Obwohl es Florians Vorschlag gewesen war, zu ihnen ins BKA zu kommen, rutschte er unruhig auf dem Besucherstuhl herum. Peter saß hinter seinem Schreibtisch, Natasha hatte einen der Besucherstühle seitlich von seinem Tisch hingestellt und saß auf diese Weise jetzt schräg vor dem jungen Mann.
»Möchtest du was trinken? Ist es okay, wenn ich dich duze?«, übernahm sie die Gesprächsführung.
»Nein danke. Ja, Sie können mich duzen. Hat sich bei der Suche nach Mia etwas ergeben? Ist das der Grund, weshalb Sie mit mir sprechen möchten?«
»Gestern war der Jahrestag ihres Verschwindens.«
»Ich weiß.« Er senkte den Kopf. »Manchmal, wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich sie. Ich renne hinter ihr her, nur um festzustellen, dass ich einem wildfremden Mädchen hinterhergerannt bin.«
»Du vermisst sie nicht nur, du fühlst dich schuldig«, stellte Natasha fest. »Warum?«
Er zuckte die Achseln. »Wenn wir uns in der Schule nicht gestritten hätten, wenn ich für sie dagewesen wäre …«
»Worüber habt ihr gestritten?«
»Das habe ich damals der Polizei schon alles gesagt.«
»Würdest du es mir noch mal erzählen?«
Florian seufzte. »Sie fühlte sich als fünftes Rad am Wagen, seit ihre Mutter einen Freund hatte. Es war ungewohnt für sie, obwohl er sehr nett war. Am meisten ärgerte es sie, dass ausgerechnet er sie darin bestärkte, Schauspielerin zu werden. Als würde er sie besser verstehen als ihre Mutter. Ich sagte ihr, dass das Quatsch ist. Dass Paula einfach wollte, dass sie erst mal ihr Abitur macht und einen Abschluss in der Hand hat. Dass es sehr schwer ist, sich als Schauspielerin zu etablieren. Paula hatte auch Angst, dass sie an dem harten Job zerbricht.«
»Du meinst, weil man da zig Castings und Absagen ertragen muss, immer in der Hoffnung, eine Rolle zu bekommen? Immer in der Konkurrenz mit anderen talentierten Schauspielerinnen und Schauspielern?«
Etwas flackerte in seinen Augen auf. »Genau. Man weiß nie, was man verdient, wo man ein Engagement bekommt, und wenn man eines hat, für wie lange. Ist es so schwer zu verstehen, dass Paula wollte, dass sie erst studiert? Mia war so gut in der Schule.«
»Paula hat nie studiert.«
»Nein, weil sie keine Möglichkeit dazu hatte. Sie wurde schwanger, und ihr Vater hielt es nicht für sinnvoll, Geld in ein Studium zu stecken.«
»Das hat Paula dir erzählt?«
»Nein, Mia. Es war Paulas Traum, zu studieren, aber Mias nicht.« Florian knetete nervös die Hände, aber nicht nur das. Er wich dem direkten Augenkontakt aus.
»Und weil Mia das Gefühl hatte, du würdest auf der Seite ihrer Mutter und nicht auf ihrer stehen, war sie wütend auf dich.«
»Ja.«
»War es denn so?«
»Nein, natürlich nicht. Ich wusste, wie viel ihr die Schauspielerei bedeutet, aber ich habe miterlebt, dass es in der Branche keine echten Freunde gibt, nur Konkurrenz.«
»Du meinst, du hast es bei ihr miterlebt oder bei dir?«
»Bei Mia. Sie hatte mit fünfzehn eine allerbeste Freundin. Jasmin. Beide spielten in der Theatergruppe unserer Schule mit. Dort lernten sie sich auch kennen. Jasmin hat sich direkt an Mia drangehängt. Sie wusste, dass sie die Beste war, und wollte davon profitieren. Beim Casting für die Rolle der Alice in ›Alice im Wunderland‹ schwatze Jasmin Mia das Versprechen ab, sich nicht zu bewerben. Dabei war sie viel talentierter als Jasmin und konnte besser tanzen. Mia hielt Jasmin für ihre erste richtige beste Freundin. Ich meine, Mia war immer beliebt, das schon, aber sie hielt sich von den anderen Mädchen eher fern. Als sie mir erzählte, was Jasmin von ihr wollte, hab ich sie rundheraus gefragt, ob sie spinnt. Es wäre so ein Quatsch gewesen. Sie sollte sich ruhig bewerben, und am Ende würde sowieso die Regisseurin entscheiden, welche von den Bewerberinnen die Rolle der Alice bekommt, und wenn Jasmin wirklich ihre Freundin wäre, würde sie das auch verstehen.«
»Du hast ihr geraten, das Versprechen zu brechen, das sie Jasmin gegeben hat?«, hakte Peter ein.
