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Sondereinheit Themis Boxset Volumen 1

Band 1 bis Band 3

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
734 Seiten

Zusammenfassung

Band 1: Auf Probe Die ehrgeizige Natasha wird zum Einstellungstest der Sondereinheit Themis eingeladen. Zum ersten Mal im Leben scheitert sie an einem Sporttest. Zu ihrer größten Überraschung wird sie dennoch auf Probe eingestellt. Der Mann, der dafür sorgen soll, dass sie beim nächsten Anlauf den Test schafft, ist ausgerechnet der Trainer, der ihr die Vorbereitungswochen zur Hölle machte. Aber Natasha wäre nicht Natasha, wenn sie sich von einem Mann in die Knie zwingen ließe. Das bekommt auch ihr unfreiwilliger Trainer und Partner Peter zu spüren. Doch der hat nicht umsonst von seinen Kameraden den Spitznamen Pit - als Kurzform für Pitbull – erhalten. Das Themis Team schließt Wetten ab. Wer von den Beiden wird am Ende sein Ziel erreichen? Band 2: Der Terrorist Ein Selbstmordattentat auf einem Konzert in Frankfurt erschüttert die deutsche Bevölkerung. Während die Landespolizei versucht das Chaos in den Griff zu bekommen, macht sich die Sondereinheit Themis an die Arbeit, die Hintergründe für die Tat aufzudecken. Noch bevor die Opfer des Attentats beerdigt sind, gibt es jedoch einen weiteren Anschlag, und unversehens gerät der Fall zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Für Natasha, den Neuzugang im Team, stellt der Fall eine besondere Herausforderung dar. Immer wieder bringt sie durch ihre eigenwillige Vorgehensweise sich und auch anderen in Gefahr. Aber das ist nicht das Einzige, das ihr zu schaffen macht. Da sind auch noch ihre Gefühle für ihren Partner Peter, der sie besser versteht, als jeder andere Menschen zuvor. Band 3: Menschenhandel Natasha wird aufgrund ihrer Sprachkenntnisse zu der Vernehmung einer schlimm misshandelten sechzehnjährigen Prostituierten hinzugezogen, aber bevor sie das Vertrauen des Mädchens gewinnen kann, muss sie hilflos miterleben, wie es vor ihren Augen stirbt. Der Anblick rührt bei Natasha längst vergessen geglaubte Erlebnisse aus ihrer Jugend auf. Für sie ist klar, dass sie dieses Verbrechen nicht auf sich beruhen lassen kann, egal, welchen Preis sie dafür am Ende bezahlen muss. Nach vier Jahren des Widerstandes muss sich Peter Abel eingestehen, dass er weitaus mehr für Natasha empfindet, als Freundschaft. Als ihm sein Chef die Aufgabe erteilt, eine persönliche Vendetta seiner Partnerin zu verhindern, steht er vor einer echten Herausforderung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Auf Probe

Kerzengerade saß Natasha auf dem Stuhl, die Knie ein Stück auseinander, die Füße parallel auf dem Boden. Ihre Hände lagen locker auf dem Schoß. Egal was er sagen würde, egal wie vernichtend sein Urteil war, sie würde es mit Fassung tragen. Innerlich kochte sie vor Wut, vor Frustration und Enttäuschung. Sie war es nicht gewohnt zu scheitern, wenn sie sich ein Ziel gesetzt hatte. Sie würde einen Teufel tun und sich das vor ihm anmerken lassen.

Sie hatte keine Ahnung, weshalb er sie zu sich zitiert hatte, nachdem sie gestern durch den Leistungstest gefallen war. Als ob sie nicht selbst wüsste, dass sie auf ganzer Linie versagt hatte. Sie unterdrückte die Gedanken und hielt die Augen offen, aus Angst, dass sie anfangen würde zu heulen. Das war die allerletzte Blöße, die sie sich vor diesem Mann geben wollte.

In seiner höflichen, stillen Art hatte er sie ins Büro gebeten, auf den Stuhl vor seinem schlichten Schreibtisch gedeutet und sich auf den Bürostuhl gesetzt. Der Besucherstuhl war hart und unbequem. Bewusst. Eine Taktik. Der Schreibtisch bestand aus einer schlichten weißen Platte auf vier Metallbeinen mit rundem Querschnitt. Ein Laptop und ihre Personalakte lagen auf dem Tisch. Nichts im Raum deutete auf den militärischen Rang des Mannes hin. Sie hatte ihn in voller Uniform gesehen, doch heute trug er Zivil – Anzug, Hemd, aber keine Krawatte. Er blätterte in der Akte, sah dann wieder mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm des Laptops. Worauf wartete er? Dass sie eine Frage stellte? Dass sie wieder aufstand? Die Sekunden dehnten sich zu Minuten, einer Viertelstunde. Nichts war zu hören, außer dem Klicken der Taste, wenn er weiterblätterte.

Die Wände des Raums waren komplett in Cremeweiß gehalten. Der Boden bestand aus Linoleum, das wie der lasierte Holzfußboden einer skandinavischen Hütte aussah. Die großen Fenster ließen viel Licht herein. An den Wänden ausdrucksstarke Fotografien von Landschaften, Menschen, Tieren, dem Leben. Fast meinte sie, die Wellen zu hören, die an den Steg schlugen, das Salz in der Luft zu riechen. Sie liebte das Wasser, das Meer, die Stille, wenn sie tauchte und die Welt um sich herum mit all ihren Problemen vergessen konnte. Manchmal hatte sie sich gewünscht, nie wieder daraus aufzutauchen.

»Kriminalhauptkommissarin Kehlmann?«

Herausgerissen aus ihren Gedanken zuckte sie zusammen.

»Generalmajor Hartmann?«

Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und betrachtete sie mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Was machen wir mit Ihnen?«

Sie schwieg, hielt seinem Blick stand.

Er seufzte, beugte sich nach vorn, legte die Unterarme auf die Tischplatte. »Sie wissen, dass Sie beim Leistungstest durchgefallen sind, wenn auch knapp.«

»Beim Hindernisparcours – ja, wegen des Seils.«

Kurz zuckte es um seine Mundwinkel, doch sie war nicht sicher, ob sie nicht einer Täuschung unterlag.

»Beim Sprint erreichten Sie exakt die als Minimum geforderte Zeit.«

»Was bedeutet, dass ich bestanden habe.«

»Beim Schnellschießen war Ihre Reaktionszeit hart an der Grenze.«

»Dafür traf ich das Ziel.«

»Die Bruchteile von Sekunden, die Sie eher reagieren, können in einer kritischen Situation überlebenswichtig sein.«

Sie schwieg. Was sollte sie darauf auch antworten? Sie musste allein mit dem fertig werden, was geschehen war.

»Wie oft haben Sie versucht, das Seil hochzuklettern?«

Er wusste es doch genau. Was wollte er von ihr? Dass sie sich noch mehr als Versagerin fühlte? Gottverdammt, sie hatte sich nicht für diesen Scheißtest beworben! Sie hatte sich für ein Sonderkommando beworben, und man hatte sie zu dem Bewerbungsverfahren für diese Abteilung eingeladen. Niemand hatte ihr sagen können, was von ihr erwartet wurde. Über den physischen Test hinaus waren die Kandidaten in den letzten drei Monaten auch an ihre psychischen Belastungsgrenzen gebracht worden. Sie war sich sicher, dass sie diesen Part herausragend bewältigt hatte. Es kratzte gewaltig an ihrem Selbstwertgefühl, dass sie schließlich an dem dämlichen Seil gescheitert war. Immerhin hatte sie beim gesamten Training je nach Disziplin entweder auf Platz eins, zwei oder drei gestanden. Sie war eine verdammt gute Polizistin, war körperlich fit und psychisch stabil. Sie würde sich jetzt nicht von ihm verunsichern lassen. Irgendein Sonderkommando würde sie schon nehmen.

»Drei Mal.«

»Warum haben Sie es kein viertes Mal versucht?«

»Weil man es mir nicht erlaubte.«

»Wie oft hätten Sie es noch versucht?«

Sie schwieg. Mit Sicherheit wusste er die Antwort. Bis ihre Kräfte nicht mehr gereicht hätten, um auch nur den ersten Meter zu schaffen. Verflucht, sie hatte in dem dreimonatigen Vorbereitungstraining das Seil geschafft, nur war es da im Hindernisparcours relativ weit vorn drangekommen. Beim Leistungstest war es dann das letzte Hindernis gewesen. Das Zeitlimit war nach dem dritten Versuch abgelaufen gewesen. Sie wollte es nur sich selbst beweisen, nach all der Schinderei, dass sie es hätte schaffen können. Keiner der übrig gebliebenen zehn von 37 Teilnehmern hatte am Ende beide Tests – den Leistungstest und den psychologischen Test – bestanden. Nicht, dass es sie tröstete. Sie hätte es schaffen können, wären nicht das Wandhochklettern, das Hangeln und das Hochklettern am Seil direkt hintereinander drangekommen. Der Parcours war in ihren Augen bewusst so gestaltet worden, damit sie es nicht schaffte und Lucas, der Favorit des Trainers, sie schlagen würde. Dumm für ihn, dass er durch den psychologischen Test geknallt war.

Hartmann nahm sein Smartphone, das neben ihrer Personalakte gelegen hatte, und wählte eine Nummer.

»Kriminalhauptkommissar Abel, kommen Sie in mein Büro. – Nein, jetzt sofort. – Das ist mir egal.«

Er legte auf, sah sie weiter an, während sie gemeinsam warteten. Abel, ging es ihr durch den Kopf. Scheiße, ausgerechnet das Arschloch von Trainer. Er hatte das dreimonatige Vorbereitungstraining geleitet. Der Drill hatte ihr nichts ausgemacht. Von ihr aus konnte er sie anbrüllen und verbal unter Druck setzen, so viel er wollte. Mindestens einmal pro Tag hatte er ihr das Aufgeben schmackhaft gemacht. Sie hatte ihn einfach ignoriert. Doch bei vielen anderen war er erfolgreich gewesen, und mit jeder Kandidatin und jedem Kandidaten, die aufgaben, war ihre Wut auf ihn gestiegen und ihr Wille, es ihm zu zeigen, ebenfalls. In den letzten Wochen hatte sie mehr am Boden zerstörte Menschen wieder psychisch hochgepäppelt als in ihrem gesamten Bachelor- und Master-Studiengang zusammen. Sie war die einzige Frau von allen Anwärtern, die es in den Abschlusstest geschafft hatte. Abel war derjenige gewesen, der sie im Leistungstest beim dritten Anlauf gepackt und vom Seil weggezerrt hatte, nachdem er sie angebrüllt hatte, es endlich zu lassen. Es hatte ein kurzes Handgemenge zwischen ihnen gegeben, bis sie das Seil losließ. Nichts, worauf sie stolz war. Es war einfach zu viel Adrenalin in ihrem Blut gewesen.

»Gib auf, du bist raus!«

Sie hatte sich aus seinem Griff befreit. »Wenn ich etwas anfange, dann beende ich es auch.«

Damit hatte sie sich umgedreht und war die zehn Meter über die Ziellinie gesprintet. Sie war froh gewesen, dass der Regen die Tränen, die ihr übers Gesicht liefen, tarnte.

In Jeans, schwarzem T-Shirt und Turnschuhen trat er ins Büro und ignorierte sie geflissentlich. Die Arme verschränkt baute er sich neben ihr vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten auf. Sie schwor sich: Wenn er es auch nur wagte, zu grinsen oder irgendeine abfällige Bemerkung zu machen, würde er diesmal Kontra bekommen, und nicht zu knapp.

»Es ist nicht mein Problem, dass alle Anwärter durchgefallen sind. Ich habe sie vorbereitet wie alle anderen Gruppen. Überlassen Sie das nächste Mal wieder Oberst Wahlstrom die Auswahl der Kandidaten. Er hat ein Händchen dafür.«

Sie hielt die Luft an. Hartmann ignorierte die provozierende Anmerkung seines Mitarbeiters.

»Sie erinnern sich an Kriminalhauptkommissarin Kehlmann?«

Er warf ihr noch nicht einmal einen Blick zu. Dieser arrogante, selbstherrliche, beschissene, masochistische Saftsack. Zwei Stunden allein in einem Zimmer mit ihm, und sie würde ihm zeigen, wie es sich anfühlte, wenn man jemanden verbal fertigmachte. Ja, das wäre die richtige Strafe für ihn. Erika hatte geheult wie ein Schlosshund, als er mit ihr fertig war. Dabei war sie nach ihr die körperlich Fitteste von ihnen gewesen.

»Die Loserin an den Seilen. Die auf den letzten Metern versagt hat und nicht akzeptieren wollte, dass sie durchgefallen ist.«

»Sie haben exakt zwei Monate und siebzehn Tage Zeit – bis zu unserem Quartalstest.«

Die verschränkten Arme fielen hinunter. »Das ist ein schlechter Scherz.«

»Wann habe ich zuletzt einen Scherz gemacht?«

»Weshalb machen wir den verfluchten Einstellungstest, wenn wir ihn nicht als Maßstab für das Team nehmen?«

»Nun, nach dem, was ich hier vorliegen habe, tun wir das.«

Zum ersten Mal warf ihr Abel einen raschen Blick zu. »Weshalb wollen Sie ausgerechnet bei ihr eine Ausnahme machen?«

»Ich denke, wir beide wissen wieso. Aber ich mache gar keine Ausnahme. Sie werden dafür sorgen, dass sie beim Quartalstest die geforderte Leistung zeigt.«

»Und wenn ich mich weigere?«

Es entstand eine Pause, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

»Kriminalhauptkommissarin Kehlmann, wären Sie so gut und würden einen Moment draußen warten?«

Wie in Trance erhob sich Natasha, verließ den Raum und schloss die Tür leise hinter sich. Sie ging auf die andere Seite des Flurs, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich hinuntergleiten. Hatte sie das eben richtig verstanden? Sie bekam eine zweite Chance? Ein Grinsen machte sich in ihrem Gesicht breit. Generalmajor Hartmann hatte kapiert, dass Abel versucht hatte sie rauszukicken, anders konnte sie es sich nicht erklären.


»Setzen Sie sich, Abel.«

»Einen Teufel werde ich tun. Was soll das? Wenn wir so dringend neue Leute brauchen, dann nehmen wir Lucas. Der hat den Parcours unter dem gesetzten Zeitlimit geschafft.«

»Sie vergessen den psychologischen Test, den er, wenn auch nur knapp, nicht bestanden hat. Abgesehen davon hat er nicht das, was sie hat.«

»Scheiße, und was soll das sein?«

Sein Chef warf ihm die Akte zu. Er fing sie geschickt auf, machte sich erst gar nicht die Mühe, sie durchzublättern, sondern schlug direkt das Blatt am Ende auf, wo Hartmann immer seine Vermerke machte. Er las, runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. Schließlich warf er die Akte auf den Tisch zurück.

»Okay, ich gebe zu, es ist beeindruckend.«

»Beeindruckend? Das ist eine Quote von 93 Prozent. Drei – und – neun – zig

»Mag ja sein, aber unsere Fälle sind andere. Wir sitzen nun mal nicht nur am Schreibtisch und setzen die Puzzelteilchen zusammen. Im Einsatz bestimmt das schwächste Glied der Kette am Ende über den Ausgang, und es gibt verflucht noch mal einen Scheißgrund, weshalb wir die Werte beim Leistungstest gesetzt haben. Mein GSG-9-Ausbilder würde sich kaputtlachen über die Anforderungen, die wir bei Themis stellen.«

»Es reicht, Abel. Passen Sie gefälligst auf Ihre Sprache auf. Bei uns kommt es eben nicht nur auf die körperliche Leistungsfähigkeit an. Ich habe die Einheit bewusst mit Männern, Frauen und Hunden aufgebaut. Okay, nur einem Hund momentan.«

»Weshalb ich nicht verstehe, dass Sie ausgerechnet für sie eine Ausnahme machen wollen.«

»Weil Sie den Parcours bewusst so aufgebaut haben, dass sie durchrasselt. Drei Hindernisse, die die Oberkörpermuskulatur fordern, hintereinander? Für wie dumm halten Sie mich? Dachten Sie, ich würde das nicht durchschauen?«

Peter wusste, wann es besser war, zu schweigen. Lucas wäre seiner Ansicht nach die bessere Wahl gewesen. Nicht, dass er etwas gegen eine Partnerin gehabt hätte. Aber Kehlmann, die war ihm vom ersten Tag an ein Dorn im Auge gewesen.

»Kriminalhauptkommissar Abel, wie viele Partner hatten Sie in diesem Jahr?«

Eine Weile starrten sich beide lediglich an.

Er wusste nicht recht, worauf sein Chef hinauswollte. Es passierte ihm selten, dass er eine Situation nicht einschätzen konnte. Bisher hatte ihm der Generalmajor viel Leine gelassen, weil er verdammt noch mal der Beste in der ganzen Einheit war. Doch er befürchtete, dass er gerade das Ende dieser Leine erreicht hatte.

»Drei.«

»Richtig, drei. Einer hat den Dienst quittiert, einer bekam eine Kugel ab, die ihn dienstuntauglich machte, und die dritte hat die Chance wahrgenommen, ihren Partner zu wechseln, kaum dass sich ihr die Gelegenheit bot.«

Es tat ihm noch immer weh, dass ihn Carolina im Stich gelassen hatte. Sie war die ideale Partnerin für ihn gewesen. Dabei hatte er sie doch mit Samthandschuhen angefasst, weil er wusste, dass er mit einer Partnerin besser zurechtkam als mit einem Mann. Es war nicht seine Schuld gewesen, dass Manfred den Dienst quittiert hatte.

Niemandem war am Anfang klar gewesen, worauf man sich bei dem Job einließ. Die körperliche Herausforderung war eine Sache, aber die psychische etwas vollkommen anderes. Egal wie sehr man sich im Vorfeld darauf vorbereitete – erst die Realität zeigte einem, ob man damit zurechtkam. Und Sean? Den hatte eine Kugel erwischt. Nicht allzu schlimm, aber blöd nur, dass es sein Schultergelenk getroffen hatte. Es kickte ihn aus dem Team, weil er nicht mehr die geforderte körperliche Leistung erbringen konnte. Ab und an trafen sie sich auf ein Bier in ihrer Stammkneipe.

»Ihre Aufgabe ist ganz simpel, Abel. Entweder Sie schaffen es, dass Kriminalhauptkommissarin Kehlmann den Leistungstest besteht, oder Sie fliegen mit ihr aus dieser Einheit. Je schneller Sie sie fit bekommen, desto eher sind Sie wieder im Einsatz.«

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

»Ich dachte, das hätten wir bereits geklärt. Es ist mein voller Ernst. Wenn es Ihnen nicht passt, steht es Ihnen selbstverständlich frei, den Dienst zu quittieren.«

Für den Bruchteil einer Sekunde war Peter genau dazu bereit. Er atmete tief durch, erhob sich und rauschte aus dem Büro. Statt die Tür zuzuknallen, was er am liebsten getan hätte, schloss er sie bewusst lautlos. Da – er hatte seine Emotionen vollkommen unter Kontrolle, im Gegensatz zu dieser Frau, die ihm bei der Seilübung an die Gurgel gegangen war. Dabei hatte er ihr lediglich gesagt, was für jeden offensichtlich gewesen war, nämlich dass sie gescheitert war.


Hartmann atmete vorsichtig aus, als sich seine Bürotür geschlossen hatte. Er ärgerte sich maßlos, dass er sich zu diesem Satz hatte hinreißen lassen. Nicht nur hatte er riskiert, seinen besten Mann zu verlieren, er hatte die junge Frau auch noch in eine unmögliche Situation gebracht. Er konnte nur hoffen, dass er sie richtig einschätzte und sie ein überaus hartnäckiger Mensch war und genug Mumm in den Knochen hatte, um bei Abel gegenzuhalten. Immerhin hatte sie während der Vorbereitung mehr als einmal gezeigt, dass sie sich von ihm nicht einschüchtern ließ.

Ansonsten musste er sich Gedanken machen, wenn es so weit war. Am besten würde er dann Wahlstrom vorschieben.

2

Erwischt

Natashas Grinsen gefror, als sie zu dem Mann hochsah, der sich mit verschränkten Armen vor ihr aufbaute und auf sie herabsah. Es war nicht so sehr die Haltung, die ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte: bewusst einschüchternd, die Füße ein Stück weit auseinander, den Kopf leicht nach vorn gereckt, die breiten Schultern und der starke Rücken, der sich zur Hüfte hin nur eine Spur verjüngte. Eine aufrechte Wand. Es waren vielmehr seine Augen, die ihr die Haare zu Berge stehen ließen. In der Farbe von dunklen Gewitterwolken sahen sie sie an, als würden sie jeden Moment Blitze auf sie herabschicken.

Sie erhob sich vom Boden.

Stehend war sie nur noch wenig kleiner als er. Um den Augenkontakt halten zu können, war sie gezwungen, den Kopf leicht zu heben. Eine Weile starrten sie sich einfach nur an. Die Feindseligkeit quoll aus jeder Pore seines Körpers. Gut, etwas anderes hatte sie nicht erwartet – immerhin eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Generalmajor Karl Hartmann wollte sie haben, und sie würde sich die Chance nicht entgehen lassen, Teil dieser Einheit zu werden. Wenn es sein musste, auch über seine Leiche.

Der Starrwettbewerb hielt an. Sie war gut darin, doch sie wusste, dass es etwas gab, worin sie weit besser war. Sie musste bewusst ihre Gesichtsmuskeln entspannen. Sie legte den Kopf leicht seitlich und lächelte ihn schräg an.

»Es tut mir leid, dass der Generalmajor Ihnen meinetwegen die Pistole auf die Brust setzt, aber wir können unsere erzwungene Zusammenarbeit rasch abkürzen. Machen Sie mir einen Trainingsplan für den Quartalstest, und Sie sind mich los.«

»Einen Scheißdreck werde ich.«

»Sie sind wütend, das kann ich nachvollziehen. Ich bin durch den Leistungstest gefallen, und die Regeln waren klar. Was halten Sie von einem Deal?«

Zum ersten Mal veränderte sich seine Haltung minimal. »Ein Deal?«

Sie standen Nase an Nase. Er roch nach Salz und einem Hauch von Minze. Wie ärgerlich, sie liebte den Geruch dieses minzigen Duschgels, das sie selbst so gern benutzte, weil es nach dem Sport ein kühles, frisches Gefühl auf der Haut hinterließ. Seine Haare waren voll und dicht und erinnerten sie an die Schale von Haselnüssen. Hellere Brauntöne gepaart mit dunklen, beinah schwarzen Strähnen. Seine Nase war groß und prägnant und passte gut zu seiner gröberen, kantigen Form. Im Kontrast dazu standen seine Lippen, die erstaunlich weich geschwungen und voll waren. Seine Nähe, seine Körperhaltung verursachten ihr ein Gefühl von bedrohlicher Enge, der sie sich nur allzu gern entzogen hätte. Dummerweise stand sie mit dem Rücken zur Wand, und die einzige Möglichkeit, Distanz zwischen ihn und sie zu bringen, wäre gewesen, seitlich an ihm vorbei in den Flur zu treten. Keine Option, sonst glaubte er noch, dass er sie einschüchterte.

»Ein Deal«, wiederholte sie. »Vier Wochen, dann erbringe ich die Leistung, und Sie akzeptieren mich im Team.«

»Und wenn nicht?«

»Geh ich zum Generalmajor und sage ihm, dass ich aufgebe.«

Jetzt lichtete sich das Dunkelgrau seiner Iris. Seine Haltung änderte sich kein bisschen.

