Lade Inhalt...

Pendrake 1- Finding me

von Gabby Zrenner (Autor:in)
642 Seiten
Reihe: Pendrake, Band 1

Zusammenfassung

Wie kittet man seine Seele, wenn man sich selbst verloren glaubt? Kann Liebe der Weg sein? Auf dem Plan stand sie für Victoria jedenfalls nicht! Erst recht nicht, gleich zwei Männern zu begegnen, die ihr Herz wieder zum Leben erwecken. Während sie bei Edward Geborgenheit und Sicherheit findet, bringt Lord Croft sie dazu, jede Vernunft, jeden Plan zu vergessen. Bei ihm fühlt sie auf eine Weise, der sie gnadenlos ausgeliefert ist. Aber er gibt ihr auch Frieden und das Gefühl, trotz all der kaputten Teile richtig zu sein. Nur leider scheint er nicht der Gute im Spiel. Aber ist es Edward? Oder täuscht auch da der Schein? Eins weiß die 19-jährige Victoria sicher. Sie muss und sie will endlich leben. Befreit von einer unzuverlässigen Mutter und ihrer Vergangenheit mit ihrem Exfreund Markus, endlich sich selbst finden. Bleibt noch die Angst: Wird sie je wieder vertrauen können? Sich selbst oder anderen? Je wieder normal leben, ohne Angstattacken oder dem Gefühl, besser aufzugeben und in sich selbst zu verschwinden? Sie muss Markus endlich entkommen oder er wird sie weiter verfolgen. Im Geist und in der Wirklichkeit. Aber was, wenn er sie letztendlich doch findet und beendet, was er begonnen hat? Content Warnung: Beinhaltet Themen wie Sucht, Depression, Selbstmord und sexuelle Gewalt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

Pendrake - Finding me

 

 

 

Gabby Zrenner

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gabby Zrenner

 

 

 

 

 

 

 

Pendrake - Finding me

 

Band 1

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, 2022

© 2020 Gabby Zrenner – alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pendrake - Finding me

Band 1

 

 

 

 

Gabby Zrenner

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Es gibt keine schöneren Möbel als Bücher

Sidney Smith

 

Nie könnte ich den Moment vergessen, als mein Grandpa mir vor fünf Jahren seine Bibliothek gezeigt hat. Damals war ich absolut überwältigt von diesem pompösen Raum. In der Mitte war die Bibliothek fast zwei Stockwerke hoch mit den Wänden voller beeindruckender Regale aus dunklem Holz. An der einen Wand befand sich ein riesiger Kamin mit Steinfassung, in dem ich aufrecht hätte stehen können. Auf der anderen Seite erhellten lauter bodentiefe Fenster und eine doppelflügelige Tür mit Blick auf den Garten den Raum. Davor stand ein alter Schreibtisch aus Kirschholz übersät mit Papieren, Karten und Büchern.

Die Bücher in all den Regalen zogen mich sofort in den Bann und ich streifte erstmal blind für den Rest des Raumes daran entlang. Zog hier ein Buch heraus und strich dort sanft über den Rücken eines anderen, um sie angemessen zu begrüßen.

Grandpa hatte damals bereits viele Bücher gesammelt, wie schon unsere Vorfahren und es befanden sich nicht wenige Erstausgaben und besonders aufwendig illustrierte unter ihnen. Sogar eine beträchtliche Zahl an Exemplaren, die noch per Hand, wahrscheinlich in einem Kloster, geschrieben worden waren. Direkt rechts an der Wand waren quer zum Fenster hin viele alte Atlanten und Karten, die mich schwer beeindruckten, hatte ich bis dato doch von echten alten Ausgaben nur geträumt und höchstens im Fundus meiner Schule mal eine gesehen.

Zum ersten Mal fühlte ich mich zu Hause. Auf einer Ebene angekommen und verstanden, wie es kein Mensch vor meinem Grandpa geschafft hatte.

Der Mann, der hinter dem Schreibtisch stand, war für mich regelrecht unsichtbar, bis er meinen Gran ansprach: »Ist sie das? … deine Enkelin Victoria?«, fragte er emotionslos und von oben herab.

»Allerdings, das bin ich und wer sind sie, wenn man fragen darf?«

Mein Großvater lächelte mich verschmitzt an bei dieser für mich eher unüblich frechen Antwort. Kerzengerade stand ich da und sah diesem arroganten Kerl fest in die Augen. Komischerweise war ich nicht, wie sonst völlig verschüchtert.

Genauso unnachgiebig blieben seine Augen, die er dabei leicht zusammenkniff. Ein kleines Schmunzeln stahl sich beinah unmerklich in sein Gesicht. »Lord Sherlock Percival Richard Croft, Gnädigste. Magst du Bücher?«, fragte er sehr förmlich.

Seine Präsenz war beeindruckend. Plötzlich schien er für mich das Einzige von Bedeutung im Raum zu sein, zumal er hierhin zu gehören schien wie all die antiken Gegenstände und Dokumente.

Leise antwortete ich ihm, ohne den Blick von ihm abzuwenden: »Ich mag Bücher nicht. Ich liebe sie! Besonders den Geruch, egal ob alt oder neu. Wobei alte Bücher mir oft schöner vorkommen, mit Liebe und Respekt hergestellt und illustriert. Hier sind so viele wunderbare Sachen zu entdecken. Ich glaube, ich könnte Jahre in diesem Raum verbringen? Wenn nicht mein ganzes Leben.«

Neben mir hüstelte Grandpa und versteckte ein Lachen damit. Wahrscheinlich faselte ich vor mich hin wie ein dummes Kind. Natürlich war ich mit meinen 14 Jahren kaum etwas anderes. »Dann sollten wir unseren Tee vielleicht besser hier einnehmen. Das würde Sherlock nicht schaden, wie ich ihn kenne, hat er seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen. Ich bin gleich zurück.« Mit diesen Worten verließ Gran schmunzelnd die Bibliothek.

Sherlock und ich starrten uns weiter an, ganz nach dem Motto, wer zuerst wegguckt, verliert.

»Liest du auch oder riechst du nur an Büchern und siehst sie dir an?«

Etwas schnippisch, weil man mich wieder wie ein unterbelichtetes Kind behandelte, antwortete ich: »Natürlich lese ich sie auch.«

Prüfend musterte er mich und bellte regelrecht: »Was?«

Irritiert sah ich ihn an, woraufhin er fast genervt den Mund verzog. »Ich meine, welche Bücher hast du gelesen? Oder, was liest du gerade?«

Erst jetzt fiel mir auf, dass auch er ein Buch in der Hand hielt. »Was liest du denn gerade?«, fragte ich ihn nun genauso von oben herab.

»Das hier? Keats Gedichte. Zurzeit lese ich allerdings Tolkien in meiner Freizeit.«

Das fand ich überraschend. Irgendwie schien das nicht zu diesem kerzengeraden, fast arroganten Mann zu passen. Aristokratisch wie in einem Roman. Das war er. »Der Herr der Ringe? Oder eher anderes von ihm?«

Ernst antwortete er mir und schien mich dabei gar nicht mehr wie ein Kind, sondern eher wie eine Gleichgestellte zu behandeln. »Der Herr der Ringe! Den Rest hab ich schon durch.« Verhalten lächelnd fügte er hinzu. »Das beste zum Schluss.« Herausfordernd wiederholte er seine Frage. »Und was liest du?«

Plötzlich war ich mir unsicher, ob ich die Wahrheit sagen sollte. Die meisten fanden mich generell recht komisch. Zwar las ich gerne neue Romane wie Fantasy oder Mystery, aber ich liebte Bücher, die meine Mitschüler für alte Leute passend fanden oder völlig langweilig. Diesen offenen Blick und dieses echte Interesse von ihm genoss ich zu sehr, um es mir verspielen zu wollen. Aber was würde seinen Ansprüchen genügen, was fände er seltsam? Während ich noch darüber grübelte, sah er mich so abwartend an, wie ein Lehrer und das war wahrscheinlich der Grund, warum ich dann doch ehrlich antwortete: »Bertolt Brecht: ›Geschichten von Herrn Keuner‹, für zwischendurch und ... Dürrenmatt: ›Der Besuch der alten Dame‹, für die Schule. Eigentlich Umberto Eco: ›Der Name der Rose‹.«

»Warum Brecht?« Wieder dieser musternde Blick von ihm, der mich quasi bis auf die Grundmauern durchleuchtete und bewertete.

Ich beschloss, mich nicht von ihm einschüchtern zu lassen. »Herr Keuner amüsiert mich einfach. Er nimmt im Grunde unsere gesamte Gesellschaft auf die Schüppe und die meisten verstehen kein Wort. Zumindest heutzutage.«

Er lächelte mich ehrlich an, was auf mich wie Sonne im Bauch wirkte. »Und ›Der Name der Rose‹?«

»Ich wollte den Film gern sehen.« Jetzt lachte er fast und ich erklärte mich trotzig. »Ich will den Film nicht vor dem Buch sehen, das macht mir sonst alles kaputt. Ich würde es nicht mehr lesen wollen. Das ist mir einmal passiert. Nie wieder!«, sagte ich todernst, womit ich ihn, seinen funkelnden Augen nach, noch mehr erheiterte.

»Was hast du sonst gelesen?«

Zweifelnd sah ich ihn an. »Die Bücher ab zwölf reichen dir hoffentlich?«

»Meinst du seit deinem zwölften Geburtstag oder die ab zwölf Jahren empfohlen sind?« Er grinste dabei. Gott das machte ihm Spaß mich auszuquetschen. Wahrscheinlich erwartete er jetzt lauter Teenie-Zeug. Oh, das hatte ich allerdings auch auf Lager.

»Vieles!« Knapp geantwortet, und zwar aus Trotz.

»Hast du ›Herr der Ringe‹ gelesen?«, ließ er nicht locker. Das bejahte ich gerne. Sowohl anspruchsvoll als auch literarisch wertvoll, das perfekte Buch. Wieder dieser ernste Ton bei ihm. »Was hat dir am besten gefallen?«

»Bruchsal, Kankras Lauer und der Schluss, wenn die Elben fahren. Aber ehrlich gesagt würde ich es nicht noch mal lesen, ich hatte das Gefühl, nie weiter zu kommen. Es ist toll, wirklich, aber zu langatmig. Den Hobbit fand ich besser.«

Jetzt war wieder dieser arrogante Zug um seinen Mund aufgetaucht. »Sicher waren es noch ein paar Seiten zu viel. Mit der Zeit fallen dir längere Bücher leichter.«

Empört schnappte ich nach Luft. Was bitte schön sollte das denn heißen? »Ich bin durchaus in der Lage mehr als zehn Seiten zu schaffen. Ich hab mit elf ›Die Säulen der Erde‹ von Ken Follett in zwei Tagen gelesen. Das sind über 1000 Seiten. Letzte Woche habe ich vier von Shakespeares Stücken gelesen. Vielen Dank, aber ich bin schon daran gewöhnt.«

Er schmunzelte. »Ziemlich viel Sex drin, … in Ken Follett. Interessiert es keinen, was du liest?« Wow, er nahm kein Blatt vor den Mund.

Ich schüttelte etwas bedrückt meinen Kopf. »Die Szenen lese ich oft quer, nervt eh. Mum hat schon lange aufgegeben mich von Büchern fernzuhalten. Außerdem kennt sie den Inhalt nicht und Dad ist ja nicht mehr da!«

Zum ersten Mal setzte er sich in Bewegung und kam auf mich zu, wandte sich dann aber an ein Regal, ohne nur im Geringsten auf meine Aussage zur Familie einzugehen. Worüber ich froh war. Bücher waren einfacher als meine Eltern.

»Magst du Jane Austen? Wir haben einige, sehr schön gestaltete Ausgaben hier stehen? Was ist dein Lieblingsstück von Shakespeare?«

Auch ich schaute daraufhin von ihm weg in Richtung der Regale. »Ich mag Jane Austen und: ›Was ihr wollt‹?«

Schon wieder dieser nachdenkliche Blick. »Nicht ›Romeo und Julia‹? Wie es bei Mädchen meist ist oder ›Hamlet‹? Um anzugeben?«

Was sollte ich da nun zu sagen. »Nein.« Ich glaube, ich rümpfte sogar ein wenig die Nase dabei, erklärte mich aber nicht weiter. »Gibt es hier eine Ausgabe von Marlowes: ›Doktor Faustus‹?« Jetzt hatte ich ihn wohl wirklich überrascht.

»O ja, die gibt es, ich such sie dir raus.« Mit langen Schritten ging er zur anderen Seite des Raumes, an der so etwas wie ein Anbau angrenzte. Mit niedriger Decke und mehreren Regalen quer im Raum wie bei einer öffentlichen Bücherei.

Erst jetzt viel mir auf das die Wände dort aus Steinquadern bestanden und im hinteren Bereich gotische Fenster zu sehen waren. Fast als wäre es Teil einer alten Kirche.

In diesem Moment kam mein Großvater zurück und meine Unterhaltung mit Lord Sherlock Percival Croft war für diesen Tag zu Ende, was nicht bedeutete, dass ich ihn vergessen würde. In den Jahren danach hatte ich ständig an ihn gedacht. Sogar ein paar Mal von ihm geträumt. Er war mir damals direkt so vertraut vorgekommen, als würden wir uns schon Jahre kennen. Etwas, das ich in dieser Intensität nie vorher oder nachher erlebt hatte.

Kapitel 1

Nichts wird real, bevor es nicht erlebt wurde

John Keats

 

Das Anwesen war wunderschön. Geradezu majestätisch mit all seinen Fenstern, Schornsteinen und Verzierungen. Was es allerdings nicht weniger beängstigend machte. Der weitläufige Park mit altem Baumbestand verstärkte diesen Eindruck noch. Genau wie die lange Kieseinfahrt und die akkurat geschnittenen Rosenbüsche. Herrschaftlich. Der Inbegriff englischer Adelskultur. Fast, als wäre man in die Kulisse von Downton Abbey gefallen.

Ganz klar. Ich passte hier nicht hin.

Das letzte Mal, als ich mit 14 Jahren hier zu Besuch bei meinem Großvater war, kam es mir noch riesiger vor als jetzt, aber auch weniger furchteinflößend. Großvater hatte mich vom Bahnhof abgeholt und mir mit seiner liebevollen und heiteren Art alles gezeigt.

Jetzt war er nicht mehr hier und mich erwarteten Menschen, an die ich mich kaum erinnern konnte. Dafür war ich nun die Hausherrin. Wie verrückt sich das anfühlte. Verrückt und traurig.

Ich vermisste meinen Großvater wahnsinnig, obwohl ich ihn kaum gesehen hatte. Trotzdem hatte er mir bei den wenigen Begegnungen immer das Gefühl gegeben, dass er mich verstehen würde. Er war ein Verbündeter gewesen in dieser Welt, in die ich nicht passte. Jetzt würde ich nur noch sein Grab besuchen können.

Langsam wurde mir kalt, wie ich hier wie angegossen mitten auf dem Weg ausharrte und meine zwei Taschen schnitten mir unangenehm in die Schulter. Den Koffer schleifte ich vor Erschöpfung auf dem Kies eh nur noch hinter mir her. Wahrscheinlich war er schon völlig zerkratzt und verdreckt. Ich sollte einfach die paar Schritte bis zur Tür und in mein neues Leben wagen. So schwer war das doch nun auch nicht. Nur ein komplett neues Leben. Also was solls. Konnte doch nur besser werden.

Überladen schleppte ich mich vorsichtig vorwärts. An der Tür angekommen, zogen mich die schweren Taschen auf der linken Seite erbarmungslos nach unten und bereiteten mir Probleme, den Klingelknopf zu treffen. Nach drei Anläufen und zwei beinahe Stürzen, weil ich das Gleichgewicht verlor, schaffte ich es endlich und trat einen Schritt zurück.

Als die Tür sich öffnete, war ich sprachlos, dabei hatte ich mir fest vorgenommen mich ordentlich vorzustellen. Vor mir stand ein unverschämt gut aussehender, junger Mann mit den blausten Augen, die ich je gesehen hatte. Der freche Haarschnitt mit extrem kurzen Seiten und den langen Haaren, die ihm ins Gesicht fielen, passten nicht zu dem ordentlichen braunen Tweedanzug, den er trug, aber insgesamt: wow.

Grinsend streckte er mir die Hand entgegen. »Guten Tag, Edward Croft und du bist Lady Pendrake? Wie war die Reise?«

Ich fürchte, mein Mund stand offen und es kamen nur »äh« und »mhh« raus. Gott, ich sah bestimmt furchtbar dämlich aus, zusätzlich zu meinem Aufzug. Völlig zerrupft und verschwitzt von der Fahrt und dem Fußmarsch hierher.

»Am besten nehme ich dir erst mal was ab und du kommst rein.«

Ich starrte ihn immer noch an. Das musste aufhören. Seit wann war ich denn bitte so nervös nur wegen eines attraktiven Kerls? »Ähm, danke, ja«, quetschte ich mühsam aus mir raus. »Wo ist denn Sophia?«

»Die ist in der Küche und bereitet den Tee vor. Ich denke, den hast du bitternötig so, wie du aussiehst. Möchtest du dich kurz etwas frisch machen? Da vorne ist ein Bad. Du musst gleich nur durch diese Tür hier und bist schon in der Küche bei Tee und Scones ... hoffe ich ... also ich hoffe, es gibt Scones. Die Küche ist definitiv dort«, sagte er fröhlich. »Ich stell deine Sachen neben die Treppe und nach dem Tee bringt dich einer von uns hoch, ok?«

»Ok!« Mehr war aus mir immer noch nicht rauszubekommen. Artig ging ich ins Bad, wusch mir die Hände und das Gesicht und versuchte, meine Haare zu glätten, was nur leidlich funktionierte. Gut, dann halt mal wieder die Stromschlagfrisur. Danach ging ich mit zitternden Händen Richtung Küchentür. Nur Mut sagte ich mir, es ist nur der Anfang vom Rest deines Lebens. Zaghaft öffnete ich die Tür und sah die nächste Offenbarung.

Sherlock! Der Mann, der mich seit knapp 5 Jahren nicht mehr losgelassen hatte.

Der Blick, der mich traf, war genauso musternd und arrogant wie damals in der Bibliothek. Fast schon gefühllos. »Guten Tag«, sagte ich nun wesentlich selbstsicherer, als ich mich fühlte. Wie damals hatte er diese seltsame Wirkung auf mich, dass ich keine Schwäche zeigen wollte. Als würde er sich daran festbeißen und mir dann alle Geheimnisse entlocken.

»Guten Tag, Victoria. Es freut mich, dich wiederzusehen. Wie geht es dir?«

Er hatte eine furchtbar schöne Stimme, dunkel und samtig. Mein Magen zog sich unweigerlich zusammen. Auch wenn ich seit unserer ersten Begegnung nicht aufgehört hatte, an ihn zu denken und jeden Kerl mit ihm verglichen hatte, war die Realität doch eine ganz andere. Verdammt, ich hatte ihn in Erinnerung wie eine 14-Jährige. Damals empfand ich ihn als groß, stark, intelligent und gutaussehend mit gewissen Charme. Sodass er mich zu einem zweiten Blick verleitet hatte, aber eher fand ich unser Gespräch faszinierend.

Jetzt mit dem Blick einer Frau war er geradezu umwerfend. Selbstsicher, wunderschöne grüne Augen, auch wenn sie kalt wirkten und große, dunkelblonde Locken, die ein wenig zu lang waren. Diese unnahbare überlegende Ausstrahlung machte ihn … sexy. Er hatte wahrscheinlich schon so einige Herzen gebrochen, allein mit dieser dunklen Samtstimme.

»Vielen Dank, mir geht es gut und dir, Sherlock?«

»Oh, ihr kennt euch, das ist ja schön. Hallo Victoria! Ich hoffe, die Fahrt war nicht zu anstrengend, setz dich und trink einen Tee, dabei können wir uns alle unterhalten, nicht wahr?«, redete Sophia auf mich ein.

Sie war die Haushälterin von Gran und irgendwie mit Edward und Sherlock verwandt. Wie hatte ich nie begriffen. Die beiden waren zu ihr gezogen, als deren Eltern vor sieben oder acht Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Anscheinend waren sie nie wieder gegangen. Das Haus sammelte wohl verlorene Kinder und nun war ich eins davon.

Der Anblick des gedeckten Küchentisches ließ meinen Magen aufheulen. Dort erwartete mich ein echter englischer Tee mit Gurkensandwiches und Scones, Erdbeermarmelade, clotted Cream. Etwas auf das ich in meiner Kindheit in Deutschland stets verzichten musste und deswegen umso mehr liebte. Und Muffins. Ich hatte seit meinem dürftigen Frühstück nur einen Schokoriegel in mich reingestopft und war furchtbar hungrig.

Nur der Tee war mir jetzt nicht genug. Ich sehnte mich nach einer Tasse schwarzen Kaffee. Tja, kaffeesüchtig war ich definitiv. Vielleicht gab es Selbsthilfegruppen, die einem dabei helfen konnten.

Alle schauten mich freundlich und voller Erwartung an. Alle außer Sherlock, der am Küchentresen lehnte, in der einen Hand eine schöne kleine Teetasse und in der anderen ein ledergebundenes Buch, in dem er jetzt stirnrunzelnd las.

Sophia sah mich aufmunternd an. »Setz dich mein Kind«, und setzte sich prompt selbst an das Kopfende.

Ich wählte meinen Platz auf der anderen Seite des Tisches, damit ich mit dem Rücken zur Wand saß und alle im Auge behalten konnte. Edward saß bereits, als ich zögerlich auf den Stuhl rutschte.

»Sherlock!«, sagte Sophia nur knapp und nicht mal besonders laut, allerdings in einem Tonfall, der ausreichte, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Kaum hob er den Blick, kam aber endlich auch an den Tisch und füllte sich selbst Tee nach. Sophia räusperte sich deutlich. Sherlock sah geistesabwesend zu ihr hoch und brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass er unhöflich war. Sophia schüttelte nur lächelnd den Kopf, worauf er sie entschuldigend anschaute. Die Szene erschien so liebevoll vertraut, dass ich glatt neidisch wurde auf diese familiäre Beziehung.

Augenblicklich wirkte er wesentlich aufmerksamer. »Tee? Er ist gut. Ich kann dir aber auch einen Kaffee machen.« Dabei setzte er ein schiefes Lächeln auf, als wüsste er ganz genau, was in mir vorging.

Zögernd, weil ich niemanden kränken wollte, antwortete ich. »Kaffee wäre schön, aber ich trinke gern auch eine Tasse Tee.«

Er schüttete mir Tee ein, genauso Edward und Sophia. »Milch, Zucker?«

Ich verzog mein Gesicht. »Ich bin Purist, schwarz bitte.«

Nachdenklich musterte er mich, als würde er jede Information aufsaugen und direkt katalogisieren. Dabei stand er geschmeidig auf, um zu einem Kaffeevollautomaten zu gehen, der für mich wie eine Offenbarung war.

»Greif ruhig zu, du siehst völlig ausgehungert aus. Bist du etwa von Bahnhof aus gelaufen? Um Gottes willen, wir hätten dich doch abgeholt!« Sophia sah mich fast strafend an.

Leise nuschelte ich: »Es war nicht so weit. Eigentlich ist die Strecke doch ganz schön.« Sherlock stellte den Kaffee vor mir ab und schaute mir direkt in die Augen. »Wir kennen die Strecke, Kleines. Ohne Gepäck würde ich dir noch zustimmen, aber so? Warum hast du dir nicht wenigstens ein Taxi gerufen?«

Kleines? Ernsthaft. Sah er in mir immer noch das kleine Mädchen von früher? Ich war selbst erstaunt, wie wichtig mir war, dass er mich nicht mehr so sah. Gott, ich sah mich ja selbst schon seit Jahren nicht mehr so.

»Mein Akku ist leer«, gab ich kleinlaut zu.

Sophia betrachtete mich nachsichtig. »Jetzt ist es ja nicht mehr zu ändern. Also bitte bediene dich.« Mit den Worten hielt sie mir den Teller mit den Scones entgegen.

Dankend nahm ich mir einen und griff mir zaghaft auch noch ein Gurkensandwich. Ich brauchte dringend etwas Salziges. Schnell war das Erste dann das Zweite schon verzehrt, bevor ich mich überhaupt dem Kaffee zuwandte.

Edward beobachtete mich und zwinkerte mir zu, er konnte sich anscheinend kaum ein Lachen verkneifen.

Ich verzog mein Gesicht und fragte ihn stumm. »Was?«

Daraufhin lachte er tatsächlich leise auf. Wie locker wir auf Anhieb miteinander umgingen, gefiel mir und machte mir Hoffnungen, hier nicht gänzlich fehl am Platz zu sein.

Sherlock hingegen war wieder völlig in sein Buch versunken und bekam von dem ganzen Geplänkel nichts mit. Auch Sophia schien von uns nichts mehr wahrzunehmen. Traurig sah sie auf ihren Teller, ohne zu essen.

Bevor ich mir darüber ernsthaft Gedanken machen konnte, stand Edward schon auf. »So gern ich der Lady beim Essen zugucke, die Arbeit wartet. Wenn ich nicht anfange, komme ich zu spät zum Dinner und dann bekomme ich furchtbaren Ärger mit der Köchin.« Dabei wandte er sich zu Sophia, die ihn anlächelte und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Sherlock? Kannst du bitte Victoria gleich mit dem Gepäck helfen?«

Der konnte sich kaum zwei Sekunden von seinem Buch lösen. »Ja sicher«, brummte er sichtlich zerstreut.

Ich war gespannt, ob er es gleich noch wusste. Erst mal wanderte eine ordentliche Portion clotted Cream und Marmelade auf meinen Scone, während Edward bereits auf den Weg zu Tür war.

Sherlock stand auf und holte Erdbeeren aus dem Kühlschrank, die er auf den Tisch stellte, ohne auch nur einmal die Nase aus dem Buch zu nehmen.

»Danke Sherlock, die hatte ich ganz vergessen. Du musst Sherlock verzeihen, wenn er an einer Sache dran ist, lässt er sich nicht davon abbringen. Ich bin schon froh, dass er überhaupt mit am Tisch sitzt.« Entschuldigend sah Sophia mich an und hielt mir die Erdbeeren hin.

Wie auf Kommando schlug Sherlock das Buch mit einem Knall zu, woraufhin meine Erdbeere vor Schreck fast den Boden gesehen hätte. Glücklicherweise hatte ich gute Reflexe. Er starrte mir ins Gesicht. Ernst und grüblerisch.