Florian verschränkte die Arme vor der Brust und schob trotzig das Kinn nach vorn. »Ja. Und? Ich hatte recht. Jasmin hat Gift und Galle gespuckt, als Mia die Rolle bekam. Ist das die Reaktion einer echten Freundin? Nein, denn die hätte erst gar nicht von Mia gefordert, sich die Rolle entgehen zu lassen. Jasmin wusste genau, dass sie gegen Mia nicht die Spur einer Chance hatte.«
Natasha warf ihm einen mahnenden Blick zu, und Peter schluckte seine Erwiderung hinunter. Dieser Junge war auf die Freundschaft zwischen Mia und Jasmin eifersüchtig gewesen. Mia hatte viele Freundinnen gehabt, nur keine beste Freundin. Diesen Platz hatte immer Florian als bester Freund eingenommen, das wusste er von seiner Schwester, die Mias Patentante war.
»Wie hat sich das Verhältnis der beiden danach entwickelt?«
»Jasmin machte ihr das Leben zur Hölle, wo immer sie konnte. Etwa ein halbes Jahr vor Mias Verschwinden gab es einen heftigen Streit in der Aula, bei dem sich Jasmin auf Mia stürzte. Ein Lehrer trennte die beiden, und Jasmin bekam eine Verwarnung vom Rektor.«
»Worum ging es dabei?«
»Mia hatte die Rolle als Belle in ›Die Schöne und das Biest‹ erhalten. Jasmin warf Mia vor, sie hätte den Regisseur bezirzt, damit sie die Rolle bekommt, weil eigentlich sie die bessere Gesangsstimme hätte.«
»Und stimmt das?«
»Nein!« Florian blitzte sie empört an. »Okay, vielleicht wäre Jasmin im Gesang besser gewesen, aber alles andere? Mia war die beste Besetzung. Schluss, aus, Ende. Es gibt sogar einen Artikel in der Tageszeitung, wo sie als Deutschlands talentierteste Nachwuchsschauspielerin bezeichnet wird.«
»Das war die Schulaufführung, zu der sie Karlheinz, den Freund von Paula, eingeladen hat«, rekapitulierte Natasha die Zeitachse des Falls. »Ist Jasmin nach dem Vorfall in der Aula noch mal handgreiflich gegenüber Mia geworden?«
Florian zuckte mit den Achseln. »Reicht das nicht?«
»Jasmin stand im Fokus der Ermittlungen der Polizei.«
»Weil sie Mia gedroht hat, sie würde sich eines Tages an ihr rächen, wenn sie es am wenigsten erwartet.«
Laut den Berichten hatte sich Jasmin mit ihrer Abneigung gegen Mia nicht zurückgehalten, doch ihr Alibi war hieb- und stichfest. Nicht nur ihr Freund bestätigte, dass sie die ganze Zeit mit ihm bei einer Party gewesen war, sondern auch die anderen Gäste untermauerten die Aussage. Später habe Jasmin bei ihrem Freund übernachtet.
»Ging es bei dem Streit, den du und Mia an dem Freitag hattet, nur darum, dass du zu Paula gehalten hättest, oder noch um was anderes?«
Florian rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Mehr brauchte Natasha nicht.
»Mit wem wollte sich Mia am Freitagabend treffen?«, fragte sie und ließ ihre Stimme besonders samtweich klingen.
Mit einem Ruck hob er den Kopf und starrte sie an. »Wie kommen Sie darauf, dass sie sich mit jemandem treffen wollte?«
»Es war nur ein Gedanke«, log sie ihn schamlos an. Schließlich wusste sie es aus dem Tagebuch. »Also wollte sie sich mit jemandem treffen. Mit wem, Florian?«
Er schlug die Hände vors Gesicht. »Mit ihrem Vater.«
»Ihrem Vater?«, wiederholte Peter verblüfft. »Woher wusste sie von ihrem Vater?«
»Keine Ahnung. Ehrlich. Ich dachte immer, dass ihr Vater tot ist, weil mir Mia das als Kind mal irgendwann erzählt hat. Ich fragte sie auch, woher sie wüsste, dass er ihr Vater ist. Sie sagte, dass sie einen Vaterschaftstest gemacht hätte. Aber sie hat mir hoch und heilig versprochen, dass sie das Treffen absagen und ein neues vereinbaren würde, damit ich sie begleiten kann.«
»Hat sie dir gesagt, wer es ist?«, wollte Natasha wissen.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie sagte, sie wäre selber noch unsicher, was sie davon halten soll, und dass sie Angst davor hätte, ihm zu begegnen. Darum wäre es sicherer für sie beide, wenn erst mal niemand wüsste, wer es ist.«
»Warum hast du das bei deinem Verhör mit der Polizei verschwiegen?«, fragte Peter mit unterdrücktem Ärger.
»Weil ich ihr versprochen hatte, dass ich es niemandem erzähle. Und weil sie mir versprochen hat, sich doch nicht mit ihm zu treffen. Mia hätte ein Versprechen mir gegenüber niemals gebrochen.«
»Ach so, und was ist mit dem Versprechen gegenüber Jasmin?«, brauste Peter auf.
Natasha versuchte, ihn mit Blicken dazu zu bekommen, ruhig zu bleiben und ihr die Gesprächsführung zu überlassen, doch er ignorierte sie.