»Vier Wochen? Warum sollte ich mich vier Wochen mit Ihnen rumschlagen, wenn ich Sie auch in einer Woche wieder loswerden kann?«

Natasha wusste, dass sie ihn am Haken hatte, und der strahlende Blick, den sie ihm schenkte, kam aus tiefstem Herzen. »Von mir aus. Doch sollte es nicht klappen, steht der Deal mit vier Wochen, in denen Sie mich voll unterstützen.«

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich seine Gesichtsmuskeln entspannten und sich die verschränkten Arme voneinander lösten.

»Einverstanden. Ich gebe dir keine Woche, und ich schwöre dir, du wirst jede Minute davon bereuen.«

Er drehte ihr den Rücken zu und ging los. Sie hatte keine Ahnung, ob sie ihm nachlaufen sollte oder nicht.

»Das werden wir ja sehen, mein Lieber, wer es am Ende bereut«, murmelte sie vor sich hin und beeilte sich, ihm zu folgen.


Sie bekam eine Tour durch das Gebäude, das direkt neben der BKA-Zentrale in Berlin stand. Von außen war es ein schlichter Betonklotz, eines dieser modernen architektonischen Gebilde mit symmetrischen Linien. Das Innere war seinem schlichten Äußeren angepasst.

Im Erdgeschoss lag das Schwimmbad mit fünf parallelen Bahnen von 25 Metern Länge. Als sie ankamen, trat gerade eine attraktive Frau mit blonder Mähne im Badeanzug an einen Block. Ihre Beine schienen unendlich. Sie schüttelte den Kopf, packte ihre Haare, schlang sie zu einem Knoten und steckte sie unter eine Badekappe. Mit einem verführerischen Grinsen warf sie ihnen eine Kusshand zu und sprang ins Wasser. Gern hätte Natasha der Frau beim Schwimmen zugeschaut, doch Abel eilte weiter.

Es gab insgesamt fünf verschiedene Trainingsräume. Einer war mit Geräten zum Krafttraining ausgestattet, einer mit Ausdauergeräten, einer war vollkommen leer, dafür mit einem weichen, federnden Boden ausgelegt, und ein weiterer mit den Hindernissen aus dem Parcours. Der Letzte enthielt eine Raumschießanlage vom Feinsten.

Ab und an trafen sie auf einen Mann oder eine Frau aus der Einheit. Deren Gesichtsausdrücke spiegelten immer kurz Überraschung, die dann in Ablehnung wechselte. Jeder schien zu wissen, dass keiner der Anwärter den Test bestanden hatte. Super. Das hieß, dass sie das ganze Team überzeugen musste.

In der ersten Etage lagen die Büroräume. Jeder Raum war funktional mit modernster Technik ausgestattet, die Schreibtische alle wie im Büro des Generalmajors – weiße Platten, metallene Füße, wenig Papier, dafür zwei Monitore auf jedem Tisch.

Im zweiten Stock lagen große Besprechungsräume, eine Küche, mehrere Aufenthaltsräume, einer davon mit Fernseher, verschiedenen Spielkonsolen, einem Billardtisch und einem Kicker. Des Weiteren gab es zwei Räume mit Betten.

Sie kehrten zurück in den ersten Stock, gingen auf einen der Büroräume zu. Abel öffnete die Tür und machte spöttisch eine einladende Geste. Sie folgte der Aufforderung und erstarrte zur Salzsäule. Ein freudig winselnder Deutscher Schäferhund zögerte nur kurz, schoss an ihr vorbei und stürzte auf Abel zu.

Er hob die Hand. »Smart, sit!«

Sofort gehorchte der Hund, leckte sich mit der Zunge über die Lefzen, die Ohren gespitzt, die Augen auf Abel gerichtet. Der Schwanz ging wild hin und her, stockte dann. Als der Hund anfing zu hecheln, bekam Natasha Einblick in ein beängstigendes Gebiss mit scharfen Reißzähnen.

Abel ging in die Hocke, und der Hund bekam nicht nur eine ausgiebige Krauleinheit, sondern auch einen Fluss von schmeichelnden, liebevollen Worten ins Ohr geflüstert.

Interessant.

»Lay down.«

Brav trottete der Hund in ein Körbchen, das hinter dem linken Schreibtisch in der Ecke stand. Kaum lag er dort, fixierte der Hund den Blick auf sie.

Natasha blieb, wo sie war, rührte sich nicht, unsicher, wie der Hund mit ihrer Anwesenheit umgehen würde. Abel kam an ihre Seite, musterte sie ein paar Atemzüge lang. Sie atmete bewusst und versuchte, sich zu entspannen.

Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Du kennst dich mit Hunden aus.«

»Klar, natürlich«, gab sie hastig zurück.

Es war eine der Fragen auf dem Bewerbungsbogen gewesen. Sie hatte eine Weile überlegt, wie sie antworten sollte, und dann schlicht und ergreifend gelogen. Immerhin, welche Rolle spielte es, ob sie Erfahrung mit Hunden hatte oder nicht? Nur bei der Antwort, ob sie jemals selbst einen Hund besessen hatte, antwortete sie wahrheitsgemäß mit Nein. Der Riesenschnauzer ihrer Nachbarn war ihr lebhaft in Erinnerung. Er hatte ihr in ihrer Kindheit eine Heidenangst eingejagt. Aber danach hatte schließlich niemand gefragt.

»Smart hat heute erst seinen Dienst angetreten. Er ist noch grün hinter den Ohren und ziemlich verspielt. Du kannst das Knotenseil aus seinem Korb nehmen und es ihm werfen.«

Natasha betrachtete den Hund, dann das bunte, geflochtene Seil, das mit den dicken Knoten an den Enden einem Knochen ähnelte, angesabbert und mit abstehenden Fäden durch das viele Kauen. Der Kopf des Hundes ruhte darauf.

Sie schluckte trocken. Unter den wachsamen Augen des Hundes und seines Herrchens ging sie langsam auf den Korb zu. Sie hockte sich hin, wie sie es bei einem Kind gemacht hätte, um Freundschaft zu schließen. Das Fell im Nacken des Hundes sträubte sich. Seine Lefzen zuckten, und er fixierte sie mit seinem Blick.

Ihr brach der Schweiß auf dem Rücken aus.

»Braves Hundchen«, versuchte sie es halbherzig und streckte die Hand aus, in der Absicht, das Spielzeug unter seinem Kopf fortzuziehen.

Sie verdankte es nur ihrer topp Reaktionsfähigkeit, dass sie es noch schaffte, die Hand wegzuziehen, bevor die Fänge des Hundes sich darum schließen konnten. Im Bruchteil einer Sekunde wurde aus dem Hund eine Bestie, die sie mit einem Sprung aus dem Liegen auf den Boden warf, die Fänge dicht über ihrem Hals. Sie roch seinen stinkenden Atem, spürte Sabber auf ihre Haut tropfen und wagte es nicht, sich zu rühren.

»Smart. Let go.«

Ein tiefes Grollen kam aus der Brust des Tieres.

»Smart!« Diesmal kam der Befehl schärfer. »Let go!«

Der Hund hob den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Sit.«

Brav setzte er sich.

»Fine.«

Etwas flog durch die Luft, das der Hund geschickt auffing.

»Lay down.«

Smart kehrte in sein Körbchen zurück, drehte sich ein paarmal im Kreis, bevor er sich wieder niederließ, den Kopf auf dem Spielzeug ablegend.

Noch immer wagte Natasha nicht, sich zu bewegen. Der Schock saß tief. Ihr Gehirn weigerte sich, ihrem Körper irgendwelche Befehle zu geben. Bewusst konzentrierte sie sich auf ihre Atmung und hätte sich gleichzeitig ohrfeigen können. Es war eine Falle gewesen. Ein Test. Und sie war erneut durchgefallen.

Langsam spannte sie die Bauchmuskeln an und kam in eine Sitzposition. Nur um sich ein weiteres Mal mit Peter Abel Nase an Nase zu finden, der vor ihr hockte, schwarze Sturmwolken in den Augen, die Stimme ein gefährlich leises Wispern, als brauchte er all seine Kraftanstrengung, um sie nicht auch körperlich zu attackieren.

»Wag es nie wieder, mich zu belügen. Hast du mich verstanden?«

Sie schluckte trocken.

»Hast du mich verstanden?«, wiederholte er.

Sie nickte stumm.

»Ich will es aus deinem Mund hören.«

»Verstanden«, brachte sie mühsam hervor.

»Oh nein, das reicht mir nicht. Sag: Ich werde dich nie wieder belügen, das schwöre ich bei allem, was mir wert und heilig ist

Sie sah ihn perplex an, um festzustellen, ob er sich einen Scherz mit ihr erlaubte. Doch es schien sein bitterer Ernst zu sein.

»Findest du das nicht ein wenig ...« Sie brach ab. Hatte er da gerade geknurrt oder der Hund?

»Okay. Ich werde dich nie wieder belügen, das schwöre ich bei allem, was mir wert und heilig ist.«

Seine Haltung entspannte sich ein wenig. Er stand auf. Auch sie erhob sich.

»Muss ich mir jetzt noch in den Finger schneiden und ein paar Blutstropfen herausquetschen?«

Er warf ihr ein Multifunktionstaschenmesser zu, das sie sicher auffing.

»Das war ein Scherz, um die Stimmung ein wenig aufzulockern«, erklärte sie. »Ich gehöre nicht zu den Pfadfindern oder irgendeinem Geheimbund.«

»Du willst ein Teil unserer Einheit werden.« Seine Mimik blieb unergründlich.

Sie warf ihm das Messer zurück. »Noch bin ich es nicht.«


Obwohl er sein Augenmerk auf alle ihre Schwächen konzentrierte, kam er nicht umhin, ihre Widerstandskraft zu bewundern.

Sie saß neben ihm auf dem Beifahrersitz seines Dienstfahrzeugs. Ein Golf Kombi, allerdings mit reichlich PS unter der Haube.

Sie hatte sich weder von Smart noch von ihm einschüchtern lassen, obwohl er stinksauer auf sie war. Zwar war Smart frisch in der Einheit, aber es war von Anfang an klar gewesen, dass Hunde dazugehören würden – der einzige Grund, weshalb er von der GSG 9 zu der neuen Sondereinheit gewechselt war, die sie intern mit »Themis« bezeichneten. Deshalb gab es auf dem Bewerbungsbogen die Frage zum Umgang mit Hunden, und er hatte schon lange darauf hingewiesen, dass diese wesentlich spezifischer gestellt und die Hunde in den Test mit einbezogen werden mussten. Nur hatte es bis dato eben noch keinen Hund gegeben. Er warf Natasha einen raschen Seitenblick zu.

Ihren Kopf auf die Hand gestützt, den Ellenbogen auf den Türrahmen, starrte sie aus dem Seitenfenster. Sie hatte keine Frage gestellt, als er sie aufgefordert hatte, mitzukommen. Allerdings war ihm schon im Training aufgefallen, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die viel redeten. Dennoch wirkte sie geknickt. Vielleicht genügten sogar drei Tage, um sie loszuwerden.

Er hielt vor einem flachen Gebäude, neben dem ein Wohnhaus stand und an das sich ein riesiges, mit einem Maschendrahtzaun komplett eingezäuntes Freigelände anschloss. Es war eines der vielen ehemaligen Militärgelände, die Malte für einen Apfel und ein Ei gekauft hatte.

Malte war für seine Hunde bekannt, die überall auf der Welt im Einsatz waren. Eine neue Sparte, die er zur Zeit aufbaute, war der Schutzhund für Familien. Das stellte besondere Herausforderungen an den Charakter des Tieres, da es sowohl mit Kindern zurechtkommen als auch im Zweifel einen Täter angreifen musste.

Die leer stehenden Gebäude, Fahrzeuge, verfallenes Gemäuer, dichtes Gebüsch, ein Wäldchen, durch das ein Bach floss, ein See und eine Sandgrube bildeten die perfekte Trainingsumgebung für die Ausbildung der Hunde. Malte bot ein breites Spektrum von Dienstleistungen an. Dazu zählte neben der Hundeausbildung auch die Ausbildung der Hundeführer zusammen mit ihrem Hund, die Korrektur von Problemhunden sowie die Ausbildung von Junghunden aus dem Bestand der Behörden.


»Wir sind da.«

Natasha warf dem Mann auf der Fahrerseite einen spöttischen Blick zu, verkniff sich aber eine Bemerkung. Immerhin war es offensichtlich gewesen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, nachdem er das Fahrzeug vor dem Zaun geparkt und den Motor abgestellt hatte. Sie stieg aus. Smart klebte am Bein seines Herrchens, kaum dass er aus der Transportbox hinten im Kofferraum gelassen wurde. Seine Augen schienen beständig auf Peter Abel gerichtet zu sein. Obwohl sie seit dem Vorfall im Büro tunlichst Distanz zu dem Tier wahrte, konnte sie sich der Faszination, mit der der Hund Peter vergötterte, nicht entziehen. Ihr Herz zog sich sehnsüchtig zusammen, ohne dass sie verstand weshalb.


Peter betätigte die Klingel am Tor. Eine von Maltes Angestellten kam aus dem flachen Gebäude zum Tor und öffnete es. Das Mädel war neu. Er schaltete seinen Charme ein. Hunde waren wirklich ein nicht zu unterschätzendes Asset, wenn es darum ging, Frauen aufzureißen.

»Hi, ich bin Marina, was kann ich für euch tun?«

»Ich möchte zu Malte. Ist er da?«

»Habt ihr einen Termin?«

»Brauch ich einen?«

»Was für ein schöner Hund, ist das einer aus Maltes Zucht? Wie heißt er denn?«

Marina ging in die Hocke und hielt Smart eine Hand hin. Der Hund rührte sich nicht.

»Be friendly, Smart.«

Langsam schob Smart die Schnauze vor, schnüffelte an der dargereichten Hand. Der Schwanz pendelte langsam hin und her.

»Hat Malte ihn ausgebildet?«

»Nein, ich.«

Wie erwartet bekam er einen bewundernden Blick aus ihren karamellfarbenen Augen und wusste, dass er heute Nacht nicht allein im Bett liegen müsste, wenn er es darauf anlegte. Durchaus einen Gedanken wert, nach den letzten Wochen mit den Anwärtern und dem heutigen Tag.

»Unter meiner Anleitung.«


Natasha wandte den Blick von dem Trio ab, bei dem zwischen den Menschen unverkennbar sexuelle Schwingungen zu bemerken waren. Die Stimme gehörte einem hochgewachsenen, sportlichen Typen in kakifarbener Cargohose und dunkelbraunem T-Shirt, der hinter der Frau aus dem Gebäude getreten war. Dunkelblonde, lockige Haare, die ihm bis in den Nacken reichten, waren hinten durch das Band der Kappe gezogen.

Kurz musterte der Mann sie aus veilchenblauen Augen und reichte ihr die Hand. Sein Gesicht war wettergegerbt. Sie schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Der Druck seiner Hand war fest, die raue, schwielige Haut zeugte davon, dass er viel mit den Händen arbeitete.

»Malte Balthaus.«

»Natasha Kehlmann.«

Sie lächelte ihn an, worauf er nicht reagierte, stattdessen wanderte sein Blick weiter zu Smart, der jetzt schneller mit dem Schwanz wedelte, jedoch weiterhin wie festgeklebt am Bein seines Herrchens saß, und zuletzt zu Peter.

»Ich wusste nicht, dass du heute zum Training kommen wolltest. Marina, kümmer dich bitte um Alina und sieh zu, dass sie genug Stroh hat, damit sie sich wohlfühlt. Ich glaube, es dauert nicht mehr lange, bis sie wirft. Schau auch nach, ob sie genug Wasser hat, und gib ihr noch was von dem Futter, das ich für sie vorbereitet habe. Denk daran, nur eine kleine Portion.«

»Klar doch, mach ich. – Jetzt kenne ich den Namen deines Hundes, aber deinen nicht«, schickte sie hinterher und grinste Peter an.

»Peter, aber meine Freunde nennen mich Pit.«

»Man sieht sich, Pit.« Sie blinzelte ihm zu.

Nein, er würde heute Abend nicht allein schlafen. Sein Blick blieb auf ihrem vielversprechenden, knackigen Hintern in der engen Jeans hängen. Auch das eng anliegende T-Shirt, das ihr nur gerade so über den Busen reichte, ließ keinen Raum für Fantasie. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

»Vergiss es, Freundchen, Marina ist Sperrgebiet, capisce?«

Er wartete, bis sie um die Ecke gebogen war, bevor er sich Malte zuwandte. »Nur weil du verheiratet bist, heißt das nicht, dass wir alle in Abstinenz leben müssen.«

»Sie ist die Tochter einer Freundin meiner Frau. Wenn du mit ihr rummachst, bekomme ich Ärger von zwei Seiten. Darauf hab ich keinen Bock.«

»Ich denke, sie kann selbst entscheiden, was sie will oder nicht. Immerhin ist sie volljährig.«

»Ist mir scheißegal. Ich habe jedenfalls keine Lust, mir ständig neues Personal zu suchen, weil du deinen Schwanz nicht bei dir behalten kannst.«

»Pah! Als ob ich schon jemals mit einer deiner Angestellten rumgemacht hätte. Das tun nur deine Ami-Freunde. Stell Männer ein, dann hast du das Problem nicht.«

Er machte Anstalten, an Malte vorbei das Gelände zu betreten. Doch der versperrte ihm den Weg. »Du hast keinen Termin.«

»Ich brauche deine Hilfe.«

»Wofür?«

Über seine Schulter hinweg deutete er mit dem Daumen auf Natasha. »Für die da.«

»Weshalb? Geht sie auf deine charmanten Offerten nicht ein?«

»Nein, sie ist auf …«

»Eine Kollegin«, kam ihm Natasha zuvor. »Ich denke, es geht um Ihre Sachkompetenz betreffend Hunden, da mir eben diese fehlt.«

Peter drehte sich um und musterte sie, doch sie ließ sich von ihm nicht aus dem Konzept bringen.

»Mir war bei den zwei Fragen zum Thema Hund auf dem Bewerbungsbogen nicht bewusst, in welche Tiefe sie zielten.«

»Sie hat gelogen. Hatte noch nie im Leben mit Hunden zu tun, und Smart hat sie angegriffen.«

Malte ließ den Blick zwischen ihnen hin und her wandern.

»Smart würde nie jemanden angreifen, ohne dass du ihm dazu die Freigabe erteilt hast. Und sollte er es getan haben, dann ist er noch nicht diensttauglich.«

»Es war meine Schuld, weil ich ihm sein Spielzeug unter dem Kopf wegholen wollte. Wie gesagt, ich habe wenig Erfahrung mit Hunden und wusste nicht, dass er so eifersüchtig über sein Spielzeug wacht.«

»Wie kamst du auf die blöde Idee, einem Hund das Spielzeug unterm Kopf wegzuziehen?«

»Ich dachte, wenn ich es ihm werfe, werden wir Freunde.«


Einen Moment sah Malte sie nur an, und sie erkannte, dass er genau wusste, dass sie die Situation anders darstellte, als sie sich abgespielt hatte.

»Mal ehrlich, wie machst du das?«, wandte er sich an Peter. »Nicht nur, dass du keine zwei Sätze brauchst, damit sie in dein Bett steigen, sie stellen sich auch noch schützend vor dich.« Er deutete auf Smart. »Das ist nicht nur ein Hund, sondern auch eine Waffe. Wenn du nicht reif dafür bist, ihn zu führen, dann werde ich Generalmajor Hartmann anrufen und ihm mitteilen, dass ich jemand anderen aus der Truppe an dem Hund ausbilden werde.«

»Ich weiß genau, was ich mache.«

»Sicher?«

Die Atmosphäre zwischen den Männern wurde merklich angespannter.

»Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mir helfen würden. Es ist mein großer Traum, in die Einheit zu kommen, und für mich würde eine Welt zusammenbrechen, wenn ich doch noch rausfliege, nur weil ich nicht weiß, wie ich richtig mit Hunden umgehen muss.«

Als Malte sie ansah, setzte sie umgehend die größte Waffe ein, die sie besaß: ein strahlendes Lächeln und einen tiefen, herzerweichenden Blick, den sie bereits als Kind perfektioniert hatte. »Ich verspreche, ich werde Ihre beste Schülerin sein. Großes Ehrenwort.«

Es funktionierte. Brummend gab Malte nach. Mit großen Schritten überquerte er die Distanz zwischen Tor und Flachbau. Rasch folgte Natasha seiner wortlosen Einladung.


Peter klappte den Mund zu, als Natasha sich an ihm und Smart vorbei drängte und Malte hinterherlief. Dieser Kleinmädchenausdruck in ihrem Gesicht war pure Berechnung gewesen. Er hatte noch nie erlebt, dass eine Frau seinen Freund binnen Sekunden weichkochte. Immerhin war er seit 25 Jahren glücklich verheiratet und Vater von zwei Mädchen, die sein ein und alles waren und auf die er wie ein Schießhund aufpasste. Malte war absolut immun gegen weiblichen Charme. Und das waren nicht seine Worte, sondern die seiner Töchter, in deren Augen er viel zu streng war.

Er legte eine Hand auf Smarts Kopf. »Pass bloß auf, mein Freundchen, dass sie dich nicht um den Finger wickelt. Deine Aufgabe ist dir hoffentlich klar. Du machst ihr das Leben zur Hölle, wo immer es geht, verstanden?«

Smart sah ihn mit seinem treuesten, süßesten Hundeblick an, womit er dieselbe Wirkung bei ihm erzielte wie zuvor Natasha bei Malte.

Peter hockte sich vor ihn und nahm seinen Kopf in beide Hände. »Denk daran, wir tun nur so, als ob wir ihr helfen. Keiner darf uns am Ende vorwerfen, wir hätten nicht alles in unserer Macht Stehende getan, damit sie in die Einheit aufgenommen wird. Nur so habe ich die Chance, unseren Arsch zu retten, damit wir beide zusammen bei Themis bleiben können. Klar, Partner?«

Zur Antwort leckte Smart mit tierischem Enthusiasmus jedes freie Stück seiner Haut.

3

Zwinger

Sie blieben an einem Zwinger mit einer großen Hundehütte stehen. Eine Hündin lag draußen vor der Hütte. Sechs Welpen drängten sich über- und untereinanderliegend an ihre Zitzen, aber die Hündin ließ das Gewusel um ihre Nahrungsquellen mit stoischer Geduld über sich ergehen.

»Das ist Nanna mit ihrem Wurf. Die Welpen sind knapp vier Wochen alt. Geh in den Zwinger.«

Natasha löste ihren Blick von dem entzückenden Schauspiel und musterte Malte skeptisch.

»Geh rein, beweg dich langsam auf sie zu, reich ihr deine Hand, damit sie deinen Geruch aufnehmen kann. Lies ihre Körpersprache und finde heraus, ob du sie streicheln kannst. Setz dich zu ihr und beobachte.«

»Als ich vorhin sagte, ich hätte null Erfahrung mit Hunden, war das mein absoluter Ernst.«

»Du lügst.«

Sie atmete tief durch. »Okay, unsere Nachbarn hatten einen Riesenschnauzer, der hat mir eine Riesenangst eingejagt. Für mich verkörperte er den Hund von Blackwood Castle. Du weißt schon, der aus dem Edgar-Wallace-Krimi.«

»Hat er dich gebissen?«

»Nein, aber es ist keine drei Stunden her, da hatte ich einen anderen Höllenhund an meiner Kehle. Ich spüre jetzt noch den heißen Atem auf meiner Haut und kann den Sabber riechen.«

Er grinste. Sie hätte ihm am liebsten eine gelangt. Ungewöhnlich für sie. Sie war kein Mensch, der Gewalt anwendete, wenn es sich vermeiden ließ. Doch sie verspürte nackte Panik bei der Vorstellung, in den Zwinger gehen zu müssen. Obwohl die Welpen wirklich total knuffig aussahen. Schwer vorstellbar, dass sie irgendwann einmal zu solchen Bestien wurden wie dieser Smart.