Ich beschloss, genauso intensiv zurückzustarren. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht genauso stur sein könnte wie Lord Croft.

»Es sind die Menschen, die ich oft nicht ertrage. Ich will nicht jemanden Dinge erklären, die er nicht versteht und nicht verstehen will. Ich will nur lesen, reflektieren, schlussfolgern. Abgesehen davon muss ich Unterricht vorbereiten. Tja, jetzt aber Scones.« Daraufhin langte auch er endlich zu.

Seine Bemerkung machte mich sauer. War ich so schwer zu ertragen? So unterbelichtet? Wahrscheinlich war er nur einer dieser eingebildeten Besserwisser und ich sollte es einfach vergessen. Trotzdem konnte ich mir nicht verkneifen anzumerken: »Manchmal ist eine Erklärung schon eine gute Reflexion und durch Antworten auf Nachfragen sieht man sich gezwungen, den Blickwinkel zu ändern. Somit ist eine Konversation nicht unbedingt hinderlich oder Zeitverschwendung.« Einer Diskussion war ich noch nie ausgewichen und mit ihm machte mir das richtig Spaß.

Mit leicht zusammengekniffen Augen sah er mich an. »Ich stimme zu, unter zwei Bedingungen. Das gegenüber muss ein gewisses Maß an Bildung und Intelligenz vorweisen und ein ehrliches Interesse am Thema haben.« Er seufzte und fuhr sich übers Kinn. »Ich fürchte, bei mir gibt es einen dritten Aspekt ...«

Fragend sah ich ihn an und stimmte zumindest dem ersten Teil zu. »Sonst wäre das Ganze nicht zu ertragen. Was ist das Dritte?«

Daraufhin zog er eine Augenbraue in die Höhe. »Ich sollte einen meiner guten Tage haben.« Was auch immer das jetzt bedeutete. War heute ein guter Tag? Würde er sonst gar nicht erst mit mir reden? Gerade als Sophia etwas erwidern wollte, klingelte das Telefon und sie entschuldigte sich, um den Anruf entgegenzunehmen.

Mittlerweile hatte ich schon den dritten Scone verschlungen und fühlte mich, als würde ich jeden Moment platzen, was Sherlock wohl bemerkte. »Fertig? Können wir dann? Ich müsste noch einiges erledigen.«

Oder er hatte einfach seine Geduld mit mir verloren. Na wunderbar, gut, dass ich hier niemanden auf die Nerven ging. Sarkasmus brachte mich allerdings auch nicht weiter.

»Ja, natürlich.« Ich stand auf und ging auf ihn zu. Woraufhin er zügig voranschritt und sich mühelos mein gesamtes Gepäck schnappte, lediglich meinen Rucksack schaffte ich noch, zu ergattern.

Im ersten Stock angekommen, blieb er im großen Flur stehen und erklärte wie ein General. »Links die erste Tür ist das Gästezimmer, zweite dein Zimmer, dritte Badezimmer für dieses Stockwerk. Geradeaus ist ein Dienstbotentreppenhaus, über das man direkt in die Bibliothek gelangen kann, dafür musst du die zweite Treppe nehmen. Rechts den Gang geht es zum Haupttrakt des Hauses. Vor der Zwischentür rechts ist ein Wohnzimmer ansonsten im Hauptflur rechts erste Tür Edwards Zimmer, zweite gegenüber von deinem, meins. Wenn du was brauchst. Sophia ist in der Küche, ich in der Bibliothek. Ach, Duschhandtücher findest du im Badezimmerschrank neben dem Waschbecken.«

Na, das war mal effektiv, aber merken könnte ich mir das sicher nicht.

Bevor ich etwas dazu sagen konnte, ging er samt Gepäck auf die zweite Tür links, mein Zimmer, zu und stellte alles vor meinem Bett ab. »Bis später.« War alles, was ich von dem bereits verschwindenden Mann noch hörte.

Etwas irritiert sah ich ihm nach. Na ja, also Augen zu und durch. Morgen sah die Welt bestimmt schon anders aus. Und bald würde ich schon nach London ziehen und die Welt erobern. Wenigstens hatte ich dort Alistair und seinen Bruder Henry nah bei mir. Für mich waren die beiden meine Familie. Henry war so was wie mein großer Bruder und Alistair war mein bester Freund, mein Verbündeter und seit Jahren der wichtigste Mensch in meinem Leben.

Meine Mutter war mit mir, nachdem mein Vater George, Lord Mortimer Pendrakes Stiefsohn, uns verlassen hatte, nach Stevenage in die Nähe ihrer besten Freundin Ellen York gezogen, die Mutter von Henry und Alistair. Da wir vorher schon ständig in den Ferien dort waren, kannten Al und ich uns von klein auf, was sich, als wir nebeneinander wohnten, schnell zu einer echten Freundschaft entwickelt hatte. Im Grunde war ich danach mehr bei der Familie York aufgewachsen als bei meiner Mutter.

Wie durch eine schicksalhafte Fügung war vor allem Henry mit meinem neuen Leben fest verknüpft. Und das nicht nur dadurch, dass er in London lebte und arbeitete. Ellen war in Greenfield aufgewachsen und sogar, bevor meine Mutter dort hinzog, mit meinem Vater befreundet gewesen. Ihre Mutter hatte sogar eine Zeit lang für meinen Großvater Mortimer gearbeitet.

Kurz bevor ich damals das erste Mal nach Pendrake Hall kam, hatte sie mir erzählt, dass Sherlock und Edward schon als Kinder oft bei Sophia wohnten, wenn ihre Eltern auf Reisen waren, was anscheinend sehr oft der Fall war. Da sie auch später noch Kontakt zu George und Mortimer hatte, kannten sich Henry und Sherlock schon seit der Kindheit und als beide in London studierten, wurden sie anscheinend enge Freunde. Dadurch war Henry, einer meiner besten Freunde, Sherlocks wichtigster Weggefährte, und ich hatte das Glück, damit meine beiden Welten zu verbinden.

Seufzend ließ ich mich aufs Bett fallen und sah mich um. Das Zimmer war überraschend nett. Lauter stilvolle Holzmöbel, der Schreibtisch ziemlich alt und schätzungsweise aus Nussbaum, genau wie der Kleiderschrank. Das Doppelbett war recht hoch, wie man es früher oft hatte, aber es gefiel mir und passte optisch zum Kleiderschrank. Gegenüber vom Bett stand ein neues Sideboard in hellerem Holz mit einem Fernseher drauf und daneben am Fenster stand ein traditioneller Ohrensessel mit einem kleinen Tisch und einer Lampe. Der perfekte Platz zum Lesen. Was brauchte ich mehr? Ein Bücherregal! Das fand ich auf der anderen Seite des Bettes. Perfekt! Durch eine klassische englische Rosentapete wirkte alles umso gemütlicher.

Ich beschloss so schnell wie möglich, zu duschen und mir was Frisches anzuziehen. Also packte ich den Koffer notdürftig aus und verstaute alles in Schrank und Sideboard. Schnappte mir meine Kulturtasche und bequeme Sachen und machte mich auf den Weg ins Bad. Das Badezimmer war anscheinend frisch renoviert und modern eingerichtet. Die Badewanne neben dem Fenster mit Ausblick auf die weite Landschaft mit den großen Bäumen rief geradezu nach mir. Aber heute würde ich nur diese coole, offene Dusche nutzen.

Danach fühlte ich mich schon sichtlich mehr wie ich selbst. Zurück in meinem Zimmer stellte ich meine Bücher ins Regal, wodurch ich es quasi zu meinem zu Hause erklärte. Jetzt nur noch Handy ans Ladekabel und alles war gut.

Nun konnte ich dorthin, wovon ich die letzten Jahre geträumt hatte. An diesen wundervollen Ort voller Abenteuer, Wunder und Wissen namens Bibliothek. Ich nahm allerdings lieber den Weg übers normale Treppenhaus, um mich nicht zu verlaufen, und sah noch in der Küche vorbei. Von Sophia war allerdings keine Spur zu sehen.

Als ich dann vor der Doppeltür zur Bibliothek stand, wurde mir schwer ums Herz. Ich sah noch genau den Ausdruck auf dem Gesicht meines Großvaters, während er uns die Türen geöffnet hatte. Er war richtig gespannt gewesen. Seine Augen hatten gefunkelt, wie bei einem Kind, das seine Schätze präsentierte und dann seine Freude als er sah, welchen tiefen Eindruck der Raum auf mich machte.

Langsam öffnete ich die Tür und trat mit halbgeschlossenen Augen in den Raum, um zunächst tief einzuatmen. Der Geruch nach Büchern. Nichts auf der Welt beruhigte mich mehr als die Anwesenheit dieser vielen Möglichkeiten nach Abenteuern und Wissen, anderer Leben, Träume, Wahrheiten und Illusionen. So viele Welten, in die man flüchten konnte. Herrlich!

Ich weiß nicht, wie lange ich dort mit geschlossenen Augen stand, bevor eine Hand mich sanft an der Schulter berührte. »Alles in Ordnung?«

Langsam öffnete ich die Augen und musste feststellen, dass meine Wangen nass waren. Sherlock stand vor mir und sah mich abwartend und besorgt an.

Ich räusperte mich. »Ja, danke. Ich hab nur ... es ... er fehlt mir.«

Traurig sah er mich an und sagte dann leise. »Mir auch.« Inzwischen hielt er meine beiden Schultern fest und kam näher.

Seine Berührung irritierte mich. Ich fühlte intensiv die Wärme seiner Hände und als er noch einen Schritt auf mich zumachte, erschreckte ich darüber, wie stark ich auf ihn reagierte. Ich war eigentlich im normalen Leben ein recht zurückhaltender Mensch und brauchte oft lange, um mich ernsthaft auf jemanden einzulassen und mich in dessen Gesellschaft wohl und entspannt zu fühlen. Nur wenn ich ausging, kam oft eine ganz andere Victoria zum Vorschein.

Aber hier war auf einmal alles ausgeblendet außer seinen moosgrünen Augen, seinem Geruch und seiner Wärme. Mein Blick glitt automatisch über seine Züge. Er hatte einen schönen Mund, sanft und energisch, voll und doch diszipliniert. Ob er auch so küssen würde?

Eilig zog ich mich ein Stück zurück, um eine gewisse Distanz wiederherzustellen. Es kam absolut nicht in Frage, dass ich mich hier aufführte wie ein liebeskranker Teenager. Abgesehen davon war er an die acht Jahre älter als ich und ich spielte definitiv nicht in seiner Liga, weder was Intelligenz noch Attraktivität anging. Ich war zwar clever und hatte auch einen sehr guten Abschluss geschafft, aber mit ihm konnte ich es sicher nicht aufnehmen. Äußerlich war ich eher vor allem durch die weiblichen Rundungen interessant. Großer Busen, schmale Taille, breites Becken. Alistair beschrieb mich gern als sinnlich. Ich mich als rundlich, wenn ich nett zu mir war.

Irgendwie schien es ihn zu stören, wie ich zurückgewichen war, denn es flackerte ein Hauch Verletzliches, Enttäuschtes in seinem Gesicht.

Ich ging wieder ein Stück auf ihn zu und meinte: »Sorry, ich bin manchmal etwas schwierig mit Körperkontakt oder laut Henry tendenziell soziopathisch.« Was der Wahrheit entsprach.

»Ich kann es oft selbst nicht leiden, wenn man mir zu nah kommt, also ich entschuldige mich. Tja, Soziopath nennt er mich schon lange«, fügte er lächelnd hinzu. »Victoria, na dann. Was liest du zurzeit?«

Ich musste lächeln. Genau das hatte er mich vor fünf Jahren gefragt, als mein Großvater ihn mir vorgestellt hatte. Er lächelte zurück und ich fühlte mich zum ersten Mal seit Langem uneingeschränkt wohl. Obwohl es mir peinlich war, ihm das Buch zu nennen, antwortete ich bedächtig. »Das wird eine wahre Enttäuschung. Meine Ansprüche sind stark gesunken.«

Aufmunternd sah er mich an. »Nur zu, keine Scheu.«

Dann also die Wahrheit. »Percy Jackson. Ich wollte prüfen, was ich durch den Film vergessen habe. Außerdem ist es ein Buch, das einem verzeiht, wenn man nicht immer ganz bei der Sache ist.« Zerknirscht sah ich zu ihm auf. Zu meiner Überraschung lachte er mich an.

»Und was noch?«

»Tja, das mit der Schule hat sich gerade erledigt. Ich hab einen Gedichtband von Annette von Droste Hülshoff in der Tasche. Meine Mutter mag sie sehr. Und du?«

Wieder sah er so furchtbar ernst aus, als er antwortete: »Die deutschen Dichter und Denker begleiten dich also weiter. Ich hoffe, du liest es auf Deutsch. Du solltest versuchen, die Sprache lebendig zu halten.« Darauf nickte ich nur. »Gut! Ich lese Aristoteles. Lehrpläne, was einen in den Suizid treiben kann und ›The President is missing zum Vergnügen.« Kaum hatte er das gesagt, ging er zum Schreibtisch. »Ich muss allerdings gerade entscheiden, was meine Studenten dieses Jahr so lesen müssen. Irgendwelche Vorschläge?«

Ich war ehrlich überrascht. Erst da ging mir auf, dass ich mich nie viel mit Henry über ihn unterhalten und mich folglich nie nach seinem oder Edwards Beruf erkundigt hatte. Ich wusste nur, dass beide studiert hatten. »Wo unterrichtest du?«

»University of London, englische Geschichte und Literatur, Latein und Altgriechisch.«

Ich fürchte, ich wurde etwas arg blass. Das waren genau die Fächer, die ich für dieses Semester gewählt hatte, an der University of London. Das konnte doch nicht wahr sein.

Ich starrte ihn an und brachte nur mühsam etwas raus: »Keats, kaum zu glauben, aber ich weiß immer noch fast nichts und hab seit damals nur wenig und wenn eher Zufälliges von ihm gelesen. Wenn ich dich schon als Prof habe, wäre das mein Wunsch.«

Erstaunt hob er den Kopf. »Folglich bist du wohl für englische Literatur eingeschrieben?«

»Korrekt, und all den anderen Kram, den du da erwähnt hast.« Mir war es fast peinlich, das zuzugeben.

Wieder schenkt er mir dieses leicht schiefe Lächeln. »Dann werden wir uns wohl öfter sehen. Vorausgesetzt du landest in meinem Kurs. Dann also Keats. In Ordnung. Ich kann dich schließlich nicht unwissend lassen.« Er drehte sich um, schrieb und sortierte etwas auf dem Schreibtisch.

Mein Stichwort zu den Regalen zu gehen und mir die Bücher anzusehen. So viele alte wunderschöne Bücher. So viele potenzielle Freunde. Mein erstes Regal war leider der Volltreffer im negativen Sinne. Franzosen auf Französisch. Uhh, hebräisch wäre nahezu gleich verständlich für mich, also drehte ich mich abrupt um, um spontan eine andere Seite zu wählen und rannte dabei voller Elan in Sherlocks Arme, wobei ich mich fürchterlich erschreckte samt Zusammenzucken und spitzen Schrei. Das ganze Repertoire eines Mädchens halt. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte vor Schreck auf ihn eingeprügelt. Peinlich!

Gekonnt bewahrte er uns im letzten Moment davor, umzufallen. Was ich ihm gar nicht zugetraut hatte, so steif formell, wie er wirkte. Aber dadurch, dass ich daraufhin an seiner Brust lag, mit den Händen an seinen Oberarmen, konnte ich aus erster Hand bestätigen, dass er deutlich mehr Muskeln aufzuweisen hatte als der Durchschnitts-Prof. Ein lebendiger Indiana Jones.

Während ich vor Schreck zitternd, bedauerlicherweise nicht nur deswegen, in seinen Armen lag, lachte der Kerl mich doch glatt aus. »Verdammt stürmisch.«

Etwas angesäuert gab ich zurück. »Verdammt leise angeschlichen. Lass mich endlich los, ich kann allein stehen.«

Er ging ein paar Schritte zurück. »Tut mir leid, ich wollte gerade was sagen. Haben die Bücher dich von sich gestoßen?«

Seufzend strich ich meine Kleider glatt. »Im Grunde schon. Ich hasse Französisch.«

Schelmisch sah er mich an und auf einmal kam ein ganz anderer Sherlock zutage, der fast noch heißer war. Arroganz wurde zu Selbstbewusstsein und Überheblichkeit zu Charme. Diese Version mit den funkelnden, intensiven Augen und dem schiefen Lächeln musste sicher seine Samtstimme nicht mal raus holen, um nicht allein ins Bett zu gehen.

»In allen Lebenslagen?«

Meinte er jetzt wirklich das, was ich dachte? Versuchte er zu flirten? Wahrscheinlich eher mich zu provozieren. Wer wusste schon, was Henry so über mich ausgeplaudert hatte.

»Ja, alles Französische ...« Ich sah ihm tief in die Augen und biss mir lasziv auf die Unterlippe. »Tut mir leid. Mein Großer.« Den kleinen Hieb konnte ich mir nicht verkneifen und zack umdrehen und einfach zum nächsten Regal.

Er hatte sichtlich Spaß an der Sache. »Dann hast du wohl noch nie was mit einem Franzosen gehabt, was? Angeblich sollen sie doch die besten Liebhaber sein?«

Gelangweilt drehte ich mich wieder zu ihm um. »Ein Kuss, der hat mir gereicht. Ich kann nur hoffen, er war die Ausnahme von der Regel, ansonsten ... echt widerlich ... geht gar nicht.«

Das entlockte ihm ein Lächeln und er fragte. »Und du hast ausreichend Vergleichsdaten, um das zu beurteilen?«

Woher kam nur dieses Interesse? Keine Ahnung warum, aber ich war genervt von dem Verlauf dieses Gesprächs. Ich wollte unbedingt, dass er mich nicht so sah, wie meine Mitschüler oder viele, die ich sonst traf. Entweder war ich ein Nerd, unscheinbar, freakig oder ein Flittchen. In der Schule war ich die Streberin, die leicht zu haben war.

Wie immer, wenn jemand diesen gewissen Punkt traf, stellten sich alle Stacheln auf. Sollte er doch denken, was er wollte. Angriff ist doch die beste Verteidigung. Mein Angriff hieß Provokation. Darin war ich gut. Also schaute ich ihn so abweisend und arrogant wie möglich an und sagte leise süffisant: »Ja, ich denke mehr als genug Vergleichsdaten. Hat Henry dir noch nicht erzählt, dass ich die Dorfschlampe bin? Ständig andere Kerle, mit denen ich mich in die Ecke verdrücke. Zu enge Klamotten, zu freizügig. Für alles zu haben.«

Er antwortete mir völlig gelassen und unbeeindruckt. »Außer für Französisch, was ich durchaus verstehe. Da weiß man doch gerne über die persönliche Hygiene des anderen Bescheid.« Dabei machte er ein so unschuldiges Gesicht, das ich fast lachen musste. »Henry hat mir nur gesagt, dass du hin und wieder zum männerfressenden Vamp mutierst, was ich mir gar nicht vorstellen kann. Du machst auf mich eher den Eindruck eines soliden Durchschnittsmädchens. Auf der Suche nach Mr. Right, heiraten, Kinder. Für immer treu sein und zusammen alt werden. So was halt. Abgesehen davon sind deine Klamotten zumindest heute, weder freizügig noch zu eng.« Er fing wieder an auf dem Schreibtisch Sachen zu sortieren. Als würde man sich genau über solche Dinge unterhalten, wenn man sich gerade erst kennenlernte.

Ich starrte ihn beleidigt an. »Mädchen? Durchschnittlich? Das ist es, was eine Frau hören will.«

Damit machte ich ihn scheinbar verlegen. »Ich meinte, dass du dieselben Vorstellungen hast, wie die meisten Mädchen, ähm, Frauen in deinem Alter.«

Da kam sie diese Wut, dass jemand meinte, er würde mich verstehen oder beurteilen können. Verdammt, ich hatte selbst keine Ahnung, wer ich war oder was ich brauchte. Säuerlich erwiderte ich: »Armer alter Mann, der du bist.«

Ich entschied mich, erst mal tief durchzuatmen. Schließlich war ich nicht wegen ihm so wütend, sondern wegen all der Ignoranten in der Schule. Wegen meiner Eltern und vor allem auf mich selbst, weil ich kein echtes Ziel hatte und mit mir selbst nicht klar kam. »Kinder ja, ich denke, ich will Kinder, wann? Keine Ahnung. Mr. Right? Im Moment kenn ich ihn nicht, also sehe ich ihn auch nicht in meiner Zukunft. Aber sicher ist das nicht meine Priorität. Was ich wirklich will, ist etwas finden, das mich am Leben hält, nachdenklich macht, mich erfüllt. Aber vorerst kommt heute und wenn ich heute geschafft habe ... dann ist morgen wieder heute und das ist es, was ich versuche. Einen Tag nach dem anderen. Nicht zu viel an die Vergangenheit denken, ich kann sie eh nicht ändern und nicht zu viel an die Zukunft, denn es macht mir eine Heidenangst, dass ich mich vielleicht falsch entscheide und untergehe. Und vor allem die Dämonen schön klein halten.« Ich war selbst überrascht, dass ich so ehrlich war.

Er sah mich so intensiv an, dass ich Gänsehaut bekam. Der Kerl ging mir eindeutig zu nah. Und dann sagte er einfach: »In Ordnung.« Drehte sich wieder zum Schreibtisch um und fügte hinzu. »Kann ich gut nachvollziehen. Immerhin weißt du schon mal, dass du Kinder einplanen musst in deine Karriere.«

In diesem Moment kam Edward herein und unterbrach uns. »Ich soll euch zum Dinner holen. Bitte sagt, dass ihr sofort mitkommt. Ich sterbe vor Hunger.«

Selbst ein Blinder konnte sehen, wie genervt Sherlock war. Er sah zu Edward auf und meinte. »Es kann doch unmöglich schon so spät sein. Gut dann wollen wir Sophia nicht warten lassen. Victoria hat sicher auch Hunger.« Daraufhin legte er das Buch auf den Schreibtisch.

Edward grinste mich an. »Und? Hast du Hunger?«

Ich sah ihn gespielt böse an, lächelte dann aber und nickte. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg ins Esszimmer.

 

 

Kapitel 2

Alle Vergangenheit ist nur ein Prolog

William Shakespeare

 

Nach dem Dinner war ich direkt auf mein Zimmer gegangen. Die Reise forderte ihren Tribut und ich war sofort eingeschlafen. Es dauerte nicht lange und ich fing an zu träumen. Leider einen meiner Albträume, die ich seit einiger Zeit regelmäßig hatte, vor allem, wenn ich mich fremd fühlte oder allein. Manchmal war es nur das Gefühl einer dumpfen Bedrohung, vor der ich fliehen oder mich verstecken wollte. Manchmal kämpfte ich regelrecht um mein Leben. Selbst abends, wach, hatte ich manchmal das Gefühl, in jedem Schatten lauerte jemand.

Meine Therapeutin nannte es posttraumatische Belastungsstörung. Allein dieses Wort zu denken, schnürte mir die Kehle zu. Ich fühlte mich nicht nur schuld an dem, was passiert war, nein ich war auch noch zu schwach, um damit klarzukommen. Da half auch keine Therapie, um meine Meinung zu ändern. In Selbstkritik war ich perfekt. Leider war das aber auch das Einzige, dass ich so gut beherrschte.

Auch diesmal war es eher eine undefinierte Gefahr, die mich in Panik versetzte. Schweißgebadet wühlte ich mich aus meiner Bettdecke, die ich völlig um mich gewickelt hatte und ging Richtung Badezimmer. Ich fühlte mich hundeelend, schwindelig und irgendwie seekrank. Als hätte ich keinen festen Boden unter den Füßen. Na toll, hoffentlich würde ich nicht direkt krank. Bei quasi fremden Leuten in einer fremden Umgebung. Dann würde ich alle nur noch mehr nerven.

Als ich mich gewaschen und angezogen hatte, fühlte ich mich allerdings schon viel besser. Nur noch etwas wackelig und müde. Lust, runterzugehen, hatte ich dennoch nicht, schon gar nicht auf Frühstück. Trotzdem machte ich mich widerwillig auf den Weg in die Küche.

Nur das in der Küche niemand war.

Zwar schien hier durchaus jemand gewesen zu sein, dreckiges Kochgeschirr stand auf dem Herd, aber zu sehen war niemand. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie das damals mit Grandpa gewesen war. Wir hatten eigentlich nie in der Küche gegessen, sondern immer im Esszimmer, aber nach gestern dachte ich, das wäre passe, da wir auch nachher beim Dinner in der Küche gesessen hatten. Leider wusste ich absolut nicht mehr, wo das war.

Unschlüssig stand ich mitten im Raum, als die Tür aufging und Sherlock mit einer Teekanne reinkam. Keine Thermoskanne, sondern eine aus Porzellan mit Beeren bemalt. Wie ich so was liebte. Das ganze altmodische Zeug.

Zaghaft versuchte ich zu lächeln. »Guten Morgen.«

Er dagegen lächelte nicht. Das war wohl bei ihm eher Glückssache. Abrupt blieb er vor mir stehen und musterte mich wortlos, fast als wäre ich zum Direktor gerufen worden. Dann schüttelte er den Kopf, als wüsste er einfach nicht, was er mit mir machen sollte und sagte.

»Guten Morgen, Victoria! Wir frühstücken im Esszimmer. Ich wollte nur frischen Tee aufsetzen. Du siehst blass aus, hast du nicht gut geschlafen?«

Gott, wie förmlich er war. Diese aristokratische Haltung und dieser emotionslose, höfliche Ausdruck auf seinem Gesicht waren beeindruckend, aber auch einschüchternd. Rauszubekommen wie er zu einem stand, war wahrscheinlich unmöglich, wenn er es einem nicht selbst sagte und dann konnte man auch nur hoffen, dass er bei der Wahrheit blieb. Oder es war heute einfach einer seiner nicht so guten Tage, die er erwähnt hatte.