»Das war etwas vollkommen anderes. Wir sind echte Freunde.«
Peter starrte den Jungen fassungslos an. »Ist dir klar, dass du mit deinem Schweigen einen der wichtigsten Hinweise zu Mias Verschwinden unterschlagen hast? Dass du dich mitschuldig gemacht hast an allem, was ihr passiert ist?«
Der Junge fing an zu heulen. »Das ist nicht wahr. Sie hat sich nicht mit ihm getroffen. Es war Jasmin, aber keiner will mir das glauben. Ob sie ein Alibi hat oder nicht. Das war der Grund, weshalb sie dafür gesorgt hat, dass sie eins hat. Sie konnte jeden um den Finger wickeln. Jemand anders hat die Drecksarbeit für sie erledigt.«
»Du kannst Jasmin wirklich nicht leiden«, übernahm Natasha das Gespräch wieder.
»Ich hasse sie. Sie ist eine echte Bitch und zu allem fähig. Ich habe Mia von Anfang an gesagt, sie soll ihr nicht über den Weg trauen.«
Sie reichte dem Jungen eine Packung Papiertaschentücher. Er nahm sich eins heraus und schniefte. »Was machen Sie jetzt?«
Peter stand auf und nahm sich seine Jacke. »Das, was wir vor einem Jahr hätten tun können, wenn du der Polizei alles erzählt hättest.«
»Verflucht!«, schimpfte Peter und schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad, um gleich darauf zu hupen.
Sie hütete sich, ein Wort zu sagen. Beide Hunde lagen in ihren Transportboxen und hielten den Kopf tief. Ihr Partner strahlte eine Aggressivität aus, die sie bisher lediglich in ihm vermutet, aber nicht erlebt hatte. Sie hatte eine Ahnung, wohin sie fuhren, und überlegte, was sie tun konnte, um seine Aufregung runterzufahren. In der Stimmung würde er das, was sie wollten, nämlich Leute – zum Beispiel Paula – zum Reden zu bringen, jedenfalls nicht erreichen, eher das Gegenteil. Einen Vaterschaftstest bei einer Minderjährigen konnte man in Deutschland nicht ohne die Einwilligung der Mutter durchführen.
Sie setzte zu sprechen an, aber er hob die Hand. »Halt den Mund. Ich will nichts hören.«
Okay. Es reichte. Offensichtlich kam sie mit Verständnis hier nicht weiter. Sie musste ein deutliches Signal setzen, um ihm klarzumachen, dass er den Bogen überspannte.
»Halt an.«
»Den Teufel werde ich«, knurrte er.
Sie löste ihren Gurt und machte sich daran, nach hinten zu klettern. Er packte sie mit einer Hand und trat auf die Bremse. Sie reagierte rasch und hielt sich fest, sonst wäre sie gegen die Windschutzscheibe geflogen.
»Hast du sie noch alle?«, schimpfte sie.
»Ich? Bist du völlig übergeschnappt, dich einfach loszuschnallen und nach hinten zu klettern? Während der Fahrt?«
»Lass mich los.«
Bremsen quietschten. Hinter ihnen ertönte ein Hupkonzert. Mit einem Ruck am Arm wurde sie zurückgerissen und landete auf Peters Schoß.
Wütend stierte er sie an. »Ich hab jetzt echt keine Zeit für eine prä- oder postmenstruelle Gefühlsschwankung.«
»Gefühlsschwankung? Ich, wie? Wer rennt denn wie ein wild gewordener Stier los, fährt wie ein Berserker durch den nachmittäglichen Berufsverkehr und meint, mir sagen zu können, was ich zu tun und zu lassen habe? Wir sind hier verdammt noch mal nicht beim Militär, und mir steht dein ›Ich bin hier der Boss und du mein Untergebener!‹-Gehabe bis hier!« Sie hielt sich die Handkante über die Nase.
Hinter ihnen hupte es weiter. Aus den Fahrzeugen, die an ihnen vorbeifuhren, zeigte man ihnen den Vogel oder den Mittelfinger. Sie konnte ihm ansehen, dass er sie am liebsten gewürgt hätte. Sollte er es mal versuchen. Er hatte sich selbst in die viel gefährlichere Situation gebracht, indem sie auf seinem Schoß saß, ihre Hand bereit zuzupacken, wo es ihm am meisten wehtäte. Sie wartete nur darauf, dass er als Erster etwas tat. Wie lange sie sich anstarrten, wusste sie nicht. Der nächste Autofahrer begnügte sich nicht damit, an ihnen vorbeizufahren. Er hielt neben ihnen an und drehte die Scheibe runter.
»Sucht euch gefälligst einen anderen Platz für euren Autosex! Seht ihr das da?«, brüllte er mit hochrotem Kopf, hielt sein Smartphone in die Luft und machte ein Foto von ihnen. »Das Kennzeichen hab ich auch.« Triumph stand nun neben Wut in seinen Augen. »Erregung öffentlichen Ärgernisses!« Erst dann schoss sein Mittelfinger hoch. »Fuck you!«
»Scheiße!«, fluchte Peter.