»Hunde erkennen an deiner Körpersprache, ob du Angst hast oder nicht. Doch das viel wesentlichere Organ für alle ihre Informationen ist die Nase. Sie können alles riechen und eine Spur auch noch quer über einen von Menschen überquellenden Platz verfolgen, selbst wenn sie Stunden alt ist.« Er tippte ihr auf die Nase. »Die Riechschleimhaut deiner Nase umfasst fünf Quadratzentimeter, die des Hundes 150. Das ist das Dreißigfache. Auf dieser Fläche hat ein Mensch fünf Millionen Riechzellen, ein Hund zweihundert Millionen, also das Vierzigfache. Während wir Menschen uns überwiegend auf die optische Wahrnehmung verlassen, orientieren sich Hund hauptsächlich über die Nase.«

»Mit anderen Worten, Nanna riecht gerade, dass ich mir vor Schiss in die Hosen mache.«

»Schau sie dir an. Was siehst du?«

Natasha nahm sich ein bisschen Zeit, versuchte, ruhig zu atmen, hätte auch gern ihre anderen körperlichen Reaktionen kontrolliert – den Pulsschlag, die Trockenheit im Mund, das flaue Gefühl im Magen und den Schweißausbruch. All das würde die Hündin riechen. Aufmerksam beobachtete das Tier sie, während es über einen der Welpen leckte. Im Ausdruck der Augen lag eine unglaubliche Weisheit, als wüsste die Hündin genau, worüber sie sprachen. Nichts an ihrer Körpersprache signalisierte Aggressivität. Im Gegenteil, sie wirkte vollkommen entspannt.

»Sie ist klug, liebevoll, beschützend und unglaublich geduldig.«

»Meinst du, sie würde dich angreifen und dir die Kehle rausreißen, wenn du den Zwinger betrittst?«

Wieder ließ sich Natasha mit der Antwort Zeit. Die Hündin packte einen der Welpen im Nacken, zog ihn von seinen Geschwistern fort und leckte ihm einmal quer über das Gesicht und dann über die Schnauze. »Warum hat sie das gemacht?«

»Das ist Kitaro. Er glaubt, er wäre der Big Boss in der Gruppe, und ärgert oft seine Geschwister. Sie hat eingegriffen, um den anderen ein bisschen Ruhe vor ihm zu geben.«

Natasha warf Malte einen skeptischen Seitenblick zu. Er zuckte mit den Achseln.

»Hunde sind Rudeltiere. Wir Menschen sind nicht viel anders. Beobachte sie und lerne.«

Natasha atmete einmal tief durch. Ihre Hand zitterte, als sie die Zwingertür öffnete. Sie schlüpfte hinein und schloss die Tür wieder hinter sich.

Kitaro kam direkt auf sie zugesprungen, schnüffelte an ihren Schuhen und bellte. Wunderbar, es schien, als würde er ihre Angst bereits riechen. Sie näherte sich der Hündin unter deren aufmerksamem Blick, während der Welpe sich in ihrem Hosenbein verbiss und daran zerrte. Sie ging in die Hocke, bot der Hündin ihre zitternde, schwitzende Hand dar. Nanna schnüffelte lange daran.

Natasha drehte ihre Hand, sodass sie auch an der Innenfläche schnüffeln konnte. Achtsam begann die Hündin, ihr den Schweiß abzulecken. Einen Moment verharrte Natasha vor lauter Panik, bis sie sich langsam entspannte. Im Schneidersitz ließ sie sich neben der Hündin nieder. Um Kitaro von ihrem Hosenbein wegzubekommen, zog sie kurzerhand ihren Schuh und den Socken aus. Den Schuh zog sie wieder an, wedelte aber mit dem Socken vor seiner Nase herum. Sofort stürzte sich der Welpe auf die neue Beute. Der kleine Stummelschwanz rotierte, als er sein ganzes Körpergewicht einsetzte, ihr die Beute zu entreißen. Dabei gab er helle Knurrlaute von sich und schüttelte immer wieder heftig den Kopf. Es war erstaunlich, wie viel Kraft dieser kleine Bursche entwickelte. Er würde eine Bestie werden, da war sie sich sicher.


Peter gesellte sich mit Smart an Maltes Seite und beobachtete, wie Natasha mit dem Welpen spielte. Nanna gab ein tiefes Grollen von sich. Gegenüber Rüden waren Hündinnen mit Nachwuchs oft aggressiv. Malte löste sich von dem Bild, gab ihm ein Zeichen, und zusammen gingen sie in den Flachbau.

Malte schloss die Tür zu seinem Büro. »Raus mit der Sprache, und am besten mit allem. Wie hat sie es geschafft, in die Einheit zu kommen?«

»Gar nicht. Sie ist nicht in der Einheit, sondern nur auf Probe dabei.«

»Auf Probe?« Malte ließ sich in den Sessel fallen. »Willst du mich verarschen?«

»Ich wünschte, es wäre so. Aber nein, es ist mein Ernst. Sie ist mit fliegenden Fahnen durch den Leistungstest gefallen. Okay, das ist nicht ganz fair. Sie wäre grundsätzlich in der Lage gewesen, ihn zu bestehen, hat das Seil aber nicht geschafft und dabei ihre Zeit verspielt.«

»Und der Generalmajor gibt ihr tatsächlich eine zweite Chance? Wieso? Habt ihr einen derartigen personellen Engpass? Gab es keine besseren Kandidaten?«

»Gab es, jedenfalls was den Leistungstest betrifft. Den psychologischen Test hat sie mit Abstand als Beste absolviert.«

»Das ist ja schön und gut, aber was nützt euch ihre psychische Stärke im Einsatz, wenn ihr an einem Seil in den Hubschrauber klettern müsst, weil er nicht im Gelände landen kann?«

Peter warf die Hände hoch und ließ sich ebenfalls in den Sessel fallen. »Exakt mein Punkt, aber auf mich hört ja keiner.«

Nachdenklich runzelte Malte die Stirn. »Es muss irgendetwas geben, was sie für den Generalmajor interessant macht. So interessant, dass er bereit ist, ihr eine zweite Chance zu geben. Ich nehme an, es ist dein Job, dafür zu sorgen, dass sie den Leistungstest das nächste Mal besteht?«

Peter kniff die Augen zusammen. »Woher weißt du das?«

»Weil du angepisst bist. So angepisst, dass du sie Smart zum Fraß vorgeworfen hast.«

»Sie hat behauptet, sie hätte Erfahrung mit Hunden.«

»Trotzdem war es echt mies von dir, und das will was heißen. Sie hat wie Espenlaub gezittert, als sie in den Zwinger sollte.«

»Als ich kam, sah sie nicht aus, als würde sie zittern.«

»Weil sie tough ist und sich ihrer Angst stellt. Und es passt dir nicht, dass ich das sage. Wie hat dich Hartmann dazu gekriegt, dass du es machst?«

Peter atmete tief durch. Malte und er waren schon viel zu lange befreundet und hatten viel zu viel gemeinsam erlebt, als dass er ihm eine Lüge auftischen würde. Ganz abgesehen davon durchschaute er ihn viel zu leicht. Er hatte ihm mehr als einmal aus der Patsche geholfen, mehr als einmal seine Hand über ihn gehalten, als er Blödsinn gemacht hatte. Malte war kein Mann, der sich jemals provozieren oder aus der Ruhe bringen ließ. Das war die Eigenschaft, die er am meisten an ihm bewunderte. Die zweite war, dass er einen Sachverhalt klar und objektiv beurteilen konnte, ohne sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen.

»Er war ziemlich sauer wegen meiner Reaktion auf seinen Vorschlag und hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt. Wenn sie beim nächsten Quartalcheck durch den Leistungstest fliegt, bin ich raus aus dem Team.«

»Das ist ein Scherz.«

»Nein, es ist sein bitterer Ernst.«

»Du musst ihn ganz schön geärgert haben.«

»Carolina ist zu Mark gewechselt.«

Malte stieß einen Pfiff aus. »Na, das war aber ein echter Schlag für dich. Sie war so ideal. Lesbisch, und eben doch eine Frau. Du konntest schon immer besser mit Frauen arbeiten als mit Männern. Wenn du es geschafft hast, lange genug deine Finger von ihnen zu lassen.«

»Hey, hör auf, mich darzustellen, als wäre ich der Casanova schlechthin.«

»Bist du, denn ich weiß, dass du Frauen liebst und sie nicht benutzt. Also sei froh, dass ich dich nicht mit jemand anderem vergleiche. Möchtest du ein Bier? Ich könnte eines vertragen.«

Malte erhob sich, ging zum Kühlschrank und holte zwei Bier heraus. Eine Flasche warf er Pit zu, der sie geschickt auffing. Sie prosteten sich zu und tranken.

»Welche Strategie verfolgst du?«

»Nun, ich werde sie trainieren und unterstützen, damit mir niemand etwas vorwerfen kann.«

»Hm«, stieß Malte aus und trank wieder. »Und sorgst ganz nebenbei dafür, dass sie den Bettel hinschmeißt und Generalmajor Hartmann anfleht, sie zurück in ihren alten Job zu lassen.«

Peter grinste breit. »Ich wusste, dass du mich verstehst.«

»Da gibt es nur ein Problem, mein Lieber.«

»Das wäre?«

Jetzt war es an Malte, breit zu grinsen. »Dass du die Kleine nicht so leicht loswerden wirst, wie du dir das vorstellst.«

»Wetten?«

»Meinen Arsch.«

»Hundert?«

Sie reichten sich die Hände und besiegelten den Pakt.

»Ich nehme an, dass es dir dann nichts ausmacht, wenn du sie für die nächsten paar Tage unter deine Fittiche nimmst?«

»Kein Problem. Harald ist in Urlaub, Gerd hat eine Grippe, ich kann also gut noch ein weiteres Paar Hände gebrauchen.«

»Und du packst sie nicht mit Samthandschuhen an, um die Wette zu gewinnen?«

»Bestimmt nicht. Wenn es um die Sondereinheit geht, können wir uns keine Schwachstelle leisten, da bin ich mit dir einer Meinung.«

»Sie hat dich verdammt schnell um den Finger gewickelt.«

»Ich war stinkig, weil du Marina angebaggert hast.«

»Ich hab sie nicht angebaggert.«

»Ich weiß, ich hab Augen im Kopf. Lass trotzdem einfach die Finger von ihr.«

»Und wenn sie die Finger nicht von mir lässt?«

»Ich bin mir sicher, dass du weißt, wie du das höflich abblocken kannst. Immerhin schaffst du es, deine Frauengeschichten ohne echte Schrammen zu beenden, auf beiden Seiten, soweit ich weiß. Ich denke da nur an Sandra und ihre Kekse.«

»Okay, verstanden. Die nächste Ladung kriegst du.«

»Deal?«

»Deal.«


Müde ließ sich Kitaro mitten im Spiel fallen, legte sich auf die Seite und schlief ein. Zwei der anderen Welpen zerrten jeder gerade an einer Seite des Sockens, den sie wohl nie wieder tragen würde. Von den nadelspitzen Zähnen war er total durchlöchert. Einer der Welpen hatte es sich in der Kuhle auf ihren gekreuzten Beinen bequem gemacht. Mit den Fingerspitzen kraulte sie das Welpenmädchen hinter dem Ohr. Mit einem wohligen Schmatzen rollte das Tierchen sich auf den Rücken, die Pfoten locker angewinkelt, und präsentierte ihr den dicken kleinen Milchbauch. Natasha kam der Aufforderung nach. In dieser Rückenposition entblößte der Hund ihr seine Kehle. Beim Spielen der Welpen miteinander hatte sie die Geste häufiger gesehen. Nie von Kitaro, aber häufig von dem Weibchen, das jetzt in ihrem Schoß lag.

»Kaum zu glauben, dass diese niedlichen Wesen mal solche Kampfmaschinen werden wie Smart.«

Natasha schaute hoch zu Marina. Diese stellte ihre Schubkarre mit Hobelspänen und einem Eimer ab und kam zu ihr in den Zwinger.

»Sie vielleicht nicht«, sagte sie und deutete auf den Hund in ihrem Schoß, »aber er ganz sicher.« Sie zeigte auf Kitaro.

»Kira hat das Wesen von Nanna. Sie ist total lieb und verschmust. Wahrscheinlich wird Malte sie als Familienschutzhund ausbilden. Wobei er erst schauen muss, ob sie überhaupt Biss entwickelt. Sonst wird sie wirklich ein reiner Familienhund.«

Marina setzte sich im Schneidersitz zu ihr und holte sich einen der Welpen auf den Schoß.

»Kitaro, Kira?«

»Ja, wir sind gerade beim K-Wurf.« Sie zeigte auf den Welpen in ihrem Schoß. »Das ist Kassim.« Sie wies nacheinander auf die anderen Welpen. »Kosta, Khan und Keya.«

»Was bedeutet K-Wurf?«

»Der erste Wurf eines Züchters fängt mit A an, dann geht es weiter bis Z.«

»Das ist erst Maltes elfter Wurf?«

Marina lachte. »Nein. Keine Ahnung, der wievielte. Es fängt halt immer wieder von vorn an.« Sie zögerte, bevor sie weitersprach: »Ähm, du und Peter …« Marina brach ab und wurde rot.

»Keine Sorge, da läuft nichts zwischen uns. Ich bin seit heute eine Kollegin von ihm. Wenn du Tipps von mir haben willst, wie du bei ihm landen kannst, muss ich passen.«

»Nein, nein«, wehrte Marina hastig ab. »Ich wollte mich nur nicht in was reindrängen.«

»Darf ich dir einen Rat geben, auch wenn ich weiß, dass es deine Angelegenheit ist?«

Marina sah unter ihren langen, dichten Wimpern hervor. Das weiche, runde Gesicht machte sie bestimmt um vier Jahre jünger, worüber sie sich eines Tages bestimmt freuen würde.

»Sei dir erst mal sicher, was du dir von dieser Beziehung erhoffst. Peter ist kein Typ, mit dem sich eine dauerhafte Beziehung aufbauen lässt.«

»Und das weißt du, nachdem du ihn wie lange kennst?«

Natasha grinste. »Das wusste ich nach meiner ersten Begegnung mit ihm. Sein Job kommt für ihn an erster Stelle. Daneben ist wenig Platz für etwas anderes.«

»Danke für den Rat.«

»Den du dir selbstverständlich nicht zu Herzen nehmen wirst.«

Oha, das sexy Lächeln sagte alles.

»Wer sagt, dass ich was Festes suche? Ich steh halt auf Sex, ist das verkehrt?«

»Nein. Ich hab eine Freundin, die arbeitet bei der Sitte, und die denkt genauso wie du. Wichtig ist ihr nur, dass sie die Kontrolle über alles behält.«

»Und du?«

»Ich liebe meinen Job über alles«, sagte Natasha mit einem Augenzwinkern, »und daneben gibt es für mich nichts anderes. Ich bin eher der beständige Typ, und das würde mit dem Job nicht funktionieren.«

»Dann gibst du mir freie Bahn?«

»Du bist alt genug. Tu, was du nicht lassen kannst. Allerdings glaube ich, dass Malte nicht begeistert sein wird.«

Marina verdrehte die Augen. »Der ist schlimmer als meine Mutter.«

»Marina, ist deine Arbeit erledigt?«

Das Mädel zuckte zusammen und sprang auf. »Klar, Boss. Alles erledigt. Ich wollte gerade Nannas Zwinger sauber machen und ihr Fressen geben.«

»Das sehe ich.«

Marina ließ sich nicht im Geringsten von der kühlen Bemerkung ihres Chefs aus der Bahn werfen. Natasha legte die schlafende Kira vorsichtig auf dem Boden ab und erhob sich. Gemeinsam mit Marina, die sich den Napf geschnappt hatte, verließ sie den Zwinger.

Rasch trat Peter zur Seite, als Marina Anstalten machte, sich an ihm vorbeizudrücken, um an den Futtereimer in der Schubkarre zu gelangen.

»Wolltest du noch zum Trainieren auf den Platz? Ich könnte dich als Dummy unterstützen«, wandte sich Marina mit einem Augenaufschlag an Peter. In ihrer Stimme lag dabei ein Unterton, der Natasha unwillkürlich die Frage aufdrängte, ob ein Dummy etwas mit einem Vorspiel beim Sex zu tun hatte.

Malte verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte seine Angestellte mit einem kalten Blick.

»War ja nur ein Angebot, weil Gerd noch krank ist.«

»Danke, aber Natasha und ich müssen noch zurück ins Büro.«

Höflich, aber deutlich distanziert und ohne auf den Flirt einzugehen, lehnte Peter das Angebot ab. Aha, dachte Natasha. Sieht aus, als hätte sich Malte den Kollegen zur Brust genommen. Sie hätte nicht erwartet, dass er sich von ihm derart einschüchtern ließe.

»Morgen um acht Uhr«, wandte sich Malte an sie.

»Acht?«, echote sie und ging rasch die öffentlichen Verkehrsverbindungen in Gedanken durch. Das würde verdammt knapp. Berlin war halt keine normale Stadt, da konnte es dauern, bis man von einem Ende bis zum anderen gelangte. Außerdem gehörte das hier gar nicht mehr zu Berlin, sondern bereits zu Potsdam.

»Ist das ein Problem für dich?«

»Nein, nein, kein Thema. Gibt es etwas, das ich beachten sollte?«

»Reißfeste Klamotten, Schuhe, die was aushalten, und wasch dich ausschließlich mit Kernseife oder irgendwas anderem möglichst Geruchsneutralen.«

Einen Moment starrte sie ihn an, um festzustellen, ob er scherzte. Nein, er meinte es todernst. Kernseife, wo bekam man die her?

»Morgen um acht Uhr«, bestätigte sie mit einem Nicken.


»Wohin?«, wollte Peter wissen.

»Lass mich an der S-Bahn-Station raus.« Dann konnte sie schon mal auf der Rückfahrt die Verbindung testen.

»Was ist mit deinem Auto?«

»Ich bin mit der S-Bahn gekommen.«

»Dann fahr ich dich nach Hause.«

»Danke. Nicht nötig.«

Das klang eindeutig defensiv. Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie hatte dieselbe Haltung eingenommen wie zuvor bei der Hinfahrt. Alles beobachtend und in sich aufsaugend, als hätte sich die Umgebung seit der Hinfahrt geändert und sie müsste die neuen Eindrücke aufnehmen.

»Bist du sauer, weil ich mit Marina geflirtet habe?«

Der perplexe Ausdruck in ihrem Gesicht war nicht gespielt. Erleichtert stieß er die angehaltene Luft aus. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war eine Möchtegern-Partnerin, die einen Crush auf ihn hatte. Er achtete streng darauf, Arbeit und Beziehungen zu trennen. Dann fiel bei ihm der Groschen.

»Du bist lesbisch. Marina gefällt dir.«

»Bitte?«

Er zuckte mit den Schultern. »Carolina ist auch lesbisch. Das macht den Umgang mit ihr leichter.«

»Carolina?«

»Die Blonde im Schwimmbad mit der sexy Figur, hinter der alle Männer herstarren und sich vorstellen, wie es wäre, mit ihr im Bett zu sein. Genau die.«

»Redest du immer dermaßen herablassend über deine weiblichen Kollegen?«

Er runzelte die Stirn und schaute zu ihr hinüber. »Das sollte nicht herablassend klingen. Es ist die Wahrheit. Wir Männer sind in manchen Dingen ziemlich einfach gestrickt. Carolina war meine Partnerin. Sie ist die beste Scharfschützin im Team.«

»Sie war deine Partnerin? Was ist passiert? Da vorn ist die S-Bahn-Station.«

»Ich fahr dich nach Hause.«

»Halt an!«, fuhr sie ihn an.

»Du bist doch sauer«, bemerkte er und fuhr ungerührt von ihrer Stimmung an der S-Bahn-Station vorbei. Nicht umsonst war er mit vier Schwestern aufgewachsen. Er wusste, wann es ernst wurde und wann nicht.

»Ich bin müde und fertig und muss morgen verdammt früh aufstehen. Außerdem reicht mir deine Gesellschaft für heute.«

»Die S-Bahnen sind um diese Uhrzeit voll.«

»Besser als mit dir weiter im Auto zu fahren.«

Er schwieg, blinkte, fuhr in eine Seitenstraße und hielt am Rand. Bevor sie sich ihren Rucksack von der Rückbank schnappen konnte, hielt er sie am Arm fest.

»Ich fahr dich zur nächsten S-Bahn-Station, versprochen. Aber bevor ich das mache, müssen wir beide zwischen uns etwas klar regeln.«

»Ich höre?«

»Es passt mir nicht, dass ich deinen Babysitter spielen muss. Ich tue es, weil ich keine andere Wahl habe. Ich werde dich trainieren, egal ob du beim Training rumheulst oder auf allen vieren kriechst, wenn es dir zu viel wird. Das funktioniert nämlich bei mir nicht, genauso wenig wie dein Kleinmädchenblick, mit dem du Malte weichgekocht hast. Gegen so was bin ich immun. Gibst du vor dem Test auf, steigt bei mir eine Fete für das Team.«

»Fertig?«

»Nein. Bis du aussteigst, gibt es zwischen uns beiden keine Geheimnisse und keine Lügen. Denn sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass du es schaffst und meine Partnerin wirst, dann muss ich mich zu hundert Prozent auf dich verlassen können. Kapiert?«

Sein Blick schien sich durch ihre Augen in ihre Gedanken zu bohren, und das war beängstigend. Einen Scheißdreck würde sie tun und ihm ihre Geheimnisse offenbaren. Ihre Gedanken, ihr Leben, ihre Vergangenheit gingen ihn nicht das Geringste an.

»Mir ist deine Vergangenheit und was du in deiner Freizeit treibst, schnurzpiepegal«, las er ihre Gedanken. »Was jedoch den Job angeht, gibt es ab heute, wie gesagt, keine Geheimnisse und keine Lügen mehr. Und sollte es etwas in deiner Vergangenheit oder deinem Privatleben geben, was deine Arbeit beeinflusst, dann will ich es wissen.«

»Dasselbe gilt für dich, nehme ich an?«

»Selbstverständlich.«

»Einverstanden«, lenkte sie ein. Immerhin zog er in Erwägung, dass sie es schaffte. Partnerin? Um das Problem konnte sie sich kümmern, wenn es so weit war.

Er hielt ihr die Hand hin.

»Du hast da jetzt nicht draufgespuckt, oder?«

»Du machst gern Witze.« Er taxierte sie.

»Das ist meine Art, eine angespannte Situation zu deeskalieren.« Sie ergriff seufzend seine Hand und wollte den Griff wieder lösen, doch er hielt sie fest.

»Noch ein Punkt.«

Sie verdrehte die Augen. »Hey, dein Liebesleben ist mir schnurzpiepegal. Du solltest nur mit deinem Kumpel aufpassen. Ich schätze, seine Warnung war ernst gemeint, und das weißt du auch, sonst hättest du nach dem Gespräch keinen Rückzieher gemacht.«

»Solltest du bisexuell veranlagt sein – zwischen uns beiden läuft nichts, rein gar nichts. In unserer Einheit sind wir nicht nur Kollegen, wir sind ein Team, und Sex bringt nur Komplikationen in ein Team. Ganz abgesehen davon, dass es Smart irre machen würde.«

Sie warf einen Blick in den Kofferraum. Der Hund hatte sich zusammengerollt, kaum dass er in der Box war.

»Ein irrer Smart? Möchte nicht wissen, wie das aussieht.«

Der Druck auf ihre Hand verstärkte sich.

»Okay, okay, das war auch nur ein Scherz. Deal. Und das ist auch überhaupt kein Problem, weil …«

»Du lesbisch bist, ich wusste es, als du Marina angeschaut hast.«

»Ich habe Marina angeschaut?«

»Hast du, aber das Wie ist ausschlaggebend.«

Sie grinste. »Ich schaue mir jeden Menschen an, egal ob männlich oder weiblich. Das liegt daran, dass mich Menschen und menschliches Verhalten faszinieren. Kann ich meine Hand wiederhaben?«

Er ließ ihre Hand los, startete das Auto und fuhr an.