Möglichst beiläufig antwortete ich: »Das Bett und die Umgebung sind noch ungewohnt.« Er kniff leicht die Augen zusammen, als wäre ihm klar, dass mehr dahinter steckte und er hinter die Fassade sehen wollte. Wesentlich sanfter und netter erwiderte er: »Dann wünsche ich dir, dass du dich schnell eingewöhnst und besser schläfst.« Daraufhin nahm er die frisch befüllte Teekanne und sah mich auffordernd an. »Sollen wir?«

Vorsichtig ging ich einen Schritt zurück und wartete, dass er an mir vorbeiging, um ihm folgen zu können.

Im Esszimmer saßen Sophia und Edward sichtlich gut gelaunt und unterhielten sich angeregt. Sobald Sophia mich sah, stand sie auf und umarmte mich, was ich steif über mich ergehen ließ, um nicht unhöflich zu sein. »Guten Morgen, Liebes. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass wir schon angefangen haben. Edward muss gleich los zur Arbeit und ich muss dann auch rüber und mich um alles kümmern.«

Zögernd sagte ich: »Nein, natürlich nicht. Es tut mir leid, wenn ich spät dran bin. Ich war mir nicht sicher, wann ihr frühstückt.«

Sophia lächelte. »Ach du bist nicht spät. Sherlock scheint gar nicht geschlafen zu haben, sonst wäre er frühestens jetzt runtergekommen. Es ist doch erst halb acht. Setz dich doch.« Sie zeigte auf den Stuhl neben Sherlock.

Da er der Einzige war, der den Platz neben sich nicht mit einer Zeitung ausfüllte, schien mir das am sinnvollsten. Außerdem saß ich so gegenüber von Edward und ein freundliches Gesicht zum Frühstück war bei Weitem angenehmer als diese musternden, zusammengekniffenen Augen von Sherlock.

Sophia sah mich wieder so liebevoll an, dass ich ganz nervös wurde. »Frühstück steht auf der Anrichte, nichts Besonderes. Kaffee ist in der Thermoskanne. Tee hat Sherlock frisch gemacht, aber dabei habt ihr euch ja anscheinend getroffen. Such dir einfach aus, was du möchtest.«

»Danke«, sagte ich und machte mich auf, das Angebot zu checken.

Also nichts Besonderes war das für mich nicht, die normalerweise unter der Woche höchstens Porridge kochte und jahrelang froh war, überhaupt Toast und Marmelade im Haus zu haben. Hier gab es mehr als genug Auswahl. Fast wie in einem Hotel. Eier und Speck, Baked Beans, gegrillte Tomaten, Sausages, dann Obstsalat und Joghurt, natürlich Toast, den man in so einen coolen Toaster stecken konnte, bei dem der Toast eine Runde drehte, und dazu eine beachtliche Auswahl an Marmeladen.

Unschlüssig starrte ich auf die Anrichte, als Sherlock leicht bissig meinte: »Nichts für die junge Dame dabei? Ist der Lady das Angebot zu gering?« Daran lag es sicher nicht. Ich war schlichtweg überfordert.

Scharf wies Sophia ihn zurecht: »Sherlock also wirklich, was soll das. Sei wenigsten für ein paar Tage annehmbar. Was ist nur in dich gefahren?«

Das wollte ich auch wissen. Was hatte ich ihm denn getan? Falsch grinsend meinte ich: »Tja, Porridge wäre schön, aber gut dann muss das hier wohl reichen.« Direkt bereute ich meine schnippische Antwort. Wahrscheinlich hatte Sophia alles hier zubereitet und viel Zeit dafür verwendet. Direkt entschuldigte ich mich bei ihr.

Unterdessen blieb Sherlocks Blick weiter so grimmig an mir hängen. »Dann sorge ich morgen für Porridge. Ich mach ihn dir höchstpersönlich.«

Das hatte mir gerade noch gefehlt. »Danke, aber wenn, dann mach ich ihn mir schon selbst.« Zügig legte ich mir eine Auswahl auf den Teller und nahm mir eine Tasse Kaffee.

Edward lächelte mich an und feixte rum: »Vielleicht magst du ja mal im Dorf mit mir mittagessen. Ruf einfach in der Praxis an, dann mach ich pünktlich Schluss.«

Ich hatte immer noch keine Ahnung, was er beruflich machte. Deswegen nickte ich ihm einfach mit vollem Mund zu und versuchte zu lächeln.

»Magst du Samstag ausgehen?«, fragte er mich zwischen zwei Schluck Kaffee.

»Ausgehen? Wäre ich nicht abgeneigt.« Vor allem weil Samstag mein 19. Geburtstag war, wovon aber wahrscheinlich oder besser hoffentlich keiner hier wusste.

Erfreut lächelte er mich über seine Tasse hinweg an. »Der hiesige Pub ist eigentlich ganz ok. Man kann halbwegs gut essen und im Nebenraum gibt es eine Tanzfläche mit vernünftiger Musik.«

»Hört sich doch prima an.« Und so herrlich normal.

»Gut, dann ist das abgemacht. So lernst du gleich das Dorfleben kennen.« Verschwörerisch zwinkerte er mir zu. »Leider muss ich jetzt los, die Praxis ruft.« Dabei stand er auf und machte sich auf den Weg.

Fast gleichzeitig stand auch Sophia auf. »Ich muss auch rüber, wir sehen uns heute Abend. Leider habe ich heute viel zu tun, aber Sherlock findet bestimmt Zeit, um dir ein bisschen was zu zeigen. Nicht wahr Lord Croft!« Dabei sah Sophia in so streng an, dass ich mir ein Lachen verkneifen musste. Schließlich musste Sherlock schon mindestens 26 eher 27 sein und war Professor.

Auch ihr nickte ich zum Abschied nur zu. Dann war ich jetzt wohl allein mit dem Eisblock.

Als die beiden gegangen waren, schnappte ich mir die Teekanne und wollte mir gerade in meine Tasse etwas einschütten, als Sherlock entsetzt rief: »Was machst du denn da? Du willst doch jetzt nicht ernsthaft diesen Tee, aus der Kaffeetasse trinken? Wie bitte soll das genießbar sein?« Er konnte also doch Emotionen zeigen, und zwar sehr ausgiebig, auch wenn ich den Grund etwas fragwürdig fand.

»Aus Kaffeetassen schmeckt doch alles, gerade wegen des feinen Kaffeearomas. Außer O-Saft. Das ist etwas fies, aber machbar. Am besten sind Tee ...« Ich grinste schelmisch und genoss sein Entsetzen in vollen Zügen. »... Wasser, Wodka, Rum, der ist sogar am allerbesten, Milch, Kakao.«

Demonstrativ stand er auf und holte mir eine passende Teetasse. Eine dieser feinen Kleinen, in die nichts reinpasst, dafür aber unheimlich schön und elegant waren. Dann nahm er mir die Kanne aus der Hand und schüttete mir im großen Bogen ein. Gekonnt, das musste ich ihm lassen. Tee schien wohl so eine Art Leidenschaft von ihm zu sein. »Du bist so ein Tee Mensch der alten Schule, oder? So in der Art: Leider ist ihr Mann bei dem Unfall verstorben, .... Am besten ich brühe ihnen eine schöne Tasse Tee, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.« Dabei verstellte ich meine Stimme auf Dorfpolizist.

Er musste doch tatsächlich lachen. »Sag, was du willst, aber Tee hilft ... immer

Gespielt nachdenklich sagte ich: »Nein, manche Dinge kann nur ein Whisky regeln.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Am besten aus der Kaffeetasse wahrscheinlich.«

Entsetzt fasste ich mir mit einer Hand ans Herz und rief gespielt fassungslos: »Lord Croft. So etwas würde eine Lady niemals tun. Whiskey ist etwas Höheres, eine Kunst und kein banales Allerweltgesöff wie ...« Ich senkte meine Stimme und kam seinem Gesicht ganz nah und riss gespielt die Augen auf. »Tee!«

Völlig frei fing er an zu lachen und sah auf einmal aus wie ein kleiner Junge, was meinen Magen freudig blubbern ließ.

Da ich leider oft aussprach, was ich dachte, fragte ich direkt: »Wie alt bist du? Und Edward?«

Die meisten kamen mit meinen schnellen Themenwechsel oft nicht mit, aber Sherlock schien das nicht zu irritieren. »26, 23 und du?« Kurz und schmerzlos.

»Bald 19.«

Nachdenklich musterte er mich. »Tatsächlich erst 18? Du wirkst älter.«

»Danke, du auch«, sagte ich und streckte ihm die Zunge raus.

Er lachte wieder. Allein dafür würde ich mich den ganzen Tag zum Affen machen, wenn es sein musste.

Dann fragte ich mutig: »Was arbeitet Edward in einer Praxis?« Zur Beruhigung nahm ich endlich einen Schluck Tee, der natürlich für meinen Geschmack schon zu kalt war und verzog angewidert das Gesicht.

Sherlock sah mich an, sah zur Teetasse und nahm die Kanne in die Hand.

Ich nickte und er goss mir nach. Jetzt trank ich den Tee, so wie er sein sollte. Er war erstaunlich aromatisch. Er musterte mich dabei und wartete anscheinend auf ein Urteil, also murmelte ich: »Gut ... für Tee«, und zwinkerte ihm zu.

Er schmunzelte leicht, bevor er meinte: »Edward ist Arzt. Er arbeitet in der Praxis unseres Dorfarztes und wird sie, wie ich hoffe, irgendwann übernehmen. Er ist allerdings auch ein sehr begabter Chirurg. Im Schnitt drei Tage die Woche ist er im Moment in London und arbeitet dort in der Gefäßchirurgie. In dem Krankenhaus, in dem auch Henry arbeitet.«

Das war doch wohl ein Scherz. Er sollte doch angeblich erst 23 sein. Ungefähr so ungläubig kam es dann auch raus. »Ich dachte, er wäre erst 23?«

Die Antwort überraschte mich, wenn möglich, noch mehr. »Er hat mit 16 angefangen, zu studieren, und ist letztes Jahr fertig geworden mit seiner Fachausbildung.«

»Ok, wow.« Ich war sprachlos.

Sherlock lächelte mich mit wehmütigen Augen an. »Gute Gene.«

Immer noch etwas geschockt, fragte ich ihn: »Und wie war das bei dir?«

Nun wurde er gänzlich ernst. »Ähnlich. Mit 15 Schulabschluss, dann studieren. Ersten Doktortitel mit 19.«

Belustigt fragte ich: »In Philosophie?«

Und schon war er wieder amüsiert. »Nein, den hab ich mit 21 gemacht, allerdings nur ehrenhalber, in der Zeit war ich ziemlich philosophisch. Whisky hat mir übrigens sehr geholfen bei meinen Reden.« Er zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Mit 19 englische Geschichte, 22 englische Literatur, 25 bin ich dann zum Prof aufgestiegen.«

Ich glotzte ihn mit offenem Mund an. Nie im Leben hätte ich die Lust oder den Ehrgeiz so viel zu lernen und zu arbeiten nur für einen Titel. »Verdammt, du hattest kein Leben, was? War dir nur langweilig oder ist das so eine Art Sucht? Hast du auch mal geschlafen?«

Seine Antwort klang seltsam belegt. »Ich bin ein Genie, weißt du? Ich wollte mich beweisen und ...« Kurz schien er mit einem Schmerz in sich zu kämpfen, schüttelte ihn aber unmerklich ab und wurde dann fast schon schelmisch … und unehrlich. Aber gut, jeder brauchte seine Fassade. »Ok, mir war langweilig. London hat schließlich nicht viel zu bieten außer Drogen, Sex und Partys.«

Ich lachte in mich hinein. »Oh, da kann ich mich ja schon mal drauf freuen.« Frech grinste ich ihn an und rieb mir freudig die Hände.

»Ich sehe schon, ich werde auf dich aufpassen müssen.«

Das hatte mir gerade noch gefehlt. »Meine Mutter kommt ja auch bald, also keine Sorge.« Hoffte ich zumindest. Mittlerweile war sie seit drei Monaten unterwegs, angeblich in den USA und das letzte Mal telefoniert, hatten wir vor über zwei Wochen. Aber leider war das bei ihr in letzter Zeit normal.

Ich trank meinen Tee aus und starrte aus dem Fenster.

Neben mir hörte ich, wie Sherlock seinen Stuhl verschob und aufstand. »Soll ich dich etwas rumführen?«, fragte er überraschend freundlich.

Ganz anders als das gestrige Debakel mich aufs Zimmer zu bringen. »Ja, das wäre schön. Ist der Friedhof weit von hier?«

Tief atmete er durch. »Nein, circa 15 Minuten zu Fuß. Er gehört zum Anwesen. Wenn du möchtest, können wir hingehen.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich heute dorthin wollte. Aber manchmal nahm man die unangenehmen Dinge besser sofort in Angriff, also bejahte ich sein Angebot und stand auf.

 

Das Anwesen war wirklich wunderschön, wenn auch etwas einsam gelegen. Allein könnte ich hier niemals wohnen. Sherlock ging mit mir außen um das Haus herum, um mir den Rest des Gebäudes zu zeigen. Den Ostflügel wie ich nun erfuhr, obwohl es irgendwie auch nicht ganz stimmte. Sherlock hielt mir einen Vortrag über Grad und Himmelsrichtung Sonnenauf- und Untergänge. Was durchaus interessant war, nur kamen so viele Informationen an diesem Morgen auf mich zu, dass ich die Hälfte schon vergessen hatte, während ich versuchte, die andere noch zu sortieren. Was nicht leichter wurde durch den Schlafmangel und dem Traum, der noch immer in meinem Unterbewusstsein herumgeisterte. Dazu die Gedanken an mein Erbe, meine Zukunft, Mum.

Ohne meine Zerstreutheit zu bemerken, erklärte er mir viel über das Haus. Unter anderem, wie es gebaut wurde und dabei aus der Seitenwand der alten Abtei die hintere Mauer der Bibliothek entstanden war. Und dass der Ostflügel erst über hundert Jahre später errichtet wurde, in dem sich unter anderem der große Ballsaal befand.Als wir weiter gingen, kamen wir auf einen Weg, an dem nach einiger Zeit eine schöne alte Eiche mit einer Bank darunter stand. Von dort aus fiel das Gelände etwas ab und man konnte weit über die Landschaft sehen. Links zum Wald, rechts zu der langen Allee, die zu Pendrake Hall führte und vor uns etwas weiter entfernt zum Dorf Greenfield.

Wie auf einer Postkarte ragte die Kirche fast mittig daraus hervor. Automatisch setzte ich mich und genoss die Stille und den Ausblick. Sherlock nahm neben mir Platz und war anscheinend genauso versunken wie ich in die Landschaft. Ich schloss die Augen und streckte mein Gesicht in die Sonne. »Es ist wunderschön hier.«

Nachdem ich die Augen öffnete, sah ich, wie Sherlock mich seltsam musterte, fast verträumt. Er schüttelte sich etwas, als wäre er aus einem Tagtraum aufgewacht und fragte: »Möchtest du zum Friedhof? Dann müssen wir dort an den Stallungen vorbei.« Mit der rechten Hand zeigte er auf alte Steingebäude schräg von uns.

Das alles hier gehörte nun mir. Das Riesenhaus, der Park, alles! Ich war stinkreich. Ich, die früher Pullover für zehn Pfund gekauft hatte. Plötzlich schien das Ganze über mir zusammenzubrechen und mich zu erdrücken. Mit Herzklopfen zog ich mir die Knie unter meinen Kopf und versuchte mühsam, gleichmäßig zu atmen.

Meine Welt drehte sich seit Jahren ständig in rasendem Tempo. Stellte sich auf den Kopf, wurde durchgeschüttelt und immer, wenn ich dachte, jetzt käme ein Stopp oder es würde langsamer, passierte das Nächste und alles wurde wieder über den Haufen geworfen. Wie sollte man so seinen Platz finden und für die Zukunft Entscheidungen treffen und vor allem wissen, wer man selbst war? Obwohl ich mir nie große Hoffnungen gemacht hatte, dass ich mich irgendwann selbst begreifen würde. Ich hatte mich schon immer zerrissen gefühlt und verloren. Auch bevor diese schrecklichen Dinge passiert waren.

Es vergingen einige lange Minuten, die ich nur mit atmen verbrachte und dem Versuch, gegen die Tränen zu kämpfen, bevor Sherlock mich ansprach. »Möchtest du reden? Wenn höre ich dir zu, wenn nicht, auch gut. Wir bleiben hier sitzen, bist du so weit bist, Kleines, ok?«

Ich spürte, wie mir die erste Träne die Wange runter lief. Das Letzte, was ich wollte, war jetzt meinen Schutzschild zu verlieren und zu heulen. Ganz sanft legte er seine Hand an mein Gesicht und wischte die Träne mit dem Daumen weg. Ein Schluchzen kam aus meiner Kehle. Diese Berührung spürte ich so intensiv, dass ich Gänsehaut bekam. Dieser Mann ging mir unter die Haut. Er fühlte sich so vertraut und sicher an und dennoch war er ein Rätsel. Trotzdem rührte ich mich nicht, ansonsten war die Gefahr groß, dass ich vollends die Beherrschung verlor. Er legte den Arm um mich und zog mich etwas näher heran. Automatisch legte ich meinen Kopf auf seine Schulter.

»Es ist wirklich schön hier«, krächzte ich.

Er sah mich ernst an. »Ja, das ist es. Wusstest du, dass du das hier irgendwann alles erben würdest?«

Ich schüttelte den Kopf. Mein Vater hatte uns verlassen, als ich 12 war. Da er nur der Stiefsohn von Mortimer war, hatte ich nie mit einem Erbe gerechnet. Aber wie ich durch das Testament erfahren hatte, hatte Mortimer mich adoptiert, kurz nachdem Vater gegangen war und somit war ich Haupterbin geworden.

»Alles ein bisschen überwältigend?«, fragte Sherlock leise. Mein Kopf lag immer noch auf seiner Schulter und ich hatte mich ungeniert an ihn angeschmiegt. Es fühlte sich so richtig an und er roch so gut. Ich drehte mein Gesicht hoch zu ihm und er schaute zu mir hinunter. Ganz nah aneinander. Ob er überhaupt merkte, wie nah? Ich jedenfalls spürte es in jeder Faser meines Körpers. Mein Blick blieb an seinen Lippen hängen, die mich magisch anzogen. Gott, es war nur ein Mund. Nein, war es nicht. Es war auch eine Geschichte, denn er hatte da eine kleine Narbe. Fast hätte ich den Finger ausgestreckt, um sie zu berühren, da merkte ich wie auch er meinen Mund betrachtete und dabei näher kam. Mein Blick wanderte zurück zu seinen Augen. Diese fantastischen grünen Augen.

Mit einem Räuspern brach er den Zauber und vergrößerte den Abstand zwischen unseren Gesichtern. Am Anfang leicht heiser erklärte er mir: »Das wird schon, wir sind ja auch noch alle da. Bald wirst du zu viel Geld für unnützes Zeug ausgeben und dir Gedanken um Investitionen und Gewinne machen.«

Das war so absurd, dass ich lachen musste. »Das mit dem Geld ausgeben, kriege ich bestimmt hin, aber Investigation und was?«

Verdutzt sah er mich an und überlegte ganz offensichtlich, ob ich es ernst meinte oder ihn nur ärgern wollte. Natürlich zweitens. »Das ist was anderes, Kleines. Investitionen, damit meint man …«

Ich lachte leise und unterbrach ihn: »Ah, ich dachte, weil du doch Sherlock bist. Hast du auch einen Tobi?« So hieß der Hund, den Sherlock Holmes in manchen Fällen dabei hatte.

Man sah, dass er Spaß daran hatte und verstand meine Anspielung mühelos. »Ehrlich gesagt bin ich nicht so der Hundemensch. Da bist du bei Edward besser aufgehoben.«

»Gott, nein, bin ich auch nicht. Obwohl ich Hunde oft richtig cool finde, aber einen haben ... gruselig. Es sei denn, er geht allein spazieren. Ich fürchte, ich würde ihn manchmal schlichtweg vergessen.« Zerknirscht sah ich ihn an. »Ich bin gut im Vergessen, wenn ich lese oder male oder backe. Zack drei Stunden später.«

Die ganze Zeit hörte er mir schmunzelnd zu, ohne Anstalten zu machen, aufzubrechen. Nervös knetete ich meine Hände. »Na ja, ich denke, wir gehen einfach weiter. Du hast ja bestimmt auch noch was zu tun.«

Er griff nach meiner zappeligen Hand und zog mich hoch. »Ehrlich gesagt, hab ich einen Durchhänger. Ich sollte anfangen, mir über Altgriechisch und Latein Gedanken zu machen. Die Anfängerkurse sind oft langweilig und oft sind dort Studenten, die entweder müssen oder meinen das hört sich doch intelligent an. Ich kann Altgriechisch

Darauf erwiderte ich: »Da würde ich sagen. Ui toll und wofür brauchst du das?«

Erst jetzt viel mir auf, dass er meine Hand nicht losgelassen hatte. Im Gegenteil wir hatten sogar unsere Finger verschränkt. Es fühlte sich so natürlich, so selbstverständlich an, dass ich es gar nicht bemerkt hatte. Doch kaum war es mir bewusst, wurde ich sofort nervös. Wie sollte ich das einschätzen? Wollte er sich ranmachen, war das unbewusst? Oder Freundschaft beziehungsweise, weil ich mich so schlecht gefühlt hatte?

Beiläufig warf er mir einen Blick zu. »Hast du nicht gesagt, du hast dich für Altgriechisch eingeschrieben?« Lachend nickte ich und er fragte schmunzelnd. »Ui toll, was machst du damit?«

»Nichts, ich dachte, das klingt gut.« Ich prustete los und er mit. Danach erklärte ich mich allerdings doch lieber. »Ich finde es spannend. Ich möchte gerne manche Sachen im Original lesen können. Philosophen, Mathematiker, keine Ahnung. Ich wollte es halt mal versuchen.« Gelassener als ich mich fühlte, zuckte ich mit den Achseln.

Wieder ernst fragte er nach: »Und Latein? Auch Anfänger, oder?«

Schüchtern antworte ich: »Nein eigentlich bin ich recht gut. Fortgeschritten. Hoffentlich lesen wir coole Sachen, der Prof soll ja nett sein.« Ich zwinkerte ihm zu.

»Das habe ich noch nicht entschieden, wenn du magst, können wir zusammen was raussuchen, dann brauche ich mir den Kopf nicht allein zu zerbrechen und ich kann dir die Schuld geben, wenn es keiner mag.«

Ich schmunzelte. »Ja vielleicht, allerdings weiß ich nicht, ob ich eine Hilfe bin.«

Danach gingen wir schweigend weiter. Hand in Hand. Aber irgendwann zog Sherlock die Hand zurück und sah mich kurz entschuldigend an. Ich tat so, als wäre nichts geschehen, aber sofort vermisste ich seine Berührung und Wärme.

Kurz darauf machte der Weg einen Knick nach links und ein kleiner durch Sträucher abgegrenzter Friedhof zeigte sich. Mehrere Gräber, zum Teil mit sehr alten Steinen und eine große Statue von Maria mit Jesus auf dem Arm waren zu sehen. Hinter einer Eibenhecke ging ein Weg zu einem richtigen kleinen Gebäude ab mit auf Säulen überdachtem Eingang.

Sherlock hob den Arm in die Richtung. »Die Familiengruft, möchtest du hinein?«

»Wenn das möglich ist?«

Ohne Antwort ging Sherlock vor und zog die große metallene Tür auf. Durch kleine vergitterte Fenster fiel genug Licht hinein, um die Platten an den Wänden lesen zu können. Eine war noch sehr hell und frische Blumen standen davor auf dem Boden. Mortimer, mein Großvater. Sanft strich ich den Namen mit meinen Fingern nach und erinnerte mich an diese freundlichen Augen, immer zu einem Scherz aufgelegt und stets bereit jede Frage zu beantworten. Meine Hand lag nun komplett flach auf dem kalten Stein. Leise flüsterte ich: »Bis bald.«

»Glaubst du an den Himmel?«

Ich zuckte zusammen, so nah hatte ich ihn nicht vermutet. »Nein, ja, ach ich bin noch in der Findungsphase. Aber ich hoffe stark, dass ich ihm wieder begegne. Wir hatten nur so wenig Zeit zusammen und er war so ein toller Mensch. Zumindest hab ich das so empfunden.«

Sherlock musterte mich schon wieder so gedankenverloren. »Das war er. Tut mir leid, findest du allein zurück? Dann würde ich schon mal los und anfangen zu arbeiten.« Von jetzt auf gleich wieder unnahbar und arrogant. Ganz der aristokratische Lord Croft.

»Ich komm lieber direkt mit, wenn ich dich nicht zu sehr aufhalte.«

Sein Gesichtsausdruck war zum Schießen. Eine Mischung aus genervt und Mist ich bin sonst unhöflich. Zähneknirschend erwiderte er: »Natürlich nicht, bitte nach dir.«

Die förmliche und perfekt höfliche Version war anwesend. Bemüht geduldig lief er neben mir den Weg entlang, aber ich konnte spüren, dass er nur noch wegwollte. Aber warum? Hatte ich was falsch gemacht?

Am Haus angekommen entschuldigte er sich direkt und ging hastig in Richtung Bibliothek und ich machte es mir mit einem Buch in meinem Zimmer gemütlich. Lesen war allerdings schwierig, wenn man die ganze Zeit über grüne Augen und warme Hände nachdachte, in die meine perfekt passten. Ich sollte mich zusammenreißen. Nächste Woche war ich in London und begann ein neues Leben. Liebschaften waren da eher hinderlich. Erst recht mit meinem Prof. Dennoch, ob er so schnell abgehauen war, weil ich ihn genervt hatte? Seufzend fiel ich aufs Bett und zwang mich endlich, damit aufzuhören und mich auf das Buch zu konzentrieren.

 

Kapitel 3

Die Neigung zur Freundschaft entsteht oft plötzlich,

die Freundschaft selbst aber braucht Zeit.

Aristoteles

 

Es war schon seltsam, wie schnell ich mich hier eingelebt hatte und wie vertraut mir das Haus vorkam. Nach dem Dinner an diesem Abend ging ich wieder direkt nach oben und gönnte mir eine ausgiebige Dusche. Als ich die Haare einschamponierte, ging plötzlich die Tür auf und mit einem »Tschuldigung« direkt wieder zu.

Mist, ich hatte vergessen abzuschließen. Zu Hause nur mit Mum oder alleine war das nie nötig gewesen.

