen wollen!“, rief Minna da und ihr Schwanz peitschte vor Empörung.

„Aber nein, ich hab schon damit angefangen“, erwiderte Gerdel Gneiß liebenswürdig und lächelte ihr zu.

„Wie können Sie es wagen?“, ereiferte sich Minna.

„Ganz einfach. Das ist der einzige Ort, an dem man das hier darf.“ Der Zwerg zuckte die Schultern.

„Was für eine Invergenz!“, erklärte Minna grimmig, und ich beschloss, dass sie wohl eher Impertinenz meinte. Was wohl Bwaroo zu ihrem Hang meinte, ständig das falsche Fremdwort zu wählen? Immerhin hatte er der Frau im Bahnhof unterstellt, dass sie ihre Sprache 'ermorden' würde.

Gneiß ignorierte jedoch Minnas Worte einfach, die falschen wie auch die richtigen.

„Aber der Rauch!“, jammerte da die Arundel. „Er ist Gift für meine Stimme.“

„Kein Problem!“ Mit freundlicher Miene öffnete Gneiß ein Fenster. „Soll ich die anderen auch aufmachen?“

„Zugluft! Zugluft ist Gift für meine Stimme!“

„Ach, die auch?“

„Meine Damen!“, mischte sich Christopher da ein. „Beruhigen Sie sich! Ich verstehe Sie vollkommen, Frau Arundel. Leider hat Herr Gneiß nicht ganz Unrecht ...“

„Ich habe sogar voll und ganz Recht!“

„Lassen Sie uns doch nach drinnen gehen“, schlug der Bahndirektor vor, ohne auf Gneiß' Einwurf weiter einzugehen. „Tony wird uns Hagebuttentee servieren, und ich würde mich freuen, wenn Sie mir die Ehre antun und das Kuchenbuffet in Augenschein nehmen. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich Sie einladen dürfte ...“ Mit diesen Worten schob er die Damen nach drinnen.

Minna schaute uns trotzdem weiter böse an, als sie an uns vorbei ging. Doch das war nichts gegen den eiskalten Blick, mit dem Berenice Arundel Hauptmann a. d. Gerdel Gneiß musterte, bevor sie durch die Tür trat, die Christopher für sie aufhielt. Letzterer tat, als seien wir gar nicht da. Ich fragte mich, wie er wohl reagiert hätte, wäre auch Bwaroo anwesend gewesen. Vermutlich hätte er dann gar nicht mehr gewusst, bei wem er sich zuerst entschuldigen sollte. Erst bei Bwaroo wegen der Empfindlichkeit der Damen und dann bei der Sängerin wegen der Ruppigkeit der Herren. Oder doch lieber umgekehrt?

Gneiß jedoch zog gemütlich an seiner Pfeife und starrte in die Ferne. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

„Sie scheinen das Geplänkel ja genossen zu haben“, bemerkte ich.

„Und wie ich das habe!“, er grinste breit. „Wissen Sie, man sieht es mir vielleicht nicht an und man traut das einem Soldaten wie mir auch eigentlich nicht zu, aber ich liebe die Oper.“

Das hätte ich tatsächlich nicht erwartet, schon weil Zwerge im Allgemeinen eher für ihre deftigen Lieder bekannt sind. Aber nun ja, Geschmäcker sind nun einmal verschieden, sagte ich mir. Trotzdem musste ich zugeben, dass mich dieses Geständnis eigentlich eher noch ratloser zurückließ.

„Aber sollten Sie dann nicht auch daran interessiert sein, dass die große Sopranistin bei Stimme bleibt?“, wollte ich also wissen.

„Schon“, gab Gneiß zu. „Aber wenn die heiser wird, ist das ein Riesenglück für die Opernwelt!“

Aha. Ich glaubte dieser Äußerung entnehmen zu können, dass die Stimme der Arundel doch nicht so großartig war, wie man im Allgemeinen, und Bwaroo im Besonderen, versicherte. Wahrscheinlich ein wenig schrill oder gar so piepsig, wie Sopranstimmen das ja manchmal sind.

Wir standen nach dieser Feststellung ein Weilchen stumm nebeneinander. Ich bewunderte die Landschaft, die trotz der gehegten Weinberge, die sich nun zum Teil bis ans Ufer des Flusses heranschoben, immer noch etwas Wildes an sich hatte. Am jenseitigen Ufer gab es eine kleine Straße, eigentlich kaum mehr als ein Feldweg, auf der hin und wieder ein Fuhrwerk zu sehen war. Auf unserer Flussseite lief zwischen den Schienen unseres Zuges und dem Ufer noch eine Landstraße dahin für die Kutschen, die nach Pendrin fuhren. Im Moment schien jedoch niemand unterwegs zu sein.

Ich wollte gerade eine Bemerkung hierüber machen, als sich Borris Helmer zu Gneiß und mir gesellte.

„Ein schönes Plätzchen“, stellte er fest. „Mit all den Fenstern fühlt man sich nicht so eingeklemmt.“

Ich glaubte zu verstehen, was er meinte. Obwohl der Onyx-Express im Vergleich zu einem normalen Zug beinahe schon geräumig war, musste er für ein Wesen wie Helmer immer noch recht eng anmuten. Wahrscheinlich konnte der arme Kerl sich noch nicht einmal einfach umdrehen, ohne besonders Acht geben zu müssen.

„Aber in den Bergen kann es doch auch eng sein“, widersprach Gneiß.

„Stimmt schon, aber da ist es … na ja … das sind dann eben Felsen. Die zerbrechen nicht so schnell, wenn man mit dem Finger dagegen stößt ...“

„Ist etwas kaputt gegangen?“, fragte ich mitfühlend.

„Na ja ...“ Sichtlich verlegen verschränkte der Troll die Finger ineinander, öffnete sie wieder und verschränkte sie erneut. „Da ist unter dem Fenster so ein Tischchen an der Wand festgemacht und da dran ist eine Schublade ...“

Es musste ein Tischchen in der Art sein, wie es sich auch in meiner Einzelkabine befand. Einen Moment lang durchzuckte mich die Vorstellung, Helmer hätte sich selbstvergessen darauf gesetzt – etwas, das der Tisch selbst bei jemandem wie mir niemals überlebt hätte. Doch es zeigte sich, dass es gar nicht so schlimm war, wie ich befürchtete.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739315096
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Elfen Fantasykrimi Orientexpress Fantasy Krimi Whodunit Poirot Detektivgeschichte Ermittler Thriller Spannung Satire Parodie Humor

Autor

  • Ruth M. Fuchs (Autor:in)

Ruth M. Fuchs lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in der Nähe von München. Von April 2000 bis Dezember 2013 gab sie dreimal jährlich das Magazin Neues aus Anderwelt heraus. Aufgrund ihrer dort erschienenen Artikel regte der Eulenverlag sie 2003 an, das Sachbuch Die wunderbare Welt der Elfen und Feen zu schreiben und als Ruth Schuhmann, wie sie damals noch hieß, zu publizieren. Danach ließ sie das Schreiben nicht mehr los.
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Titel: Erkül Bwaroo und der Mord im Onyx-Express