Natasha hatte Mühe, sich ihr Vergnügen nicht anmerken zu lassen. Sie konnte verstehen, dass er sauer war, weil er den Babysitter für sie spielen musste. Allein deshalb würde sie ihm ein wenig Leine geben und das Beste aus sich herausholen. Etwas nicht zu korrigieren, war ja kein Lügen. Wenn er die falschen Schlüsse zog, war das sein Problem. Es war auch eine ihrer eisernen Regeln, nie etwas mit einem Kollegen anzufangen. Abgesehen davon reichten ihr die Männer bei der Arbeit vollkommen, das brauchte sie nicht auch noch in ihrem Privatleben.

4

Akiro

Der sanfte Weckerton holte sie aus den Tiefen des Schlafs. Mit einem Stöhnen verbarg Natasha den Kopf unter dem Kissen. Sie fühlte sich, als wäre eine Walze über sie gefahren. Sie gönnte sich die zehn Minuten bis zum zweiten Signal.

Um fünf Uhr morgens war es in dem Wohnblock still. Kein Geschrei, kein Streit, keine lärmenden Kinder oder randalierenden Jugendlichen.

Sie rollte den Futon, der ihr als Bett diente, zusammen und schaffte Platz für ihre Sportmatte. Sie begann mit dem Krafttraining, zog dann ihre Joggingschuhe an. Da die Zeit knapp war, entschied sie sich für ein Intervalltraining. Langsames Laufen, abgewechselt mit Sprints, bei denen sie alles gab.

Den Dreck auf den Straßen, die Obdachlosen und die wenigen Leute, die unterwegs waren, umrundete sie wendig. In der Bäckerei holte sie sich drei Vollkornbrötchen.

Wieder zu Hause sprang sie unter die Dusche. Zehn Minuten ließ sie sich Zeit für einen Instantkaffee und ihr Müsli, schmierte sich dabei die Brötchen mit Marmelade. Die Brotdose, ein Liter Leitungswasser und zwei Äpfel fanden den Weg in ihren Rucksack.

Um Viertel vor acht stand sie am Tor von Maltes Anlage und klingelte. Wie gestern kam Marina und ließ sie herein.

»Komm, ich zeig dir erst mal unseren Aufenthaltsraum, da kannst du deinen Rucksack lassen.«

Als Nächstes bekam sie eine Führung durch die Anlage. Es gab Einzelzwinger und größere Gehege, in denen sich mehrere Hunde zusammen aufhielten. Sie machten eine kurze Tour durch das angrenzende Gelände mit verschiedenen landschaftlichen Gegebenheiten. Dicht bei den Zwingern gab es eingezäunte Rasenflächen, zwei davon mit Hindernissen: Wippen, Bretterwände in Form eines umgedrehten V und unterschiedlichen Höhen, eine Leiter zu einem Balken, Rutschen, Slalomstangen, Tunnel und Bretterwände in Hüfthöhe. Zwei Männer und auch Malte trainierten mit Hunden auf den Plätzen. Marina zog sie mit sich, als sie fasziniert dem Training zusehen wollte. Ihr Job war das Füttern der Hunde und das Saubermachen der Zwinger.

Natasha hatte sich gestern zu Hause ihren Computer geschnappt und angefangen zu lesen, was sie im Internet über Hunde finden konnte. Auch die Fahrzeit in der S-Bahn nutzte sie für die Lektüre. Etwas über den Kopf zu begreifen, war für sie immer der erste Schritt, bevor sie das Gelernte dann in der Realität auch umsetzen konnte.

Beim spielerischen Training der Welpen durfte sie Malte zusehen. Im Schneidersitz saß sie im Gras und passte genau auf. Als der Welpe, mit dem Malte als Letztes gearbeitet hatte, ausgepowert war, kam er zu ihr, kletterte auf ihren Schoß und rollte sich hechelnd zusammen. Sie kraulte den Hund mit einer Fingerspitze hinter den Ohren, strich ihm sanft mit der Hand über den Körper. Er schloss die Augen und schlief ein. Sie nahm ihre Hand weg, beobachtete beeindruckt, wie leicht der Hund aus seinem wilden Spiel in diese entspannte Haltung fand. Das Leben schien für ihn so einfach zu sein.

Malte ließ sich neben ihr nieder.

»Du hast eine natürliche Ausstrahlung.«

»Bitte?«

Er deutete auf den Welpen. »Hunde gehen nicht einfach zu jemandem hin und rollen sich auf dessen Schoß zusammen.«

»Es sind Rudeltiere. Khan ist noch ein Baby, er sucht Wärme und Nähe. Sich allein auf dem Boden zusammenzurollen, wäre gegen seinen Instinkt. Ich war in der Nähe und habe sein Bedürfnis nach Körperkontakt befriedigt.«

»Woher kennst du seinen Namen?«

»Marina hat mir gestern die Namen von Nannas Welpen verraten.«

»Und du kannst sie unterscheiden?«

»Sie sehen verschieden aus. Khan hat an der Brust einen schwarzen Fellstreifen, der wie eine Krawatte aussieht.«

»Marina hat gesagt, du hättest heute einen guten Job gemacht. Sie dachte, ich würde sie verarschen, als ich ihr sagte, du hättest keine Erfahrung mit Hunden.«

»Ich habe seit gestern viel über Hunde gelesen.«

»Gelesen? Okay. Welches Ziel habe ich bei Khans Training verfolgt?«

»Du meinst bei den Kampfspielen?«

Malte grinste sie an.

Sie sprach weiter: »Du beobachtest, wie er die Beute attackiert, wie beharrlich er um sie kämpft, wie lang er sie festhält. Gleichzeitig möchtest du herausfinden, ob er bereit ist nachzugeben, aufzuhören, oder ob er sich in Rage völlig verbeißt. Lässt er sich Angst machen? Erschreckt er sich? Lässt er sich ablenken? Nimmt er noch wahr, was in seiner Umgebung passiert, oder ist er nur auf dich fixiert?«

Er legte die Arme um die Knie und musterte sie mit einer stillen Intensität, die Natasha den Blick auf den Welpen senken ließ.

»Was ist dein Eindruck von ihm?«

»Er ist neugierig, verspielt, aufmerksam, selbstbewusst, doch er geht kein volles Risiko ein. Er hält fest, nimmt es aber wahr, wenn du ihn hochhebst, und lässt los, wenn er es als gefährlich für sich einstuft. Er kann von voller Power wieder zurückfahren und ist bereit, deine Signale zu beachten. Ich finde es außergewöhnlich, denn es zeigt, dass er auch bereit ist, sich unterzuordnen. Allerdings hat er das heute nicht gemacht, als Marina ihm einen Stock wegnehmen wollte, was mich zu der Annahme führt, dass du bei ihm eine andere Stellung einnimmst als sie.«

»Wie lange hast du geschlafen?«

Verwirrt von dem abrupten Themenwechsel überlegte sie, ob sie ihm antworten sollte. Immerhin ging ihn das nichts an.

»Fünf Stunden«, sagte sie dann.

»Hast du ein fotografisches Gedächtnis?«

»Ich wünschte, es wäre so, dann wäre mir das Abi leichtergefallen und ich hätte besser abgeschnitten.«

»Was machst du dann, um dein Wissen zu speichern?«

»Ich verknüpfe das, was ich lese, mit dem, was ich sehe, höre, rieche und spüre.«

Er stand auf, nahm den Welpen aus ihrem Schoß, der verschlafen die Augenlider hob. »Solange die Knochen der Hunde noch nicht fest sind, ist es wichtig, dass du sie auf diese Weise trägst. So bleiben die Schultergelenke in einer stabilen Lage.«

Sie erhob sich ebenfalls, und er reichte ihr den Welpen. Sie übernahm ihn mit dem Griff, den er ihr vorgemacht hatte. Die äußeren Finger hielten die Schultern zusammen, wohingegen die mittleren die zwei Vorderpfoten auf Abstand hielten. Ihre Hand war ein ganzes Ende kleiner als seine. Dennoch schaffte sie es, den Welpen auf diese Weise zu halten.

»Du kannst zwei Stunden Pause machen, dann zeige ich dir die Arbeit mit unseren Youngstern. Eigentlich hatte ich das erst für übermorgen vorgesehen, doch ich glaube, wir können ein paar Lektionen überspringen.«

Gemeinsam gingen sie zu den Zwingern. Er öffnete ihr die Tür und sie setzte Khan ab, der zu seinen Geschwistern hinübertapste. Sie gab den anderen Welpen ebenfalls eine Streicheleinheit, genauso wie Nanna. Als sie an dem nächsten Zwinger vorbeigingen, blieb sie stehen. Gestern war er leer gewesen. Jetzt war er belegt, obwohl dieser Umstand nur schwer auszumachen war, denn der Hund lag in der Hütte, den Rücken ihnen zugewandt.

»Das ist Akiro. Er stammt aus Nannas erstem Wurf. Ich hatte gehofft, dass die Nähe zu ihr und den Welpen ihn herauslocken würde.«

»Was ist mit ihm?«

»Er hat im Einsatz seinem Team das Leben gerettet, allerdings nicht allen Mitgliedern. Sein Herrchen ging dabei drauf, und er selbst wurde schwer verletzt. Einer der Männer packte ihn in die Jacke seines toten Kameraden, versorgte seine Wunden und brachte ihn zurück. Der Tierarzt kämpfte vier Stunden um sein Leben. Sie ließen ihm die Jacke, damit er sich beim Aufwachen nicht allein fühlt, aber es war ein Fehler. Seitdem trauert er, und nichts und niemand kann ihm den Lebenswillen wiedergeben. Auch Hunde können ein posttraumatisches Syndrom erleben. Jake – das ist der Soldat, der ihn gerettet hat – rief mich an und bat mich, es zu versuchen. Er hat sich bei seinem Offizier den Mund fusselig geredet, bis er bereit war, ihn auf seine Kosten nach Deutschland zu lassen. Wir hofften, dass er neuen Lebensmut fasst, wenn er wieder in die Umgebung seiner Geburt zurückkommt. Solange ihm Jake das Fressen ins Maul geschoben hat, hat er noch was zu sich genommen, aber sein Urlaub war zu Ende und er musste wieder zurück. Es geht auch nicht, dass er ihm für den Rest seines Lebens jede Mahlzeit aus der Hand füttert, und abgesehen davon wäre das nicht genug. Akiro hat es nur gemacht, weil Jake nicht bereit ist, ihn gehen zu lassen. Morgen kommt der Tierarzt und schläfert ihn ein.«

Natashas Herz zog sich zusammen und Tränen traten ihr in die Augen. Sie schluckte.

»Hey, denk nicht, ich wäre herzlos. Er war der beste Hund, den ich je ausgebildet habe, bis Smart kam. Genau deshalb darf ich ihn nicht weiter quälen. Er will nicht mehr, und ich kann es ihm nicht verdenken. Komm nicht auf die Idee, zu ihm reinzugehen. Er ist gefährlich. Einer der Assistenten des Tierarztes hat es zu spüren bekommen, als er von ihm gebissen wurde. Smart ist gegen Akiro ein Waisenknabe.«

Natasha folgte Malte zum Haus. »Ich stelle es mir schwer vor, Welpen zu züchten und sie auszubilden, um sie dann fortzugeben.«

»Ja, das ist der schwierigste Part an meiner Arbeit. Aber es ist so wie bei Kindern. Du kannst nur das Fundament legen und musst sie dann ihr eigenes Leben leben lassen. Also – zwei Stunden. Nutze die Zeit, um dich auszuruhen. Der Nachmittag wird Knochenarbeit, vor allem für dich, denn dann geht es für dich und die Hunde über Hindernisse. Einer deiner Schwachpunkte, und wir wollen ja, dass du im Training bleibst.«

Sie starrte ihm nach, als er mit einem fröhlichen Lachen zu dem Wohnhaus ging, in dem er mit seiner Familie lebte. Dieser verdammte Peter Abel hatte es ihm erzählt. Was war der Mann doch für ein Tratschweib.

Erbost stiefelte sie zu dem Flachdachgebäude, wo sich der Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter befand. Oben gab es mehrere kleine Apartments. In zweien wohnten Mitarbeiter, die drei anderen waren für die neuen Hundebesitzer, wenn sie im Endtraining mit ihren Hunden zusammengebracht wurden.

Aus dem Aufenthaltsraum klang fröhliches Geplapper. Rasch integrierte sich Natasha in die Gruppe. Das war eines ihrer Talente, sich einzufügen und gleichzeitig am Rand zu bleiben. Als Kind war sie unglaublich schüchtern gewesen. Nur ihre Sportlichkeit hatte sie davor bewahrt, zu einem Mobbingopfer zu werden.

Sie lauschte den Gesprächen, lachte bei Scherzen, hörte zu und beobachtete. Simon, einer der älteren Trainer, fing an, Obst zu schnipseln, und kochte Gemüse mit Fleisch.

»Was machst du da?«

»Das Fressen für die Hunde.«

»Es gibt kein Fertigfutter?«

Er verdrehte die Augen, als hätte sie gerade ein Sakrileg begangen. »Hast du eine Ahnung, was dem Zeug alles beigemischt ist? Isst du Fertigessen?«

»Meistens, und es ist gar nicht schlecht. Aber jetzt mal rein von der praktischen Seite betrachtet. Mag ja sein, dass Malte genug Leute hat, die das Fressen für die Hunde kochen, aber wie soll das bei den Besitzern funktionieren? Die Kochen garantiert nicht für ihre Hunde.«

»Du würdest dich wundern, wie viele das für ihre Hunde machen. Es sind Hochleistungssportler und Experten, und wenn du sie fit halten möchtest, musst du schon den Aufwand betreiben. Malte kann das ziemlich gut rüberbringen. Wenn er einen nicht überzeugt, bekommt er ihn wenigstens dazu, dass er Rohkost und Obst mit in das Futterangebot mischt.«

»Du meinst, ein Hund isst Karotten und so was?«

»Äpfel, Bananen, Paprika, Kohlrabi. Kommt halt auf den Hund an. Aber ja, Hunde sind grundsätzlich Allesfresser. Den Mageninhalt eines gerissenen Tieres bekommen immer das Alphamännchen und das Alphaweibchen in einem Wolfsrudel, deshalb sind sie besonders kräftig und gesund.«

»Kann ich ein bisschen was von der Rohkost haben?«

Er grinste sie an. »Sind dir deine Vollkornbrötchen zu trocken?«

»Ertappt.«

Sie klappte ihre Brotdose auf und füllte die eine Seite mit Rohkost. Dann schnappte sie sich ihren Rucksack und ging raus.

»Wohin willst du?«, rief Marina hinter ihr her. »Es gibt noch Kuchen. Marvin hatte gestern Geburtstag.«

»Danke, aber Malte sagte, ich sollte mich ein wenig ausruhen, weil der Nachmittag anstrengend wird, deshalb suche ich mir ein ruhiges Plätzchen für ein Nickerchen.«


Eine Weile stand sie nur außerhalb des Zwingers und versuchte, sich mit logischen Argumenten davon zu überzeugen, dass das, was sie machen wollte, vollkommen idiotisch war. Ihr Herz klopfte heftig, Schweiß bildete sich auf ihrer Haut. Sie hatte Angst. Malte war kein kalter Typ. Er mochte eine raue Schale haben, doch darunter war er weich wie Butter. Kochen für die Hunde. Der Hund war gefährlich. Er war ein ausgebildeter Diensthund, der in den Einsatz ging. Sie hatte gestern viel über Hundestaffeln gelesen. In Deutschland waren sie bereits seit langer Zeit ein Teil der Polizei und Streitkräfte. Auch in anderen europäischen Staaten. In den USA waren sie erst relativ kurz vor allem im militärischen Bereich im Einsatz. Sie hatte sich eine Dokumentation auf YouTube angeschaut. Sie verstand, was Malte meinte, als er sagte, dass auch Hunde unter dem posttraumatischen Syndrom leiden können. Sie musste wahnsinnig sein. Sie hatte null Erfahrung mit Hunden und Schiss vor ihnen. Aber sie konnte nicht anders. Etwas an der Geschichte des Hundes verband sie mit ihm. Und es war stärker als ihre Angst. Sie hob die Hand, öffnete die Verriegelung und schlüpfte in den Zwinger.

Ein tiefes, bösartiges Knurren kam aus der Hütte.

Natasha drückte sich ganz an das Gitter neben der Tür, ließ sich auf dem Boden nieder und ignorierte die Geräusche aus der Hundehütte. Sie legte die Brotdose auf den Boden vor sich, holte aus dem Rucksack ihre Wasserflasche und den Kindle, auf den sie sich gestern zwei Bücher über Hunde heruntergeladen hatte. Die Rohkost aus der Brotdose legte sie mit Abstand vor sich auf den Boden. Sie begann zu lesen, trank und aß. Es geschah vollkommen unerwartet, ohne eine Vorwarnung. Aus der Hütte schoss ein Fellknäuel in einem derartigen Tempo hervor, dass sie vor Schreck ihr Lesegerät fallen ließ. Ihr blieb überhaupt keine Zeit zu reagieren, da hatte der Hund bereits ihren Arm mit seinem Fang gepackt. Wildes Knurren drang aus seiner Brust. Seine Augen funkelten bösartig – eine zornige Bestie, die ihr deutlich machte, was sie davon hielt, dass sie in ihr Revier eingedrungen war. Sie spürte den Druck von Akiros Gebiss, die Zähne, die sich in ihr Fleisch bohrten. Noch hielt er den Arm fest, ohne ihn zu schütteln.

Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, baute keinen Gegendruck auf, weil sie gestern beim Spielen mit Kitaro bemerkt hatte, dass das den Reiz zu schütteln erhöhte. Sie versuchte, so passiv wie möglich zu bleiben, und senkte den Blick. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen.

»Es tut mir leid, Akiro, unendlich leid. Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Ich will nur da sein, damit du nicht allein bist. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, den man liebt und für dessen Tod man sich verantwortlich fühlt. Lass mich einfach hier bleiben und dir ein bisschen Gesellschaft leisten. Morgen kommt der Tierarzt, und dann ist alles vorbei. Okay? Be friendly, Akiro«, befahl sie am Ende mit Nachdruck.

Sie wusste nicht, wer von ihnen beiden erstaunter war, als er ihren Arm losließ – sie oder er. Einen Moment schauten sie sich an, dann verzog sich der Hund erschöpft wieder in die Hütte.

Natasha atmete flach, rührte sich volle fünf Minuten nicht. Ihre Muskeln waren verkrampft, und in ihrem Arm pochte es. Langsam quoll Blut aus den Bisswunden, die nicht tief waren, hervor. Scheiße, sie musste wirklich von allen guten Geistern verlassen sein. Seltsamerweise machte es ihr aber keine Angst. Im Gegenteil. Ein Hund hatte sie angegriffen, hatte ihren Arm malträtiert und ihn wieder losgelassen. Smarts Fang hatte über ihrer Kehle gehangen, und hätte er zugebissen, hätte es nicht nur einen schmerzenden Arm, sondern ihren Tod bedeutet. Er hatte es aber nicht getan, sondern war von ihr weggegangen, als Peter es befohlen hatte.

Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen holte sie ihr Notfallkit aus dem Rucksack. Sie besprühte die zwei Wunden, die die Fangzähne oben und unten hinterlassen hatten, mit einem Antiseptikum. Oben gab es noch eine länglich gezogene Schramme, unten nur den Einstichpunkt vom unteren Reißzahn. Vom Druck auf ihre Knochen würde sie vermutlich eine Prellung zurückbehalten. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihren Arm heute Nachmittag gebrauchen konnte.

Der Appetit war ihr vergangen. Die Lust zum Lesen ebenfalls. Sie verstaute die Brotdose mit den verbliebenen Brötchen im Rucksack, drehte sich auf die Seite und benutzte ihren Rucksack als Kopfkissen. Zehn Minuten schlafen, beschloss sie, nicht länger.


Malte blieb das Herz stehen. Natasha lag in Akiros Zwinger und schlief tief und fest. Der Unterarm, der vor ihrem Gesicht lag, zeigte eindeutig Bissspuren. Aber das war es nicht, was seinen Herzschlag stocken ließ, sondern die Tatsache, dass sich Akiro an ihrem Bauch zusammengerollt hatte und ihn nun mit wachsamen Augen beobachtete. »Wage es ja nicht, einen Schritt näherzukommen«, konnte er in dem Blick lesen.

Langsam ging er in die Hocke. »Alles in Ordnung, Akiro. Be friendly.«

Zur Antwort erhielt er ein tiefes Knurren. Akiro hob den Kopf und fletschte die Zähne, aber die Drohgebärde galt nicht ihm.

»Bleib in Herrgottsnamen stehen, verdammt noch mal!«, fluchte er denjenigen an, der hinter ihm aufgetaucht war.

»Oh, mein Gott«, hörte er Simon flüstern. »Ist sie lebensmüde?«

»Ich hätte es wissen müssen. Ich verfluchter Idiot hätte es wissen müssen. Bring mir meine Waffe.«

»Was?«

»Du hast mich gehört. Bring mir die Waffe. Sie ist im Haus in meinem Safe. Die Kombination ist 9576389.«

»Du kannst ihn nicht erschießen.«

»Was soll ich deiner verfluchten Meinung nach dann tun? Zusehen, wie er sie in Stücke reißt?«

»Du kannst in den Zwinger gehen und ihn zurückhalten.«

»Das ist mir zu riskant.«

»Kann es nicht sein, dass er sie nur beschützt?«

Malte atmete flach, versuchte, in der Haltung des Hundes zu lesen. Es waren widersprüchliche Signale, die er sendete. Empfand er sie als eine Beute, die ihm wegzunehmen keiner wagen durfte? Oder hatte er sich an sie angelehnt, Trost gesucht? Beschützte er ihren Schlaf?

Natasha machte die Augen auf, und das Erste, was sie sah, war ein Hundekopf mit gefletschten Zähnen.

»Nicht bewegen«, kam es leise mit ruhiger Stimme von Malte. »Geh und hol meine Waffe.«

Sie hörte, wie sich eine zweite Person entfernte, wagte aber nicht, den Kopf zu drehen. Die angespannte Haltung des Hundes veränderte sich minimal.

»Warum liegt er bei mir?« Natasha sprach ebenfalls leise und versuchte, einen beruhigenden Klang in ihre Stimme zu bringen.

»Sag du es mir. Verdammt, Natasha, bist du wahnsinnig geworden? Wie konntest du in den Zwinger gehen?«

Seinen Fluch in einem fröhlichen Ton zu hören, war irritierend. Doch ihr war klar, dass er es für den Hund machte. Er war sauer auf sie. Zu Recht.

Sie ignorierte Malte, hob ihren verletzten Arm und hielt Akiro die Hand hin. Die Haltung tat verflucht weh. Der Schmerz in ihrem Arm war zu einem dumpfen Pochen geworden. Akiro ignorierte die Hand, winselte, stand auf und verschwand in der Hundehütte.

»Komm raus. Sofort! Aber beweg dich ganz langsam!«, befahl ihr Malte. »Verstanden?«

Statt mit dem Rücken zur Öffnung der Hundehütte zu liegen wie zuvor, hatte Akiro jetzt den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet und beobachtete alles aufs Genaueste.

Sobald sie am Eingang stand, öffnete Malte die Tür, packte sie am Kragen, verriegelte den Zwinger wieder hinter ihr und schüttelte sie, wie sie es bei Nanna gesehen hatte, wenn es einer der Welpen zu bunt getrieben hatte.

»Bist du wahnsinnig? Was habe ich dir über den Hund gesagt?«

»Dass er gefährlich ist.«

»Und?«

»Dass ich mich von ihm fernhalten soll.«

Simon kam mit einer P8 Combat angerannt, einem Sondermodell der P8, die statt des üblichen Sicherungs- und Entspannungshebels nur einen Entspannungshebel besaß und so eine schnellere Schussbereitschaft sicherstellte. Er hielt die Pistole, als wäre sie eine giftige Schlange.