Als ich mit Bademantel und Turban auf dem Kopf, auf dem Weg in mein Zimmer war, rief Edward von seiner Tür aus: »Du solltest abschließen.«

Mein Gesicht färbte sich sofort rosa und verlegen beeilte ich mich, zu antworten: »Tut mir leid. Ich versuche, daran zu denken.«

»Wegen mir musst du nicht, aber …« Er zwinkerte mir zu. »Keine Sorge, hab nichts gesehen, bin ja anständig.«

Bestimmt wurde ich noch roter, als ich haspelte. »Ok.« O Mann. Er war eindeutig ein ganz schöner Filou, aber richtig süß.

Ich wollte schon weiter, da fragte er etwas zögernd: »Magst du Star Wars? Wenn ja, könnten wir gleich einen Film gucken. Natürlich auch einen anderen.«

Den Bademantel hielt ich immer noch fest am Kragen zusammen. Geradezu krampfhaft. Aber langsam entspannte ich mich, auch wenn ich mir meiner fehlenden Anziehsachen mehr als bewusst war. Das Edward noch nicht einmal den Blick über mich hatte schweifen lassen, sondern brav auf mein Gesicht fixiert blieb, half dabei, ruhiger zu werden. Filou? Sicher! Aber ein anständiger.

»Gerne, ich liebe Star Wars. Wann und wo?«

Da war wieder dieses schelmische Lächeln, das mir ein Karussell in den Bauch zauberte. »In 30 Minuten? Wohnzimmer hier oben? Ich organisiere uns noch ein paar Chips und was zu trinken. Limo, Bier, Gin Tonic?«

»Gin Tonic wäre echt cool.« Den würde ich gut gebrauchen können, um den Badezimmer Vorfall zu vergessen. »Und Wasser, langweilig ich weiß.« Ich zog eine alberne Grimasse.

Grinsend verbeugte er sich schwungvoll. »Gerne, Lady Pendrake, dann bis gleich.«

Schnell schlüpfte ich mit klopfendem Herzen in mein Zimmer. Er hatte es geschafft, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, das hartnäckig dort bleiben wollte. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass er Alistair so ähnlich war, aber ich mochte ihn auf Anhieb und er war echt verdammt attraktiv.

Tja, dann musste ich mich wohl für ein Outfit entscheiden. Lässig, sexy, chic? Lässig aber mit ein bisschen sexy. Schließlich war er echt süß. Ich wollte aber nicht, dass er dachte, ich schmeiß mich direkt an ihn ran. Es sollte aussehen, als hätte ich es mir einfach bequem gemacht. Ich entschied mich für eine dunkelgraue Yogahose und ein schwarzes Shirt mit Fledermaus Ärmeln, dass sich immer wunderbar um meinen Busen legte, wenn ich richtig saß. Was bei meiner stattlichen Oberweite eigentlich auch nicht allzu schwierig war. Dennoch ein schöner Effekt. Außerdem rutschte es gekonnt über die Schulter, wenn man wollte. Dieses Spiel mit der Libido beherrschte ich ganz gut, vor allem im Schnellverfahren. Sprich: In kurzer Zeit im Pub oder Disco knutschend in der Ecke landen.

Das ernstere, langsamere war für mich eher unbekanntes Terrain, da ich schon ewig kein Interesse mehr daran hatte, jemanden so nah an mich rankommen zu lassen.

Anscheinend war ich wirklich zum Teenie mutiert, warum dachte ich über sowas nach? Er wollte schließlich nur einen Film gucken. Zwei Kerle, die mir das Hirn verdrehten, das war eigentlich das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Folglich entschied ich mich gegen Make-up und machte mir nur einen lockeren Zopf. Die Entscheidung für meine dicken Kuschelsocken fiel mir nicht so leicht, aber meine Füße würden sich sonst in Eisklumpen verwandeln. Vergebens versuchte ich, harmlose zu finden, und entschied mich doch für die Snoopy Socken. Dann dreimal tief durchatmen, hoffen, dass er mich auch nachher noch leiden konnte und los ins Wohnzimmer.

Als ich zögernd eintrat, saß er schon lässig auf der Couch und lächelte mich an. Das Licht war gedimmt und auf dem Tisch lagen zwei Sorten Chips. Daneben zwei gefüllte Gläser, in die er aus einer Dose Eiswürfel reinwarf. Erleichtert sah ich, dass auch er nur eine abgeschnittene Jogginghose und ein Basketball Shirt trug. Seine Arme kamen dadurch besonders gut zur Geltung, vor allem, als er sich mit einem Arm an der Rückenlehne festhielt, um sich zum Tisch vorzubeugen. Er könnte Werbung für ein Fitnessstudio machen. Nicht übel, nein nicht übel. Vielleicht schon ein Ticken zu viel des Guten, aber … nicht übel.

»Bleibst du da stehen oder traust du dich zu mir?«, fragte er mit wackelnden Augenbrauen und klopfte neben sich aufs Sofa.

Schmunzelnd setzte ich mich in Bewegung und platzierte meinen Hintern neben ihn.

»Ok, was sollen wir uns anschauen? Star Wars? Oder lieber was anderes?«

Sherlocks dunkle Stimme drang aus dem Flur in den Raum. »Heute James Bond, Ed, oder der Hund von Baskerville in Schwarz-Weiß.« Während er sprach, war er in der Tür aufgetaucht und sah mich jetzt irritiert an. »Oh, hallo Kleines. Wie ich sehe, hat Ed noch einiges mir dir vor.«

Ich runzelte die Stirn, was meinte er denn damit?

Edward warf ein Kissen nach ihm. »Halt den Rand. Willkommensparty sonst nichts.« Geschickt fing Sherlock das Kissen im Flug, bevor es ihn treffen konnte. »Sonst nichts? Das geht bei dir?« Daraufhin lachte er dreckig und warf zurück, allerdings mit so viel Schwung, dass es bis zu mir durchsauste. Als Handballtorwart fing ich es gekonnt auf und schob es mir auf den Schoß.

»Das gehört jetzt mir«, grinste ich beide an.

»Super gefangen«, meinte Edward.

»Wäre eine Schande, wenn nicht, als Handballtorwart.«

Ungläubig musterte er mich. »Ernsthaft? Du siehst gar nicht nach Sportlerin aus.«

Ich rümpfte die Nase. »Du hast meine Waden noch nicht gesehen. Die Beine werden leider dick von dem ewigen hin und stopp und zurück. Warum trage ich wohl diese weite Hose?«

Sherlock sprang seitlich auf den Sessel neben mir. »Hast du sonst noch was an Sport gemacht?«

Seufzend gab ich zu: »Gemacht ist das richtige Wort. Ich hab im Grunde alles mit Ende der Schule gecancelt, was sich in fast 10 Kilo mehr bemerkbar macht.« Jetzt sahen mich beide an wie Aliens.

Sherlock meinte. »Ernsthaft? Ich mein du hast doch höchstens Größe 38.«

Lauthals lachend sah ich ihn an. »Was, bist du gelernter Damenschneider? Schätzt du gleich meinen Brustumfang?«

Etwas rot im Gesicht nuschelte er: »Circa 86 cm.« Gott das war ja krass.

»Bist du ein lebendes Maßband oder so? BH-Größe?«

Er gab sich entrüstet. »Ich bin doch keine Zirkusattraktion. 75D. Welchen Sport hast du denn sonst so gemacht?«

Da konnte ich nur staunen. Er lag mit allem richtig.

»Erst schwimmen, dann nachher Tennis, Handball, Volleyball, Badminton. Was sich ergab. Ich bin übrigens für den Hund von Baskerville.« Und versuchte damit, das Thema Sport zu beenden.

Edward beugte sich zu mir rüber und zischte mir ins Ohr: »Verräter!«

Direkt lief mir ein wohliger Schauer übers Gesicht. Ich drehte mich ihm zu und küsste ihn impulsiv, wie ich halt war, auf die Nasenspitze.

Sofort verwandelte sich sein grimmiger Ausdruck in pure Überraschung. »Das hat gesessen, was soll ich jetzt noch dagegen sagen?«

In solchen Dingen war ich taktisch gut, wenn auch manchmal, so wie jetzt, etwas zu impulsiv.

»Genau!« Daraufhin schnappte ich mir grinsend mein Glas und versuchte, meine Verlegenheit runterzuspülen.

Sherlock begutachtete mich mal wieder mit diesem Analyseblick, was nicht gegen die Nervosität half. Dann merkte er an: »Mir solls nur recht sein.« Und ein schiefes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Verdammt süß, und erst seine Augen. So stark und geheimnisvoll. Langsam glitt mein Blick an ihm runter und erst da merkte ich, dass er nur eine lange Schlafanzughose anhatte und mit Sicherheit nichts darunter. Dafür hatte ich genug Zeit mit meinen Ersatzbrüdern verbracht.

Starr ihm nicht in den Schritt, peinlicher gehts doch nicht. Ich war echt hoffnungslos.

Sherlock grinste mich viel zu wissend an. »Alles klar? Ist was an mir auszusetzen, hab ich da einen Fleck?«

Prompt verschluckte ich mich an meinem nächsten Schluck. Edward schlug mir lachend auf den Rücken, bis ich wieder Luft bekam.

»Ihr seid ja einzeln kaum zu ertragen, aber gemeinsam seid ihr das organisierte Verbrechen.«

Sherlock stand auf und legte altmodisch eine Blu-ray in den Player. »Warum hab ich das Gefühl, das wir uns lieber vor dir in Acht nehmen sollten?«

Ha, allerdings, wenn ich wollte, konnte ich durchaus einen Mann durcheinanderbringen. »Kommt drauf an, ob ihr was gegen ´nen Dreier habt. Ich mein klar als Brüder ist das vielleicht etwas ...« Ich zog zischend Luft zwischen die Zähne. Warum konnte ich nie meine große Klappe halten. Jetzt starrten mich beide etwas schief von der Seite an. »Sorry, wenn man quasi mit zwei Jungs groß wird, bekommt man etwas Übung im Austeilen.«

Sherlock lachte. »Scheint so, aber an Henry kann das doch nicht liegen. Edward hat ihm schon angeboten den Stock, den er verschluckt hat, raus zu operieren.«

Und wieder verschluckte ich mich fürchterlich.

»Hab ich wirklich. Geht’s Süße?« Edward musterte mich etwas besorgt.

Noch angeschlagen versuchte ich Henry zu verteidigen. »So schlimm ist er doch gar nicht. Wenn er getrunken hat, ist er sogar ziemlich locker. Eigentlich ist er immer recht witzig und echt lieb.« Wenn ich so drüber nachdachte, fiel mir einiges Wildes ein. »Henry ist oft einer der Schlimmsten, wenn er nicht im Dienst ist.«

Amüsiert meinte Sherlock: »Leider ist er viel zu oft im Dienst. Du hast mich neugierig gemacht. Was hat er denn so angestellt?«

»Du weißt schon, dass ich ihm mehr Loyalität schulde als dir? Er ist quasi, mein großer Bruder, obwohl das von damals dann eklig ist, wie der Dreier, mit euch. Sagen wir Stiefbruder. Das ist besser …« Mist, das war mir rausgerutscht. Ich und meine große Klappe.

Natürlich blieb mein Patzer nicht unentdeckt. Edward lehnte sich seitlich an die Couch und rutschte zu mir auf. »Das hört sich interessant an, hattet ihr etwa was miteinander?«

Sherlock atmete genervt auf. »Er ist schwul, und zwar richtig, ohne Wenn und Aber. Nicht immer springt ´ne Sex Geschichte für dich raus.« Sherlock sah auf den Fernseher und Edward zuckte mit den Achseln, als hätte er nach dem Argument bereits mit der Sache abgeschlossen.

Mein Mundwerk war, wie immer nicht mehr zu stoppen. »Solche Dinge kann man ja zwischendurch absichern.«

Sherlocks Kopf drehte sich langsam mit hochgezogener Augenbraue um und Edward ließ eine leises Ha! Erklingen.

Warum war meine Zunge dauernd schneller als mein Verstand? »Gucken wir den Film?«

Sherlock zog die Augen zusammen. »Auf keinen Fall, Kleines. Erst wird geredet.«

Ich war so blöd, immer musste ich jemanden schocken. »Das war nichts. Wie das halt so passiert.« Ich nahm mir eine Tüte Chips, die Edward mir direkt aus den Händen riss.

»Essen gibt’s erst nachher.«

Entrüstet sah ich ihn an und verkniff mir mühsam das Grinsen. »Du weißt schon, wie sich das angehört hat?«

Und schon war das Grübchen Lächeln wieder da. Welch wundervolle Qual in meinem Bauch. Ich hielt ihm mein fast leeres Glas hin und ließ mit einem Schwenker die kleinen Eisstückchen auffordernd klirren.

»Na gut! Einen, um die Zunge zu lockern.«

»Ihr werdet so enttäuscht sein! Ein Kuss mehr nicht.«

Sherlock sah mich zweifelnd an. »Wann und wie ist es dazu gekommen?«

Seufzend sah ich zu Edward. »Und schon bin ich beim Inquisitor gelandet. Das war doch nur Spaß.«

Aber Sherlock funkelte mich entschlossen an. Es hatte wohl keinen Sinn, mich zu drücken. Die Suppe hatte ich mir selbst eingebrockt, also musste ich jetzt fairerweise auch erzählen. »Er bringt mich um, also bitte sagt ihm nichts davon. Aber es war echt harmlos.«

Edward gab mir mein frisch gefülltes Glas zurück. »Die ganze Wahrheit bitte.«

Ich riss gespielt die Augen auf. Wenn ich das schon tun musste, dann doch mit Spaß. »Oh, ähm.«

Sherlocks Blick brannte mir quasi zwei Löcher in den Kopf, aber eigentlich wollte er nur Henry beschützen und das akzeptierte ich gern.

»Es war einmal ein Mädchen, das mit seinen zwei besten Freunden eines Abends vom Pub nach Hause kam. Einer der beiden ging duschen, während der andere sich mit ihr in der Küche unterhielt.«

Edward legte mir eine Hand aufs Bein. »Wenn du so weiter erzählst, erschieß ich mich. Bitte Gnade.«

Ich lachte und strich ihm aus einer Laune heraus durch die freche Frisur. Mmh, weich. »Ok ... ähm also. Wir waren zu dritt im Pub. Al hat beim Wettbewerb um die Dusche gewonnen, weil er ein Bier abbekommen hatte. Also wartete ich mit Henry in der Küche und diskutierte mit ihm, wer als Nächstes duschen dürfte. Na ja, wir haben Streichhölzer gezogen. Ich hab verloren. Und da wird’s peinlich.« Daraufhin räusperte ich mich und wurde mit Sicherheit rot. Tomatenrot! »Ich hatte einen Hosenrock an und eine Strumpfhose drunter, übrigens nicht wirklich chic. Die Strumpfhose hat jedenfalls genervt und ich hatte ihn gewarnt, dass ich sie loswerden will. Also zog ich beides kurzerhand aus und war nur noch in Shirt und …« Feuerrot, bis über den Bauchnabel hinaus. »Tanga.«

Edward pfiff.

»Henry like bekam ich einen Rüffel, dass ich mich besser benehmen sollte und man so was nicht macht, auch nicht bei einem Schwulen. Moralpredigt halt. Frech wie ich betrunken bin, bückte ich mich also betont lasziv genau vor ihm, sodass mein Hintern quasi drei Zentimeter vor seinem besten Stück stoppte und fragte: Dachte, du stehst auf Hintern?« Das ließ ich kurz sacken und trank fast die Hälfte meines Glases aus, um mich zu beruhigen. So frech und taff, wie ich mich gab, war ich um Längen nicht. Aber diese Fassade half mir, zu überleben.

Leise raunte Edward halb belustigt, halb beeindruckt: »Du bist echt ein Luder, wenn du willst, was?«

»Man sollte mir nicht erklären, dass ich was nicht darf oder kann. Da hab ich so meine Probleme mit.« Entschuldigend sah ich ihn an. »Dabei gebe ich mir echt Mühe … meistens.«

Sherlock verkniff sich ein Lachen und hob vieldeutig die Hand. »Na dann, bring´s zu Ende.«

»So weit sind wir nicht gekommen. Also ich platziere aufreizend meinen Hintern und er packt mich doch tatsächlich mit beiden Händen an den Seiten und sagt: Treib es nicht zu weit. Trotzig lass ich mich nach hinten auf seinen, ihr wisst schon, fallen und stöhne schön unartig und siehe da, der Mann wird hart. Also richte ich mich auf, natürlich nah an ihn gedrückt und dreh mich zu ihm um. Er zieht mich an sich ran und küsst mich. Alistair poltert die Treppe runter, wir springen auseinander und reden nie wieder drüber. Ende der Geschichte.«

Sherlock sah mich arrogant an. »Und das soll ich dir jetzt glauben?«

Säuerlich gab ich zurück: »Ruf ihn doch an und frag ihn. Ich bin vieles, aber keine Lügnerin.«

Überraschenderweise holte er sein Handy aus der Hosentasche und sah mich herausfordernd an. »Bitte, tu dir keinen Zwang an, er wird mich zwar hassen, aber bitte, los.«

Edward lehnte sich vor. »Den Tanga fand ich am besten.«

Spielerisch strich ich ihm über die Wange und flüsterte. »Leider ist die Phase vorbei, hab keine mehr an.« Er grinste mich so sexy an, dass mein Spieltrieb komplett ansprang und ich noch ein wenig näher rückte.

»Schade.«

Hinter uns hörte ich Sherlock mit Henry reden.

»Henry bringt mich um.« Ich ließ meinen Kopf gegen Edwards Schulter fallen. Sein Mund streifte mein Ohr, was kleine Schauer über mich rieseln ließ. Brr, der Kerl war echt verführerisch. Am Rande nahm ich wahr, wie Sherlock auflegte.

»Sie hat die Wahrheit gesagt. Wir sollen dich vom Gin fernhalten und … er bringt dich um.«

Leise nuschelte ich in Edwards Schulter: »Bitte versteck mich und gib mir viel Gin zum Vergessen.«

Ganz der Filou vergrub er seine Nase in meinen Haaren und lachte in sich hinein. »Keine Angst, Süße. Du darfst bei mir wohnen.«

»Soll, ich euch besser allein lassen?« Sherlock hörte sich richtig gehend beleidigt an. »Oder gucken wir jetzt den Film?«

Ich hob den Kopf und lehnte mich seitlich an Edward, der mich direkt in seinen Arm zog. Damit konnte ich recht gut leben. Er war süß, nett und ich fühlte mich sauwohl so behütet. »Film bitte und Chips.«

Edward hielt mir die Tüte hin. Seltsam abweisend war hingegen Sherlocks Blick, den ich unnachgiebig hart erwiderte, ohne einzuknicken. Schließlich war es meine und Edwards Sache, was zwischen uns passierte. Er drehte sich um und drückte auf Play.

Mindestens eine halbe Stunde sagte daraufhin keiner mehr ein Wort. Sherlock warf regelmäßig einen kurzen Blick auf uns, den ich nicht einordnen konnte. Aber eigentlich war ich viel zu abgelenkt von Edward, der angefangen hatte, kleine Streichelbewegungen an meinem Arm zu vollführen, was in meinem Bauch für ein ziemliches Chaos sorgte. Sollte dieser arrogante Prof doch urteilen, wie er wollte. Ich war alt genug zu tun und zu lassen, was mir gefiel.

»Ich hatte das gar nicht mehr so gruselig in Erinnerung. Das Moor, da erinnere mich dran. Allerdings war ich, glaub ich zwölf«, gab ich zu. Edward schmiegte sich an mich, während ich ihm ins Ohr flüsterte und legte seine Hand auf mein Bein. Im Grunde hatte ich nichts dagegen, wenn mir Sherlock nicht ständig so bewusst wäre. Ich konnte regelrecht spüren, wie er uns aus dem Augenwinkel beobachtete. Daher zog ich mich wieder zurück. Der Film war eh fast zu Ende.

Sherlock machte den Fernseher auch direkt aus und Edward empörte sich: »Müssen wir schon ins Bett? Oder ist nur die Fernsehzeit um.«

Sherlock warf ihm genervt die Fernbedienung hin. »Macht was ihr wollt, ich werde jetzt schlafen. Die letzten Nächte waren einfach zu kurz.« Er sah auch wirklich müde aus. Blass mit Augenringen. Ich hatte das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen und ihn höchstpersönlich ins Bett zubringen und nicht unbedingt nur zum Schlafen.

Reiß dich zusammen Victoria. Schnell sah ich zu Edward, der gerade gar nicht süß aussah, sondern verdammt sexy.

Ok, es war eindeutig Zeit zu gehen, sonst würde ich noch etwas Dummes machen, nur um mich nicht allein zu fühlen. »Ich bin auch müde und muss ins Bett, sorry.«

»Es ist nicht mal 11 Uhr. Wie alt seid ihr?«

»Gute Nacht, Edward. Schlaf schön und dir auch eine gute Nacht und schöne Träume, Sherlock.«

Sherlock trottete vor mir her und murmelte. »Dir auch, Victoria.«

Edward rief uns sichtlich frustriert hinterher. »Gute Nacht, ihr Senioren.«

 

Kaum lag ich im Bett, schien mir schlafen gar nicht mehr so eine gute Idee. Das Zimmer war mir fremd, genau wie die Schatten und ich wusste instinktiv, dass dies keine gute Nacht werden würde. Wieder einmal!

Leider hatte ich damit recht. Keine zwei Stunden später wachte ich schweißgebadet auf mit dem Gefühl von Händen auf meinem Körper, die da nicht sein sollten.

Ich brauchte einige Zeit, um mich zu beruhigen, bevor ich mir frische Sachen anzog und ins Bad ging, um mir das Gesicht zu waschen. Danach fühlte ich mich halbwegs gefestigt und ich beschloss das nicht schlafen, auch keine Lösung war. Wie immer in diesen Momenten versuchte ich aktiv etwas zu finden, von dem ich träumen konnte, um die unerwünschten Erinnerungen zu verdrängen.

Direkt schob sich Sherlock in meine Gedanken. Grüne tiefe Augen, die mich musterten. Eine Hand warm in meiner. Unwillkürlich nahm ich seinen Geruch wahr und ein tiefes Ziehen in mir setzte ein. Allein der Gedanke, diese Hand würde mich anders berühren, ließ mich buchstäblich aufstöhnen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ein Mann sich für mich jemals so intensiv angefühlt hatte und solche Sehnsucht war mir bisher fremd. Lust, körperliches Verlangen auch ein gewisses Maß an verliebten Gefühlen, aber verzehrende Sehnsucht? Nein, die kannte ich nicht.

Das machte mich regelrecht nervös. Nein, nicht Sherlock, bitte nicht. Edward, denk an Edward. Der war erreichbar und unkompliziert.

Blaue funkelnde Augen, ein freches Grinsen. Muskulöse Arme, die mich halten. Wie er wohl küsste? Langsam? Sinnlich, wild? Und über diese Vorstellung wie Edward sich zu mir beugte und sein Mund meinem näher kam, schlief ich ein.

Vielleicht hätte ich mich besser auf andere Dinge konzentrieren sollen, denn in dieser Nacht sollte Edward mich nicht mehr loslassen. Immer wieder lag ich unter ihm, seine Augen, die auf mich herabschauten, sein Mund, der über meinen Hals, meine Brust, meinen Bauch wanderte bis hinunter zu meiner empfindlichsten Stelle. Seine Zunge, die dort hinein glitt, mit der Zungenspitze an meiner Klitoris spielte. Seine Arme unter meinen Beinen.

Stöhnend und feucht schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Noch nie hatte ich so intensiv von jemandem geträumt oder auch nur darüber nachgedacht. Edward war für mich definitiv nicht ungefährlich.

Vielleicht hatte Alistair recht und ich sollte langsam ein etwas aktiveres Sexualleben führen. Anscheinend drehten meine Hormone total durch. In der Hoffnung diesmal, nur zu schlafen, drehte ich mich wieder um. Eins war klar. Solche Dinge konnte ich träumen, aber im realen Leben war ich eine Niete, sobald es unter die Gürtellinie ging.

Kapitel 4

Und wenn du den Eindruck hast, dass das Leben ein Theater ist,

dann suche dir eine Rolle aus, die dir so richtig Spaß macht.

William Shakespeare

 

Ich war erneut eingeschlafen und hatte es traumlos bis zum Morgen geschafft. Dennoch fühlte ich mich völlig übernächtigt und hätte töten können für einen Kaffee.

Also schnappte ich mir das erstbeste T-Shirt zusammen mit einer Jeans aus dem Schrank und schlurfte ins Badezimmer. Kurz überlegte ich, ob Make-up wohl helfen könnte, mich erträglich aussehen zu lassen, war aber schlichtweg zu genervt von dem Gedanken mich auch noch zu schminken. Ich hatte es eh nicht so mit dem Anmalen, außer wenn ich ausging. Da mir nach Einsamkeit war, ging ich nicht ins Esszimmer, sondern in die Küche, um erst mal einen Kaffee in aller Stille zu trinken.

Heiße Flüssigkeit in meiner Kehle, die wohltuend durch meinen Körper lief. Glückseligkeit pur. Mit geschlossenen Augen, am Tresen lehnend, sammelte ich meine Gedanken. Im Nachhinein kamen mir meine Albträume immer albern vor, wie etwas das ich verhindern könnte, wenn ich mich nur genug anstrengen würde. Aber das war unmöglich.

Dazu kam, seit ich hier war, schienen meine Wahrnehmungen und Empfindungen intensiver, allein wie ich auf die beiden Croft-Brüder reagierte. Wahrscheinlich wühlte mich dieses neue Leben, mit dem ich nicht gerechnet hatte, einfach zu sehr auf, bei den ganzen neuen Eindrücken und Zukunftsängsten, die damit einhergingen.

Ich sollte Alistair`s Rat befolgen und es mal richtig krachen lassen. Wehmütig nippte ich an meiner Tasse. Wie er mir fehlte, dabei war es nicht mal eine Woche her, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Zumindest Henry würde morgen kommen. Hoffentlich war er mir nicht zu böse wegen der Geschichte, die ich ausgeplaudert hatte.

Mein Kaffee war leer, aber ich fühlte mich weder nach Essen noch nach Gesellschaft. Also machte ich mir die nächste Tasse. Sicher würde ich irgendwann an einer Koffeinvergiftung sterben. Ging das überhaupt?

Ich suchte in meinem Handy nach der richtigen Playlist für meine Stimmung, auf jeden Fall was zum Mitsingen und vielleicht tanzen, dann würde sich meine Laune automatisch bessern. Dem Himmel sei Dank gab es hier überall Bluetooth Boxen.