Unter ihr wurde etwas hart. Bevor ihr Gehirn es verarbeiten konnte, hatte er sie von seinem Schoß heruntergeschoben.
»Schnall dich an. Sorry. Bitte schnall dich an, und es tut mir leid, dass ich rotgesehen habe. Ich weiß, dass ich manchmal ein Problem damit habe, meine Wut zu kontrollieren.«
Sie konnte ihren Herzschlag in der Halsschlagader laut pochen hören. Seine Entschuldigung und die Einsicht, dass er etwas falsch gemacht hatte, überraschten sie. Schockiert war sie von der erregenden Welle von Lust, die sie kurzfristig nach dem Kommentar des Autofahrers übermannt hatte. Sex in der Öffentlichkeit? Sie atmete tief durch und unterdrückte das Gefühl gewaltsam, schnallte sich an.
Er fuhr los, diesmal gesittet und brav.
»Scheiße, scheiße, scheiße«, murmelte er vor sich hin.
Sie räusperte sich. »Meinst du, er erstattet wirklich Anzeige?«
»Bei so einem Typen? Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Mitternachtsblauer Audi A8, Kennzeichen B-AD-7777, was für ein Arsch.«
Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Du hast dir das Kennzeichen gemerkt?«
»Ich bitte dich, ›Bad‹ und viermal die Sieben? Vermutlich holt er sich noch einen runter, wenn er sich das Bild anschaut.«
Sein Ärger verflog vollkommen, dafür musterte er Natasha jetzt mit anderen Augen. Erstens hatte sie sich in keiner Weise von seiner Wut einschüchtern lassen, sondern war auf Konfrontationskurs gegangen, was bei ihm noch nie jemand gewagt hatte. Außerdem war er sich nicht sicher gewesen, was ihn erwartet hätte, wäre er seinem ersten Impuls gefolgt und hätte sie gewürgt – natürlich nur kurz. Aber dieser Blick aus den geschliffenen Smaragden, denen ihre Augen glichen, hatte eine stumme Herausforderung und eine wilde Entschlossenheit enthalten, die besagten, dass er es ruhig wagen könne und schon sehen würde, was er davon hätte. Das hatte seinem Wutausbruch einen kompletten Dämpfer verpasst. Besser als eine eiskalte Dusche, kam es ihm in den Sinn. Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass sie auf seinem Schoß gesessen hatte …
Und dammit, sie war tatsächlich trotz allem so schlau gewesen, sich das Kennzeichen des Fahrzeugs zu merken, wohingegen er sein Blut erst mal wieder ins Gehirn hatte zurückbekommen müssen. Sie hatte aber auch einen echt knackigen, wohlgeformten Ar… Vorsicht, mein Lieber, das schlag dir mal ganz schnell wieder aus dem Kopf. Zum Glück war sie lesbisch, aber das bewahrte ihn auch nicht davor, gegen eine weitere Erektion kämpfen zu müssen. Er sah, wie sie ihr Smartphone zückte.
»Was hast du vor?«
Sie hob die Hand, während sie ihr Handy ans Ohr führte, ein breites, strahlendes Lächeln auf dem Gesicht.
»Hey Marla, ich bin’s, Natasha.«
Sie lachte leise und wohlklingend auf die Antwort von der anderen Seite der Verbindung. Es war unglaublich, wie diese Frau von einer Sekunde auf die andere einen Schalter in ihrem Kopf umlegen konnte.
»Würdest du mir einen kleinen Gefallen tun? – So in etwa. – Das Kennzeichen ist Berlin AD und viermal die Sieben. – Genau, das ging mir auch durch den Kopf, und rate mal, was für ein Auto.« Wieder ein Lachen. »Ich hätte auch nichts anderes von dir erwartet. – Nur ob da was kommt, mehr nicht. – Klar, schick es mir. – Ach ja, und sollte etwas von ihm kommen … – Genau, würdest du das machen? – Du bist ein echter Schatz. Hast was gut bei mir. Danke.«
»Eine Ex?«
Er bekam ein schelmisches Lächeln zugeworfen, das zusammen mit ihren erhitzten Wangen einen Anblick zum Anbeißen bot.
»Sozusagen. Ich habe ihr mehr als einmal geholfen, einen Fall zu lösen. Deshalb sitzt sie jetzt in der Abteilung, in der sie sitzt. Allerdings hat sie die besten Kontakte, die du dir vorstellen kannst.«
Was kein Wunder war. Marla war das weibliche Gegenstück zu Casanova. In ihrem früheren Leben war sie bestimmt einmal eine mächtige Kurtisane gewesen, die die Weltpolitik in ihrem Bett beeinflusste.
»Scheint, als wärst du genauso wie ich in der Lage, ein gutes Verhältnis mit deinen Exfreundinnen zu pflegen. Siehst du, so unterschiedlich sind wir beide gar nicht.«
Ihr Lächeln verschwand. »Ich nehme an, wir fahren zu Paula?«
»Ja, aber nicht zu ihr nach Hause.«
»Du solltest aber mir das Reden überlassen. Du mahlst schon wieder mit deinem Kiefer, das ist schlecht für die Zähne und keine gute Ausgangslage. Jedenfalls nicht, um jemanden dazu zu bringen, eine Information preiszugeben, die herauszurücken er sich bisher geweigert hat. Und das trotz aller Sorge um ihre Tochter, die ihr Ein und Alles ist.«
Er schlug erneut mit der Hand auf das Lenkrad. »Ich versteh das einfach nicht. Wo liegt das Problem?«
»Genau das ist dein Problem. Ich kann es verstehen.«
Er warf ihr einen raschen Blick zu.