Malte nahm sie ihm aus der Hand und warf einen kurzen Blick auf den Entspannungshebel.

»Du willst ihn erschießen?«

»Es ist ein schneller Tod.«

Sie trat in die Schusslinie, legte ihm eine Hand auf den Arm. »Tu das nicht.«

»Ich verschwinde, ich kann das nicht mitansehen«, presste Simon hervor, machte kehrt und rannte davon.

»Sag den anderen, sie sollen im Aufenthaltsraum bleiben«, rief ihm Malte hinterher. »Geh aus dem Weg, Natasha.«

»Glaub mir, du würdest es dir nie verzeihen. Es tut mir leid, dass ich in den Zwinger gegangen bin. Er hat mir nichts getan.«

»Nichts getan?« Er deutete auf ihren Arm, der anfing, sich zu verfärben.

»Er hat losgelassen, nachdem er mir gezeigt hat, was er davon hält, dass ich in sein Territorium eingedrungen bin.«

Sie standen voreinander, beide entschlossen in dem, was sie wollten.

»Geh zur Seite oder ich werde handgreiflich.«

»Versuchs«, sagte sie entschlossen und änderte ihren Stand in eine Verteidigungsposition.

Abschätzend musterten sie sich. Er hatte die selbstsichere Ausstrahlung eines Kämpfers, mit dem man sich besser nicht anlegte. Egal. Sie würde es nicht zulassen, dass er Akiro wegen ihres Fehlers erschoss. Mochte der Hund auch nur noch einen Tag zu leben haben, sie war entschlossen, dass er ihn auch bekam. Sich auf einen Kampf einzulassen, war zu riskant, also verlegte sie sich auf das, was ihre Stärke war: reden.

»Wie schläfert ihn der Tierarzt morgen ein? Ich meine, er lässt niemanden an sich ran.« Immerhin hatte sie erlebt, wie der Hund auf Fremde reagierte.

»Ich verpasse ihm eine Beruhigungsspritze und dann das Gift. Der Tierarzt ist nur dabei, weil er mir die Mittel nicht aushändigen darf und um später sicherzustellen, dass er tot ist.«

»Du hast die Jacke von seinem Herrchen, damit er daran schnuppern kann, während er stirbt.«

»Woher …« Er brach ab. »Du versuchst, mich abzulenken und meine Gedanken auf morgen zu richten.«

»Es tut mir leid, dass ich in den Zwinger gegangen bin. Schau, er hat mich in Ruhe gelassen, nachdem er mir gezeigt hat, was er von mir hält. Bitte erschieß ihn nicht. Vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass du recht hast, dass es funktioniert und Nanna einen guten Einfluss auf ihn ausübt. Akiro ist dir nicht egal. Du liebst ihn, und wenn er sterben muss, dann soll er friedlich sterben.«

»Ihn zu erschießen geht schnell, und egal auf welche Weise er stirbt, ich werde immer der sein, der ihn tötet.«

»Dann lass es uns morgen zusammen machen. Wenn du es jetzt machst, werde ich für immer das Gefühl haben, an seinem Tod schuld zu sein, und das ist das Letzte, was ich will.«

»Was wolltest du überhaupt beweisen? Dass du mit dem bisschen, was du gesehen und gelesen hast, mehr Ahnung von Hunden hast als ich?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur so, dass ich ihn verstehen kann, weil ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man jemanden verliert, und ich wollte, dass er weiß, dass er mit seinem Kummer nicht allein ist.«

Sie ärgerte sich, dass ihr Tränen in die Augen traten. Malte senkte die Waffe. »Er hat von dir abgelassen. Was hast du gesagt?«

»Be friendly, Akiro, neben vielem anderen Unsinn.«

Malte blickte an ihr vorbei.

Sie drehte sich um. Der Hund saß direkt hinter ihr auf der anderen Seite des Zauns. Seine schokoladenbraunen Augen waren auf sie gerichtet. Sein Schwanz ging einmal von rechts nach links. Dann wandte er sich ab, schnüffelte an der Rohkost, die sie auf dem Boden liegengelassen hatte, und begann zu fressen.

5

Auf dem Abstellgleis

Peter betrat als Letzter den Raum, in dem die Besprechung stattfand. Wie in einem Schulraum mit Tischreihen saßen die anderen vom Team Themis bereits an ihren bevorzugten Plätzen, während Oberst Wahlstrom vorn stand und leise mit Hauptmann Wagner sprach. Beide hatten im KSK gedient, bevor sie ins Team gewechselt waren.

Oberst Ben Wahlstrom war bei einer Vorversion der Einheit dabei gewesen, als diese den militärischen Streitkräften zugeordnet gewesen war. Vor knapp anderthalb Jahren war die Entscheidung gefallen, eine offizielle Sondereinheit aufzubauen, deren Schwerpunkt mehr auf der polizeilichen Seite lag. Die militärische Führung brachte ihre Erfahrung aus der internationalen Zusammenarbeit mit anderen Streitkräften und ihre Kampferfahrung aus anderen Ländern mit ein.

Generalmajor Karl Hartmann, der das öffentliche Gesicht und die politische Schnittstelle darstellte, war zwanzig Jahre im BKA tätig gewesen, bevor er für eine Sondertruppe in den militärischen Dienst übernommen worden war. Er verband beide Welten miteinander.

Oberst Ben Wahlstrom war für das Team in der Zentrale verantwortlich und bereitete die Einsätze vor, was auch bedeutete, dass er derjenige war, der die Koordination mit den anderen polizeilichen und militärischen Diensten übernahm, national und international.

Generalmajor Hartmann hingegen bewegte sich auf der politischen Ebene, trug die Verantwortung und musste ihre Einsätze vor dem Sonderausschuss der Regierung rechtfertigen. Hauptmann Tobias Wagner hingegen, auch TJ genannt, war der Analyst in ihrer Abteilung und hatte viel Erfahrung mit internationalen Einsätzen. Er war häufig mit dem Navy-Seals-Team der USA unterwegs gewesen und hatte auch deren Training absolviert.

Peter setzte sich neben Mark.

Carolina, die auf Marks anderer Seite saß, hob die fein geschwungenen Augenbrauen. »Wo ist unser Neuzugang?«

»Noch ist sie kein Neuzugang.«

»Was soll das heißen?«

Wahlstrom hob die Stimme. »Okay, Leute, jetzt, wo wir vollzählig sind, können wir loslegen. Hauptmann Wagner wird Ihnen als Erstes einen Überblick über die Situation geben, in der wir operieren müssen.«

Sie alle konzentrierten sich auf die Ausführungen von Hauptmann Wagner. Ein Geschäftsmann und seine Frau waren in Mexiko entführt worden. Die Lösegeldforderung lag bei drei Millionen Euro. Die Geschäftsleitung hatte sich an das BKA gewandt, und von dort war ihr Auftrag gekommen.

Zuerst wurden sie von Wagner auf den aktuellen Stand der Ermittlungen gebracht – alles, was er bisher recherchiert und in Erfahrung gebracht hatte. Es gab Hintergrundinformationen über die aktuelle Situation in Mexiko, die bekannten Syndikate und mögliche Hintermänner der Entführungen. Das Unternehmen würde die Lösegeldsumme transferieren, wie es derzeit in diesem Szenario empfohlen wurde.

Es war die fünfte Entführung von Deutschen in Mexiko in den letzten drei Monaten. Ihr Auftrag verfolgte zwei Ziele. Das erste bestand darin, die Entführten wieder sicher nach Deutschland zu bringen. Das zweite war es, zu den Hintermännern vorzudringen und diese möglichst in Deutschland vor Gericht zu stellen. Dieser Punkt wurde zurzeit vom Generalmajor und dem Bundesaußenministerium mit den Mexikanern verhandelt. Es gab einen zwischenstaatlichen Auslieferungsvertrag zwischen Mexiko und Deutschland. Sie hatten bereits häufiger mit den mexikanischen Sicherheitskräften zusammengearbeitet und diese, bisher vor allem bei Drogendelikten, unterstützt. Bei manchen Einsätzen wurde das Team aufgesplittet, sodass eines vor Ort operierte, während das andere in Deutschland die Arbeit unterstützte.

Diesmal jedoch fiel die Entscheidung, das gesamte Team nach Mexiko zu schicken.

Entspannt rollte Peter seine Schultern. Es war Zeit, dass er nach knapp vier Monaten wieder aktiv ins Geschehen eingreifen konnte. Bei der Aufgabenverteilung blieb sein Name außen vor, sicher ein Versehen, denn er war der einzige Hundeführer in der Staffel.

Er hob die Hand, doch Wagner ignorierte ihn.

»Okay, das war’s. Wenn noch jemand Fragen hat, können wir sie in Einzelgesprächen klären«, beendete Wagner seinen Part.

Wahlstrom übernahm. »So weit sind Sie jetzt auf dem Laufenden. Ein paar von Ihnen sind nicht in den Fall involviert. Das ist kein Fehler, sondern eine bewusste Entscheidung.« Sein Blick wanderte zu ihm. »Lassen Sie uns das nachher unter vier Augen klären. Kommen wir zu unserer monatlichen Besprechung, Ihren Trainingsergebnissen und dem Debriefing des letzten Einsatzes.«

Peter hatte Mühe, sich auf die Diskussion zu konzentrieren. Mehr als einmal musste ihn Mark anstoßen, damit er seinen Input gab. Er fragte sich, warum Wahlstrom mit ihm allein sprechen wollte. Dass er eine neue Partnerin zugeteilt bekommen hatte, bedeutete ja nicht, dass er in nächster Zeit an keinem Einsatz mehr teilnahm. Die operative Leitung des Teams unterstand Wahlstrom, und auch wenn der Generalmajor von seinem Verhalten angekratzt sein mochte, war er nicht der Typ, der eine Ressource seines Teams ungenutzt ließ. Ihn und Smart außenvorzulassen, wenn es um die Suche nach Menschen ging, stellte in seinen Augen ein absolutes No-Go dar.


Sie wechselten in das kleine Besprechungszimmer. Wahlstrom legte Natashas Akte auf den Tisch.

»Bevor Sie sich aufregen – Sie stehen mit Smart auf der Springerliste für den Einsatz. Sobald wir Ihre und Smarts Fähigkeiten benötigen, bringen wir Sie rüber.«

Erleichtert atmete Peter auf. »Wieso nicht sofort? Warum die Kosten eines zusätzlichen Transports einkalkulieren?«

»Weil ich denke, dass wir in diesem Fall auf Sie verzichten können. Der Befehl des Generalmajors lautet, Sie komplett aus den operativen Aufgaben herauszuhalten, bis Kriminalhauptkommissarin Kehlmann so weit ist, dass sie Sie begleiten kann. Wenn ich mir deren Ergebnisse vom Leistungstest ansehe – oder besser gesagt, vom Seilklettern –, möchte ich sie auf keinen Fall im Mexiko-Einsatz dabeihaben. Sie wäre ein Risiko für das Team, wenn wir sie mit einem Hubschrauber rausholen müssen. Wo ist sie überhaupt? Krank? Oder haben Sie es bereits geschafft, dass sie hinwirft?«

Es war schwer, in Wahlstroms Gesicht zu lesen. Normalerweise war er derjenige, der das Auswahlverfahren übernahm. Doch diesmal war er in einem heiklen Auftrag unterwegs gewesen, sodass Generalmajor Hartmann mit seiner Hilfe das Auswahlverfahren durchgezogen hatte. Peter war sich sicher, dass Natasha, hätte Wahlstrom zu entscheiden gehabt, rausgeflogen wäre. Er rieb sich die Nase.

Die Formulierung des letzten Satzes ließ ihn hellhörig werden, weshalb er sich entschied, erst einmal das Terrain zu testen.

»Sie hat bei dem Test gelogen, als es um ihre Erfahrung mit Hunden ging.«

»Hat sie das?«

»Ja. Sie hat keine Ahnung, wie man mit Hunden umgehen muss. Da sie meine Partnerin werden soll, muss sie jedoch in der Lage sein, Smart im Einsatz so wie ich zu führen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie besser mit Chris Neumann oder Kevin Steuber zusammenarbeiten könnte.«

»Die beide einen Partner haben. Sie haben keinen.«

»Ich hatte eine Partnerin. Carolina Herrmann.«

»Ja, und Herrmann war diejenige, die sich entschieden hat, zu Mark Becker zu wechseln, als sein Partner wegen dessen Frau aus dem Team ausgestiegen ist.«

»Wieso hat sie eigentlich gewechselt?«

Wahlstrom schüttelte den Kopf. »Fragen Sie sie, nicht mich. Schauen Sie sich die zwei an, und Sie wissen, es war die richtige Entscheidung. Sie harmonieren super.«

»Herrmann und ich waren ebenfalls ein gutes Team.«

»Wo ist Kehlmann?« Wahlstrom ignorierte seinen letzten Satz.

»Bei Balthaus. Er bringt ihr die Grundlagen bei, die ein Diensthundeführer beherrschen muss. Allerdings hat sie ziemlich Schiss vor Hunden. Außerdem hat sie das Schnellschießen nur ganz knapp geschafft.«

»Ich weiß, ich kann lesen.«

»Können wir offen miteinander reden?«

»Schießen Sie los.«

»Sie hat einfach nicht das Zeug, ein Teil von Themis zu werden. Sie ist emotional und kann keine Distanz halten. Mehr als einmal hat sie sich beim Auswahltraining schützend vor andere gestellt, dabei kannte sie vorher keinen Einzigen von ihnen. Als ein Mädel die Glocke schlug, hat sie mich angesehen, als wollte sie mich lynchen. Außerdem ist sie in sich gekehrt und brütet viel. Kein gutes Zeichen, wenn jemand zu viel denkt, das wissen Sie. Glauben Sie mir, in der ersten Krisensituation bricht sie uns zusammen.«

»Was Sie als emotional bezeichnen, heißt in ihrer Akte Empathie. Das kann durchaus eine Stärke sein. Außerdem zeigt ihr psychologisches Profil bei den Belastungstests, dass sie mit Krisensituationen umgehen kann.« Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht. »Ich habe gehört, dass Sie sie beim Ausbildungstraining ziemlich rangenommen und provoziert haben. Sie ist Ihnen nicht an die Kehle gesprungen und Sie haben keine Macke abbekommen.«

Die letzte Bemerkung ignorierte Peter geflissentlich. »Es wäre nicht das erste Mal, dass der Belastungstest zu einer Fehleinschätzung führt.«

»Ich stimme Ihnen zu, und ich gebe zu, dass wir an dem Teil des Einstellungstests weiterhin feilen müssen. Ich denke, dass wir mit unserer neuen Psychologin Dr. Franziska Naumann einen richtigen Weg eingeschlagen haben.«

»Warum ist Generalmajor Hartmann so verdammt fixiert auf Kehlmann? Sie kennen ihn länger als ich. Erklären Sie es mir?«

»Er hat Ihnen ihre Akte gezeigt?«

»Ja.«

»Sie haben sich mit ihr beschäftigt?«

»Ja.«

»Dann wissen Sie, dass sie an einer Spezialausbildung für Verhörmethoden der CIA teilgenommen hat. Haben Sie ihre Beurteilung gelesen?«

»Ja.« Peter rutschte auf dem Stuhl hoch. »Es ist nicht so, dass ich ihre Stärken nicht sehen würde. 27 Sprachen sind nicht schlecht.«

»Nicht schlecht?«

»Okay, von mir aus, ja, es ist beeindruckend. Trotzdem.«

»Nein, genial ist es, und das wissen Sie. Ich habe ihre Leistungssteigerung in den drei Ausbildungsmonaten gesehen. Sie haben sie sich vorgeknöpft. Beeindruckend, was Sie da bei ihr geleistet haben, und hätten Sie den Hindernisparcours anders gestaltet, hätte sie es vermutlich geschafft. Wenn Sie ehrlich sind, stinkt es Ihnen nur, dass Hartmann sie Ihnen aufgedrückt hat und Sie jetzt das Gefühl haben, den Babysitter spielen zu müssen. Aber es geht am Ende um einen neuen Partner für Sie.« Er machte eine Pause. »Allerdings haben wir die Kriterien nicht umsonst aufgestellt. Durchgefallen ist durchgefallen. Bei uns gibt es keine zweite Chance, sonst weichen wir demnächst alles auf.«

Erleichtert lehnte sich Peter zurück und grinste Wahlstrom an. »Als hätten Sie meine Gedanken gelesen.«

»Weil ich ebenso dachte. Aber wie Sie es vorhin so schön formuliert haben, stand ich von Anfang an unter dem Kommando von Generalmajor Hartmann, und wenn ich eines gelernt habe, dann dass er über eine enorme Menschenkenntnis verfügt, das kann Ihnen auch Hauptmann Wagner bestätigen.«

»Das bezweifle ich auch gar nicht.«

»Dann lassen Sie mich für Sie anders formulieren. Hartmann sieht etwas in dem Mädel, das wir beide nicht sehen. Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie werfen den Job hin oder Sie machen Ihren Job und sehen zu, dass Sie sie fit bekommen. Je eher Sie es schaffen, desto schneller sind Sie wieder voll einsatzbereit im Team. Das wäre meine Strategie an Ihrer Stelle. Allerdings reichen mir die Eckdaten nicht. Ich möchte, dass Kehlmann auch in Ausdauer, im Nahkampf und im Schießen einen Sprung nach vorn macht. Wie Sie das hinbekommen, überlasse ich Ihnen.«

»Und was, wenn sie hinschmeißt?«

Eine Weile musterte ihn Wahlstrom. »Es wäre eine Möglichkeit, aber meiner Ansicht nach ist das unter Ihrem Niveau. Geben Sie ihr eine faire Chance, und ich verspreche Ihnen, dass ich meine Hand über Sie halte, falls sie es nicht schafft. Deal?«

»Deal.«

»Dienstag achthundert möchte ich ein Gespräch mit ihr führen, damit ich mir einen Eindruck von ihr machen kann.«


Diesmal war es Simon, der Peter das Tor öffnete und ihn dann gleich wieder allein ließ.

»Wenn du deine Kollegin suchst, die trainiert mit Malte und den anderen das Eindringen in Häuser.«

Er wanderte übers Gelände, bis er den Trainingsbereich erreichte. Malte machte ihm ein kurzes Zeichen, und er blieb mit Smart auf Abstand, während Malte seine Anweisungen erteilte. Als die Teams an die Arbeit gingen, kam er zu ihm herüber.

»Hey, willst du mitmachen?«

Peter starrte noch immer auf Natasha, die gerade mit dem ihr zugeteilten vierbeinigen Partner geduckt die Mauer entlangschlich.

»Du lässt sie beim Training mitmachen? Die Hunde sind in der Endphase, bereit für die Übergabe.«

»Exakt. Hijack ist das Sensibelchen in der Truppe. Colin und er funktionieren als Team überhaupt nicht miteinander. Er hat jetzt Homer zugeteilt bekommen, das hat geklappt.«

»Bist du wahnsinnig? Die Frau hat keine Ahnung von Hunden.«

Malte grinste breit. »Das mag am Freitag der Fall gewesen sein, aber heute ist Montag. Schau selbst, wie präzise sie in ihren Signalen ist und wie aufmerksam Hijack auf sie achtet.«

Peter verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete aufmerksam, wie das Paar das erste Hindernis überwand. Der Hund kletterte hoch, legte sich hin, wartete, bis seine menschliche Partnerin bei ihm war und sich auf der anderen Seite herunterhangelte, um ihr dann in die Arme zu springen. Natasha schaffte es nicht, das Gewicht auszugleichen, und landete unsanft auf ihrem Hintern.

»Daran musst du mit ihr arbeiten, ihr fehlt die Stärke im Oberkörperbereich«, brummte Malte neben ihm.

»Morgen starte ich mit dem Krafttraining.«

»Das geht nicht.«

»Bitte?«

»Gib uns noch diese Woche. Bis dahin schaffen wir es hoffentlich, dass Akiro jemand anderen als Bezugsperson akzeptiert.«

»Akiro? Der Hund, der im Einsatz einen Teil seines Teams verloren hat?«

»Ja. Ich wollte ihn einschläfern, aber Natasha hat es geschafft, ihn aus seinem Loch herauszulocken.«

»Was?! Willst du mir gerade sagen, dass sie zu einer verdammten Hundeflüsterin mutiert ist?«

»Du musst nicht gleich dermaßen übertreiben. Aber ja, es gibt bestimmte Hunde, die auf sie reagieren. Sie hat diese Ausstrahlung, die … Ich weiß gar nicht, wie ich es genau formulieren soll. Wenn du dich mit ihr unterhältst, hast du nach einer Weile das Gefühl, dass du ihr alles anvertrauen kannst, weil du meinst, dass sie alles versteht, ohne zu urteilen. Dieses Akzeptieren um jemandes selbst willen ist wirklich eine überaus starke Waffe. Das wird eine echte Bereicherung für euer Team. Eine Woche. Ich spreche mit Wahlstrom.«

»Sie hat morgen einen Termin mit ihm, und ich muss mit dem Training anfangen. Ihretwegen sitze ich auf der Reservebank.«

»Trag es mit Fassung, ich finde, es lohnt sich. Genug geplaudert, wenn du und Smart nicht mitmachen wollt … Ich muss die Übung überwachen.« Malte ging zurück zum Trainingsgebäude.

Smart neben ihm war angespannt bis zu den Haarwurzeln. Dem Hund fehlte das Training, und er saß auf der Reservebank. Er ärgerte sich, dass er nicht Maltes Angebot angenommen hatte und an der Übung teilnahm. Das Letzte, wozu er Lust hatte, war zu warten, bis sie fertig war. Alles in allem würde das Szenario mit anschließender Manöverkritik etwa zwei Stunden dauern.

Er drehte sich um und ging zum Platz, damit er wenigstens mit Smart einen Hindernisparcours absolvieren konnte. Was er jetzt brauchte, war Bewegung.

Er füllte Smart den Napf voll Wasser, und der Hund soff ihn gierig leer.

Er selbst steckte den Kopf kurz unter den Wasserhahn.

»Du kannst auch die Dusche in meinem Apartment benutzen.«

Er schlug sich den Kopf am Hahn an.

Marina fing an zu lachen. »Sorry, aber das sah zu lustig aus.«

»Ja, ja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.«

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ehrlich, es tut mir leid, ich hätte dich nicht erschrecken dürfen.«

Dezent trat er einen Schritt zurück, benutzte sein T-Shirt, um sich das feuchte Haar trocken zu rubbeln.

Marina ließ einen hungrigen Blick über seinen durchtrainierten nackten Oberkörper wandern. Rasch zog er sich das feuchte T-Shirt wieder über.

»Wegen mir brauchst du dich nicht anzuziehen. Du bist nicht der einzige Mann, der ohne Oberteil hier rumläuft. Ich hab euch beobachtet. Ihr zwei seid verdammt gut im Training. Darf ich?«

Er nickte, und sie gab Smart einen großen Hundekeks, den er genüsslich zermalmte.

»Wie oft trainierst du mit ihm?«

»Täglich, unterschiedliche Sachen.«

»Er ist ganz schön intelligent. Nimmt viele Sachen vorweg. Man merkt, dass ihr ein eingespieltes Team seid.«

»Marina …« Er seufzte. »Sorry, du bist echt süß, und im Normalfall würde ich gern mit dir flirten, aber …«

»Malte hat gesagt, dass du Ärger kriegst, wenn du was mit mir anfängst.«

Er grinste. »So ist es.«

»Weißt du, ich bin 24 und kann selber entscheiden, worauf ich mich einlasse und worauf nicht. Ich bin nicht auf der Suche nach einer Beziehung, wenn es das ist, wovor du Angst hast. Ich möchte nur schlicht und ergreifend Sex mit einem Mann, der mir gefällt.«

»Ich mag es, wenn Frauen wissen, was sie wollen.«

Marina trat näher an ihn heran, legte eine Hand auf seine Brust und ließ sie mit Druck nach unten wandern. Er hielt ihr Handgelenk fest, als sie den Hosenbund erreichte. Am Ende war er auch nur ein Mann. Er zog sie zu sich heran und küsste sie. Weiche, willige Lippen öffneten sich seiner fordernden Zunge. Hmm, sie schmeckte süß und eine Spur nach Apfel und Karotte. Er vertiefte den Kuss, ließ seine Hand in ihren Nacken wandern, vergrub seine Finger in ihren Haaren.