Das erste Lied war eigentlich zu emotional für meine Stimmung, aber ich sang die Hälfte mit, bevor ich zum Nächsten sprang. Da konnte ich voll aufgehen. Am Anfang sang ich nur mit und wippte etwas, dann kam mein Luftschlagzeug dazu und ich spürte, wie die Musik alles andere in mir verdrängte. Herrlich. Völlig losgelöst mit geschlossenen Augen, genoss ich den Anfang des folgenden Songs und performte mit Luft Mikro meine Bühnenshow. Queen, Princes of the Universe. Für mich ein echt cooles Lied, das richtig Spaß machte. Voller Inbrunst sang ich mit und entspannte mich endlich vollends.

Zumindest bis ich mich nach der Hälfte des Liedes danach beim Refrain schwunghaft umdrehte und die Augen aufmachte. Mir gegenüber auf der anderen Seite der Kücheninsel stand sichtlich amüsiert Sherlock mit seiner obligatorischen Teekanne. Abgesehen von einem kleinen Hopser in der Stimme sang ich ihn jetzt einfach an. Ohne Unterbrechung drehte ich mich wieder um und ging tänzelnd und singend zur Kaffeemaschine.

Soll er mich doch doof finden. Zack drückte ich den nächsten Kaffee und stoppte die Playlist.

»Guten Morgen, Sherlock, gut geschlafen?«

Er ging zum Wasserkocher und beobachtete mich auf diese spezielle Art, die mich immer nervös machte. »Guten Morgen, du singst gut. Vor allem Queen hat mir gefallen. Hast du gut geschlafen? Was Schönes geträumt?«

Ich nippte an dem noch zu heißem Kaffee in dem verzweifelten Versuch, die Nervosität runterzuschlucken. Wie lange hatte er denn nur da gestanden? Und er konnte doch unmöglich wissen, dass ich so schräg geträumt hatte. »Irgendwas Schräges, ich kann mich nicht an viel erinnern.« Zumindest an nichts, was ich dir erzählen würde.

Mit zusammengekniffenen Augen stand er vor mir. »An was kannst du dich denn erinnern?«

Ich hatte Mühe, den Kaffee drin zu lassen. Was könnte ich jetzt sagen, ohne zu viel von meinem kaputten oder von meinem, sagen wir mal, sexuell unterernährten Ich, preiszugeben. »Es war definitiv ein Albtraum. Aber wann ist es das mal nicht.« Antwortete ich kühl, wobei mir der bittere Anhang eher rausgerutscht war.

Über den anderen Traum würde ich sicher kein Wort verlieren. Eher verkroch ich mich zum Sterben in ein Mauseloch, als zuzulassen, dass einer der beiden von meinen unzüchtigen Gedanken über sie erfuhr.

Abwartend stand er regungslos da und beäugte mich skeptisch. »Immer? Träumst du nie etwas Schönes?«

Ich versuchte, unschuldig auszusehen. »Du fragst, als wäre das hier die Trauminquisition! Kein Traum ist ein guter Traum, mehr nicht.« Eigentlich mehr will ich nicht erzählen, aber die Wahrheit hatte viele Seiten.

»Wenn du mal reden musst, kannst du immer zu mir kommen, Kleines.«

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Im Moment wollte ich nicht mal mit mir selbst darüber reden. Trotzdem nickte ich artig.

Nach kurzer Stille fragte er: »Kommst du mit frühstücken, oder musst du noch ein Konzert geben?«

»Haha, sehr witzig. Ich komm mit.«

Obwohl er danach völlig entspannt mit mir umging, wurde ich das ungute Gefühl nicht los, das sich irgendetwas zwischen uns verändert hatte.

 

Edward war in die Zeitung vertieft, als ich hinter Sherlock ins Zimmer kam, aber sofort sah er hoch und strahlte mich an. »Guten Morgen, Süße, ich hab mich schon gefragt, ob du verloren gegangen bist.« Ich strahlte zurück, der Kerl machte einfach gute Laune. Nachdem ich Sophia begrüßt und mir meinen Teller befüllt hatte, setzte ich mich wieder neben Sherlock, der wie sollte es anders sein, seine Nase schon wieder in einem Buch hatte. Somit hatte ich zwei Personen hinter Zeitungen verborgen und eine in einem Buch versteckt. Ab morgen würde ich mir auch ein Buch mitbringen.

Vorsichtig sah ich zu Sherlock rüber, wie er Gedanken versunken sein Ei aß, ohne einmal vom Buch hochzusehen. Diese goldene Brille auf der Nase war viel zu distinguiert und machte ihn älter, als er war. Ich sollte ihm eine andere kaufen.

Was für ein seltsamer Gedanke, so vertraut waren wir schließlich nicht, dass mir zustand, ihm seine Sehhilfe auszusuchen. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und bestrich meinen Toast mit Butter. Verstohlen sah ich ihn mir weiter an. Er hatte so schöne Hände, stark, mit langen Fingern. Am meisten faszinierte mich aber im Moment sein Mienenspiel, grimmig, fast schon wütend dann ungläubig, bevor er sogar schnaubte.

Von jetzt auf gleich stoppte er seine Gabel auf halben Weg und sah zu mir auf. Am liebsten hätte ich weggeguckt, aber der Ausdruck in seinen Augen war so intensiv, dass ich wie gebannt in dieses moosgrün eintauchte. Einige Sekunden saßen wir so da, bis sein Blick sich veränderte, weicher, fast traurig wurde.

Auch ich spürte plötzlich einen Kloß im Hals und das mittlerweile vertraute Ziehen in meiner Brust, das mit Sherlock einherging. Viel leiser als beabsichtigt, wodurch es etwas Verschworenes bekam, fragte ich: »Was liest du, scheint dich aufzuregen?«

Sein Mundwinkel zuckte nach oben. »Profkram.«

»Sprich ich bin zu dumm dafür?«

Entsetzt sagte er ehrlich: »Nein, es ist nur furchtbar nervig, vor allem, wenn die Leute keinerlei Grundkenntnisse haben, aber zu allem was sagen wollen.«

»Ok.« Ich fing wieder an zu essen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er mich weiter im Blick behielt.

Edward und Sophia waren immer noch hinter ihren Zeitungen versteckt und registrierten uns gar nicht.

»Nimmst du die Einladung zum Jane Austen Ball an?«

»Zu was? Keine Ahnung! Ich wusste nicht mal, dass ich überhaupt eine Einladung habe.«

Sherlock zeigte auf einen Stapel Briefe, die neben mir auf dem Tisch lagen. »Deine Post!«

Zögernd sah ich mir an, was ich da hatte. Eine Karte von Mum, aus Texas, na super. Und drei Briefe, einer schöner als der andere. Fragend sah ich wieder zu ihm. Er machte lediglich eine Geste, die wohl, na los aufmachen bedeutete.

Der erste Brief war eine Einladung zu einer Hochzeit. Leute, die ich nicht kannte. »Lord Beresford wäre anscheinend entzückt mich bei der Hochzeit seiner Tochter begrüßen zu dürfen. Tja, ich hoffe, er ist nicht zu enttäuscht.«

»Du solltest hingehen, es ist tatsächlich ein guter Dienst, den er dir erweist. Du bist die Tochter des Stiefsohns, nicht besonders anerkannt und niemand kennt dich bis jetzt.« Sherlock hatte diesen arroganten Lord Ausdruck im Gesicht.

»Na und?«

»Kleines, es ist wichtig, sich mit diesen Leuten zu arrangieren, bestenfalls gut zu stellen. Im geschäftlichen Bereich werden sie noch wichtig für dich und was unsere und deine Stiftung angeht, ist es unentbehrlich, um Spenden zu sammeln.«

Zuviel Neuland. Ich schluckte schwer an meiner Unwissenheit. »Unsere Stiftung?«

Er sah mich verständnisvoll an. »Mortimer und ich haben vor ein paar Jahren eine Stiftung gegründet, dessen Anteil du jetzt übernimmst. Ziel ist es, Krankenhäuser und Hospize zu unterstützen, um zum Beispiel Kinderstationen freundlicher zu gestalten oder Patienten mit mehr psychologischer Hilfe betreuen zu können. Und vieles mehr. Einer der Briefe müsste die Einladung zur Spendengala sein. Leider liegt der Termin direkt am Freitag vor dem Ball. Wird ein anstrengendes Wochenende.«

Ich öffnete den nächsten Brief. »Hier ist es, ok, dann muss ich da wohl hin. Brauch ich da ein Kleid?«

Er lachte und auch Edward sah über die Zeitung zu mir hin und grinste. »O Süße, nicht nur eins. Für jeden Anlass ein eigenes und den passenden Schmuck und Mantel, Schuhe ...«

Irritiert sah ich ihn an. »Ein Ballkleid? Kriegt man so was bei Harrods?« Ich kam mir unglaublich dumm vor.

Sherlock versuchte krampfhaft, nicht zu lachen. Er hatte schon ganz weiße Lippen, so sehr presste er sie zusammen und Edward hielt sich die Hand vor den Mund und prustete.

Sophia sah mich mitfühlend an. »Du hast nicht viel Erfahrungen mit solchen Anlässen, oder?«

Ehrlich gesagt kam ich mir langsam vor wie ein Kleinkind und es tat weh, so unbeholfen zu sein. Kleinlaut meinte ich: »Nein, die Abschlussfeier war das größte Event meines bisherigen Lebens.«

Sherlock nahm meine Hand, was mich noch unruhiger machte, bei dem Schwall an Gefühlen, die er damit auslöste. »Wenn wir in London sind, fahren wir zum Schneider, ok? Wir machen das schon. Glaub mir, wenn du erst mal gecheckt hast, was es heißt sich sein Kleid komplett aussuchen zu können und Prinzessin zu spielen, wirst du verdammt viel Spaß dran haben. Der Jane Austen Ball macht mir besonders Laune. Empire Regency Kleidung.« Er lächelte mich begeistert an, dass ich ihn auch anlachen musste und mich direkt viel besser fühlte.

»Also darf ich so ein richtiges Mrs. Darcy Kleid tragen?«

»Absolut und ich werde dein Mr. Darcy, wenn du mich als Begleiter möchtest.«

Dieser Satz schoss durch meinen Körper wie ein Blitz. Mein Herz flog davon, mein Magen rotierte und meine Stelle zwischen den Schenkeln fing Feuer. Mein Mr. Darcy, der Traum schlechthin.

»Ja, klar«, sagte ich belegt und wandte mich schnell von diesen grünen Augen ab, um nicht zu verraten, wie mich diese Vorstellung durcheinanderbrachte.

»Was ist denn mit dieser Gala und der Hochzeit? Begleitet mich da auch einer von euch?«

Edward sah rüber. »Wann wäre das?«

Sherlock warf ein. »Bei der Gala macht es Sinn, dass ich dich begleite, da ich eh komme, aber natürlich kannst du auch mit Edward hin.«

Ich sah mir die Daten an. »Also das wäre der 4. November und dann am 5.11. der Ball. Die Hochzeit ist am 22. August.« Erwartungsvoll sah ich hoch zu Edward und dann zu Sherlock.

Letzterer winkte ab. »Hochzeit geht leider nicht, da hin ich beruflich unterwegs, was ist mit dir Ed?«

Der nahm sein Telefon und scrollte durch den Kalender. »Perfekt, 22. August ist notiert. Wir haben ein Date.« Er grinste und zwinkerte mir zu. »Im November kann ich nicht, da bin ich auf Fortbildung. Passt doch perfekt, das Sher eh hinmuss.«

Ja, perfekt. So musste er nicht freiwillig mit mir abhängen. Verlegen sah ich ihn an. »Wenn du lieber mit jemand anderen kommen möchtest, ist das auch ok, nur coachen wäre gut.«

»Nein, Victoria, ich geh gerne mit dir.«

Edward sah wieder hoch. »Susan hasst den J.A. Ball eh, sind ihr zu viele alte Leute und zur Gala kommt sie mit Daddy und der sieht es nicht gern, wenn Sherlock überall ihr Begleiter ist. Sonst reden die Leute.«

»Wer ist Susan?« Ich sah Sherlock an, der meinem Blick verlegen auswich.

Edward war es dann auch, der antwortete: »Eine von Sher´s Langzeitaffären. Sogar die längste, oder?«

Eine? Sherlock zog entschuldigend die Augenbrauen hoch und ich war natürlich wieder mal aufdringlich. »Eine von? Wie vielen? Stille Wasser sind tief, was?«

Ärgerlich sah er zu Edward rüber der sich köstlich amüsierte, bevor er antwortete: »Eine von vier und ja mit die längste. Es ist praktisch, wenn man zu diesen Veranstaltungen immer eine Begleitung hat.«

Hinter der Zeitung kam undeutlich vor. »Und die einen danach die Nacht nicht allein schlafen lässt.«

Sherlock verdrehte die Augen und stand auf. »Du bist ein Engel, was? Wenigstens liegen bei mir die Karten auf dem Tisch und ich weiß den Namen der Dame, die neben mir liegt. So ich mach mich an die Arbeit, bis später.« Und schon war er aus der Tür.

Edward sah mich an. »Jetzt schmollt er, weil ich seine Moral und seinen Ruf in den Dreck gezogen habe.« Dann faltete er die Zeitung zusammen und stand auch auf. »Sorry Süße. Ich muss dich leider verlassen.« Dabei kam er zu mir und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Überleg dir schon mal einen Film für nachher, vorausgesetzt natürlich du hast Lust.«

»Mach ich, gerne.« Zum Abschied gab er auch Sophia, die äußerst ruhig und unbeeindruckt bei unserem Gespräch geblieben war, einen Kuss und ging, nicht ohne mir noch mal zuzuzwinkern.

Als beide gegangen waren, blieb ich unschlüssig zurück. Der ganze Tag lag vor mir und eigentlich hatte ich vor gehabt die Bibliothek zu durchforsten, aber irgendwie hatte ich Hemmungen Sherlock zu folgen. Nicht, dass er dachte, ich renne ihm hinterher oder wieder genervt von mir war.

Es war nicht wirklich zu beschreiben, aber da war heute eine seltsame Spannung zwischen uns. Unwillkürlich fragte ich mich, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Wahrscheinlich nervte ihn mein Teenieverhalten mit Edward und mein ständiges Aufspielen, wie mit der Geschichte von Henry. Ich ging mir selbst auf die Nerven damit, dass ich immer so taff und mit allen Wassern gewaschen rüberkommen wollte, nur damit keiner sah, dass ich eigentlich nur ein kleines Mädchen war, das sich mit der Welt überfordert fühlte. Erst recht mit der Welt der Schönen und Reichen.

In Gedanken versunken hatte ich meinen Kaffee getrunken, bis Sophia mich ansprach. »Du hast sie gern, oder?«

Verwirrt sah ich hoch. »Wen?«

»Die Jungs, Sherlock und Edward.« Schon wieder verfluchte ich mich dafür, dass ich ständig so schnell rot wurde. Sie lachte mich an. »Oh, ich meinte, dass eigentlich anders, aber wie ich sehe, magst du mindestens einen besonders gern. Das ist doch schön. Sie sind beide gute Jungs. Es würde mich sehr freuen.«

Ich presste die Lippen zusammen.

Verschwörerisch beugte sie sich vor »Wer von beiden hat es dir denn angetan? Ich sehe, das Edward mit dir flirtet und du drauf eingehst, aber tippen würde ich auf Sherlock. Du siehst ihn auf eine Weise an, die mir Gänsehaut macht.«

Völlig geschockt fragte ich. »Was? Wie meinst du das, ich guck ihn normal an.« War ich so offensichtlich?

Wieder gab sie dieses kleine Lachen von sich. »Das muss dir doch nicht peinlich sein, er ist ein imposanter Mann. Klug, gutaussehend, geradezu ritterlich, ein echter Gentleman. Nur etwas zerstreut und überaus selbstkritisch und … , aber wer ist schon ohne Fehler.«

Ich fummelte an meinen Fingernägeln rum. Ob sie ihm erzählen würde, was wir besprachen? Ich war furchtbar durcheinander, was dieses Gefühlschaos in mir anging.

»Es ist mir peinlich, aber irgendwie sind es beide. Eigentlich bin ich nicht so schnell, aber sie haben sich sofort in mein Herz geschlichen. Ich weiß nicht so recht, was ich davon und von mir halten soll.«

Liebevoll sah sie mich an. »Und nun überlegst du, wer der Richtige für dich ist?«

»Das ist es ja. Beide! Nicht, dass es in Frage kommen würde. Im Moment ist doch eh schon genug los und richtig kennen, tu ich sie ja auch noch nicht. Aber ich könnte im Moment nicht sagen, wen ich vorziehen würde. Edward ist wie Sonnenschein. Er bringt mich zum Lachen und alles ist einfach und fühlt sich besser an mit ihm. Sherlock ist so viel komplizierter. Ich erzähle ihm Dinge, die ich nicht erzählen wollte, so wie dir jetzt. Er ist mir auf unheimliche Art vertraut. Bei ihm fühle ich mich geborgen. Und er macht mich so furchtbar nervös. Ich will ihm immer beweisen, dass ich klug und stark bin und ... mir war es noch nie so wichtig, dass mich jemand so sieht und mag, wie ich wirklich bin. Schwer zu erklären.« Ich sah wieder auf meine Finger und eine Zeit lang blieb es still.

Dann fing Sophia langsam an zu sprechen: »Kind, es ist Sherlock, aber das willst du gar nicht, oder? Du weißt, dass er dich viel mehr verletzen könnte.«

Hatte sie recht? Könnte das sein?

»Ich weiß es nicht! Aber er ist doch zu alt und bald mein Prof und er hat sowieso kein Interesse an mir. Edward ist doch eher das, was ich brauche. Mir scheint das aber zu kompliziert mit dem Anwesen und allem. Ich mein, wenn es schiefginge, dann …«

»Ach Kind, was man vermeintlich braucht und was man begehrt und liebt, ist nicht immer das Gleiche. Hör auf dein Herz. Es zu ignorieren oder wissentlich dagegen zu arbeiten bringt mehr Leid als mit der Wahrheit zu leben. Im Übrigen denke ich, das Sherlock mehr für dich empfindet, als er sich selbst gegenüber zugeben will. Ich hoffe nur, dass ihr den Mut habt, das Richtige zu tun. Egal wie die Umstände sind.«

Witzig und was war richtig? Im Grunde kannte ich sie doch beide nicht. Vielleicht war das alles nur das verzweifelte Sehnen nach Familie und Geborgenheit.

»Es ist ganz einfach. Überlege dir, ohne wen die Welt für dich zu leer wäre.«

Ohne zu zögern, sah ich hoch und machte klar. »Alistair!«

Sie lachte wieder so herrlich damenhaft. »Dann ist er wohl deine wahre Liebe.«

»Alles ist möglich. Nur das ist sehr unwahrscheinlich. Das hätte ich schon gemerkt.« Ich seufzte und wollte das Thema fallen lassen. Davon bekam man doch nur Kopfschmerzen. Ich hatte weit schlimmere Dämonen, mit denen ich fertig werden musste. Neue brauchte ich sicher nicht und somit wiederholte ich meinen Gedanken laut für Sofia, um ihn mir selbst einzubläuen. »Im Grunde kenne ich doch beide nicht. Denkst du, ich geh Sherlock auf die Nerven, wenn ich in die Bibliothek gehe?«

Sie sah mich geheimnisvoll an. »Nein, das denke ich nicht. Geh ruhig zu ihm. Ach Victoria, leider muss ich ein paar Tage zu meiner Schwester. Ihr geht es nicht gut und sie braucht meine Hilfe. Denkst du, du kommst ohne mich klar?«

»Ja natürlich. Dann gute Besserung von mir.«

»Danke, werde ich ihr ausrichten. Denk nicht zu viel nach. Lass es einfach zu.«

Ich nickte zögerlich und verabschiedete mich noch verwirrter als vorher.

Einfach zulassen ... das würde ich nie wieder.

 

Als ich in der Bibliothek ankam, saß Sherlock konzentriert an dem großen Schreibtisch über seinen Papieren und schrieb. Leise versuchte ich, ohne ihn zu stören, in den hinteren Teil des Raumes zu gelangen. Dort hatte ich bisher am wenigsten gesehen.

Aber anscheinend entging ihm nichts. »Suchst du was Bestimmtes?« Wieder dieser bissig genervte Ton.

Bei seinem Anblick konnte ich allerdings nicht ernst bleiben. Da saß er und sah mich über den goldenen Rand seiner Brille mit verkniffenem Mund an. In dem Moment konnte ich mir vorstellen, wie er da in vierzig Jahren immer noch saß, umgeben von seinen Büchern und Unterlagen, den Füller in der Hand und mich so genervt ansah, weil ich ihn zum Dinner holen wollte.

Der Gedanke versetzte mir einen tiefen Stich und wischte mir das Lachen aus dem Gesicht. Mal abgesehen davon, wie schräg diese Vorstellung war, wäre ich es mit Sicherheit nicht, die ihn holen würde.

»Alles in Ordnung?« Er nahm die Brille ab und kam zu mir. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Das traf es ganz gut. Schnell versuchte ich, dieses fiese Gefühl von Enttäuschung abzuschütteln, das war mehr als unangebracht. Gott, ich war noch nicht mal neunzehn Jahre alt. Da träumte man nicht von der Möglichkeit, mit jemandem alt zu werden.

»Ich musste nur an was denken. Nichts Wichtiges. Eigentlich suche ich nichts Bestimmtes. Ich wollte mich nur mal hinten umsehen. Störe ich dich, wenn ich hierbleibe? Vielleicht finde ich, etwas zu lesen. Ich brauche dringend ein echtes Buch in den Fingern. Die letzten Tage habe ich mit meinem E-Book Reader verbracht. Mir fehlt der Geruch von Papier.«

»Und das Geräusch, wenn man umblättert?«

Erstaunt sah ich in seine Augen. Keine Spur davon mich albern zu finden, nur Verständnis. »Ja!«

Wieder entstand so ein intensiver Blickkontakt wie heute Morgen zwischen uns. Als würde die Welt stehen bleiben. Im Buch würden sie sich jetzt küssen, dachte ich noch, als er auf einmal direkt vor mir stand. Viel zu dicht für meinen Magen.

»Magst du ihn?«

Von wem redete er da? »Was?«

Er runzelte die Stirn. »Ob du Ken Follett magst? Du hast doch die Säulen der Erde gelesen.«

Gott, ich hatte tatsächlich die Hälfte nicht mitbekommen, weil ich ihn wie ein dummes Mädchen angestarrt hatte. »Das meiste schon.«

Er lächelte. »Das hört sich an, als hättest du alles von ihm gelesen.« Seine Stimme hatte einen schmeichelnden Unterton bekommen.

»Ja, so ziemlich, die neueste Reihe nicht. War nicht mein Ding.« Dass sie auch nicht im Haus gewesen war, da Dad schon längst nicht mehr bei uns lebte und sie kaufen würde, verschwieg ich.

Immer noch standen wir dort und verloren uns in den Augen des anderen.

»Dann hilf mir, welches Genre?«

Wie sollte ich denken können, wenn ich nur noch grüne Augen wahrnahm und diesen weichen Mund mit der Narbe, die man berühren wollte und diese Locke, die sich da an seiner Stirn gebildet hatte? Diese warme dunkle Stimme.

Wie sollte ich sprechen, wenn mein Körper überall kribbelte, als würde er unter Strom stehen und mein Herz sich zusammenzog, genau wie meine Kehle?

Ich räusperte mich mühsam. »Ich schau mir einfach mal ein bisschen die Regale an.«

Dieses schiefe Grinsen erschien auf seinem Gesicht und er machte noch einen Schritt auf mich zu. Er stand jetzt so nah vor mir, dass ich aufschauen musste, um ihn ansehen zu können und raunte ziemlich sexy: »Mach ich dich nervös, Kleines?«

Über nervös wahr ich schon längst hinaus. Ich stand in Flammen, in meinem Kopf entstanden die schönsten Bilder von heißen Knutschorgien. Ich brauchte wirklich Medikamente dagegen. Was war nur mit mir los?

Aber träumen und durchziehen lagen bei mir meilenweit auseinander. Vor allem, wenn mein Herz involviert war. Und so gern ich das leugnen würde, er berührte einen Punkt in mir, der tiefer ging. Hatte er schon vor Jahren.

Ich startete einen Versuch, die coole Victoria zu bleiben, die mit Männern wie mit wissenschaftlichen Experimenten verfuhr. Gelassen und über alles erhaben, aber das Gefühl von Taubheit in meinen Gliedmaßen und der Drang, mir die Stelle über dem Herz zu reiben, um den sehnenden Schmerz zu vertreiben, strafte mich zumindest vor mir selbst lügen.

»Hast du denn etwas Bestimmtes mit mir vor? Sollte ich nervös werden?«

Sein Finger fuhr über meinen Arm. »Genau das überlege ich gerade.«

Gott bitte, was meinte er jetzt damit?

Er beugte sich vor und flüsterte in mein Ohr. »Was würdest du denn gerne mit mir tun?«

Ich hatte den Atem angehalten. Gänsehaut bildete sich, wo seine Wärme meine Haut traf. Verdammt ich würde am liebsten mit ihm die schlimmsten Dinge anstellen, aber die andere Seite in mir war sich nur zu bewusst, dass ich ihn nicht kannte.

Ihn nicht einschätzen konnte.

Ihm nicht vertrauen sollte, so sehr ich das wollte.

Nicht nur das Mädchen in mir, dass immer Angst hatte, verletzt zu werden, erhob Einspruch, sondern auch meine Dämonen, die plötzlich lauthals losheulten und die ich nicht unterdrücken konnte, hier allein mit ihm in der Bibliothek.

Er war bei Weitem nicht so ungefährlich wie Edward, in mehrfacher Hinsicht.

Unsicherheit und Panik krochen zu gleichen Teilen über mich hinweg. Ich schloss kurz die Augen und holte tief Luft, um nachdenken zu können. Ruhig bleiben!

Seine Hand kam meinem Gesicht gefährlich nahe und ich entzog mich ihm ruckartig und ging rückwärts.

So sehr ich mich zu ihm hingezogen fühlte, war das hier falsch!

Nicht nur wegen meines inneren Kampfes war ich nicht bereit dazu.