»Überlass einfach mir das Reden. Ich verstehe nicht, weshalb die ermittelnden Beamten nicht darauf bestanden haben, dass sie die Identität des Vaters preisgibt. Ich meine, Mias Mutter hat zum ersten Mal einen festen Freund, da ist es doch klar, dass Mia wissen will, wer ihr biologischer Vater ist.«
»Ganz offensichtlich schlossen sich die Ermittlungsbeamten Paulas Meinung an, dass der Vater keine Rolle spielte. Vermutlich weil Paula ihnen plausibel dargestellt hatte, dass Mia ihn für tot hielt. Es gab einfach keinen Grund, den Faden weiterzuverfolgen. Nur der Hinweis von Florian hätte einen geliefert. Ich begreife nicht, dass er es für sich behalten hat. Ein Versprechen halten zu wollen, was für ein Quatsch in so einer Situation.«
»Er war davon überzeugt, dass sie sich an ihres halten würde, und er ist sicher, dass Jasmin hinter ihrem Verschwinden steckt. Seine Idee, dass sie womöglich jemand anderen ins Boot geholt hat, um ihre Rache auszuführen, ist durchaus plausibel.«
»Der Junge war eifersüchtig. Er hat Mia dazu gebracht, ihr Versprechen gegenüber Jasmin zu brechen.«
»Er hatte aber recht mit dem, was er über eine echte Freundin sagte. Selbst wenn man eifersüchtig ist, weil der andere besser als man selbst ist, verlangt man von der Freundin nicht, dass sie ihre Chance nicht ergreift.«
In ihrer Stimme lag ein trauriger, dumpfer Ton, sodass er sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Überhaupt war ihre Stimme eine echte Waffe, egal ob sie diesen samtigen, weichen Ton annahm, den eiskalt beherrschten, den scharfen Befehlston oder diesen traurig warmen. Er fragte sich, wie ihre Stimme beim Sex … Hastig schob er den Gedanken beiseite.
Sie hielten vor einem dieser modernen Bürobauten mit Tiefgarage, die in Berlin förmlich überall aus dem Boden schossen.
Peter ließ das Fenster hinunter.
Natasha hielt seinen Arm fest. »Meinst du nicht, es wäre besser, wenn wir uns bei ihr zu Hause mit Paula treffen?«
»Oh nein, ich werde keine Sekunde zu viel verstreichen lassen.«
Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Kriminalhauptkommissare Abel und Kehlmann. Wir müssen mit Frau Paula Borowski sprechen.«
Das Gitter, das den Eingang zur Tiefgarage versperrte, wurde hochgefahren. Sie parkten, stiegen aus und nahmen die Hunde mit. Auf deren Brustgeschirren stand in reflektierenden Buchstaben »Polizei«.
Akiros Humpeln hatte sich verstärkt.
»Hier, nimm du Smart.« Pit reichte ihr die Leine.
»Was hast du vor?«
Kurzerhand umschlang Peter Akiros Hinterhand und Brustkorb und hob ihn hoch. Ohne zu murren, ließ der Hund es sich gefallen.
»Es war ein anstrengender Tag für ihn. Hol den Aufzug.«
»Welches Stockwerk?«
»Wir müssen erst zur Anmeldung, dort holt uns Paula ab.«
»Woher kennst du Paula überhaupt so gut?«
»Paula ist die beste Freundin von Yvonne, meiner ältesten Schwester, und die ist auch Mias Patentante. Sie bat mich um Hilfe, doch wir waren die letzten Monate fast permanent im Einsatz. Außerdem fiel es in die Zuständigkeit des Landeskriminalamts. Scheiße, ich hätte Urlaub beantragen und mich selbst um den Fall kümmern müssen.«
Die Fahrstuhltür ging auf und sie betraten einen in Grau- und Weißtönen gehaltenen Empfangsbereich. Peter setzte Akiro ab. Durch die hohen Fenster fiel reichlich Licht in den Raum. Der ganze Bereich war offen gehalten, bot gemütliche Sitzgelegenheiten und eine Theke mit Barhockern, an der zwei Leute saßen und an ihren Laptops tippten. Der Empfang selbst war in einem Rundbogen gestaltet, der mit einer Schwingtür wie bei einem Westernsaloon zur Wand hin endete. Hinten an der Wand waren das Logo und der Firmenname mit dezenter Beleuchtung angebracht. Eine Frau in einer eleganten schokoladenbraunen Kombination mit blondem Pagenkopf lächelte ihnen freundlich zu, doch bevor sie den Empfang erreichten, öffnete sich die Tür des Fahrstuhls direkt neben dem, aus dem sie ausgestiegen waren, und Paula trat heraus.