»Ups, sorry, ich wollte euch nicht stören.«

Er fuhr zurück, hielt Marina jedoch mit der einen Hand an der Taille fest, da sie ihren festen Stand verloren hatte.

Natashas Lippen umspielte ein amüsiertes Lächeln, und in ihren Augen blitzte es vergnügt. Seine Laune fiel schlagartig auf den Tiefpunkt von zuvor zurück, als er sich vom Übungsplatz getrollt hatte.

Sie wedelte mit der Hand. »Lasst euch von mir nicht stören. Ich wollte sowieso erst unter die Dusche, aber Malte meinte, es wäre besser, ich würde mich direkt zum Rapport bei dir melden.«

»Warte, wie weit ist es von hier bis zu dir nach Hause?«

Sie hob die Augenbrauen, und ihm wurde klar, dass seine Worte vielleicht etwas seltsam klangen. Er ließ Marina los, die ihn ebenfalls irritiert ansah.

»Wir müssen mit deinem Training anfangen.«

»Ich dachte, das hier wäre Teil meines Trainings.«

»Ja. Nein. Ich meine, wir müssen an deiner Fitness arbeiten.«

»Bei mir zu Hause?«

Sie schaffte es tatsächlich, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss. Dammit.

Marina verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nein, natürlich nicht. Es geht um deine Sportsachen. Wir können schließlich das Ausdauertraining nicht direkt in Boots und Cargohose starten. Das steht erst später auf dem Plan. Erst mal machen wir heute einen lockeren Zwanzigkilometerlauf.«

»Meine Sportsachen sind hier. Reicht es, wenn wir in einer halben Stunde starten oder brauchst du länger?«

Die zweite Frage richtete sie mit einem spitzbübischen Grinsen eher an Marina als an ihn.

»Ich glaube, du hast die Stimmung verdorben«, erwiderte diese mit einem Seufzer. Sie ging auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Du weißt, wo du mich findest, wenn du es dir anders überlegst.«

Sie sahen ihr beide nach, als sie hinausging.

»Es tut mir ehrlich leid, dass ich euch dazwischengekommen bin. Marina lauert jeden Tag darauf, dass du wieder hier aufkreuzt.«

»Du brauchst mir kein Date zu organisieren, das kriege ich schon selber hin.«

»Keine Frage, das war auch gar nicht meine Absicht. Ich wollte nur kollegial sein, mehr nicht.«

»Wieso sind deine Sportsachen hier?«

»Malte hat mir eines der Apartments angeboten, damit ich nicht immer so viel Zeit mit der Hin-und-Her-Fahrerei verliere. Auf diese Weise konnten wir die Zeit viel intensiver nutzen.«

»Wie war deine Wertung?«

»Meine Wertung? Ach, du meinst diese Haus-Stürm-Übung? 168.«

Zweihundert war die Höchstpunktzahl, die man erreichen konnte. Für jemanden, der bis vor drei Tagen noch keine Ahnung von Hunden hatte, war das ziemlich erstaunlich.

»Du hast Malte echt um den Finger gewickelt«, merkte er an und zog finster die Augenbrauen zusammen.

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und ihre hellgrünen Augen verwandelten sich in kantig geschliffene Smaragde.

»Ich wickle niemanden um den Finger. Ich arbeite hart und konzentriert, ich höre zu und lese viel. Alles, was ich erreiche, schaffe ich, weil ich mit vollem Einsatz dahinterstehe. Ich manipuliere niemanden und ich steige auch mit niemandem ins Bett, um mir einen Vorteil zu verschaffen. Und jetzt gehe ich hoch, ziehe mich um, und du solltest deinen Hintern ebenfalls in deine Sportsachen schwingen, es sei denn, du bist der Meinung, dass du es nicht brauchst, weil du locker mit mir mithalten kannst. Aber ich an deiner Stelle wäre mir da nicht so sicher.«

Als sie Marina um die Ecke folgte, glaubte er beinahe, Rauch aus ihren Ohren hervorquellen zu sehen.

Es schien, als könne man Miss Überheblich doch aus ihrer Reserve locken.

6

Wahlstrom

Halb vier Uhr morgens. Mit einem Stöhnen drückte sich Natasha das Kissen auf den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass jede einzelne Muskelfaser in ihren Oberschenkeln nach Ruhe schrie. Sie hasste Langstreckenlauf wie die Pest. Lieber schwamm sie vier Kilometer am Stück, als einen Lauf zu absolvieren, der am Ende sogar über 27 Kilometer ging, Intervalle mit Speed eingeschlossen. Sie war weit über ihre Leistungsgrenze gegangen, einfach weil sie nicht hatte nachgeben wollen und Peter sie so lange quälte, bis sie einfach am Ende war. Sie rieb sich ihre Beine mit einem Öl ein, das die Durchblutung förderte und gleichzeitig kühlte. Ihre Mutter schwor darauf, und es hatte ihr mehr als einmal geholfen, nach einem harten Training über den nächsten Tag hinwegzukommen. Akiro, der in ihrem Zimmer schlief, schob sich eine Pfote über die Nase, als wollte er sich vor dem Gestank schützen, und begann zu niesen.

»Keine Sorge, der Geruch ist gleich wieder weg.«

Vorsichtig streckte und reckte sie sich. Sie hatte nach dem Laufen extra viele Stretchübungen eingelegt, aber ob es wirklich etwas gebracht hatte, wusste sie nicht. Sie redete sich ein, dass sie sich nur deshalb noch einigermaßen schmerzfrei bewegen konnte, weil sie mit dem Stretchen dem größten Muskelkater vorgebeugt hatte. Sie holte das Fressen für Akiro aus dem Kühlschrank und wärmte es in der Mikrowelle kurz an, stellte es hin und füllte seinen Napf mit frischem Wasser auf.

Er wartete, bis sie ihm den Befehl gab zu fressen. Erst dann stürzte er sich auf den Napf.

Malte hatte ihr einen speziellen Ernährungsplan für Akiro erstellt, und die letzten Tage hatte sie zusehen können, wie der Hund an Kraft gewann und sein Fell wieder anfing zu glänzen. Gegenüber den anderen Trainingshunden war er immer noch mager. Manchmal machte ihm im Training auch die Verletzung am linken Hinterlauf zu schaffen. Sie zog sich ihre alten Turnschuhe an und schlüpfte in bequeme Sachen.

»Get the leash, Akiro.«

Jeden Abend versteckte sie die Leine in dem kleinen Apartment, und der Hund musste sie suchen. Das war eine der vielen Übungen, die sie tagtäglich mit ihm absolvierte, damit er wieder in sein altes Training zurückfand. Er brauchte Beschäftigung, vor allem für den Kopf, das hatte ihr Malte eingebläut.

Keine zwei Minuten später saß er mit der Leine im Maul erwartungsvoll vor ihr.

»Good boy, good boy«, lobte sie ihn. »Be quiet.«

Sie schlichen durch das Treppenhaus. Sie hatte ihm das Leuchthalsband umgelegt und trug selbst eine Leuchtweste. Erst gingen sie in einem strammen Tempo, dann joggte sie locker, immer darauf achtend, dass Akiro sauber lief und die Hinterläufe möglichst gleichmäßig belastete.

Auf einer Wiese legten sie eine kurze Verschnaufpause ein. Sie massierte ihm die Muskulatur, was er sich nicht nur gefallen ließ, sondern regelrecht genoss. Dankbar leckte der Hund ihr die Hände. Dann nahm sie seinen gelben Tennisball und warf ihn. Sie war nie eine gute Werferin gewesen, doch Akiro schien das nichts auszumachen. Er brachte ihr den Ball wieder und bekam als Belohnung einen Knotenstrickknochen gereicht. Sie machte ein Zerrspiel daraus. Auch hier merkte sie, dass er kräftiger wurde. Das wilde Knurren und wie er sich zurückwarf, die ruckartigen Bewegungen, das Zähnefletschen und Kopfschütteln, um die Beute aus ihren Händen zu befreien, das alles machte ihr keine Angst mehr. Sie musste mit ihrem Gewicht und ihrer Kraft gegenhalten. Ab und an spürte sie noch die Armwunde, die er ihr zugefügt hatte.

»Let go.« Sofort ließ er das Spielzeug los. »Sit.«

Brav setzte er sich vor ihr hin, den Blick auf das Spielzeug fixiert, den Körper unter voller Anspannung.

»Fetch.«

Er rannte in vollem Speed los. Es war eine Freude, ihn rennen zu sehen. Und dann dieser vorwurfsvolle Blick, mit dem er sie bedachte, als sie ihn in seinen Zwinger brachte.

»Hey, keine Sorge, spätestens heute Abend bin ich wieder da. Versprochen.« Sie kraulte seinen Kragen, verbarg ihr Gesicht darin. Mit kräftigem Druck streichelte sie seinen Kopf, nahm ihn zuletzt in beide Hände und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Er revanchierte sich, indem er sie einmal leckte, bevor sie ihr Gesicht vor seinen Liebkosungen retten konnte.

»Er liebt dich abgöttisch.«

Sie erhob sich. Malte stand am Zwinger, die Hände in den Maschendraht gesteckt. Ein letztes Mal kraulte sie den Hund hinter dem Ohr und erhob sich.

»Das beruht auf Gegenseitigkeit.«

»Wer hätte das gedacht?«

Sie lachte, gab ihm einen freundschaftlichen Schubser.

»Warum bist du so früh auf?«, wollte er von ihr wissen.

»Weil ich mich heute achthundert zum Rapport bei Oberst Ben Wahlstrom melden muss. Kennst du ihn?«

»Ja, wir waren eine Zeit lang zusammen in einer Einheit.«

»Wie ist er?«

»Du kennst ihn noch nicht?«

»Nein.«

»Hart, aber fair. Er wird dir die Hölle heißmachen, weil du in seiner Einheit bist, ohne die Kriterien erfüllt zu haben. Besser, du arbeitest an deinen Fähigkeiten.«

»Schlimmer als Peter?«

»Nein, aber du kannst davon ausgehen, dass er voll hinter Pit steht. Hast du Muskelkater? Du sahst gestern nach dem Lauf ziemlich fertig aus.«

»Ein bisschen«, gab sie zu.

Er langte in seine Hosentasche und holte einen Schlüssel hervor. »Hier, damit du heute pünktlich wieder bei Akiro bist. Du hast doch einen Führerschein, oder?«

»Klar. Nur kein Auto.«

»Du schaffst es aber, in die Stadt zu fahren, ohne einen Unfall zu bauen?«

»Hey, nur weil ich mir kein eigenes Auto leiste, heißt das nicht, dass ich keine Übung hätte. Danke, ich tanke ihn voll.«

»Das brauchst du nicht. Sieh es als Dank für das, was du mit Akiro machst.«

»Du lässt mich doch schon umsonst wohnen!«

»Das ist es mir wert.«


Pünktlich um zehn vor acht betrat sie das Gebäude der Themis-Einheit.

Die blonde Göttin aller männlichen Träume mit Beinen, die bis zu ihren Ohren zu reichen schienen, grinste sie an, kaum dass sie den ersten Stock erreichte – als hätte sie auf sie gewartet. Unsicher, was sie von dem freundlichen Empfang halten sollte, wartete Natasha ab, was als Nächstes passieren würde.

»Na, ich dachte schon, du wärst nur eine Vision in unseren heiligen Hallen gewesen. Ich bin Carolina Herrmann, du kannst mich aber gerne Caro nennen.«

»Natasha«, nahm sie die dargebotene Hand an. »Du warst vor mir Peters Partnerin, stimmts?«

»Oh ja.« Ein bedeutungsvoller Unterton schwang in ihrer Stimme mit.

Neugierig musterten sie sich gegenseitig. Trotz Carolinas schlanker Statur konnte man ihr ansehen, dass sie topfit war. Mit den Beinen waren das Hindernistraining und der Langstreckenlauf vermutlich ein Klacks für sie.

»Komm, ich begleite dich zu Oberst Wahlstroms Büro. Wieso denkt Pit eigentlich, dass du lesbisch bist?«

Ein echtes Tratschweib, dieser Mann, schlimmer als eine Frau. »Bist du immer so direkt?«

»Das spart enorm viel Zeit und befriedigt die Neugierde. Also?«

»Keine Ahnung, wie er darauf kommt.«

»Du hast ihn hoffentlich nicht angelogen. Wenn er eines nicht leiden kann, dann ist es, wenn man ihn anlügt. Ist ein echter Tick von ihm.«

»Wieso hast du den Partner gewechselt?«

»Weil unser Pit verdammt anstrengend ist und manchmal schlecht akzeptieren kann, dass er einen Partner hat. Ich bin gespannt, ob du das durchhältst. Wir haben schon Wetten am Laufen.«

In Natashas Magen bildete sich ein Knoten. Na super. Carolina beugte sich vor. Diese Frau war in einer Art und Weise geschminkt, die jedes attraktive Detail ihres Gesichts hervorhob, angefangen von den langen, dichten Wimpern bis hin zu dem rot in Szene gesetzten vollen Mund. Als wäre sie gerade aus einem Film ins reale Leben getreten.

»Ich habe darauf gesetzt, dass du es schaffst. Also streng dich an, meine Süße, sonst mach ich dir Feuer unter deinem knackigen Arsch.«

Carolina klopfte für sie an die Tür und schob sie ins Büro.

Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Verdattert von dem Überfall starrte Natasha den Mann am Schreibtisch an. Seine nebelgrauen Augen schienen sie geradezu wie ein Röntgengerät zu durchleuchten. Unangenehm. Ihr Blick driftete leicht ab.

»Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann, wie überaus erfreulich, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren.«

»Wow«, stieß sie aus. Seine Hand ignorierend, die er ihr hinhielt, nachdem er sich aus seinem Stuhl erhoben hatte, trat sie zu dem gerahmten großen Landschaftsfoto, das hinter ihm an der Wand hing. Ein Haus an einem Seeufer, eingebettet in schroffes Gestein, mit einem Pfad, der hinunter zu einem Steg im See führte. Es waren nicht allein diese Kontraste von Schroffheit, einem Heim und der Mystik des nebelverhangenen Sees, die dieses Bild so außergewöhnlich machten, sondern das Licht. Die warm erhellten Fenster des Hauses. Das kühle Licht der Morgensonne, das die Kanten der Felsen scharf gegen den Himmel hervorstechen ließ. Ihr Blick ging hinunter zur Signatur.

»Das ist ja original von Hanna Rosenbaum. Unglaublich. Das ist ein Vermögen wert.«

»Ist es das?« Er trat hinter sie, betrachtete nun ebenfalls die auf Leinwand gezogene Fotografie mit der Signatur der Fotografin. Aber es war nicht nur eine Signatur, sondern dort stand auch eine Widmung: weil in jedem Ende der Neuanfang verborgen liegt.

»Ich liebe ihre Fotos«, seufzte Natasha aus der Tiefe ihres Herzens. »Sehen Sie.« Sie schob den Ärmel ihres Hemdes hoch, das sie heute zu einer ihrer bequemen Stoffhosen trug. »Ich kriege Gänsehaut. Es ist, als würde das Bild zu einem sprechen.«

»Okay, es reicht. Wenn Sie glauben, Sie könnten bei mir punkten, weil sie sich als Fan von meiner Frau outen, dann haben Sie sich geschnitten.«

Natasha starrte ihren Vorgesetzten verblüfft an. Schließlich fasste sie sich und trat einen ehrfürchtigen Schritt vor ihm zurück.

»Sie sind mit ihr verheiratet?«

Er runzelte verärgert die Stirn. »Setzen Sie sich.«

Rasch folgte sie seinem knappen Befehl. Er wirkte wirklich angekratzt. Dabei konnte sie schließlich nichts dafür, dass er der Mann der Fotografin war. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Hanna Rosenbaum verheiratet war. Es war lange her, dass sie ihr begegnet war. Das Foto, das sie ihr geschenkt hatte, war noch heute einer ihrer bestgehüteten Schätze.

»Tut mir leid, Sir, ich wollte Ihnen ganz gewiss keinen Honig ums Maul schmieren. Ich wusste nicht, dass …« Sie brach ab. Er hatte ähnliche Augen wie Peter, nur waren sie eine Spur heller und gingen einen Ticken ins Blau. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zurück zu dem Bild. Wie der Nebel über diesem See.

»Sir?«

»Ähm, ja, ähm, war das falsch?« Sie schüttelte kurz den Kopf, um ihre Gehirnzellen wieder in Schwung zu bringen. Wenn sie nicht aufpasste, war sie schnell wieder aus der Einheit raus, und zwar nicht, weil sie den Leistungstest nicht bestanden hätte. Sie setzte sich aufrecht, stellte die Füße bewusst parallel nebeneinander und legte die Arme locker auf die Stuhllehnen. »Tut mir leid, ich bin sonst nicht so …« Ihr fiel kein passendes Wort ein. Auch das war ungewöhnlich für sie. »Scheint als wäre ich immer noch nicht ganz ich selbst. Wie spreche ich Sie an?«

»Oberst Wahlstrom.«

»Oberst Wahlstrom«, wiederholte sie, atmete tief durch und hielt diesmal seinem Röntgenblick stand. Die Minuten verstrichen.

»Nun?«, sagte er auffordernd.

»Nun?«, wiederholte sie. Hatte sie noch irgendetwas vergessen?

Zum ersten Mal schienen sich seine Gesichtszüge zu entspannen, und ein belustigtes Funkeln trat in seine Augen. »Sie haben es nicht gespielt.«

Vorsichtig, als würde sie sich über ein Minenfeld bewegen, legte sie den Kopf schief. »Gespielt?« Ihr Blick ging erneut zu dem Foto. Sie grinste. »Nein, ich bin ehrlich ein Fan von Ihrer Frau. Ist nur ein etwas seltsamer Gedanke, dass ausgerechnet Sie mit ihr verheiratet sind.«

»Wieso?«

»Oh, nicht, dass an Ihnen etwas falsch wäre.« Sie biss sich auf die Zunge und lief rot an. Natasha, du Idiotin, was machst du da? Du redest dich um Kopf und Kragen! »Hanna machte nur nie den Eindruck, als würde sie sich jemals an einen anderen binden. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich selbst genug ist, ihre Arbeit über alles liebt und andere Menschen auf Distanz hält. Als würde sie das Leben nur durch das Objektiv ihrer Kamera betrachten. Es kam mir immer als ein Teil ihrer außergewöhnlichen Begabung vor. Als müsste sie eine Beobachterin des Lebens sein, um es in seiner Schönheit und Komplexität für die Ewigkeit festzuhalten.«

»Sie kennen Hanna persönlich?«

Natasha errötete bis unter die Haarwurzeln. »Nein, kennen wäre zu viel gesagt. Ich glaube nicht, dass irgendjemand sie wahrhaftig kennt. Ich meine natürlich, mit Ausnahme von Ihnen«, fügte sie hastig hinzu, als sich seine Augen verdunkelten.

Er machte eine knappe Handbewegung. »Wann und wo?«

»Bei einem Fotoshooting. Das war am Anfang ihrer Karriere, etwa vor zehn oder elf Jahren«, erklärte sie vage. Sie konnte fühlen, wie sie anfing zu schwitzen. »Kriminalhauptkommissar Abel sagte mir gestern, dass Sie die Personalverantwortung für die Einheit tragen.«

»Sie haben beim Ausfüllen der Papiere gelogen.«

»Gelogen? Wegen meiner Erfahrung mit Hunden, meinen Sie?«

Er beugte sich nach vorn, legte die gefalteten Hände auf den Tisch. »Gibt es noch andere Bereiche, in denen Sie gelogen haben?«

»Nein, und mit Verlaub, ich habe auch bei den Fragen zu meiner Erfahrung mit Hunden nicht gelogen.«

Er nahm ihre Akte, blätterte sie auf und begann laut zu lesen: »Hatten Sie als Kind einen Hund? – Nein. Haben Sie Erfahrung im Umgang mit Hunden? – Ja. Sind Sie in der Lage, einen Hund zu führen? – Ja.« Er sah hoch.

»Unsere Nachbarn hatten einen Riesenschnauzer. Er war eine ziemlich gefährliche Bestie, und ich habe als Kind früh gelernt, was ich tun muss, um ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Auf diese Weise provozierte ich ihn nicht, und er jagte mir keine Angst mehr ein. Das sind Erfahrungen im Umgang mit Hunden. Sehe ich mich in der Lage, einen Hund an der Leine zu führen? Ja sicher, warum auch nicht. Mir war nur zu diesem Zeitpunkt nicht klar, was damit alles gemeint war. Das lag zugegebenermaßen an meiner Unwissenheit im Zusammenhang mit Diensthunden, in meinen Augen ein völlig anderes Kaliber als der Riesenschnauzer unserer Nachbarn. Der, im Nachhinein betrachtet, nach dem, was ich in den letzten Tagen von Malte Balthaus gelernt habe, völlig unverantwortlich erzogen wurde. Ein Riesenschnauzer ist kein Schoßhund und braucht eine klare Führung. Ich soll Sie übrigens von Malte grüßen.«

»Sollen Sie das?«

»Okay, jetzt versuche ich Ihnen Honig um den nicht vorhandenen Bart zu schmieren. Tut mir leid. Sie bringen mich ins Schwitzen.«

»Kurz bevor Frau Herrmann Sie einfach dreist in mein Büro geschoben hat, habe ich mit Herrn Balthaus telefoniert.«

Sie nickte. Dieses blonde Biest! Sie hätte sich denken können, dass es nicht leicht werden würde, aufgenommen zu werden. »Ich nehme an, ich bin inzwischen bei Ihnen in jedes Fettnäpfchen getreten, das ich erreichen konnte. Werfen Sie mich jetzt raus?«

»Was denken Sie?«

Sie lehnte sich zurück, betrachtete den Mann vor ihr, der die Ruhe selbst war. Er wirkte kein bisschen aggressiv, auch nicht wirklich verärgert. Eine Spur angenervt höchstens, allerdings auf eine amüsierte Art und Weise, als wüsste er nicht so recht, was er von ihr halten sollte.

»Ich denke, dass Sie sich noch kein endgültiges Urteil über mich gebildet haben. Es fällt Ihnen schwer, mich in eine Schublade zu stecken. Ihnen passt es nicht, dass Generalmajor Hartmann mir eine Probezeit gewährt hat, weil Sie die Kriterien für die Auswahl der Mitglieder des Teams sehr sorgfältig erarbeitet haben. Alles hat seinen Sinn, auch wenn er sich mir nicht in allen Bereichen vollkommen erschließt. Allerdings verstehe ich inzwischen mehr als zu dem Zeitpunkt, als ich den Einstellungstest absolviert habe. Da dachte ich, er wäre nur dazu gedacht, zu testen, wie widerstandsfähig jemand ist. Aber zu meinem Erstaunen sieht der Generalmajor etwas in mir, das ihn dazu bewogen hat, mir eine zweite Chance zu geben. Und Sie vertrauen auf das Urteil Ihres ranghöheren Offiziers. Um ehrlich zu sein, würde ich brennend gern wissen, was er in mir sieht. Allerdings werden Sie mir nicht den Gefallen tun, das zu verraten. Und jetzt habe ich mir mit dieser kleinen Analyse Ihrer Gedanken entweder den letzten Nagel in meinen Sargdeckel geschlagen oder Sie davon überzeugt, dass es einen Versuch wert ist, mir eine Chance zu geben.« Sie beugte sich nach vorn, imitierte seine Haltung und lächelte ihn an. »Die Entscheidung liegt ganz allein bei Ihnen.«

Die Zeit blieb stehen. Natasha versuchte, den Ausdruck in seinem Gesicht zu lesen. Hatte sie die Waagschale zu ihren Gunsten geneigt oder sich aus der Einheit katapultiert?