Er schien mir nicht aufrichtig und ohne Hintergedanken, was mein Alarmsystem schrill aktivierte. Er spielte, da war ich mir sicher und nichts konnte mir mehr Angst machen, als das Ziel im Spiel nicht zu kennen. »Ok, das reicht jetzt«, sagte ich hart und stolperte auf dem Weg weiter von ihm weg. Vergeblich versuchte ich noch, mich zu halten, aber keine Chance.

Sherlock allerdings schaffte es mit Leichtigkeit, mich mitten im Flug aufzufangen und zog mich schützend hoch in seine Arme.

Mit rasendem Herzen stand ich jetzt wirklich zu nah an ihm, die Hände auf seiner Brust. Aber seltsamerweise wurde das unkontrollierte Heulen meiner Dämonen schlagartig stumm.

»Tut mir leid Kleines, das war dumm von mir. Ich hab mir da was eingeredet.«

Heiser fragte ich: »Was? Was hast du dir eingeredet?«

Verlegen sah er mich an. »Das du auf jeden anspringst, der dich anmacht.«

Fassungslos drückte ich mich von ihm weg.

»Edward ist mein kleiner Bruder und ich denke immer, ich müsste ihn beschützen.«

Natürlich waren keine Gefühle für mich dabei. Gut zu wissen, dass ich das Ganze richtig eingeschätzt hatte. Genau! Gut!

Schnell schluckte ich die drohenden Tränen und schnauzte ich ihn an: »Vor dem männerfressenden Vamp? Ich denke, das schafft er schon allein. Wahrscheinlich freut er sich sogar drauf, gefressen zu werden. Ich fass es einfach nicht. Was denkst du, was ich bin? Nur weil andere Scheiße über einen erzählen, ist man noch lange nicht so. Ich hab anscheinend mehr Anstand als du in meinem kleinen Finger.« Am liebsten hätte ich ihm eine runterhauen. Das Schlimmste war, das ich enttäuscht war und im Grunde nur Glück hatte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. »Du hast doch keine Ahnung, wer ich bin. Mach dir erst mal die Mühe, das rauszufinden, bevor du so eine Masche abziehst.« Aus Unsicherheit redete ich mich in Rage.

Er versuchte, nach meiner Hand zu greifen, aber das konnte ich im Moment gar nicht. In mir tobte die Vergangenheit samt all meiner Dämonen, die er mit diesem Geständnis alle aus ihrem Käfig gelassen hatte.

»Fass mich nicht an, nie wieder!« Ich musste mich beruhigen! Meine Atmung wurde schwergängiger und ich wusste, was das bedeutete. Seit Markus, meinem Exfreund hatte ich immer wieder Panikattacken. Zwar war das in den letzten Monaten nicht mehr groß vorgekommen, aber es lauerte in mir. Lauerte jetzt zu nah hinter meiner Fassade.

»Victoria, es tut mir leid. Ich hätte nicht gedacht, dass du es so schlimm aufnimmst, sonst bist du immer so schlagfertig.«

Atmen, ruhig atmen! Ich war nicht in Gefahr und er hatte es nicht böse gemeint.

Beschwichtigend hob er die Hände. »Keine Sorge, ich werde dich nicht anfassen.« Langsam kam ich wieder runter. Ich wusste ja selbst, dass ich überreagierte. »So meinte ich das nicht, ich hab dir gesagt, manchmal kann ich einfach keinen Körperkontakt vertragen, aber ich will nicht, dass du mich gar nicht ... anfasst. Also wenn ich mich mal wieder fast langlege, weiß ich es durchaus zu schätzen, aufgefangen zu werden.« Etwas krampfhaft lächelte ich ihn an, immer noch aufgewühlt, aber zumindest war meine Atmung wieder normal.

Sherlock sah ziemlich geknickt aus. »Du hast ja recht, er wird gern gefressen.« Das sagte er so putzig, dass er mir damit ein Lächeln entlockte.

»Wie oft lässt er sich denn so fressen?«

Sherlock warf mir einen seltsamen Blick zu. »So dann und wann. Ich denke, das solltest du besser mit ihm selbst besprechen.«

»Na, das sagt mir doch alles. Er ist also ein ganz schön schlimmer Finger. Keine Sorge, das hab ich mir direkt gedacht.«

Immer noch etwas geknickt, sah er mich an und zog die Augenbrauen kurz hoch. »Lassen wir das.«

Themenwechsel, super Idee. Aus heiterem Himmel fiel mir ein. »Krieg und Frieden, hab ich noch nicht gelesen. Sollte man doch mal als Literaturwissenschaftler, oder?«

Wieder traf mich dieser analytische Blick. »Ist es das, was du werden willst? Dann also, da hast du dir was vorgenommen. Mal sehen, das müsste hier rechts sein.«

Ich stoppte ihn. »Nein, warte. Das ist zu Russisch, also dramatisch, tragisch, du weißt schon. Wahrscheinlich lese ich’s nie. Irgendwas über Ägypten?«

Schmunzelnd fragte er. »Roman oder Sachbuch?«

»Egal.« Ich lief schon an den Regalen entlang und streichelte alte Buchrücken.

»Wie, bitte schön, kann das egal sein?«

Ich kippte meinen Kopf, um am Regal vorbei sehen zu können. »Mein dunkelstes Geheimnis«, wisperte ich mit tiefer Stimme. »Ich bin süchtig nach geschriebenen Wörtern.« Ich wurde mit einem dieser sexy schiefen Mundwinkel belohnt. »Ernsthaft, du glaubst nicht, was ich alles schon aus Verzweiflung gelesen habe.« Ich zog ein Buch mit wunderschönem Einband hervor. Alice im Wunderland.

Plötzlich stand Sherlock wieder nah neben mir. »Hast du es gelesen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Also was hast du denn so aus Verzweiflung und Entzug gelesen?«

»So einiges, was ich nicht wissen wollte. Kennst du das, wenn sich deine Nase kräuselt und dein Auge anfängt zu zucken, aber du einfach nicht aufhören kannst? Henry lässt immer seine Medizinbücher im Wohnzimmer liegen und Alistair ist so ein Mädchen. Wenn er sagt, nur noch fünf Minuten für die Haare, lernst du alles über den Ablauf des weiblichen Zyklus. Die Schleimhaut ist echt komplex. Man glaubt nicht, wie viel Probleme damit einhergehen. Bei der einen zu dünn, bei der anderen wuchert es in alle Richtungen ... oh Gott ich hör auf.«

Er hockte gegenüber vor einem Regal und suchte etwas. »Kannst du dir viel merken? Ah, da ist es.«

Neugierig versuchte ich, zu sehen, was er da hatte. »Wenn es mich interessiert. Am besten Schaubilder oder wenn ich was markiere, dann kann ich mir die Seite bildlich vorstellen und in Gedanken ablesen.«

Verdutzt sah er mich an. »Dann hast du ein fotografisches Gedächtnis?«

»Du etwa nicht?«

»Doch natürlich, aber ... du nimmst mich auf den Arm«, schmunzelte er, als er begriff, dass er mir in die Falle getappt war.

Möglichst unschuldig sah ich ihn an. »Ein bisschen, aber ich kann das tatsächlich. Es funktioniert nur leider nicht immer. Oft sehe ich dann nur die Dinge, die ich nicht brauche oder bei Jahreszahlen fehlt mir die letzte Ziffer. Klappt es bei dir immer?«

Der Lehrer war wieder da oder der Wissenschaftler. Auf jeden Fall dieser nüchterne Blick. »Ja, klappt immer, vorausgesetzt ich hab genug Zeit einen Blick drauf zu werfen. Hier das Buch zum Beispiel. Eine Abhandlung über Echnaton und Nofretete und ihre Reform der Religion in Ägypten. Weißt du ungefähr, worüber ich rede?«

Interessiert sah ich zu dem Buch. »Natürlich! Vereinfacht dargestellt, von vielen Göttern umgeschwenkt auf einen Gott, Aton der Sonnengott.«

Ein kurzes fast stolzes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Hier, schlag es auf, wo du willst, und frag mich was. Ich habe es letztes Jahr gelesen für eine Vergleichsstudie. Mortimer hat übrigens mit dran gearbeitet. Er war sogar in Ägypten. Deswegen hab ich es dir herausgesucht.«

Ich nahm das Buch entgegen und setzte mich mit dem Wälzer auf die Couch. Er setzte sich mir gegenüber, die Arme auf den Beinen und die schönen langen Finger aneinandergelegt. Aufmerksam sah er mir zu, wie ich es aufschlug und über die Seiten strich.

»In welchem Jahr und Tag beschloss Echnaton den Bau seiner neuen Hauptstadt Achetaton?« Er schlug die Finger rhythmisch aneinander.

»Auf der Seite ist ein Bild von einer Statue der beiden, die im Louvre steht. 5. Regierungsjahr am 13. Peret IV, 5. März julianischer/ 21. Februar gregorianischer Kalender.« Er grinste so breit, als hätte er das Keksversteck gefunden.

Fassungslos blätterte ich weiter. »Ich denke, das macht keinen Spaß mit dir.« Ich zog eine Schnute. »Lass mich das Buch aussuchen, ähm, Biologie?«

Er zeigte auf ein Regal. »Dir ist schon klar, dass ich es schon mal gelesen haben muss?«

»Hast du nichts davon je gelesen? In der Schule?«

Er ließ sich nach hinten fallen. »Das ist lange her, zaubern kann ich nicht.«

Gut zu wissen und beruhigend für Normalsterbliche. »Basiswissen Genetik, was ist dominant und was rezessiv bei den Haarfarben blond, schwarz. Augenfarben blau, braun.«

Arrogant schaute er rüber. »Blau und blond sind rezessiv, zu einfach.«

Wahrscheinlich schon. Also musste ich mir mehr Mühe geben, was zu finden, mit dem man eine Fangfrage stellen konnte. »Okeeeey! Formel Photosynthese, komplett, nicht die Kurzform.«

Er faltete die Arme hinter den Kopf zusammen und zog arrogant eine Augenbraue nach oben. »Kleines, ich bin Chemiker, kannst du sie denn oder möchtest du erst das passende Buch suchen?«

Ich streckte ihm die Zunge raus. Dieses Kräftemessen gefiel mir. Für so etwas fand sich nicht oft jemand. Eigentlich nie. Na gut, viel bemüht um Freunde außer Alistair hatte ich mich nicht. »Falsche Antwort! Es gibt gar nicht nur eine Formel, sondern viele.«

Er lachte mich warm an und oberschlau erklärte ich: »Abhängig, welches Reduktans verwendet wird, was wiederum abhängig vom Organismus und seinen Enzymen ist.« Ich sah in gespielt sauer an. »Weißt du, was mir echt stinkt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Anoxygene Photosynthese.«

Laut lachte er herzlich auf. »Klar, weil Schwefel freigesetzt wird und kein Sauerstoff. Warum weißt du so was?« Ihm schien das Ganze genauso zu gefallen wie mir.

»Ich hab meinen Abschluss mit Bio und Mathe im Hauptfach gemacht.«

Da hatte ich mal jemanden sprachlos bekommen. »Nicht dein Ernst, Mathe? Bio krieg ich ja noch geregelt, aber Mathe? Warum studierst du Literatur?«

»Chemiker? Echt jetzt?« Ich zwinkerte ihm zu.

Er stand auf und kramte auf dem Schreibtisch rum. »Hier, Rechnung mit zwei Unbekannten, kriegst du das hin?«

Der Professor wollte mich also prüfen. Zuversichtlich stellte ich mich neben ihn. »Stift, Blatt ... Danke.« Dann fing ich an.

»Du darfst dich gerne setzen.« Er wirkte interessiert, aber zum ersten Mal, seit ich ihn kannte auch völlig entspannt.

»Nö, darfst gerne den Mund halten. Krieg ich einen Taschenrechner?«

»Haha, Kleines wofür?«

Ich hob einen Finger, sagte psst und machte weiter. »Warte, ahhhhrg, Fehler, neeeeiiin, ich hasse übrigens Mathe.«

Wieder lachte er, diesmal kehlig und dunkel in sich hinein, was mir runterging wie Öl.

Ich liebte es, ihn so zu sehen. »Fertig! Vielleicht glaubst du mir ab jetzt einfach, was ich dir sage, ohne alles überprüfen zu wollen?« Ich schob ihm das Blatt hin und war mehr als froh, dass er mir kein Integral gegeben hatte, darin war ich echt eine Niete.

Erstaunt sah er drüber, nahm mir den Stift aus der Hand, rechnete nach, dann holte er ein Blatt aus dem Stapel von eben und verglich. »Perfekt, das war eine Prüfungsaufgabe 2. Semester Mathe Studium, angesetzt 10 Minuten, du hast keine 5 gebraucht. Wie hast du abgeschlossen in der Abschlussprüfung?«

»Sag ich nicht.« Jetzt musste ich lachen, so absurd war das und ich mittlerweile damit im Reinen.

»Warum?«

Ich wurde feuerrot. »Eine Drei, also ein D« Verlegen fing ich an zu kichern und er, Gott sei Dank, setzte mit ein.

»Warst du betrunken?«

Ich musste noch mehr kichern, was meine Art war mit der Misere umzugehen. »Wir hatten fünf Stunden Zeit und ich hatte ein Date, also musste ich in dreieinhalb Stunden fertig sein. Und dann kommt der mir mit Wahrscheinlichkeitsrechnung und Integralen. Ich bitte dich, das braucht kein Mensch. Ich kann nur, was ich können will, und ich vergesse schnell wieder, was mich nicht interessiert.«

Sein Gesicht verwandelte sich in Sekunden zum Oberlehrer. »Du hast deinen Abschluss für ein Date in den Sand gesetzt? Sag mal, bist du wahnsinnig?«

Natürlich war die Erklärung nicht so einfach, dass ich ein hirnloser Teenie gewesen war, aber bitte, selbst wenn. Die Welt war nicht untergegangen. Mein Abschluss war durch eine Note auch nicht in den Sand gesetzt, sondern nur ein wenig schlechter ausgefallen.

Irritiert sah ich zu ihm. »Das ist nur eine Note nicht mein Leben, abgesehen davon hab ich den Rest ja gut hingekriegt, alles volle Punktzahl, also beruhig dich.«

Er sah mich seltsam resigniert an, als hätte er mich abgeschrieben und sein Bild in: Nicht zu gebrauchen, revidiert.

Das tat weh, mehr als die miese Note und wollte ich so nicht stehen lassen. »Sherlock, ich hatte andere Probleme«, flüsterte ich in der Hoffnung, er würde erahnen, dass es einen echten Grund gegeben hatte, keine reine Verantwortungslosigkeit.

Aber da irrte ich mich in ihm. »Was für Probleme außer irgendwelchen Jungs oder Mami verbietet mir was, hat man denn mit achtzehn? Falscher Nagellack?«

Und klatsch hatte ich ihm eine runtergehauen und das mit vollem Karacho. Am ganzen Körper zitternd stand ich vor ihm, versuchte, ruhig zu atmen und hätte ihm am liebsten mein Leid ins Gesicht geschrien. Das meine Mutter gar nicht oft genug da war oder nüchtern, um mir was zu verbieten. Dass ich mitten in der Nacht Alistair anrufen musste, weil ich vor Angst keine Luft bekam. Dass ich mehr als einmal darüber nachgedacht hatte, welche Art zu sterben, die Beste wäre.

Geschockt sah er mich an und ich würde einen Teufel tun seinem Blick auszuweichen. »Was sollte das denn?«

Mir kamen die Tränen, ich wollte weg, aber ich war wie festgefroren in seinem Blick.

O Gott, ich hatte ihn geschlagen. Wie hatte mir das passieren können?

Meine Hände zu Fäusten geballt, versuchte ich, das Zittern unter Kontrolle zu bringen. »Frag Henry, ich werde es dir nicht erzählen.« Ich hatte ihn geschlagen! Seine Wange war feuerrot. Eine Träne lief mir über die Lippen.

Er fuhr mit dem Daumen sanft darüber, was mich direkt angenehm schaudern ließ. Ich war eindeutig emotional auf einer Achterbahnfahrt.

»Kleines, ich wollte dich nicht verletzen.«

»Hast du aber!« Wann würde ich mich bewegen können? Ich schloss die Augen nur kurz, denn das machte es schlimmer. Auf einmal lag meine Hand auf seiner roten Wange und ich wisperte. »Tut mir leid, du kannst nichts dafür. Ich ...«

Er nahm meine Hand vorsichtig in seine. »Was ist dir nur passiert?«

Verkrampft holte ich tief Luft. Seltsam, wie sehr ich mit ihm reden wollte. »Weißt du, wie es ist, wenn man morgens nicht mehr aufstehen will? Wenn man denkt, sie wären besser dran, ohne mich?«

Er schluckte und drückte meine Hand. »Ja, das weiß ich, fast hätte ich es mal geschafft, Henry hat mich zurückgeholt.«

Mein Kopf ruckte hoch. Damit hatte ich sicher nicht gerechnet. Er war so diszipliniert und beherrscht. So souverän in seiner Rolle. »Wie hast du ... , absichtlich?«

Sein Daumen streichelte meinen Handrücken, was sich wundervoll anfühlte und mich beruhigte. »Unterbewusst schon, ich hatte eine ziemlich schlimme Zeit nach dem Tod meiner Eltern.«

Meine Augen waren so groß wie Teller, er schien mir so unerschütterlich und stark. Aber seine Eltern zu verlieren war sicher schwer zu verdauen. Wieder sah ich in seine, nun weichen, moosgrünen Augen. »Ich hatte immer so verfluchte Angst vor dem Sterben. Einfach Tod sein, wäre ok gewesen.« Ich lachte hysterisch auf und er zog die Augenbrauen zusammen.

»Wäre es das wirklich? Für mich eigentlich nicht.«

Ich gab darauf keine Antwort, ich wusste es nicht. Manchmal hoffte ich einfach, dass alles vorbei wäre, und dann die meiste Zeit wollte ich noch eine Chance.

»Victoria, hast du versucht, dich umzubringen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich war immer zu feige es durchzuziehen. Aber ich hab oft mit dem Gedanken gespielt. Man könnte sagen, ich hab versucht, zu versuchen, mich umzubringen. Henry macht sich furchtbare Vorwürfe deswegen.« Ich seufzte. »Warum erzähl ich dir das überhaupt?« Das fragte ich mich wirklich. Nicht mal mit Alistair redete ich so leicht darüber.

Sherlock hielt mein Gesicht fest und streichelte mit den Daumen über die Wangenknochen. »Warum Vorwürfe?«

»Ich hab ihm Morphium geklaut und ein Skalpell.«

Sein Blick wurde geradezu suchend.

Ich seufzte. »Er hat mich mit dem Skalpell erwischt und das Morphium hat er in meinem Zimmer gefunden und wieder einkassiert.«

Als könnte er in meinem Kopf lesen, fragte er nachdrücklich: »Wie hat er dich erwischt?«

Bei der Erinnerung schnürte sich alles in mir zusammen, einfach weil ich damals meinen Höhepunkt von Selbsthass erreicht hatte und mich nur zu gut an das Gefühl der Sinnlosigkeit erinnern konnte. »Küche, Skalpell einen Zentimeter über der Hauptschlagader.« Ich zuckte mit den Achseln. »Er hatte so ein komisches Gefühl, sonst ist er eigentlich nie rüber gekommen, das war einen Monat nachdem ...« Nein, das würde ich nicht auch noch brach legen. »Egal. Ich saß schon ein paar Minuten so da und überlegte das Für und Wider.«

Liebevoll strich er mir die Haare aus dem Gesicht. »Hast du immer noch solche Momente, in denen …«

Vehement unterbrach ich ihn. »Nein, Sherlock. Nein! Aber deswegen ist nicht alles rosa und voller Glitzer.« Ich ging etwas auf Abstand.

»Die Albträume?«

Ich nickte. »Angstzustände, Panik ... Warum zum Henker erzähl ich dir dauernd Dinge, die dich nichts angehen.«

Er grinste, auch wenn es seine Augen nicht erreichte, so versuchte er, die Situation für mich aufzulockern. »Weil ich so charmant und gutaussehend bin.«

Damit hatte er leider recht und weil er mir so vertraut war, als wäre er ein Teil meiner Seele. Gott, war ich kitschig. »Nein, ich denke eher, weil du schon so alt, erfahren und harmlos bist.« Diesmal war ich es, die breit grinste, nur um dann schuldbewusst zu fragen: »Tut es schlimm weh?«

Er winkte ab. »Die von meinem Vater waren härter. Was mich ehrlich stört, war mein mangelndes Reaktionsvermögen. Es ist lange her, dass das jemand geschafft hat.«

Meinte er das ernst? Es schien jedenfalls so. Was für ein Bastard musste sein Vater gewesen sein. »Ich bin süß und unschuldig, da verschätzt man sich!«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Das wird es gewesen sein.« Sein aufmerksamer Blick strafte den lockeren Tonfall, lügen.

»Sherlock? Bram Stockers Dracula bitte.«

Er verstand mich sofort, ging los und hielt mir kurz darauf das Buch hin.

»Danke Prof!« Damit meinte ich nicht nur das Buch. Es tat gut solche Dinge erzählen zu können, ohne das Gefühl zu haben, danach anders behandelt zu werden.

»Bitte. Und Kleines, komm zu mir. Egal wann. Auch nachts! Du musst das nicht allein schaffen. Bitte komm zu mir, wenn es dir schlecht geht.«

Darüber konnte ich nicht ernsthaft nachdenken. NACHTS! Ohne ein Wort setzte ich mich auf die Couch und begann zu lesen. Auch nachts, wenn er wüsste, was mir das ab heute für Träume bescheren würde.

 

Erst fast zwei Stunden später, machte er sich wieder bemerkbar. Mittlerweile saß ich schon zu lange im Schneidersitz, um meine Beine noch zu spüren. Es war unendlich schön mit ihm hier in einem Raum. Nicht mal mit Alistair schaffte ich es, ohne ein Wort zu sprechen, so lange, nebeneinander zu sitzen, jeder sein eigenes Ding und doch nicht einsam. So wohl hatte ich mich selten gefühlt. Fast wie ein zu Hause.

Er strich mir eine Strähne hinters Ohr, als wären wir ewig befreundet oder mehr… »Hast du Hunger?«

Schwerfällig hob ich meinen Kopf, las aber weiter. »Mmmh.« Noch so was Seltsames mit ihm. Diese Vertrautheit so wie vorhin, als ich ihm einfach alles erzählt hatte, ohne mir was Schlimmes dabei zu denken und dann schien er mir wieder so weit weg. Wie sollte ich nur schlau daraus werden? Und aus den Gefühlen, die ich für ihn hatte.

»Ich denke, ich frag später noch mal.«

Seine Hand lag auf der Armlehne neben mir und ich griff instinktiv danach. Er zuckte kurz abwehrend, schloss dann aber seine Finger um meine. Verdammt war das ein gutes Gefühl.

»Er ist gerade bei den Frauen im Zimmer, wäh, gruselig, ich muss das noch zu Ende lesen, sonst verfolgt mich das mit dem Kind, das sie gleich aussaugen, den ganzen Tag.«

Er drückte meine Finger und lächelte. »Du hast es schon mal gelesen.« Eine Feststellung keine Frage.

Zwei Sätze und fertig, jetzt sah ich ihn an. »Wie spät ist es?«

Leider ließ er meine Hand los. »Gleich eins, magst du was essen?«

Langsam hatte ich das Gefühl, dass wir uns nie wieder normal ansehen konnten. Wieder entstand diese Pause diese Intensität. Ich musste mich zwingen, endlich zu antworten. »Ein wenig, ich wollte eh einiges für morgen vorbereiten.« Morgen war mein Geburtstag, was Henry hoffentlich wunschgemäß für sich behalten hatte.

»Morgen? Was ist morgen?«

Er hatte nichts gesagt, puh!

»Henry kommt und es ist Wochenende, da braucht man Kuchen.« Ich grinste und er strich mir die Strähnen wieder hinters Ohr.

»Aha, so ist das also. Wieder was dazu gelernt. Magst du ein Sandwich? Ich koch erst heute Abend.«

Erstaunt fragte ich. »Du kochst?«

»Hast du Angst? Magst du Curry?« Typisch, wieder eine Frage an der Nächsten. Er marschierte los Richtung Küche und ich dackelte brav hinterher.

»Wenn es nicht zu scharf ist und kein Zimt, ich bin allergisch gegen Zimt.«

Er fing schon an Wasser aufzusetzen, natürlich machte er zu allerst Tee. Meine Mundwinkel zuckten amüsiert, aber alarmierend war dieses warme Gefühl, das sich dabei in der Brust ausbreitete. »Kein Zimt, kein Problem. Sandwich, Schinken-Käse?«

Belustigt musterte ich ihn. »Ich kann mir schon selbst mein Brot machen.«

Er wackelte mit den Augenbrauen und sein Mundwinkel zog sich frech nach oben. »Aber wird es auch so gut sein, wie von mir?« Dabei holte er bereits alles, was er brauchte raus und legte es auf die Arbeitsfläche. »Was gibt es denn für Kuchen?«, fragte er ehrlich interessiert, vielleicht sogar mit ein wenig Vorfreude.

»Mandelsahnetorte.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ambitioniert.«

»Eigentlich nicht. Die kann ich im Schlaf, aber eigentlich hätte ich den Boden gestern schon backen müssen. Hast du lieber Schoko oder Erdbeeren? Wenn alles da ist, mach ich Erdbeercupcakes. Die sind echt lecker.«

Routiniert schnitt er die Tomate und Gurke in feine Scheiben. »Ich hatte mich schon auf Mandel gefreut, machst du eine Marzipandecke?«

Amüsiert sah ich, wie er mich von unten bittend ansah. »Die mache ich. Trotzdem gibt’s auch Erdbeercupcakes. Wann musst du die Küche fürs Dinner haben?«

Er legte abschließend den Brotdeckel drauf und fing an, Dreiecke zu schneiden. »Gegen sieben Uhr reicht mir. Dann können wir um acht Uhr essen. Hier bitte schön.« Stolz reichte er mir einen Teller mit zwei Dreiecken.

Skeptisch beäugte ich mein Sandwich. Leider hatte ich nicht aufgepasst, was er alles drauf gelegt hatte. Ach egal, nur die Mutigen kommen voran, also biss ich hinein, während er mich beobachtete.