Natasha musste blinzeln, um diese Frau mit der Paula von gestern in Einklang zu bringen. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit einem Stiftrock und hochhackige Schuhe und war dezent geschminkt. Ihre Haare hatte sie kunstvoll hochgesteckt, was die scharfen Linien in ihrem Gesicht hervorhob. Allerdings wirkte sie diesmal nicht verhärmt, sondern streng und kompetent. Die Blässe unter ihrem Make-up schimmerte dennoch hervor und ihre Pupillen wirkten unnatürlich groß. Neugierig beobachtete die Empfangsdame die Szene.
»Gibt es eine Spur?«
»Ja. Können wir uns irgendwo mit dir zurückziehen? Ich würde es ungern in der Empfangshalle besprechen.« Peter sagte es in erstaunlich sanftem Ton nach seinem Wutanfall im Auto.
Paula schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh mein Gott, sie ist tot.«
»Paula.« Natasha legte ihr den Arm um die Schulter. »Wir haben neue Erkenntnisse, die ein anderes Licht auf das werfen, was vor einem Jahr geschehen ist. Damit wir dieser Spur folgen können, brauchen wir Ihre Unterstützung.«
»Und das hatte keine Zeit bis heute Abend?« Paula sah Peter vorwurfsvoll an.
»Bitte, Paula, lassen Sie uns ein ruhiges Plätzchen suchen«, kam Natasha ihm zuvor.
»Lyon ist frei, Paula«, mischte sich die Empfangsdame ein. »Frau Ackermann ist es sicher lieber, wenn die Hunde nicht in die obere Etage kommen.«
»Danke, Elena, das wäre in der Tat ungünstig mit ihrer Allergie. Kannst du ihr kurz eine Nachricht schicken, dass Sie mich im Besprechungszimmer erreichen kann, wenn sie mich braucht, und meine Gespräche auf dich umleiten?«
»Selbstverständlich.«
Paula ging voraus, und Natasha kam nicht umhin, ihr neidvoll zuzusehen, wie gekonnt und anders sie sich in den Schuhen und dem Rock bewegte. Als wäre sie ein Topmodel auf dem Laufsteg. Dazu passte auch die Hungerfigur.
Akiro sah bettelnd zu Peter hoch und winselte leise.
»Glaub ja nicht, dass das jetzt zur Gewohnheit wird«, brummte er, hob dann aber den knapp 36 Kilogramm schweren Hund auf seine Arme, während Natasha Smart an der Leine führte.
»Was ist mit ihm?«, wollte Paula wissen, als Peter den Hund im Besprechungszimmer absetzte.
»Er ist im Dienst verletzt worden und noch nicht vollständig wiederhergestellt«, antwortete Natasha.
»Trägt er deshalb einen Maulkorb?«
»Das ist nur eine Pro-forma-Sicherheitsmaßnahme«, wiegelte sie ab.
Sie setzten sich am Besprechungstisch über Eck, Paula gegenüber von Natasha und Peter vor Kopf.
»Wir hatten ein Gespräch mit Florian, und er erzählte uns, dass sich Mia an dem besagten Freitagabend ursprünglich mit ihrem Vater treffen wollte.«
»Unmöglich!«
»Warum ist das unmöglich, Paula?«, hakte Natasha sanft nach.
»Weil es unmöglich ist.«
»Wussten Sie davon?«
»Nein, und es wäre auch gar keine Option gewesen.«
»Paula, ich möchte Ihnen jetzt gern ein paar Fakten darstellen. In unserem Land gibt es Menschenhandel. Wir verschließen gern unsere Augen und Ohren davor, dabei ist dieses Verbrechen eines der verabscheuungswürdigsten überhaupt. Die geschätzte Anzahl der Delikte schwankt stark. Einer der Gründe ist die Problematik, dass die Opfer sich weigern, gegen die Verbrecher auszusagen. Prostitution ist in Deutschland ein Beruf, der besteuert wird. Das erschwert den Frauen zusätzlich den Weg zur Polizei.«
»Ich verstehe nicht, was das mit Mia zu tun hat.«
»Deutsche Mädchen stellen derzeit nach rumänischen Mädchen europaweit die zweitgrößte Gruppe von Opfern im Menschenhandel dar. Das Internet ist inzwischen eines der wichtigsten Medien, mit denen die Täter Kontakt zu potenziellen Opfern aufnehmen und sie unter der Vorspiegelung falscher Versprechen dazu bringen, auf ihre Angebote einzugehen. Soziale Profile geben den Tätern Informationen darüber, wovon die Mädchen träumen, und das nutzen sie gezielt aus. Mia ist ein hübsches, süßes Mädchen mit einer sehr weiblichen Figur. Was, wenn jemand ihre emotionale Situation ausgenutzt hat? Paula, haben Sie Ihr Einverständnis zu einem Vaterschaftstest gegeben?«
»Natürlich nicht. Wieso auch? Ich habe Mia gesagt, dass ihr Vater tot ist.«
»Aber er lebt.«
Paula schwieg und wich ihrem Blick aus.