»Sie werden keine weitere Chance erhalten. Jede Woche werde ich mir ansehen, welche Fortschritte Sie machen. Es reicht mir nicht, dass Sie die Minimalanforderungen des Einstellungstests erfüllen. Eine Woche, in der Ihre Werte nicht nach oben gehen, also gleich bleiben oder gar kippen …« Er hielt kurz inne. »Und damit wir uns richtig verstehen – es ist mir scheißegal, welchen Grund Sie dafür angeben, ob Sie Ihre Periode haben oder eine verdammte Erkältung. Dann fliegen Sie aus dieser Einheit. So lange Sie diese Werte nicht erreichen …« Er schob ihr ein Blatt hin, auf dem die einzelnen Leistungen aufgeführt waren. »… steht Peter Abel zusammen mit Ihnen auf dem Abstellgleis. Nur damit Sie die Laune Ihres Partners besser verstehen.«

»Das ist unfair«, rutschte es ihr heraus.

»Sie drei – Abel, Kehlmann und Smart – sind ab sofort ein Team, und ein Team ist wie eine Kette: immer nur so stark wie das schwächste Glied. Sie sind das schwächste Glied im Team. Sie können jetzt gehen.«


Ben starrte dem Neuzugang nach, unsicher, ob er von der jungen Frau beeindruckt sein sollte oder nicht. Sie war definitiv keine Person, die sich in eine Schublade stecken ließ. Letztlich bestand die Einheit aus lauter Individualisten, weshalb es nicht leicht war, jemand Neues zu integrieren. Sein Telefon klingelte.

»Und?« Generalmajor Hartmann kam immer sofort auf den Punkt.

»Wussten Sie, dass sie Hanna kennt?«

»Nein. Woher?«

»Von einem Fotoshooting.«

»Interessant, fragen Sie Ihre Frau nach den Fotos, es würde mich interessieren, was Hanna eingefangen hat.«

Bei der Erinnerung daran, wie er bei der ersten Begegnung mit Hanna die Herausgabe ihrer Fotos verlangt hatte, musste er lächeln. Er hatte handgreiflich werden müssen, um sie zu bekommen. Auch heute bekam er längst nicht alle ihre Fotos zu sehen.

»Mich auch.«

»Also bleibt sie im Team?«

»Vorerst.«

7

Ein Team

Sie war müde, frustriert und ärgerte sich, dass Peter Abel sie für die Situation, in der er steckte, verantwortlich machte. Kein Wunder, dass er gestern angepisst gewesen war. Das Büro, das sie sich mit Peter und Smart teilte, war leer. Sie vermisste Akiros Gesellschaft, schrieb eine kurze Notiz für ihren Partner und steuerte die Schwimmhalle an.

Sie war kurz bei ihrer Wohnung vorbeigefahren und hatte einen Teil ihrer Sportsachen mitgenommen, die sie jetzt in dem ihr zugeteilten Spind deponierte. Handtücher brauchte sie nicht, die waren in jedem Sportraum vorhanden. Ein Wasseraufbereiter mit Filter, der an die normale Wasserleitung angeschlossen war, bot Trinkwasser in normaler Temperatur, kalt und mit Sprudel. Sie duschte, nahm ihre Schwimmbrille, spuckte hinein und rieb die Gläser mit Speichel aus, bevor sie sie mit klarem Wasser wieder ausspülte. Auf diese Weise beschlugen sie beim Training nicht. Froh, dass sie die Schwimmhalle ganz für sich hatte, ließ sie sich ins Wasser gleiten. Mit den Beinen stieß sie sich kräftig ab, blieb unter der Wasseroberfläche und überwand die erste Bahn tauchend.

Die Stille, die Bewegung, das vertraute Gefühl, als das Wasser an ihrem Körper entlangstrich, hielten ihre Gedanken und Emotionen an. Beinahe lautlos durchbrach ihr Kopf die Wasseroberfläche. Sie stellte die Stoppuhr an ihrer Armbanduhr und machte sich mit ruhigen, gleichmäßigen Kraulbewegungen an die ersten Bahnen, der Rhythmus zu Beginn ein Atemzug auf sieben Armzüge. Nach vierhundert Metern wechselte sie auf einen Atemrhythmus von einem Atemzug auf vier Armzüge. Je länger sie schwamm, desto mehr fühlte sie sich getragen und geborgen. Schwimmen hatte schon immer diese Wirkung auf sie gehabt. Es war ein anderes Element, in das sie eintauchte, eine andere Welt, die anderen Gesetzen folgte. Egal wie hart das Training gewesen war, sie hatte nie die Freude am Schwimmen verloren. Sie war in den letzten Tagen nicht ein einziges Mal geschwommen, das war ein Fehler gewesen. Das war es, was ihr gefehlt hatte.


Peter stand auf der anderen Seite am Beckenrand, sodass Natasha, die auf der hintersten Bahn schwamm, ihn nicht sehen konnte. Eigentlich hatte er vorgehabt, sie direkt aus dem Wasser zu holen. Dann hatte ihn das Bild des dahingleitenden Menschenkörpers im Wasser in seinen Bann gezogen. Bei ihr sah es vollkommen mühelos aus. Ein stetiger, gleichmäßiger Rhythmus, der hypnotisierend wirkte. Er hatte die letzten zehn Bahnen über die Zeit gemessen und festgestellt, dass sie sie beinahe auf die Zehntelsekunde in der exakt selben Zeit absolvierte. Wie machte sie das? Sie konnte unmöglich zwischendurch auf die Armbanduhr schauen. Gestern bei dem Ausdauerlauf hatte sie gekämpft, und er hatte sie bewusst über ihre Leistungsgrenze getrieben. Allein schon deshalb, um ihrem Trotz einen Dämpfer zu verpassen. Er fragte sich, wo ihre Leistungsgrenze beim Schwimmen lag. Seit dem Gespräch mit Oberst Wahlstrom und dem gestrigen mit Malte hatte sich seine Einstellung ihr gegenüber geändert.

Sie wechselte ins Brustschwimmen. Auch dabei glitt sie mehr durch das Wasser, sodass die Wasseroberfläche nur minimal in Bewegung geriet. Er ging zu der Bahn, in der sie schwamm, und stellte sich an ihr Ende. Natasha hielt inne, tauchte unter und kam bei ihm wieder hoch. Ihr Atem ging schneller, aber längst nicht so schnell wie gestern beim Laufen.

»Du warst nicht im Büro«, sprach sie ihn an. »Es ist lange her, dass ich geschwommen bin. Gib mir noch fünf Minuten zum Ausschwimmen, dann bin ich so weit. Du kannst schon hochgehen, dann treffen wir uns im Büro.«

Er nickte, setzte sich auf den Startblock der angrenzenden Bahn und beobachtete, wie sie die nächsten fünf Minuten in einem langsameren Tempo locker ausschwamm.

Mit Schwung stemmte sie sich aus dem Wasser, löste vorsichtig mit dem Finger den unteren Rand der Brille von den Augen, bevor sie sie nach oben über die Stirn schob.

»Diesen Bewegungsablauf beim Laufen, und du kannst im nächsten Ultramarathon starten.«

»Ha, ha, ha!«

Sie erhob sich und ging zu den Duschkabinen. Lange Beine, breite Schultern, kurze Arme, was sie offensichtlich nicht daran hinderte, beim Schwimmen Tempo zu machen. Alles fein mit Muskeln moduliert. Sie besaß nur wenig Taille, gerade mal eine Handvoll Busen. Ideal für eine klare Stromlinie im Wasser.


Peter telefonierte gerade, als sie ins Büro kam. Sie ging zu Smarts Körbchen, ließ sich im Schneidersitz mit ein wenig Abstand vor ihm nieder.

»Und, möchtest du mir wieder an die Kehle gehen?«, fragte sie halb belustigt und streckte ihre Hand aus. »Oder könnten wir in eine Beziehung gegenseitiger Akzeptanz einsteigen? Was meinst du?«

Er schnupperte vorsichtig an ihrer Hand, ließ dann den Kopf wieder zurück auf seine Pfoten sinken.

Sie strich ihm vorsichtig über den Kopf und behielt ihn dabei genau im Blick. Er zeigte kein Wohlwollen, aber sie sah es als Erfolg an, dass er nicht knurrte und auch das Nackenfell nicht sträubte.

Peter beendete sein Gespräch. Er ging hinter ihr in die Hocke, umschlang sie mit den Armen und legte das Kinn auf ihre Schulter.

Alarmiert hob Smart den Kopf, während Natasha stocksteif wurde.

»Team, Smart. Team.«

Smart wedelte einmal hin und her.

Peter ließ sie los und stand auf. »Jetzt kannst du ihn nach Herzenslust verschmusen. Er wird dich nicht mehr angreifen.«

Sie stieß die angehaltene Luft aus, fühlte noch immer die Wärme seines Körpers und hatte den Geruch seines Aftershaves in der Nase – ein holzig würziger Duft mit einer Spur von Orange, Rose und  – ja, Leder. Sie rieb sich die Nase, erhob sich ebenfalls.

Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und sah sie an. Sie setzte sich vorsichtig auf die Ecke ihres Schreibtischs.

»Muskelkater?«

Sie grinste. »Ist auszuhalten.«

»Wie ist dein Gespräch mit Oberst Wahlstrom verlaufen?«

»Schlecht.«

Er hob die Augenbrauen. Eine Weile betrachtete sie den Mann vor sich. Völlig mit sich im Einklang, muskulöse Arme, breite Schultern, die Augen, die heute heller waren, als sie sie bisher erlebt hatte.

»Du kannst an keinem Einsatz mehr teilnehmen. Wegen mir.«

»Das stimmt. Wir sind ein Team. Oberst Wahlstrom hat die Werte, die du erreichen musst, nach oben geschraubt. So lange du sie nicht erreichst, bleiben wir zu Hause und trainieren.«

»Danke, dass du mir die Chance geben wolltest. Mir war nicht klar, welche Auswirkungen es auf deine Arbeit hat. Um ehrlich zu sein, habe ich nur an mich gedacht. Es tut mir leid.«

Sie rutschte vom Tisch. Der Schritt fiel ihr nicht leicht, doch in der Stille in ihrem Kopf beim Schwimmen war die Entscheidung gefallen, was richtig für alle war. Es gab Kriterien für Themis, die sie nicht erfüllte. Basta.

»Was hast du vor?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich erfülle die Kriterien nicht, also werde ich jetzt zu Oberst Wahlstrom gehen und meine Bewerbung für das Team zurückziehen.«

»Weshalb?«

»Weil ich nicht diejenige sein will, die ihrem Partner wie ein Klotz am Bein hängt. So was ist nicht mein Fall. Ich weiß, wo meine Stärken liegen und was ich in ein Team einbringen kann. Wenn ich mich selbst nur noch als Last sehe, verliere ich irgendwann auf dem Weg zum Ziel meine Selbstachtung.«


Verblüfft sah er, wie sie zur Tür ging. Er sprang auf und hielt sie am Arm fest. »Langsam.«

Sie sah ihn überrascht an. »Ist es nicht das, was du wolltest? Was du provoziert hast, seit du mir sagtest, ich solle das Spielzeug aus Smarts Körbchen holen? Ich mag begriffsstutzig sein, aber ich bin nicht blöd. Du wolltest, dass ich freiwillig zurücktrete, und genau das mache ich jetzt.«

»Stimmt, ja, das wollte ich.« Der zitronige Duft von ihrem Shampoo stieg ihm in die Nase, und ein Hauch von Pfefferminze umwehte sie. Er ließ sie los, trat ein wenig von ihr zurück. »Ich hab meine Meinung geändert.«

»Was? Wieso?«

»Kann ich dir noch nicht genau sagen. Vielleicht lag es daran, wie gleichmäßig und ruhig du vorhin deine Bahnen im Schwimmbad gezogen hast. Du hast beim Schwimmen eine hervorragende Technik. So was turnt mich an. Ist dir klar, dass du beinahe jede Bahn in derselben Zeit geschwommen bist?«

»Peter …«

»Pit. Alle hier nennen mich Pit.«

»Du verwirrst mich.«

Er schenkte ihr ein spitzbübisches Grinsen. »Die Wirkung habe ich auf Frauen. Wir können es ja so machen. Wir arbeiten zusammen, ich trainiere dich, und wir sehen, wie das zwischen uns läuft. Und wenn ich die Nase voll hab, komm ich auf dein Angebot zurück. Deal?«

Eine Weile versuchte sie, zu verstehen, welche Absicht er diesmal verfolgte. »Deal.«

»Prima.« Er ging zurück zum Stuhl, schnappte sich seine Lederjacke und eine Akte, die auf dem Tisch lag, und warf ihr ihre Jacke zu. »Auf geht’s.«


Smart sprang aus dem Körbchen und eilte hinter ihm her. Sie musste ihren Schritt beschleunigen, um mitzuhalten.

»Wenn wir eine ruhige Phase haben, nehmen wir uns ungelöste Fälle vor und versuchen, alle Informationen, die uns bisher vorliegen, aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Du hast eine verdammt hohe Aufklärungsrate bei den Fällen, in die du involviert warst. Einer der Gründe, weshalb dich der Generalmajor im Team haben möchte. Mal sehen, was du drauf hast.«

Er gab ihr die Akte, packte Smart in die Box des VW Golf Kombi, rutschte hinter das Steuerrad und redete weiter.

»Mia Borowski, siebzehn Jahre alt, wird seit einem Jahr vermisst. Ihre Mutter Paula ist alleinerziehend und arbeitet seit zwanzig Jahren als Sekretärin in der deutschen Tochtergesellschaft einer großen amerikanischen Anwaltskanzlei mit Hauptsitz New York. Am Wochenende will Mia bei einem Freund schlafen, kommt dort aber nicht an. Keine Hinweise, keine Zeugen, keine Spuren, als wäre das Mädchen einfach vom Erdboden verschluckt. In der Akte findest du alles zu den Ermittlungen, einschließlich der Verhöre. Vorhin am Telefon, das war Paula. Ich habe sie angerufen und uns angekündigt. Heute jährt sich Mias Verschwinden. Sie hat Urlaub.«

Natasha klappte die Akte auf und sah als Erstes das Bild eines fröhlichen Teenagers. Das Mädchen hatte ein niedliches Gesicht, viele Sommersprossen, dunkelbraune Augen, eine flache Nase und schmale Lippen. Eine Lockenmähne umrahmte das runde Gesicht, was den vorwitzigen Eindruck verstärkte. Sie wirkte fröhlich und strahlte in die Kamera. Ohne darauf zu achten, wohin ihr Partner fuhr, vertiefte sie sich in die Ermittlungsakte.


Die Wohnung von Paula Borowski lag in der Bernkasteler Straße in Berlin Weißensee, in einem der Wohnblocks, wie sie in den Fünfzigerjahren häufiger gebaut wurden. Manche waren inzwischen ganz hübsch renoviert worden. Das Gebäude, zu dem sie fuhren, strahlte noch im alten Glanz der Betonfassaden, dafür waren die Balkone farbig angestrichen und setzten Akzente. Die Wohneinheiten waren nur vier Etagen hoch, und zwischen zwei Wohnblocks gab es jeweils einen lang gezogenen Grünbereich, der sich von der Bernkasteler Straße hin zur Neumagener Straße zog. Wegen des dichten Verkehrs hatten sie eine Dreiviertelstunde gebraucht. Nicht viel Zeit für Natasha, um sich einen ersten Eindruck über den Vorfall zu verschaffen.

Zu Fuß passierten sie die ersten zwei Eingänge, am dritten klingelte Peter.

»Ja bitte?«

»Hallo Paula, ich bin’s, Peter.«

Der Summer ertönte. Zwei Treppenstufen auf einmal nehmend ging er hoch in den dritten Stock, Smart immer eine Länge vor ihm. Mit freudigem Schwanzwedeln und leisem Winseln begrüßte er die Frau, die sich Peter, sobald er die Wohnungstür erreichte, in die Arme warf.

»Ich dachte, ich würde es schaffen, aber ich kann es nicht. Ich bin so froh, dass du hier bist.«

Er hielt sie einfach nur fest, während sie an seiner Schulter weinte. Natasha kam sich ziemlich fehl am Platz vor. Smart hatte sich hingesetzt und winselte weiterhin leise. Schließlich löste Paula sich von Peter, nahm das Papiertaschentuch entgegen, das er ihr reichte, und schnäuzte sich. Sie ging in die Hocke und strich über den Kopf des Hundes.

»Du natürlich auch, mein Süßer. Denkst du, dein Herrchen erlaubt es, wenn ich dir ein Stück Karotte gebe? Kekse darfst du ja nicht, da hat er letztes Mal mit mir geschimpft.« Sie schaute zu Peter auf und bemerkte Natasha. »Oh, du bist nicht allein.« Sie erhob sich und reichte ihr mit einem verlegenen Lächeln die Hand.

»Paula Borowski, Sie können mich einfach Paula nennen, wenn das für Sie in Ordnung ist.«

»Natasha.« Sie schüttelte der Frau die Hand und schenkte ihr ein warmes Lächeln. Die dunklen Augenringe machten deutlich, dass Paula nicht viel Schlaf fand. Sie war dünn, richtig dünn. Die Kleidung hing lose an ihr hinunter. Sie hatte eine Jogginghose, ein T-Shirt und trotz des warmen Juliwetters eine Strickjacke an. Ihr Gesicht wirkte knochig, ganz und gar nicht rund wie das ihrer Tochter. Die dunkelbraunen Augen hatte Mia eindeutig von ihrer Mutter geerbt. Paula hatte ihre dunkelblonden Haare zu einem Zopf geflochten.

»Kommt rein. Möchtet ihr etwas trinken?«

»Gern«, antwortete Natasha.

»Wasser?«

»Wunderbar.«

»Peter?«

»Ich schließe mich an.«

Paula verschwand in der Küche, Smart dicht auf ihren Fersen. Natasha warf ihrem Partner einen fragenden Blick zu. Er hob abwehrend die Hände, schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte oder nicht. Allein die Tatsache, wie freundlich Smart mit der Frau umging … Aber gut, es war nicht ihr Problem, wenn Peter ein Verhältnis mit einer Frau hatte, deren Tochter verschwunden war.

Smart kam zuerst zurück. Brav legte er die Beute in seinem Maul vor Peter ab.

»Eat«, gab dieser die Freigabe.

Genüsslich zerkleinerte der Hund die Karotten. Inzwischen wunderte es Natasha nicht mehr. Die Diensthunde waren darauf trainiert, nur auf Befehl zu fressen, zur Sicherheit, damit man sie nicht vergiftete.

Paula erschien mit drei Gläsern und einer Flasche Wasser. »Lasst uns ins Wohnzimmer gehen. Was ist mit deiner blonden Partnerin passiert? Wie hieß sie doch gleich? Carolina?«

»Sie hat jetzt einen anderen Partner. Natasha ist unser Newbee und muss noch einiges lernen, deshalb habe ich sie unter meine Fittiche genommen.« Er blinzelte ihr zu.

Natasha ließ sich auf der Couch nieder, und Peter setzte sich neben sie, während Paula im Sessel Platz nahm. Smart legte sich zwischen Couch und Sessel auf den Teppich. Ihre Gastgeberin nahm die Flasche und wollte einschenken. Ihre Hand zitterte. Peter nahm ihr die Flasche ab und füllte die Gläser. Bisher hatte Natasha ihren Partner als anstrengenden Drillmaster erlebt, knallhart und unerbittlich. Oder als jemand, der seinen Charme spielen ließ, damit sein Bett nicht kalt blieb. Berechnend. Heute entdeckte sie eine weitere Seite an ihm, eine, die sie nicht an ihm vermutet hätte: sanft, verständnisvoll und – ja, tatsächlich mitfühlend.

»Ich bin ein einziges Wrack. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Ständig die Hoffnung zu haben, dass Mia lebt und aus irgendeinem Grund nicht in der Lage ist, sich bei mir zu melden, oder der Gedanke, dass sie …« Sie brach ab, nahm sich ein weiteres Papiertaschentuch aus der Box, die auf dem Wohnzimmertisch stand. »Ich kann mit niemandem mehr darüber reden. Anfangs hatten alle noch Verständnis, wenn ich über Mia sprach, weinte und Angst hatte. Inzwischen sind alle wieder in ihrem Alltagstrott. Sie sagen, ich soll loslassen und mein Leben weiterleben, aber wie soll ich das mit dieser Ungewissheit?«

»Ich kenne Ihren Fall noch nicht, Paula. Würden Sie mir erzählen, was geschehen ist?«, fragte sie sanft.

Die Frau sah zu Peter und zurück zu ihr.


Er nickte ihr aufmunternd zu. Paula war eine langjährige Freundin seiner ältesten Schwester. Es ärgerte ihn, dass er ein schlechtes Gewissen bekommen hatte, als Natasha ihm diesen Blick zuwarf. Ein Verhältnis mit der Mutter eines Opfers? Die Frage hatte er in ihren Augen gesehen. Als ob man eine Frau nicht zum Trösten in die Arme nehmen konnte, ohne zuvor mit ihr im Bett gewesen zu sein. Es störte ihn, dass sie so über ihn dachte. Glaubte sie ernsthaft, er würde Frauen nicht wertschätzen? Immerhin ging er Beziehungen ein, wenn auch keine langfristigen. Aber One-Night-Stands waren nichts für ihn.

Natashas ganze Haltung veränderte sich. Sie konzentrierte sich jetzt voll auf Paula. Sie war auf der Couch nach vorn gerutscht, hatte die Arme auf ihren Knien liegen, die Hände miteinander verschränkt, und hörte sich Paulas Erzählung regelrecht intensiv an. Selbst er hörte zu, obwohl die Sache ihn in den letzten Monaten ohnehin immer wieder beschäftigt hatte.

»Es war ein Freitagabend. Ich hatte damals einen Freund und war froh, als Mia mir sagte, sie wolle das Wochenende über bei Florian schlafen. Früher wohnten seine Eltern in der Wohnung genau gegenüber von uns. Sie sind wie Bruder und Schwester zusammen groß geworden. Noch heute schäme ich mich über meine Freude, weil ich die Wohnung übers Wochenende für mich hatte. Ich kaufte ein, kochte und zündete Kerzen an. Mia verabschiedete sich von mir, und ich war so glücklich, dass sie Karlheinz endlich in meinem Leben akzeptierte. Es war schwer für sie, weil sie es gewohnt war, dass es nur uns beide gab. In all den Jahren hatte es in meinem Leben keinen Mann gegeben. Nur Mia. Der Anruf kam dann gegen elf Uhr.«

»Elf Uhr vierzehn«, präzisierte Peter.

»Florian war dran, und er wollte mit Mia sprechen. Sie hätten sich gestritten, und es täte ihm leid. Er hatte versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, doch sie sei nicht drangegangen. Im ersten Moment dachte ich noch, dass sie sich bei ihm zu Hause gestritten hätten und sie wieder auf dem Weg nach Hause sei. Doch dann, nach einer Weile, wurde mir klar, dass er gar nicht wusste, dass Mia das Wochenende bei ihm verbringen wollte. Ich wurde so wütend auf sie, weil sie mich belogen hatte. Sie hatte mich noch nie belogen.«

Paula brach ab. Peter hätte sie am liebsten wieder in die Arme genommen, um ihr zu sagen, dass es nicht ihre Schuld war. Auch er wurde wütend, wenn ihn jemand belog. Außerdem besaß sie alles Recht der Welt, nach all den Jahren wieder eine Beziehung zu einem Mann einzugehen.