»Und kann man es essen?«

»Sherlock, das ist total lecker.«

Freudestrahlend sagte er: »Warte erst mal mein Curry ab. Und wenn du ganz brav bist, mach ich dir mal Rührei.«

Ich setzte mich auf den Küchentresen und aß hingebungsvoll mein Sandwich, was wirklich super war, von allem genau die richtige Menge. »Ist da Balsamico drauf?«

Schmunzelnd beobachtete er mich beim Essen. »Jaaa, aber mehr wird nicht verraten.«

Ich stöhnte genüsslich beim nächsten Bissen und war etwas überrascht über seinen Gesichtsausdruck, Schlafzimmerblick traf es wohl am besten. »Sherlock, wenn dein Curry auch so gut ist, will ich dich heiraten.«

Er sah mich mit diesen schweren Augen an und meinte heiser. »Wenn du im Bett genauso aussiehst wie jetzt, hast du mich schon halb überzeugt.« Er schluckte und blinzelte, bevor er mit schleppender Stimme fortfuhr. »Aber ich denke, ich warte die Torte ab.«

Wow, das zwirbelte in meinem Bauch. Natürlich leckte ich mir daraufhin mit halbgeschlossenen Augen über die Lippen und stöhnte abgehackt. »O Sherlock. Bitte … mehr.«

Grinsend meinte er. »Verdammt Kleines, ich muss gleich kalt duschen.«

Provokant bot ich an. »Ich kann gerne mitkommen.«

»Mit Sicherheit nicht, erst wird die Torte probiert.« Betont lässig fing er an aufzuräumen.

Bemüht genauso gelassen zu wirken wie er, sprang ich vom Tresen. »Na dann gebe ich mir mal besonders Mühe. Ich mein Sex kriegt man schließlich auch woanders, aber gegessen wird ja bekanntlich zu Hause.«

Irritiert hielt er inne und sah mich an. »Du hast das aber schon verstanden mit dem zu Hause essen?«

Während ich schon anfing, die Schränke zu durchsuchen, antwortete ich ihm. »Alles Auslegungssache, wo wäre denn sonst der Spaß.«

Seiner Stimme hörte man die Überraschung an. »Dann bist du in einer Beziehung nicht treu?«

Geschockt sah ich ihn an. »Natürlich, das war doch nur ein Witz. Ich bin absolut treu. Nervig treu. Ich bekomm schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich jemanden attraktiv finde. Dafür sollte es übrigens eine Selbsthilfegruppe geben.«

Wieder entstand dieser Blickkontakt, tief und lang. Seine Augen schienen dunkler zu werden. Die Welt hörte auf sich zu drehen. Ein Schritt, beide gleichzeitig und wir standen direkt voreinander.

Seine Hand langte zu meiner dummen Haarsträhne. »So treu? Ja? Noch nie jemanden betrogen? Nicht mal mit einem Kuss?«

Ich wollte wissen, wie diese Lippen sich auf meinen anfühlen würden, wie er schmeckte. Meine Stimme war kaum zu hören. »Nein, nie und du?«

Er sah runter auf meinen Mund und auch er war ganz leise. »Nein, ich hab vielen wehgetan und bin ein echtes Arschloch, aber betrogen nie. Wenn ich mich für jemanden entschieden habe, mit ihr zusammen bin, dann richtig. Aber ich denke nicht, dass das jemals wieder passiert.«

Jetzt legte ich Hand an seine Haare und fuhr durch diese Locke, die mich ständig anbettelte. »Warum?«

Er wurde gerader und rückte von mir ab. »Weil ich nicht gut bin, Vi. Ich schaffe das nur begrenzte Zeit. Ich muss wieder an die Arbeit, wenn du was brauchst, weißt du ja, wo ich bin.«

Er ging an mir vorbei mit dieser kalten, ausdruckslosen Miene.

Offensichtlich hatte ich mir nur wieder was eingebildet, für ihn war ich mit Sicherheit nur das kleine Mädchen, die Ziehschwester seines besten Freundes. Henry hatte ihn womöglich sogar drum gebeten, sich um mich zu kümmern. Ich sollte unbedingt zur Vernunft kommen und meine Gefühle in den Griff kriegen. Und wieder sagte ich mir. Er ist zu alt. Er sieht dich nicht so. Hör auf, darüber nachzudenken. Dennoch brauchte ich für meinen Geschmack zu lang, bis mein Körper sich wieder anfühlte, als würde er normal funktionieren.

Kapitel 5

… eine Seele in ihrer Qual verspotten, ist etwas Grausiges.

Wer das tut, dessen Leben ist unschön.

Oscar Wilde

 

Als Edward nach Hause kam, stand ich schon seit einiger Zeit in der Küche und versuchte für meinen Geburtstag am nächsten Tag alles vorzubereiten. Mein Ziel war es, mir selbst eine super Party mit Torte und Muffins herzuzaubern, ohne dass jemand direkt merkte, dass es mein Geburtstag war. Ob ich morgen jemanden einweihen würde, hing von meiner Gemütsverfassung ab. Im Grunde war es mir eh immer lieber, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Ich war verdammt schlecht darin, Geschenke oder Glückwünsche anzunehmen. Zum einen, weil ich nie glauben konnte, dass ich jemandem am Herzen lag. Zum anderen war es mir schlichtweg peinlich.

Zumindest hatte ich schon einen herrlich luftigen Biskuit Tortenboden zustande gebracht, bei dem mir das Wasser im Mund zusammenlief. Zwischendurch fing ich immer wieder an kleine Krümel vom Rand abzuzupfen und entschuldigte mich damit, dass es ja eh meine Geburtstagstorte war. Mittlerweile spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken aus den drei Böden, zwei werden zu lassen. Edward sah mich mit diesem schelmischen Lächeln an, während ich wie gebannt meinen Biskuit anstarrte und versuchte, mich zu überzeugen, dass ich nicht wirklich die Torte durch meine Naschsucht zerstören wollte.

»Was machst du? Catering?«

Ich riss meinen Blick vom Kuchen und sah in seine schönen blauen Augen.

»Nein, ich wollte nur ein paar Dinge für morgen vorbereiten. Wenn Henry mich besucht, soll es was Besonderes sein. Das will gut geplant werden. Außerdem war mir langweilig.« Tja da überall Schüsseln und Backutensilien standen, die gespült werden mussten, würde es mir heute sicher nicht mehr an Beschäftigung mangeln.

Er zog nur die Augenbrauen hoch und ging an mir vorbei in das Badezimmer am Ende der Küche.

Sofort widmete ich mich wieder der Torte, die noch gefüllt und dekoriert werden sollte. Falls ich nicht vorher tot umfiel. Schließlich hatte ich bereits die Erdbeercupcakes gebacken und mit einem Frischkäse Topping vollendet. Ich schnappte mir die Schüssel mit der Sahne und fing an, die gerösteten Mandeln unterzuheben als Edward zurückkam und sich auf den freien Platz der Arbeitsplatte setzte. Wobei ich mir nicht sicher war, dass dort auch sauber war, bei dem Chaos, das ich angerichtet hatte.

Vermutlich schaute ich ihn recht skeptisch an, denn er fragte direkt: »Was? Stör ich dich? Eventuell kann ich dir helfen! Abgesehen davon siehst du einfach nur süß aus mit dem Mehl im Gesicht oder ist das Sahne?« Er wischte mit dem Finger über meine Wange und leckte ihn ab. »Mmh, Sahne.« Dann griff er nach mir und zog mich bestimmt zu sich rüber. »Ich will dich ablecken, komm her.«

Kreischend und lachend machte ich mich los und fuhr mir mit dem Arm über die nasse Stelle an der Wange. »Wirst du als Arzt ernst genommen?«

Er wackelte mit den Beinen. »Was denkst du denn, den kleinen Ed kriegt keiner von denen zu sehen.«

Übertrieben betont sah ich ihm in den Schritt und zog eine Augenbraue hoch, dann spitzte ich die Lippen. »Das wollen wir doch mal hoffen Mr. Croft. So was gehört sich nicht, die Hosen runterlassen in aller Öffentlichkeit.« Natürlich hatte er mit dem Kommentar nur seine kindische Seite gemeint und kein Körperteil.

Wieder widmete ich mich der Sahne, während er grinsend neben mir saß und mich beobachtete. »Hast du einen Freund?« Edward ließ jedenfalls keinen Zweifel an seinen Absichten.

»Interessant, dass du fragst, aber nein.«

Er streckte einen Finger Richtung Sahne aus und ich haute mit dem Löffel drauf. »Untersteh dich Freundchen, erst gleich, wenn ich fertig bin.«

Flehentlich sah er mich mit geschürzter Lippe an. »Bitte, nur ein bisschen.« Er sah furchtbar süß aus und wie immer wurde in mir alles warm, wenn er seine Augen so funkeln ließ.

Bevor ich wirklich drüber nachdachte, nahm ich mit meinem Finger am Rand etwas Sahne weg und hielt ihm den Finger hin. Seine Augen wurden dunkler und sein Blick tiefer. Er griff nach meiner Hand und nahm den Finger genüsslich in den Mund, spielte kurz mit der Zungenspitze an der Fingerkuppe und ließ seine Lippen sanft darüber gleiten. Zum Schluss zog er die Zähne zart über meine Haut und küsste die Spitze. Das Ganze war schon auf gewisse Art sexy. Vor allem, weil er jetzt knurrte. »Schmeckst du überall so gut?«

Mir wurde regelrecht heiß und kalt. Erst recht nach dem Traum letzte Nacht, aber ich wollte auch dringend die Oberhand behalten. Wie immer! In dem Moment wurde mir klar, dass ich mit Edward gern spielte und das konnte bereits alles sein.

Betont lässig fragte ich: »Bläst du mir jetzt einen? Das war eine sehr interessante Erfahrung. Gut zu wissen, wie die Kerle sich fühlen, wenn ich das abziehe. Aber du solltest kurz dran saugen und den Finger zwischen den Zähnen halten, während die Zungenspitze über die Kuppe wandert. Dabei den Mund leicht öffnen und Luft holen. Der kalte Hauch am Finger ist irgendwie was wert.«

Entrüstet sah er mich an. »Hat dich das völlig kalt gelassen?«

Ich fing an Sahne auf einem Tortenboden zu verteilen. »Oh, nein, ich bin durchaus feuchter geworden.«

Er war fast beleidigt. »Das sagst du, als wäre das ein Aggregatzustand.«

»Ist es das nicht?« Mit leicht geöffneten Lippen ließ ich meinen Blick etwas schwerer werden und steckte mir lasziv den Finger in den Mund. Schloss die Augen und seufzte ein kleines mmh, während ich meinen Kopf leicht nach oben streckte und die Brust rausdrückte. Dann ließ ich meinen Finger langsam über meine Lippe gleiten und hauchte. »Du sabberst.«

Er starrte weiter wie gebannt auf meinen Mund. Ich schnappte mir seine Hand und schob mir mit einem Stöhnen seinen Finger in den Mund. Tat das, was ich ihm vorgeschlagen hatte. Schob ihn ein wenig durch meine Lippen hin und her und zog ihn genau wie er durch die Zähne raus. Er stand da wie paralysiert und ich schob mich näher an ihn ran und sagte an seiner Wange auf dem Weg zum Ohr. »Lecker.«

Tief aus seinem Brustraum kam ein genussvolles Brummen. »Süße, du hast eindeutig gewonnen.«

Leise lachend gab ich ihm einen Kuss auf die Wange. »Tut mir leid Doc, aber ich muss das jetzt fertig machen, bevor mir die Sahne zerfließt. Wir können später weiterspielen.«

Seine Atemfrequenz hatte sich jedenfalls merklich erhöht, worüber ich mal wieder stolz war. Ich genoss es, immer die Kontrolle und Macht zu haben, zumindest in diesem Spiel.

»Welch Enttäuschung. Ich fass es nicht, wie abgebrüht du bist. Soll ich schon mal was spülen?«

Begeistert stimmte ich zu und konzentrierte mich dann vollends auf meine Torte.

 

Als ich gerade die Marzipandecke verfluchte, die mir schon zweimal gerissen war, kam Sherlock in die Küche. »Wenn du nicht mitspielst, entsorg ich dich. Gib dir wenigstens etwas Mühe.«

Im Hintergrund hörte ich Edward fragen: »Sher hast du dich gestoßen? Das sieht aus, wie ein blauer Fleck.«

Erschrocken drehte ich mich um und stürmte zu Sherlock, der in Edwards Klammergriff sein Gesicht begutachtet bekam.

»Shit, tut mir so leid, Sher. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so fest ...« Meine Stimme brach. Sein Wangenknochen schimmerte tatsächlich blau.

»Kleines, guck nicht so, ich werde es überleben.«

Er vielleicht, aber bei mir war ich da nicht so sicher. Noch nie war ich handgreiflich geworden, wenn ich mich nicht verteidigen musste. Meine Nerven lagen blank und ich stürmte aus der Küche.

Edward rief mir etwas hinterher, aber ich war wie taub. Draußen ließ ich mich schwer auf die Bank fallen und steckte mir buchstäblich den Kopf zwischen die Knie.

Nach ein paar Minuten kam Sherlock mit zwei Tassen Tee zu mir und hielt mir eine hin. Ich nahm sie entgegen, ohne ihm in die Augen zu schauen.

»Ich habe deine Torte in den Kühlschrank gestellt.«

Traurig flüsterte ich: »Danke.«

Dann regierte die Stille. Wir tranken Tee und starrten in die Landschaft.

Nach einiger Zeit stellte er seine Tasse neben sich, rutschte zu mir auf und legte den Arm um meine Schultern. »Es ist ok, Kleines!« Er pustete die Wörter in meine Haare.

Ich schloss die Augen und ließ meinen Kopf auf seine Schulter sinken. Wieder verging eine ganze Weile, bis ich mich wieder hinsetzte und seinen blauen Fleck genauer betrachtete. Wieder dieser intensive Blick, wieder gab es für mich nichts als ihn. »Wir werden wohl leider nie heiraten.«

Leicht drehte er sein Gesicht zu mir und dieses leicht schiefe Lächeln kam hervor, was meine Augen automatisch schloss und mir ein tiefes Ziehen im Brustraum bescherte.

Ich atmete tief ein und hörte mich schon etwas benommen an, als ich sagte: »Die Marzipandecke ist gerissen, sieht furchtbar aus.«

Er drückte mich kurz an sich. »Vielleicht gebe ich dir ja trotzdem eine Chance.«

Mit diesem locker dahergesagten Satz bescherte er mir ein angenehmes Glücksgefühl, samt Flattern im Bauch. Was passierte nur hier mit mir, keiner sollte so viel Macht über mein Wohlbefinden haben, nie wieder. »Ja.« Kurz und gequält. Ich musste das beenden, bevor es für mich zu spät war. »Sollen wir reingehen?«

»Geh schon mal vor, ich komm gleich nach. Ich brauch ein bisschen frische Luft.« Er lächelte mich stumpf an und ließ mich los.

Schweren Herzens stand ich auf und ging.

In der nächsten Sekunde betrat ich die Küche und stand unmittelbar Edward gegenüber. Dieses Hin und Her wurde langsam anstrengend. Mein Herz versuchte, sich aufzuteilen. Mittlerweile war ich froh, dass ich nächste Woche in London nur Sherlock sehen würde. »Hat er dir erzählt ...?«

Edward sah mich musternd an. »Er hat nur gemeint, du hast ihm eine runtergehauen und er hätte es verdient.«

Das hätte ich zwar anders gesehen, aber gut wenn er es so erzählen wollte. »Eigentlich hatte er nur Pech, den denkbar schlechtesten Nerv zu treffen. Ok, er war hundsgemein, aber ich hab überreagiert.«

Edward sah mich mitleidig an. »Er wird es überleben und du auch. Spielst du Xbox?«

Mein Blick glitt über die Küche. Alles war aufgeräumt. Erstaunt sah ich ihn an. »Warst du das?« Er nickte. »Danke! Ähm ja, ich spiele Xbox, je nachdem was.«

Das schelmische Grinsen erschien. »Battlefront! Bitte sag ja.«

Ich lachte. »Ich muss erst duschen. Ich fühl mich, als wäre ich selbst aus Teig und Sahne.«

Sein Blick wanderte einmal an mir hoch und runter. »Süß genug bist du.« Lachend schlug ich ihm auf die Brust und er empörte sich darüber. »Jetzt schlägst du mich auch schon.«

Hinter uns ging die Tür auf und Sherlock kam in die Küche. Ich spürte ihn zu sehr, deswegen drehte ich mich nicht um, sondern ging einfach zur Tür und sagte zu Edward. »Dann bis gleich im Wohnzimmer?«

»Bis gleich, du brauchst dich nach dem Duschen auch nicht extra anziehen.« Er war furchtbar.

»Gut zu wissen! Idiot …« Sein dreckiges Lachen begleitete mich nach draußen.

 

Natürlich zog ich mir was an. So schlimm war es mit mir noch nicht. Edward und ich verbrachten die nächste Stunde mit Star Wars Kämpfen und hatten wahnsinnig Spaß miteinander. Ich fühlte mich rundum wohl. Alles war so leicht wie mit Alistair.

Um Punkt acht Uhr nahm er mir den Controller ab, griff meine Hand und fragte. »Darf ich sie zum Dinner begleiten?«

Gut gelaunt hängte ich mich an seinen Arm. Unten angekommen hatte Sherlock schon den Tisch gedeckt und wartete auf uns.

»Perfektes Timing, bin gerade fertig.«

Edward besah sich den Wok. »Nein, nicht Blumenkohl Curry. Warum tust du mir das an. Ich bin doch schon groß und stark.«

»Setz dich Ed, es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Außerdem hat Vi sich Curry gewünscht.«

Hatte ich das? Sher zwinkerte mir hinter Ed zu. Ah, ein Täuschungsmanöver.

Ed schmollte mich an. »Mit dir spiel ich nicht mehr, du bist doof.«

Das brachte mich so zum Lachen, das ich meine Gabel runterschmiss. »Wenn ich könnte, würde ich euch beide heiraten. Ihr seid echt super. Oh, Al muss dann ja auch noch. Ich denke, das wird mir dann doch etwas viel. Wir lassen das besser.«

Ed wollte wissen: »Was für eine Art Ehe mit drei Männern würdest du denn dann führen? Bekommt jeder einen bestimmten Wochentag oder ganz nach Lust und Laune?«

Prustend hob ich meine Gabel auf. »Lassen wir das, allein der Gedanke überfordert mich schon.«

Sherlock verteilte das Curry und den Reis auf unsere Teller. »Erst das Curry probieren und dann wird entschieden.«

Ich grinste in mich hinein. Das Curry war super und ich bekam langsam das Gefühl, das ich es hier mit einem Koch zu tun hatte, der in seinem Hobby aufging. »Kochst du gerne?«

Sher sah mir in die Augen, wieder auf diese Art, als würde er bis in mein Herz sehen können. »Kochen entspannt mich. Außerdem ist es eine Wissenschaft. Schmeckt es dir?«

»Es ist fantastisch. Fast so gut wie meins.« Spöttisch verzog ich mein Gesicht zu einem frechen Lächeln und er grinste zurück.

»Dann machst du also das nächste Curry und Ed darf entscheiden, welches besser ist.«

Wir drehten uns beide zu Edward.

»Lass den Blumenkohl weg und ich lass dich gewinnen.«

Empört rief ich: »Wie kann man keinen Blumenkohl mögen?«

»Ist das dein Ernst? Der schmeckt nach Ziegenfurz.«

Wieder musste ich furchtbar lachen. »Das ist Rosenkohl, Doc.«

Er hob die Gabel samt aufgespießtem Kohl und wedelte damit rum. »Stimmt. Dann nach Käsefüße.«

Amüsiert aß ich weiter. »Ich liebe es. Vielleicht steh ich ja auf Käsefüße.«

Sher murmelte: »Dann werden dir Edwards Füße gefallen.«

Ed trat ihn unter dem Tisch gegen das Schienbein. Was Sher nur mit einem Lächeln quittierte. Es war schön, mit anzusehen, wie sie miteinander umgingen. Man spürte die Verbundenheit als Familie. Genau wie bei Henry und Alistair. Wie immer in solchen Momenten verspürte ich einen Stich. Sosehr sie mich auch teilhaben ließen, wirklich dazu gehörte ich nie.

 

Nach dem Dinner hatte ich mit Edward beinah zwei Stunden Xbox gespielt und aufrichtig Spaß gehabt. Er war ein netter Kerl und ich fühlte mich wahnsinnig wohl mit ihm.

Langsam fing ich an ihn als Möglichkeit für eine Beziehung zu sehen. Denn das war es, was ich mir insgeheim wünschte. Nicht unbedingt die große Liebe, die suchte ich, besser erhoffte ich mir gar nicht, aber ich wollte weg von dem lockeren Spielchen. Etwas Beständiges, dass mir eine Pause gönnte. Endlich mich selbst finden und erleben, wie es sein könnte, nicht allein zu kämpfen. Vertrauen, Geborgenheit, Sicherheit, auch wenn ich schwer glauben konnte, dass es das für mich gab. Ich war zu kaputt. Was hatte ich denn schon zu bieten außer Ängste, Selbstzweifel und Narben, sichtbare und unsichtbare. Es dauerte sicher nicht lange, bevor er begriff, dass ich nur eine Luftnummer war und mich als Kind abstempelte oder schlimmer als psychisch krank.

Nun lag ich im Bett und wälzte mich von einer Seite auf die andere. Nicht nur, dass die unterschwellige Gefahr wieder präsent war, nein, in nicht mal fünfzig Minuten wäre ich neunzehn und das Testament trat endgültig in Kraft.

Dieses Haus, die Ländereien, alle Firmen und nicht zu vergessen, das Barvermögen gehörten dann offiziell mir und ich konnte frei darüber entscheiden. Wieder einmal konnte ich das Ganze kaum begreifen. Ich war Lady Pendrake, mit allen Vorteilen, aber auch allen Verpflichtungen, von denen ich absolut keine Ahnung hatte. Ich musste Kleider für Bälle kaufen, auf denen ich mich nicht zu benehmen wusste. Nicht mal ein Dinner konnte ich ohne Fauxpas schaffen.

Mittlerweile starrte ich an die Zimmerdecke, mein ganzer Körper steif wie ein Brett vor Anspannung. So würde das nichts mit schlafen. Vielleicht hätte ich was trinken sollen, aber dann hätte ich meinen neunzehnten Geburtstag mit Kater begonnen.

Nach einer weiteren halben Stunde beschloss ich, die Torte fertigzustellen. Ich schlüpfte schnell in Jogginghose und Strickjacke und machte mich leise auf den Weg nach unten. Alles war ruhig und dunkel, also schienen die Jungs schon zu schlafen.

In der Küche hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil die Kaffeemaschine mir unheimlich laut vorkam. Als würde ein Traktor durchs Haus fahren. Gott sei Dank hatte ich wenigstens die Sahne schon fertig geschlagen. Die Marzipandecke war ja leider am unteren Rand mehrfach gerissen, aber das würde ich einfach mit Sahne verzieren. Ich war völlig in Gedanken versunken und der Rest meines Kaffees war schon kalt, als ich die letzten Handgriffe für die Schokoladendeko erledigt hatte.

»Konntest du nicht schlafen?«

Mich riss es fast von den Füßen und mein Herz schlug mir bis zum Hals, so erschreckte mich Sherlock. Ich stützte mich schwer auf dem Tresen ab und war einfach nur froh, dass ich die Torte nicht runtergeschmissen hatte. Als ich aufschaute, kam er von der Tür aus zu mir und ich erstarrte.

Er sah furchtbar aus und gleichzeitig verdammt sexy. Der absolute Badboy. Würde ich ihn so in einer Bar kennenlernen, wäre sofort klar, dass ich nicht meinen richtigen Namen nennen würde aber absolut mit ihm knutschen wollte.

Seine Haare waren total zerwühlt und strubbelig, die Stoffhose hing auf halb acht und so wie es aussah, war darunter nichts. Verdammt seine Hüftknochen guckten raus, was mir ein Ziehen der feinsten Art zwischen den Schenkel bescherte und sein Hemd hing total zerknautscht und schief an ihm runter. Aber am auffälligsten waren seine Augen. Er sah wild aus, als stände er unter Strom.

Jetzt setzte er dieses schiefe Lächeln auf und tigerte aufreizend auf mich zu. Er stützte sich mir gegenüber ab und grinste mich aufgekratzt an. »Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.« Er fing an zu kichern. Lord Croft kicherte mich irre an. War er betrunken? Aber von der Sprache her merkte man ihm nichts an. »Was machst du da?«

Mir kam das alles seltsam vor, aber ich konnte nicht erklären wieso. »Ich konnte tatsächlich nicht schlafen. Deswegen hab ich die Torte fertig dekoriert. Aber ich denke, jetzt werde ich besser wieder ins Bett gehen, sonst komme ich morgen früh nicht aus den Federn. Weißt du, wann Henry kommt?«

Er grinste immer noch von einem Ohr zum anderen. »Hast du keinen BH an?«

Oh Shit, hatte ich nicht, weil ich nicht gedacht hätte, jemandem zu begegnen. Schnell zog ich die Strickjacke fest um meinen Körper. Natürlich wurde ich direkt feuerrot. Sein Blick glitt aufdringlich an mir rauf und runter und er war sichtlich angetan von mir.

»Sherlock, ist alles in Ordnung?«

Er sprang unvermittelt hoch und klatschte in die Hände. »O Kleines, mir gehts super. Ich wollte eigentlich draußen die Sterne ansehen. Magst du mitkommen?« Einladend streckte er mir seine Hand entgegen, die ich zweifelnd betrachtete.

Langsam fing ich an, mir Sorgen zu machen. »Nein, ich bin jetzt wirklich müde. Ich geh ins Bett.«

Immer noch grinste er. »So eine schöne Frau sollte nicht allein ins Bett gehen müssen.« Er zwinkerte mir zu und ich war völlig überfordert von diesem aufgekratzten Verhalten und blieb unfähig still, ohne mich auch nur im geringsten zu rühren. Meine Unsicherheiten nahmen mir jede rationale Möglichkeit hiermit umzugehen. Aber er würde mir doch nicht zu nah kommen? Oder?

»Schlaf schön, Kleines. Morgen früh gibt’s den besten Porridge der ganzen beschissenen Welt für dich.« Schwungvoll drehte er sich einmal um sich selbst und tänzelte regelrecht raus in den Kräutergarten hinter der Küche.