»Paula, was, wenn ein Mann Mia glaubhaft vorspielte, dass er ihr Vater ist? Wäre sie darauf eingegangen?«
»Ich weiß es nicht«, wisperte Paula. Ihre Unterlippe begann zu zittern.
»Könnte es nicht doch sein, dass der echte Vater Kontakt zu Mia aufgenommen hat? Dass er irgendwie von ihrer Existenz erfahren hat?«
»Aber wieso sollte er? Und wenn ja, warum hat sie mich dann nicht zur Rede gestellt? Und wieso meldet sie sich nicht bei mir? Warum mich in dem furchtbaren Glauben lassen, dass ihr etwas passiert ist? Warum würde sie mich dermaßen verletzen? Dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund.«
»Ich kann Ihnen all diese Fragen nicht beantworten. Ich weiß nur eines: dass es manchmal schwer ist, zu verstehen, was im Kopf einer Siebzehnjährigen vorgeht.«
»Nein.« Paula schüttelte entschlossen den Kopf. »Er hat keinen Kontakt zu ihr aufgenommen.«
»Warum nicht, Paula? Warum schließen Sie das so kategorisch aus?«
Paula verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Natasha schickte einen mahnenden Blick zu Peter hinüber, dass er weder etwas sagen noch sie in die Arme nehmen sollte.
Schließlich hob Paula das Gesicht. In ihren Wimpern hingen Tränen. »Peter, könntest du uns allein lassen?«
»Paula, egal was …«
»Bitte«, unterbrach ihn Paula.
Er seufzte, machte ein Zeichen für die Hunde, ihm zu folgen.
»Kannst du die Hunde hier lassen? Smart?« Paula klopfte auf ihren Oberschenkel. Nach einem Handzeichen von Peter setzte sich Smart neben Paula und legte den Kopf auf ihrem Bein ab. Sie streichelte ihn mit langen, festen Bewegungen. Peter schloss leise die Tür hinter sich.
Natasha schwieg und ließ Paula Zeit, sich zu sammeln. Innerlich machte sie sich auf alles gefasst.
»Ich wollte immer Abitur machen und studieren. Ich war in unserer Familie die beste Schülerin. Mein Vater war jedoch der Meinung, dass eine Frau kein Abitur oder gar Studium braucht, weil sie sowieso heiratet und Kinder bekommt. Also musste ich nach der Mittleren Reife die Schule verlassen und wurde in eine Lehre gesteckt. Ich entschied mich für den Beruf der Bürokauffrau, weil ich mir erhoffte, so eine gute Ausgangsbasis zu haben, um mich weiterzubilden. Ich war fleißig, belegte zusätzlich Kurse bei der Volkshochschule: Stenografie, Schreibmaschine, Englisch und Französisch. Wenn ich nicht weiterkam, half mir Yvonne, meine beste Freundin. Sie ist Peters älteste Schwester und inzwischen Lehrerin.« Ein trauriges Lächeln huschte Paula über die Lippen.
»Unser Unternehmen ist eine Dependance einer großen amerikanischen Anwaltskanzlei. Immer wieder kommen Anwälte von drüben für eine Zeit lang zu uns nach Berlin, so auch Scott Gilbert. Ich wurde ihm als Sekretärin zugeteilt, obwohl ich mich noch in der Lehre befand, da ich über die besten Sprachkenntnisse verfügte und Stenografie konnte. Ich war so jung und so unglaublich naiv. Er war aufmerksam, machte mir Geschenke, und wir arbeiteten viel, oft bis in die Nacht. Manchmal lud er mich zum Essen ein. Nach drei Wochen war ich bis über beide Ohren in ihn verliebt. Ich ließ mich auf ihn ein. Er bat mich, absolutes Stillschweigen über unsere Beziehung zu bewahren, da er ansonsten Ärger bekommen könnte. Natürlich dachte ich, es bezöge sich auf die strengen Regeln in einem amerikanischen Unternehmen. Ein Mann in einer höheren Position, ich eine Auszubildende, das kann leicht als sexuelle Nötigung betrachtet werden.