Unschlüssig, was ich davon halten sollte, von diesem völlig anderen Menschen, sah ich ihm noch eine Weile zu, wie er die Sterne betrachtete, am Rosmarin roch und sogar über die kleine Begrenzungsmauer balancierte. Er war hundertprozentig betrunken. Wenn er nicht so schräg wäre, fände ich ihn schon richtig süß. Nach ein paar Minuten entschied ich, dass er alt genug war, um selbst mit seinem Rausch klar zu kommen und verkrümelte mich ins Bett.

 

Als mittlerweile 19-Jährige schlief ich problemlos ein und dass die ersten Stunden sogar traumlos und tief, wie lange nicht mehr. Gegen halb fünf wurde ich allerdings durch ein Scheppern geweckt. Desorientiert setzte ich mich auf und versuchte, die Geräusche einzuordnen. Da waren aufgeregte Stimmen im Flur. Scheinbar stritten sich Edward und Sherlock.

Vorsichtig ging ich zur Tür und legte mein Ohr dagegen. »Krieg dich ein, das ist immer noch meine Entscheidung.«

»Muss ich dir erklären, was du da anstellst? Sherlock, du hast mir versprochen die Scheiße zu lassen.«

»Ich habe nur versprochen nicht regelmäßig, das war das erste Mal dieses Jahr. Du weißt, dass ich damit umgehen kann.«

Edward lachte gespielt auf. »Ja sicher, sieh dich doch an. Henry wird ausflippen.«

Sherlocks Antwort hörte sich geradezu bedrohlich an. »Kein Wort! Verstanden? Das geht niemanden etwas an.«

»Als müsste ich ein Wort sagen, er siehts es dir tagelang noch an. Sherlock ernsthaft, hör endlich auf mit dem Mist.«

Kurz war Stille, dann sagte Sher leise und bedrückt: »Du hast ja recht, aber du weißt nicht, wie es ist wenn …« Er seufzte tief auf. »Ich werde jetzt schlafen, weck mich bitte um sieben Uhr, wenn du joggen gehst. Ich hab Victoria Porridge versprochen.«

Edward hörte sich mindestens genauso bedrückt an. »Ok, wenn du denkst, du packst das. Sher, verdammt ich brauch dich noch ein bisschen.«

Dann hörte ich erst eine Tür, dann die andere. Das war alles ziemlich rätselhaft. Ob Sherlock ernsthaftere Probleme mit Alkohol hatte? Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen. Seltsam verhalten, hatte er sich definitiv. Vielleicht würde ich durch Henry mehr erfahren.

Völlig durchgefroren krabbelte ich wieder in mein Bett und hing meinen Gedanken noch lange nach, bis ich zur Ruhe kam.

Kapitel 6

Allein zu leiden ist der tiefste Schmerz,

ihn stillet halb ein gleichempfindend Herz

 

William Shakespeare

 

 

»Happy Birthday to me, Happy Birthday to me.« Den ganzen Weg nach unten trällerte ich es mir in Gedanken vor, mein Geburtstagslied. Überraschenderweise hatte ich extrem gute Laune und dass trotz Schlafmangel und Geburtstagspanik. Aber reich zu sein, hieß auch, frei zu sein. Frei von einer chaotischen, egozentrischen Mutter. Der Tag versprach somit nur Gutes. Henry würde gleich kommen. Ich hatte eine Torte und heute Abend würde ich sogar tanzen gehen.

Fröhlich summend schlenderte ich in die Küche. Natürlich stand Sherlock mit seinem Buch und seinem Tee dort und sah fast aus wie immer.

Fast! Wenn er nicht furchtbar blass gewesen wäre mit Augenringen. Der blaue Fleck am Jochbein war dadurch noch deutlicher zu sehen. Mir wurde das Herz schwer, vor allem, weil er mich gar nicht zu bemerken schien, als wäre er beim Lesen eingeschlafen. Ich wollte zu ihm und ihn fest in den Arm nehmen, aber ich schaffte es mich zur Vernunft zu bringen. »Guten Morgen, Sherlock«, begrüßte ich ihn bemüht fröhlich, aber dezent, um ihn nicht aufzuschrecken.

Schwerfällig hob er den Kopf und lächelte angestrengt. Er sah regelrecht krank aus. »Guten Morgen, noch gut geschlafen?« Daraufhin gähnte er erbärmlich.

»Einigermaßen, im Gegensatz zu dir, wie ich sehe.«

Er winkte ab und öffnete den Deckel des Topfs vor ihm. »Porridge wie versprochen. Ich hätte dich fragen sollen, ob du Mandeln magst. Ich koch sie immer direkt mit. Erdbeeren dazu? Oder soll ich dir was anderes machen?«

Ich ging zum Topf und sah hinein. »Nein, Porridge ist super, ich koch auch Mandeln mit und eine Prise Vanille. Erdbeeren wären toll.«

Er lächelte diesmal schon etwas leichter, was mich zu sehr freute. Mein Herz seufzte geradezu und das war nicht gut. Sherlock war weder für eine Beziehung noch für was Lockeres geeignet. Das sollte ich nicht vergessen.

Er füllte zwei Schüsseln mit Porridge und geschnittenen Erdbeeren und drückte mir am Automaten einen Kaffee. Dann nahm er den braunen Zucker und die Schüsseln und brachte alles zum Tisch.

Ich musste nur noch meinen Kaffee selbst tragen. Wie Sophia gesagt hatte, ein echter Gentleman.

Er setzte sich mit mir über Eck, drehte seinen Stuhl um und legte sich mit einem Arm auf die Lehne. Sein Kopf lag nun auf seinem Arm, während er ziemlich müde und lustlos seinen Porridge löffelte. »Du hast noch gar nichts gegessen, soll ich dir doch lieber was anderes machen?«

»Nein danke. Ich brauchte nur noch einen Moment.« Um dich zu beobachten. Das könnte meine Lieblingsbeschäftigung werden. Ärgerlich über mich selbst riss ich mich endlich von ihm los und nahm einen Löffel Porridge. Natürlich war er gut. Mittlerweile war ich überzeugt, dass man sich um Sherlocks Kochkünste keine Sorgen machen musste. »Du siehst ziemlich fertig aus. Ist alles in Ordnung?«

Müde nickte er, schob die Schüssel von sich und legte seinen Kopf der Länge nach auf den Arm. »Alles bestens. Hab nur viel Arbeit und wenig geschlafen.« Er hörte sich furchtbar bedrückt an und auch sein Gesichtsausdruck war melancholisch.

Das machte mir Sorgen, aber ob er in einem Loch hing, wie ich es kannte oder einfach nur einen normal schlechten Tag hatte, wusste ich nicht einzuschätzen. »Warst du letzte Nacht betrunken?«

Man hätte denken können, er wäre auf seinem Arm eingeschlafen, aber dann murmelte er: »So ungefähr. Tschuldigung, wenn ich blöd war.«

Ich sah ihn lange an, bevor ich mich leise dazu äußerte. »Schräg trifft es wohl eher und ein wenig ungefiltert vielleicht.«

Diesmal kam nur noch ein Brummen von ihm. Oh Mann, er war eingeschlafen.

So saß ich nun an meinem Geburtstagsmorgen da, aß Porridge und überlegte, ob ich ihn besser wecken sollte, damit sein Nacken nicht völlig drauf ging, aber irgendwie brachte ich es nicht über mich. Also beobachtete ich ihn einfach und traute mich kaum, mich zu bewegen. Auch um nicht der Versuchung nachzugehen, seine Haare zurückzustreichen oder den Bluterguss nachzumalen. Was hatte er nur an sich, dass mich so berührte?

Nach einiger Zeit hörte ich die hintere Tür aufgehen. Als ich mich umdrehte, stand Henry schon hinter mir, nahm mich in den Arm und flüsterte: »Alles Gute zum Geburtstag Frechdachs. Ich soll dich von Al abknutschen, bis du um Gnade wimmerst.«

Ich musste lachen und kuschelte mich tiefer in seinen Arm. »Danke, ich vermisse euch.«

Er küsste mich auf die Schläfe. »Jetzt bin ich ja da. Was hast du mit Sher angestellt? Porridge vergiftet?«

Leise erwiderte ich: »Er ist quasi beim Essen eingeschlafen. Ich glaube, er hat sich gestern ganz schön abgeschossen. Er war wirklich schräg drauf.«

Ich konnte fühlen, wie Henry sich veränderte. Sein Körper spannte sich wie eine Feder. Er löste sich steif von mir mit einem Gesichtsausdruck, der mir Gänsehaut bereitete. Interessanterweise nahm er sich direkt Sherlocks Arm, der nach unten hing, untersuchte die Armbeuge und dann die Hand.

Sherlock brummte und hob verschlafen den Kopf.

Henry sah ihn so hart an, dass mir ganz anders wurde und unterzog den anderen Arm derselben Prozedur.

Vielleicht hätte ich besser nichts gesagt. Ich fühlte mich wie ein Verräter, dabei verstand ich nicht mal, was hier vorging.

Sherlock bekam langsam die Augen auf und stammelte verwirrt: »Henry?«

Henry sagte nichts, sondern ging in die Hocke, sah sich auch noch Sherlocks Füße an, die barfuß waren.

Sherlock rieb sich den Schlaf aus den Augen, was unglaublich süß wirkte, wie ein kleiner Junge und nuschelte: »Lass mich in Ruhe, ich hab mir nichts gespritzt. Hat Edward dich aufgestachelt?«

Völlig verwirrt sah ich zu, wie Henry sich vor ihm aufbaute. »Ich hab noch gar nicht mit Edward gesprochen. Sher, guck mich an, los.«

Sherlock riss grimmig die Augen auf und starrte Henry furchterregend an. »Zufrieden? Und jetzt lass mich in Ruhe.« Er sprang auf und der Stuhl flog zur Seite.

Ich zuckte erschrocken zusammen, so hatte ich Sher noch nie gesehen. Er sah so wild und wütend aus, dass es mir automatisch, die Kehle zuschnürte und meine Haut vor Unruhe prickelte.

Henry blieb dort, wo er war, wie ein Fels in der Brandung. »Sher, hast du ...?«

Weiter kam er nicht. Sherlock stieß ihn von sich weg und schrie. »Verpiss dich du penetrantes Arschloch. Ernsthaft, bevor ich mich vergesse. Das ist allein meine Angelegenheit.«

Henry blieb völlig ruhig und gefestigt. »Victoria, verlass die Küche.«

Ein Ruck ging durch Sherlock und er sah an Henry vorbei. Der Ausdruck in seinen Augen war so qualvoll, dass ich ihn am liebsten wieder sofort in den Arm genommen hätte. Mit beiden Händen fuhr er sich übers Gesicht und durch die Haare. »Tut mir leid, alles ok. Ich hatte vergessen, dass sie da ist.«

Interessant, also durfte man nur schreien, wenn ich nicht im Raum war? Ich schob mich an Henry vorbei, der mit seinem Arm versuchte mich zurückzuhalten und fragte empört. »Also sprichst du immer so mit ihm, wenn keiner da ist?«

Es war Henry, der antwortete: »Nein, natürlich nicht. Er hatte nur keine gute Nacht. Du hast deine Dämonen, er hat seine. Leider gefällt mir nicht wie er manchmal mit ihnen umgeht.«

Sherlock hatte sich in Bewegung gesetzt und machte nun Kaffee. Er tat mir furchtbar leid, ich konnte seine Verzweiflung geradezu spüren. Und mit Verzweiflung kannte ich mich aus. »Mir gefällt auch nicht, wie ich mit meinen umgehe.«

Henry drückte meinen Arm und seufzte.

Ich schnappte mir meine Tasse und ging zur Kaffeemaschine.

Sher sah mich kurz von der Seite an, unfähig mir richtig in die Augen zu sehen. Er schämte sich.

»Du weißt ja, ein Kaffee reicht mir nicht.« Keine Regung in seinem Gesicht. Ich startete meinen Kaffee und er trank vorsichtig einen Schluck aus seiner Tasse und verzog das Gesicht. Ich musste lachen, so putzig war er. »Gott, warum trinkst du das überhaupt, wenn du es nicht magst?«

Verwundert sah er mich an. »Ich mag Kaffee.«

»Warum siehst du dann aus, als hättest du Dreckwasser im Mund?« Er sah mich auf diese spezielle intensive Art an, selbst jetzt, wo seine Augen traurig und stumpf wirkten, blieb mein Herz stehen und ich verlor mich völlig in diesem Blick.

Wieder war es Henry, der antwortete und das ziemlich sarkastisch. »Wahrscheinlich schmeckt er heute nichts richtig. Wenn man seinen Körper vergiftet, muss man mit den Konsequenzen leben.«

Sherlock und ich unterhielten uns stumm, er machte ein. »So ist es.« Gesicht und ich verzog meins in Richtung. »Egal.« Darüber lächelte er schmal und in mir ging die Sonne auf. Aber kurz darauf wurde er bereits wieder furchtbar ernst.

Die Tür ging auf und Edward kam rein, sah zu Henry dann zu Sherlock und mir. Mir fiel auf, das Sher lieber aus dem Fenster starrte, als noch auf etwas zu reagieren. Die ganze Situation war so furchtbar angespannt und das war mir schlichtweg zu hoch. Er war doch nur betrunken und dass er keinen Bock hatte bevormundet zu werden, konnte ich bestens verstehen.

Edward und Henry tuschelten miteinander ernst und wichtig.

Ich dagegen setzte mich betont fröhlich neben Sher auf die Arbeitsfläche und sah ihn von schräg unten an. Ich wollte ihn unbedingt ablenken und aus diesem Loch holen. »Willst du ein Geheimnis hören?«

Mit hochgezogener Augenbraue sah er mich an und schmunzelte. »Ich kann dir nicht versprechen, dass ich es morgen noch weiß, mein Kopf bringt mich um.«

Meine Finger zuckten, weil sie seine Schläfen streicheln wollten. Verschwörerisch flüsterte ich: »Das ist ja perfekt!«

Abwartend sah er mich an.

Mit meinem Finger deutete ich ihm an näher zu kommen. Dann flüstere ich geheimnisvoll: »Weißt du, welcher Tag heute ist?« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde mir heute ladylike einen Whisky bestellen und …« Ich machte eine dramatische Pause. »… feiern.« Meine Mundwinkel zogen sich immer weiter nach oben. Mal sehen, ob er den Zusammenhang begriff, denn er wusste bestimmt, dass das Testament genau zu meinem Geburtstag in Kraft trat. »Denn ich kann allein wohnen und alles kaufen, was ich will und meine Mutter kann mir absolut nichts mehr kaputt machen. Ich bin frei!«

Verdutzt stand er vor mir, dann stellte er die Tasse ab, zögerte kurz, nahm mich dann aber in den Arm und flüsterte mir ins Ohr: »Spero te diem natalem felicissimum agaturam esse.« (Ich hoffe, dass du einen sehr glücklichen Geburtstag feiern wirst.) Löste sich von mir und sah mich herausfordernd an.

Kurz war ich wie paralysiert wegen des Gefühls, in seinem Arm zu liegen. Ein Gefühl von zu Hause, wie ich es noch nie gespürt hatte. Aufgewühlt bemerkte ich, dass er auf eine Antwort wartete. Sicher dachte er, ich müsste nur überlegen, um zu übersetzen. Zumindest war mir das lieber so, als wenn er bemerken würde, wie sehr ich zurück in seinen Arm wollte. Ich räusperte mich und schaffte es kaum, ihm in die Augen zu sehen. Grüne wundervolle ... ähm ... »Vielen Dank, das hoffe ich auch und das werde ich.«

Er lächelte völlig gelöst. »Du hast es verstanden?«

Nickend ging ich zu Edward und Henry, die uns argwöhnisch beobachtet hatten. »Pff, Latein für Anfänger.«

Sherlock lachte aufrichtig.

Seltsam erstaunt musterte mich Henry, runzelte die Stirn und konzentrierte sich dann auf Sherlock. »Denkst du, wir können unsere Verabredung wahrnehmen oder soll ich absagen?«

Direkt verwandelte sich Sher wieder in den arroganten, unnahbaren Lord. »Natürlich Henry, ich geh nur eben duschen und dann können wir los.« Und schon rauschte er stolz aus der Küche.

Fragend sahen mich die beiden an. Allerdings hatte ich auch einiges zu fragen: »Erklärt ihr mir, warum ihr so sauer auf ihn seid?«

Unisono kam: »Nein!«

Henry sah mich liebevoll an. »Das ist etwas, was er dir sagen muss. Du würdest schließlich auch nicht wollen, dass ich deine Geschichte erzähle, oder?«

Nein das wollte ich sicher nicht. »Ok, dann lasst ihn jetzt in Ruhe, er ist gestraft genug. Er zerfleischt sich ja regelrecht.«

Edward blickte nachdenklich zu mir rüber. »Du hast recht. Was habt ihr geredet?«

Böse lächelte ich übertrieben falsch. »Das kann nur er dir erzählen.« Dann gab ich teilweise nach. »Ich hab ihm gesagt, wofür die Torte heute gedacht ist.«

Henry stieß mich an. »Dann sag´s ihm auch.«

»Tu du es, du platzt ja fast.«

Daraufhin zog er mich fest in die Arme und johlte. »Mein Baby wird erwachsen«, und fing an zu singen. »Happy Birthday to you ...«

Edward stand wie vom Donner gerührt neben mir, dann fing er an zu grinsen. »Wir werden uns so was von besaufen heute Abend.«

Ich sah Henry an und lachte. »Als hätte Gott mir Al geklont.«

Henry schnaubte. »Was denkst du, warum Sher und ich uns so gut verstehen? Wir teilen die gleiche Leidensgeschichte kleiner Bruder

Edward schob ihn zur Seite. »Jetzt lass mich mal an diese entzückende Frau ran.« Schlang die Arme um mich und drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange. »Alles Gute zum Geburtstag, Süße. Ich wünschte, ich hätte es gewusst, dann hätte ich dir ein Geschenk gekauft.«

»Warum nichts gebastelt? Da steckt viel mehr Liebe drin!«

»Was sollen wir machen an diesem wunderschönen Morgen?«

Es regnete in Strömen und ich sah ihn zweifelnd an. »Ähm, weiß nicht. Schlag du was vor.«

In dem Moment kam Sherlock zurück, perfekt gestylt mit schwarzer Anzughose, weißem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und nach hinten gestylten Haaren. Er sah so unverschämt gut aus, der erfolgreiche Mann von Welt, dass ich rot wurde bei den heißen Gedanken, die das in mir auslöste. Er hatte seine kalte Maske aufgesetzt, sah alle kurz an und widmete sich dann Henry. »Können wir los?«

Henry wandte sich an mich. »Wir sind rechtzeitig zum Tee wieder hier, da alle Bescheid wissen, kriegst du dann auch deine Geschenke. Tu nichts mit Edward, was ich nicht auch tun würde.« Er zwinkerte mir zu. Da er schwul war, war das natürlich weitläufig auslegbar.

Sherlock rauschte stoisch an uns vorbei nach draußen. Irritiert sah ich ihm nach.

Henry drückte kurz meine Hand. »Denk dir nichts, so ist er halt, bis nachher.«

Jetzt stand ich da, allein mit Edward, der mich erwartungsvoll ansah. »Wo er das so gesagt hat, fällt mir auf, wir sind ja jetzt ganz allein, ohne dass uns jemand stört.« Ich ging einen Schritt auf ihn zu und er sah mich schon frech grinsend an. Sanft strich ich ihm mit der Hand hoch zur Schulter. »Was sagst du? Willst du … mit mir … hochgehen?«

Seine Augen weiteten sich und wurden dunkler. »Baby, was genau hast du mit mir vor?«

Ich spielte mit dem Kragen seines T-Shirts und raunte: »Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du nie wieder jemand anderen wollen.«

Er atmete tief durch und kam mir näher. »Warum bin ich mir sicher, dass du nicht das meinst, was ich gerade denke. Und Süße, das ist ein Porno.«

Kichernd zog ich mir die Lippe zwischen die Zähne. »Zum Battlefront spielen?« Ich schlug ihm mit der flachen Hand auf die Brust.

Er machte ein tiefes kehliges Geräusch und schnappte mich an der Hüfte. »Das wirst du bereuen, ich mach dich fertig.«

Lachend drehte ich mich aus seinem Griff und sprintete die Treppe nach oben.

 

Edward verbrachte mit mir den ganzen Vormittag. Wir spielten Battlefront und sahen uns einen Marvel Avengers Film an. Gegen Mittag bekam er einen Anruf und musste zu einem Patienten und ich beschloss daraufhin, schon mal zu duschen und ein wenig zu lesen.

Anscheinend war ich über meinem Buch eingeschlafen, was mir selten passierte, denn ich wurde von Henry vorsichtig geweckt. Er strich mir dir die Haare aus dem Gesicht und sprach mich an. »Vi? Magst du lieber noch schlafen? Oder Torte essen?«

Ich blinzelte mir den Traumsand aus den Augen. »Wie spät ist es?«

»Fast fünf Uhr.«

Mühsam rappelte ich mich hoch. »Gott, ich bin richtig tief eingeschlafen.«

Er setzte sich neben mich aufs Bett. »Schläfst du wieder schlechter?«

Ich nickte nur.

»Albträume?«

»Leider. Hier ist zu viel Fremdes, zu viele Schatten, aber ich komm klar, Henry. Ehrlich.«

Kurz, aber fest nahm er mich in den Arm. »Ich weiß, schließlich bist du mein Mädchen. Sind die Jungs nett zu dir?«

Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte. »Sicher.«

Fragend musterte er mich. »Aber?«

Ich seufzte, dazu verdammt, zu ehrlich zu sein zu den Menschen, die ich liebte. »Edward ist sogar mehr als nett. Er ist eine ganz schöne Flirtmaschine.«

Henry lachte.

»Aber ich glaube, er hat einfach Spaß dran und ich ja auch. Sherlock ist … « nachdenklich sah ich auf meine Finger. Es war fast Wahnsinn, was ich ihm in so kurzer Zeit alles erzählt hatte, und die Geschichte von heute Morgen verwirrte mich immer noch. Ich wusste nicht, was das Ganze zu bedeuten hatte.

Henry sah mich skeptisch an. »Was ist mit Sherlock? Vi er ist kein Mann, in den du dich verlieben solltest.«

Dafür war es ja dann zu spät. Ernsthaft? War es schon so weit? Nein. Unsinn! Er reizte mich und ich fühlte mich bei ihm wohl, aber mehr nicht. Aber dazu würde ich besser nichts sagen. »Eigentlich wollte ich sagen. Er ist verwirrend. Manchmal so locker und lustig und dann arrogant, abweisend, kalt. Ich könnte nicht sagen, ob er mich leiden kann. Was wirklich irritierend ist, denn er kriegt alles aus mir raus. Er kennt schon die Hälfte meiner Geheimnisse. Das ist, zum verrückt werden. Ständig macht er mich wütend oder ich will ihm erklären, dass ich Gründe habe, für das, was ich tue und nicht einfach pubertiere. Selbst jetzt werde ich schon wütend.« Ich lachte traurig.

»Das hört sich ganz eindeutig nach Sherlock an. Wenn er einen so anguckt, als wäre man der einzige Mensch auf der Welt, der in diesem Moment für ihn zählt, sagt man alles. Damit bist du nicht allein.«

Erstaunt sah ich ihn an. »Ja, oder? Und im nächsten Moment denkt man: Ich geh ihm furchtbar auf die Nerven und sollte besser gehen.«

Henry schmunzelte. »Manchmal erinnert er mich an dich.«

Also doch Seelenverwandte? Pff! »An mich? Warum?«

»Na ja, immer unterschwellig traurig, ernst und nachdenklich, aber trotzdem alles veralbern. Er kann sich auch so freuen wie du, wie ein Kind. Und dann natürlich dieser Blick.« Er zeigte auf meine Augen. »Ihr habt beide dieses etwas, als würdet ihr einen wirklich sehen und verstehen wollen, nicht nur die Oberfläche, sondern die Wahrheit dahinter.«

»Ist das gut oder schlecht?«

Er lächelte mich liebevoll an. »Es ist das beste, Vi. Du bist vielleicht mal sauer oder wütend, aber du verurteilst einen nicht, ohne die Fakten zu kennen. Du lässt die Menschen das sein, was sie sind, und gibst ihnen das Gefühl, so für dich perfekt zu sein. Natürlich nur die Menschen, die du an dich ranlässt.«

Resigniert schaute ich aus dem Fenster. »Was nicht besonders viele sind.«

»Nein, aber das muss es doch auch nicht.« Kurz herrschte Stille zwischen uns. »Und weißt du Vi, was noch besser ist und das ist der Grund, warum dich viele Frauen hassen und Männer Angst vor dir haben.«

Erschrocken sah ich ihn an.

»Du traust dich, du selbst zu sein. Manchmal schämst du dich oder hast Angst, aber du hältst an deinen Prinzipien fest und stehst zu dem, was oder wenn du magst und was nicht.«

Ich schüttelte verlegen den Kopf. »Henry, ich lüg doch ständig allen was vor.«

»Aber nur denen, die dich auch anlügen. Und du spielst einfach gerne, das ist aber ein Teil von dir. Und jetzt komm los. Ich will Torte.«

Er stand auf und zog mich mit. »Henry, ich hab nur eine Jogginghose an.« Mein Protest war sinnlos. Gnadenlos schleifte er mich hinter sich her.

»Das ist die Rache für die Kussgeschichte.« Ok, das hatte ich wohl verdient.

Vor meiner Tür trafen wir auf Sherlock und ich hob meinen anderen Arm in seine Richtung und rief verzweifelt. »Hilf mir, bevor es zu spät ist.«

Lachend kam er uns hinterher in die Küche.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752129342
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Lord Seelenverwandte Love triangle Leidenschaft London soulmates Romantic suspense founded family secret baby New Adult Erotik Erotischer Liebesroman Liebesroman

Autor

  • Gabby Zrenner (Autor:in)

Gabby Zrenner liest und schreibt, seit sie Buchstaben erkennen kann. Auch wenn sie lange kaum Zeit hatte, ihre eigenen Geschichten geordnet auf Papier zu bringen, so kritzelte sie dennoch ständig Ideen, einzelne Kapitel und Charaktere auf jeden Zettel, bis der Zeitpunkt gekommen war, an dem endlich daraus ein Buch entstehen konnte. So vergeht auch heute kein Tag, an dem sie nicht schreibt und / oder liest, um ihre tausend Geschichten im Kopf für andere lebendig werden zu lassen.