Ich wusste, dass er nur für sechs Monate nach Deutschland abberufen worden war. Er machte eine Rundtour durch alle Niederlassungen und galt als der Durchstarter in der Kanzlei. Kaum war er zurück in New York, brach er jede Verbindung mit mir ab. Als hätte es das mit uns nie gegeben. Kurz darauf wurde mir der Grund klar. Er war seit einem knappen Jahr mit der Tochter von Lewin verlobt, und kurz nach seiner Rückkehr feierten sie eine riesige Hochzeit. Der Name der Kanzlei änderte sich zu Lewin, Howard & Gilbert. Ich war lediglich ein Zeitvertreib für ihn gewesen. Eine Wärmflasche für die Nacht.«
»Und Sie waren schwanger?«
Paula schloss die Augen. »Im Grunde war mir von Anfang an klar, dass Scott nicht mehr als Sex von mir wollte. Nach zwei Monaten hörte ich mit der Pille auf und verschwieg es ihm. Normalerweise verwendete er trotzdem ein Kondom, er wusste schon weshalb.« Sie zuckte die Achseln. »Aber manchmal sitzen wir Frauen halt am längeren Hebel, und im Eifer des Gefechts vergisst ein Mann dann schon mal den Schutz.«
»Paula, egal was ihre Motivation war, schwanger zu werden. Sie sind eine tolle Mutter.«
»Ich hatte Glück, dass Frau Ackermann mir damals half. Mein Vater hat mich als Schlampe bezeichnet, und ich durfte mein Elternhaus nie wieder betreten. Yvonnes Eltern sind für Mia mehr Großeltern gewesen als meine eigenen Eltern. Erst als Mia sechs wurde und mein Vater an Krebs starb, lernte meine Tochter ihre Großmutter kennen. Frau Ackermann ermöglichte mir flexible Arbeitszeiten. Außerdem durfte ich anfangs von zu Hause aus arbeiten, und als Mia älter war, kam sie manchmal mit in die Kanzlei. Ich habe Frau Ackermann viel zu verdanken.«
»Scott Gilbert hat keine Ahnung, dass er Mias Vater ist?«
»Nein. Ich wäre mir vorgekommen wie der letzte Dreck, und ich wollte nicht, dass Mia eines Tages, wenn sie von der Geschichte erfahren hätte, genauso über mich denkt. Scott hätte Ruth niemals für mich verlassen, und er war ein gewiefter Anwalt. Er hätte sich auch aus der Vaterschaftsklage gewunden, und was hätte ich dabei gewonnen? Nichts.«
»Kann Mia auf irgendeine Weise herausgefunden haben, dass Scott ihr Vater ist?«
»Ich wüsste nicht wie. Es gibt keine Briefe, keine Bilder, nichts. Es gab nie etwas Schriftliches, keine Erinnerungen oder sonst etwas in meiner Wohnung, das mich mit ihm in Verbindung gebracht hätte. In meinem privaten Leben existiert er nicht und ich nicht in seinem. Beruflich, klar, gibt es Kontakt, da ja Frau Ackermann die Niederlassung in Deutschland leitet. Unsere Wege kreuzen sich bei Firmenanlässen immer mal wieder. Doch Scott und ich halten Abstand, ignorieren uns. Wenn ich auf der einen Seite des Raums stehe, steht er auf der anderen. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, er wäre mir egal. Immerhin hat er mir, ohne es zu wollen, das schönste Geschenk gemacht, das ein Mensch einem anderen machen kann. Mia. Aber es tut nicht mehr weh, ihn zu sehen. Dennoch ist es mir lieber, wenn ich bei ihm auf Distanz bleibe.«
»Könnte es nicht sein, dass er von Mia erfahren und mit ihr Kontakt aufgenommen hat? Immerhin ist in Ihrer Gehaltsabrechnung ein Kind aufgeführt, und wenn er ein wenig nachrechnet …«
»Nein. Scott ist im Grunde ein Mann wie damals mein Vater. Alles muss sich um ihn drehen. Er konnte charmant sein, wenn er was wollte, doch das war’s. Im Bett ging es immer nur um ihn und um seine Bedürfnisse. Ich habe alles für ihn getan, gekocht, eingekauft, meine Freundin vernachlässigt. Er brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, und ich war für ihn da. Nein, er hat mir keine Träne nachgeweint. Die Liebe existierte nur in meinem Kopf. Heute hat Scott drei Kinder – zwei Töchter und einen Sohn. Selbst wenn er es herausgefunden hätte, aus welchem Grund sollte er nach siebzehn Jahren auf einmal hinter meinem Rücken Kontakt mit Mia aufnehmen?«
»Danke, Paula, dass Sie mir die Geschichte erzählt haben.«
»Hilft es Ihnen weiter?«
»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Manchmal hilft es, die Geschichte eines Menschen zu kennen, damit man ein Gespür dafür bekommt, was in all den Informationen, die man sammelt, wichtig sein könnte und was nicht. Es ist wie ein Rätsel, ein Puzzle, das wir lösen müssen.« Natasha erhob sich.
Auch Paula stand auf und hielt sie fest. »Niemand von der Familie Abel kennt die wahre Geschichte, auch nicht Yvonne. Wie gesagt, Scott bat mich um absolute Verschwiegenheit. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es dabei belassen würden. Ich habe den Beamten, die die Ermittlungen leiteten, Mias Laptop gegeben. Sie hatten auf alles Zugriff, auch auf ihre E-Mail-Korrespondenz. Nur nicht auf die Informationen von ihrem Smartphone, weil sie das natürlich mitgenommen hat. Es gab nicht einen Hinweis, dass Scott mit ihr Kontakt aufgenommen hätte. Im Internet bewegte sie sich vorsichtig. Sie war dort nur mit Leuten befreundet, die sie auch persönlich kannte. Sie wusste um die Gefahren, die dort bestehen, und kannte sich besser damit aus als ich. Hätte es Hinweise gegeben, dann hätte die Polizei doch etwas gefunden, oder nicht?«
»Ja, mit Sicherheit.«
Manchmal, das wusste Natasha, war eine Lüge besser als die Wahrheit.