»Mia hatte viele Freunde und Freundinnen, sie war beliebt, aber es gab niemanden außer Florian, der mit ihr durch dick und dünn ging, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich rief die paar Freundinnen an, die mal bei uns gewesen waren, doch bis auf Ricarda, die Hausarrest hatte, waren sie alle am Freitagabend unterwegs. Also wählte ich wieder Florians Nummer. Ich wollte wissen, ob er nicht irgendeine Ahnung hatte, wo sie sein könnte. So wie ich hatte er andere Freunde angerufen, auch die, die freitags unterwegs waren – ohne Ergebnis. Karlheinz machte dann den Vorschlag, dass er zu Florian fahren würde und sie gemeinsam alle Orte abklappern würden, an denen sich Mia sonst aufhielt. Ich meine, sie war mit einem Rucksack aufgebrochen, mit Schlafsachen, Wechselklamotten und ihrem Necessaire. Es gab doch nicht so viele Möglichkeiten, wohin sie hätte gehen können.«

Sie schaute Natasha an, als hoffte sie auf eine Bestätigung. Dabei wussten sie beide, dass es viele Orte gab, an die ein siebenzehnjähriges Mädchen hätte gehen können.

»Es war die längste Nacht meines Lebens. Am nächsten Morgen gingen wir zur Polizei. Sie hatten so viele Fragen, sagten mir immer wieder, dass ich bis zum Montag warten sollte. Aber ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Als Mutter kann man es fühlen, wenn etwas passiert ist, nicht wahr?«

»Ich denke ja. Wann fing die Polizei mit der Suche an?«

»Am Montag, nachdem Mia am Sonntagabend zur vereinbarten Zeit nicht nach Hause kam. Zwei Tage. Wir haben zwei wertvolle Tage verloren.«

»Darf ich fragen, was mit Mias Vater ist?«

Paulas versteifte sich. Sie setzte sich auf, schnäuzte sich die Nase. »Er spielte keine Rolle in Mias Leben.«

»Hatte er je Kontakt zu ihr?«

»Nein.«

»Weiß er, dass sie existiert?«

»Nein.«

»Was haben Sie Mia erzählt?«

»Das er gestorben ist. Ich liebe Mia über alles. Ihr hat es nie an etwas gefehlt. Sie hat nie mehr nach ihm gefragt. Wir waren immer ein Team und sind zusammen durch dick und dünn gegangen. Andere Eltern hatten Probleme mit ihren Teenagern. Mia und ich nie. Sie war nicht nur meine Tochter, sondern auch meine beste Freundin. Es war das erste Mal, dass wir uns gestritten haben und sie mich beinahe drei Tage vollkommen ignorierte.«

Überrascht sah Peter sie an. Von einem Streit und einer dreitägigen Funkstille zwischen Mutter und Tochter hatte er noch nichts gehört. Das war wirklich untypisch für die beiden.

Natasha nickte verständnisvoll. »Es ist schwer, zu sehen, wie die Tochter heranwächst und immer mehr ihr eigenes Leben leben möchte. Erst trägt man sie neun Monate im Körper, dann kommen sie vollkommen hilflos auf die Welt, schenken einem das erste Lächeln, sprechen die ersten Worte, und man hält sie bei ihren ersten unsicheren Schritten in die Welt. Und dann, ehe man sich’s versieht, sind sie zu eigenständigen Persönlichkeiten herangewachsen, die sich von einem abnabeln, um sich selbst zu entdecken. Sie schlagen Richtungen ein, von denen man weiß, dass sie schmerzhaft sein werden. Man möchte sie davor bewahren und stellt fest, dass, egal was man sagt, und egal wie vernünftig es ist, sie nicht mehr auf einen hören wollen.«

»Sie war davon besessen, Schauspielerin zu werden. Sie ist zu jedem Casting gegangen und hat Workshops besucht. Ihre Noten in der Schule wurden immer schlechter, und sie wollte die Schule kurz vor dem Abitur abbrechen. Dabei ging es nur noch um ein Jahr, nein, nicht einmal mehr, nur noch um neun lausige Monate. Sie ist so sprachbegabt gewesen. Sie hätte studieren können. Einen Bachelor machen …«

»Hätten Sie gern studiert?«

Paula nickte. »Mein Vater sah keinen Sinn darin, dass ein Mädchen Abitur macht. Dabei war ich in der Schule immer besser als meine Brüder.«

»Ging es darum bei ihrem Streit? Dass Mia die Schule abbrechen wollte?«

»Ich habe mit Florian gesprochen, dass er mit ihr reden sollte. Auf ihn hat sie immer gehört. Und es hat funktioniert. Wir haben uns wieder vertragen. Sie hat mir versprochen, das Abitur zu machen, und dann wollten wir weitersehen. Ich konnte mich immer auf ihr Wort verlassen. Sie hat mich nie angelogen.«

»Siebzehn, das ist für ein Mädchen ein verwirrendes Alter. Man fühlt sich reif und erwachsen, ist beinahe achtzehn, fast volljährig. Gleichzeitig steckt immer noch das Kind in einem, das seine Mutter braucht und vielleicht auch einen Vater. Ihr Freund Karlheinz – sie sagten, Mia hätte ihn akzeptiert. War er der erste Mann, den sie mit nach Hause brachten?«

»Ja, und er hat sich sehr um Mia bemüht. Er hat ihr Blumen mitgebracht oder Süßigkeiten. Er hat uns beide zum Essen eingeladen oder ist mit uns ins Kino gegangen.«

»Und Mia hat es erst so empfunden, als wollte er sie bestechen? Weil sie ihn als Eindringling empfand?«

Paula senkte den Kopf, zerknüllte das Papiertaschentuch zwischen ihren Händen. »Ja. Sie war eifersüchtig und hat anfangs die Geschenke einfach ignoriert oder demonstrativ in die Mülltonne geworfen. Sie hat sich unmöglich aufgeführt, wenn wir essen waren. Dabei waren es wirklich teure Restaurants, in die er uns ausgeführt hat. Es fing schon damit an, dass sie in Jeans, Sweatshirt und Boots mitgegangen ist. Dabei liebte sie nichts mehr, als sich schick zu machen. In ihren Rollen beim Theater schlüpfte sie für ihr Leben gern in pompöse Kleider. Karlheinz hatte so viel Geduld mit ihr. Er bremste mich einen Abend, als ich mich weigerte sie mitzunehmen, und meinte, ich solle ihr Zeit lassen.«

»Wie kam es dazu, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden änderte?«

Ein feines Lächeln erschien auf Paulas Gesicht. »Er erkannte ihren schwachen Punkt und setzte dort an. Statt mit uns essen oder ins Kino zu gehen, besorgte er Karten für eine Theaterpremiere, in der Mias großes Vorbild die Hauptrolle spielte. Keine Ahnung, wie er dort rangekommen ist. Das war der Wendepunkt. Mia lud ihn zur Premiere der Schultheateraufführung ein. Sie spielte die Hauptrolle. Er war ganz begeistert von ihrem Talent und bestärkte sie darin.« Paula schloss die Augen, atmete tief durch.

»Löste das den Streit zwischen Ihnen und Mia aus?«

Sie nickte. »Ich meine, es stimmt. Sie ging wirklich vollständig auf in ihrer Rolle als Belle in ›Die Schöne und das Biest‹. Ich wusste gar nicht, dass sie so toll singen kann. Ich wollte ihr ja auch gar nicht im Wege stehen. Aber wissen Sie, wie hart es ist, als Schauspielerin seinen Lebensunterhalt zu verdienen? Was für einer Konkurrenz man sich stellen muss? Würden Sie das für ihre Tochter wollen?«

»Nein.« Natasha machte eine Pause, gab Paula Zeit, sich zu fangen. »Paula, darf ich Mias Zimmer sehen?«

8

Träume

Paula nickte und erhob sich.

Natasha hielt Peter am Arm fest, als er ihr folgen wollte. Sie beugte sich zu ihm, tat, als wollte sie Smart streicheln, der neben ihm lag. »Kannst du mir ein bisschen Zeit verschaffen, dass ich allein in Mias Zimmer sein kann?«, wisperte sie.

»Okay.«

»Einfach so?«

»Ich vertrau dir.«

Rasch folgten sie Paula, bevor diese sich fragen konnte, wo sie blieben.

»Ich habe alles so gelassen, wie sie es verlassen hat.«

Ein weißes Bett stand mitten im Zimmer. Eine dunkelblaue Steppdecke bedeckte das Bettzeug. Obendrauf waren jede Menge Kissen drapiert. Es gab einen Schreibtisch, der mit einem offenen Regal vom Bett abgetrennt vor dem Fenster stand. Auf der Seite zum Bett war es mit Büchern, auf der Seite zum Schreibtisch mit Schulbüchern und Ordnern vollgestopft. Eine Kommode, auf der ein Spiegel stand, Parfüm, ein Accessoirs-Baum, an dem Ohrringe, Ketten und Armbänder hingen. Es gab einen Kleiderschrank und einen Wäschekorb, in dem Sachen lagen.

Paula, die ihrem Blick gefolgt war, zuckte mit den Achseln. »Die Sachen sind gewaschen, aber ich habe sie wieder reingetan. Ich möchte, dass alles bleibt, wie es war, damit sie es so vorfindet, wie es gewesen ist, wenn sie zurückkommt – das Zimmer und nur wir zwei.«

»Paula, würde es dir etwas ausmachen, mir einen Kaffee zu kochen?«, fragte Peter. »Und hast du noch welche von den leckeren Dinkelkeksen, die Mia so liebt?«

Natasha schloss leise die Tür hinter ihnen. Als sie sich umdrehte, sah sie Smart, der bei ihr geblieben war.

»Keine Lust auf Dinkelkekse?«

Er sah sie lediglich mit gespitzten Ohren an, legte den Kopf ein wenig schräg, als lausche er ihrer Stimme. Sie atmete tief durch. Das alles nahm sie mehr mit, als es durfte. Es war ihre größte Schwäche, dass es ihr so schwerfiel, sich von dem zu distanzieren, was geschehen war. Ein Mensch blieb für sie ein Mensch, egal ob Opfer oder Täter. Im Grunde war dies ein hoffnungsloser Fall. Inzwischen war Mia achtzehn Jahre alt, und wenn sie nicht das Opfer eines Verbrechens geworden war, konnte man sie nicht zwingen, nach Hause zu kommen, wenn sie es nicht wollte. Die Polizei hatte eine Suchanfrage bei den Einwohnermeldeämtern gestellt, ohne Ergebnis. In Deutschland war Mia Borowski offiziell nur hier in Berlin bei ihrer Mutter gemeldet.

Natasha setzte sich auf den Schreibtischstuhl und ließ das Zimmer auf sich wirken. Es gab vier Filmposter, auf denen die Hauptprotagonistinnen im Vordergrund standen. Dunkelhaarige Schönheiten. Eine davon eine junge deutsche Schauspielerin, Maria soundso, erinnerte sich Natasha dunkel. Ein anderes Poster zeigte die französische Schauspielerin Sophie Marceau. An einer Magnetwand, die in einem violetten, einfarbigen Stoff eingeschlagen war, waren Fotos mit Magneten befestigt. Natasha trat heran, betrachtete sie eingehend. Alle zeigten Mia in verschiedenen Kostümen und beim Theaterspielen. Ausdrucke von einer Facebook-Seite, der Theatergruppe, das Bild einer Szene mit Belle alias Mia, wie sie von dem Biest geküsst wird. Tiefer Ausschnitt, die runden jungen Brüste mit einem Mieder hochgeschnürt. Ihre lockigen, dunkelbraunen Haare, die ihr auf dem Bild, das die Mutter für die Ermittlungen herausgegeben hatte, bis auf die Schulter reichten, waren gekonnt hochgesteckt, sodass ihr Gesicht weniger rund wirkte. Mia war geschminkt und gestylt, sodass sie erwachsener aussah und doch gleichzeitig das Kindliche an ihr erhalten blieb. Die Kommentare waren voll des Lobes über ihre schauspielerische Leistung und den Gesang in der Rolle der Belle. Natasha nahm ihr Handy und machte ein Bild von der Magnetwand und auch eines von den Kommentaren, sodass sie die Facebook-Adresse hatte. Das würde sie sich später anschauen.

Sie öffnete den Kleiderschrank, zog ein paar Kleider heraus. Manche davon waren altertümlich, manche modern, mit einem Touch ins Exzentrische, der Schmuck ein Mix mit einigen antiquarisch anmutenden Stücken darunter. Warum hätte Mia all das zurücklassen sollen? Ihre Finger glitten über die Bücher. Fantasyromane, Liebesromane und jede Menge Klassiker. Anna Karenina. Vom Winde verweht. Die drei Musketiere. Eine ganze Reihe von Jane Austen, Emily Brontë und Emily Dickinson. Eines davon weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie wusste nicht weshalb. Es stach ihr einfach ins Auge, weil der Abenteuerroman irgendwie nicht zu den anderen Büchern passte. Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson. Auch ein Klassiker, ein Buch, das Natasha geliebt hatte, nur dass sie sich vorgestellt hatte, darin eine Piratin zu sein, die den Degen zog. Mal gegen Long John Silver, mal auf seiner Seite. Sie zog das Buch raus, öffnete es und erstarrte. Es war kein Buch, sondern eine Box, und darin steckte ein Notizbuch. Sie öffnete es, und ihr wurde klar, dass sie Mias Tagebuch in den Händen hielt. Ohne nachzudenken, nahm sie es heraus, schob es tief in ihren Hosenbund und drapierte ihr Hemd darüber. Nur kurz meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie fühlte den bohrenden Blick von Smart auf sich, hob ihren Zeigefinger an die Lippen. »Pst, das bleibt vorerst unser Geheimnis.« Sie streichelte ihm rasch über den Kopf.

Sie verließ das Zimmer, folgte den Stimmen bis zur Küche und lehnte sich an den Türrahmen. Peter hielt einen Becher Kaffee in der Hand und knabberte an einem Keks.

»Ich dachte immer, du und Carolina, ihr wäret ein Paar«, sagte Paula eben.

»Nein, nur Partner. in unserem Job ist eine Beziehung zwischen Partnern nie gut. Unsere Arbeit erfordert volle Konzentration, da können wir uns keine Ablenkung leisten. Iss auch einen Keks, mir zuliebe.«

Paula nahm einen Keks aus der Dose, die offen auf dem Küchentisch stand, betrachtete ihn von allen Seiten. »Weißt du, dass ich immer eine volle Dose habe? Nur für den Fall, dass sie wieder auftaucht. Sie ist nicht tot, Peter, sie ist irgendwo da draußen und hat furchtbare Angst. Ich kann es fühlen. Manchmal wache ich nachts schweißgebadet auf, weil ich sie weinen und nach mir rufen höre.«

»Gehst du noch zur Therapie?«

»Ja.«

»Wie läuft es auf der Arbeit?«

»Gut, sie lenkt mich ab, gibt meinem Leben Struktur. Hätte ich die Arbeit nicht …« Sie brach ab.

Peter stellte den Kaffeebecher zur Seite und zog Paula in seine Arme. Sie lehnte sich an ihn, schlang die Arme um seine Taille und bettete ihren Kopf an seinen Hals. Er legte sein Kinn auf ihr Haar und strich ihr in gleichmäßigen, beruhigenden Bewegungen über den Rücken.


Ihre Blicke trafen sich über Paulas Kopf hinweg. In seinem stand eine Herausforderung, die sie verstand, ohne dass er ein Wort sagte. Er hatte kein Verhältnis mit Paula. Er tröstete sie lediglich, und das gab ihr einen leichten Stich ins Herz. Sie wandte sich ab, ging zurück ins Wohnzimmer, weil sie sich als Eindringling fühlte. Dort gab es eine Fotowand. Bilder von Mia und Paula in jedem Lebensalter. Es stimmte. Auf den Bildern wirkten Mutter und Tochter mehr wie Freundinnen oder Geschwister. Natasha hatte nie ein solches Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt.


Peter warf Natasha einen Seitenblick zu. Sie saß in einer seltsam steifen Haltung auf dem Beifahrersitz, schwieg und war tief in Gedanken versunken, sodass sie nichts um sich herum mehr wahrzunehmen schien. Ihre Pupillen wirkten vergrößert, und um ihren Mund lag ein grüblerischer Zug.

»Was versteckst du?«

Sie reagierte nicht.

»Natasha, was hast du aus dem Haus geschmuggelt?«

Sie blieb weiterhin still. Er nutzte eine Parklücke und hielt an. »Hey!« Er packte sie an der Schulter.

Sie zuckte erschrocken zusammen und wirkte, als wäre sie aus einer anderen Welt gerade erst wieder in der Realität angekommen. Gruselig. Er hatte noch nie erlebt, dass jemand dermaßen abwesend sein konnte.

»Sind wir da?«

»Nein.«

Sie sah sich verwirrt um. »Warum halten wir hier?«

»Wegen dir. Ich habe dir eine Frage gestellt und du hast nicht reagiert.«

Sie blinzelte, schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich war gerade in Gedanken versunken.«

»Das hab ich gemerkt. Was hast du aus dem Haus geschmuggelt?«

»Äh, wie? Was meinst du?«

»Keine Lügen. Erinnerst du dich?«

Auf ihren Wangen tauchten hektische Flecken auf. Sie kaute auf der Unterlippe. »Tut mir leid. Ich kann es erklären – oder auch nicht …«

Mit einer Handgeste schnitt er ihr das Wort ab.

»Es ist okay, ich will dir gar nicht an den Kragen oder dir Vorhaltungen machen, dass du etwas geborgt hast. Manchmal geht es schneller, wenn wir die Regeln dehnen. Das ist etwas, was unter uns bleibt. Versprochen. Also?«

Sie lehnte sich zurück, zog das Hemd hoch und den Bauch ein und holte ein violettes A5-Notizbuch aus dem Hosenbund. Es hatte zwei Lesebändchen, ein Gummiband, das verhinderte, dass es aufklappte, eine Stiftschlaufe und einen Stift.

»Hast du reingesehen?«

»Nur kurz, es ist ein Tagebuch.«

»Wo hast du es gefunden? Paula hat nie etwas von einem Tagebuch erzählt, und die Polizeibeamten, die das Zimmer durchsuchten, haben keins gefunden.«

»Es war in einem Buch versteckt.«

»In einem Buch? Du meinst, sie hat die Seiten rausgeschnitten und es darin verborgen?«

Natasha verdrehte die Augen. »Nein, natürlich nicht. Heutzutage kannst du so was ganz einfach kaufen. Obwohl ich sagen muss, es war eine richtig gut gemachte Tarnung, keine billige, wie du sie in manchen Läden bekommst. Keine Ahnung, wo sie die Buchbox her hatte. Vielleicht von ihren Streifzügen über die Flohmärkte?«

»Woher weißt du, dass sie über die Flohmärkte gestreift ist?« Er betrachtete sie mit schmalen Augen.

Sie zuckte die Achseln. »Ihre Klamotten im Schrank und der Schmuck. So was bekommt man am besten auf Flohmärkten.«

»Vor wem hat sie es versteckt?«

Sie legte den Kopf schief und schaute ihn an. »Das fragst du mich jetzt nicht wirklich, oder?«

»Vor Paula. Aber wieso? Die beiden hatten ein super Verhältnis. Weshalb hätte sie es vor ihr verstecken sollen?«

Natasha zog beide Augenbrauen hoch. Er hob abwehrend die Hände. »Hey, ich bin nicht blöd. Ich habe vier Schwestern.«

»Vier?«

Er grinste. »Oh ja, und ich bin der einzige Sohn meiner Eltern. Eigentlich wollten sie nach mir keine Kinder mehr, aber dann hat die Leidenschaft sie gepackt, und voilà, unser Nesthäkchen kam zur Welt.« Sein Grinsen verschwand. »Oh, scheiße.«

Er sprang aus dem Auto und zu der Politesse hinüber, die ein Strafmandat in ihr Gerät eintippte.

Amüsiert beobachtete Natasha seinen Versuch, es zu verhindern. Er zückte seinen Ausweis, doch der ließ die Frau kalt. Dann ließ er seinen Charme spielen, zeigte ins Auto, auf sie, gestikulierte. Die Politesse sah zu ihr hin. Natasha schlang die Arme um ihren Unterleib, wippte ein wenig hin und her, produzierte ein verkrampftes Lächeln. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck gab sie Peter eine Moralpredigt. Der übertrieb es mit seiner Dankbarkeit nicht, sondern sah zu, dass er ins Auto kam.

»Das war knapp. Danke, dass du mitgespielt hast. Woher wusstest du, was ich ihr auftische?«

»Ich bin gut im Beobachten, und deine Mimik und die Handbewegungen waren nicht allzu schwer zu interpretieren. Wohin fahren wir?«

»Zu mir. Wir können was essen und uns das Tagebuch anschauen.«

»Wir könnten auch ins Büro fahren. Es gibt eine Kantine.«

Er warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Hast du Angst?«

»Nein.«

»Ich möchte ungern mit einem geklauten Beweisstück zurück ins Büro.«

»Ich habe es mir nur ausgeliehen. Paula bekommt es zurück.«

»Und wie willst du das ohne meine Hilfe schaffen? Du hast mich zu deinem Komplizen gemacht.«

»Also gut, fahren wir zu dir.«


Sie wusste nicht, was sie von seiner Wohnung erwartet hatte, aber nicht das. Es war eine Loftwohnung in einem alten Fabrikgebäude, mit einem Treppenzugang, aber auch einem Aufzug, der direkt in der Wohnung endete, sofern man den richtigen Schlüssel einsteckte. Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, eine Küchenzeile, die frei im Raum zu stehen schien, davor eine große, wuchtige Küchentheke mit Kochinsel und Barhockern, sodass man sich drumherum setzen konnte. Rechts waren Wände eingezogen worden und trennten einen Teil des Lofts für Räume ab. Ein Esstisch bot locker zwanzig Personen Platz, eine breite, gemütliche Couch mit zwei Récamiere-Elementen stand gegenüber von einem riesigen Flachbildschirm, der an einer der eingezogenen Wände befestigt war. Haufenweise Sitzsäcke waren überall im Raum verteilt. Smart drückte sich an Natasha vorbei und legte sich auf einen großen quadratischen Sitzsack mit Decke. Von dieser Stelle aus konnte er die gesamte Wohnung im Auge behalten.

Peter nahm ihr die Jacke ab, hängte sie an einen der Kleiderhaken, die über eine Länge von zwei Metern in verschiedenen Höhen neben der Tür angebracht waren. Darunter gab es ein lang gezogenes, vier Fächer hohes Schuhregal, das deutlich machte, dass man nicht mit den Schuhen den Wohnraum betrat. Brav zog sie ohne Aufforderung die Schuhe aus. Trotz des Sommers und der vielen Fenster herrschte im Loft eine angenehme Temperatur. An den Fenstern war von außen ein Sonnenschutz bis zur Hälfte heruntergelassen.

»Willkommen in meinem Reich. Kannst du gut Handschriften lesen?«

»Ja.«

»Okay, dann setzt du dich am besten an die Küchentheke und fängst an, das Tagebuch vorzulesen, während ich uns etwas koche. Gibt es irgendwas, was du nicht isst?«

»Außer Innereien esse ich alles.«

»Eine Frau nach meinem Geschmack.«

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. Er hob lachend die Arme. »Sorry, ich konnte es mir einfach nicht verkneifen.«

Sie setzte sich auf den Barhocker, der superbequem war, obwohl er gar nicht diesen Eindruck erweckte. Ihr blieb der Mund offen stehen, als er eine Küchenschürze aus einem Schrank holte, die er sich überstreifte. Er kreuzte die Bänder hinten, bevor er sie vorn zuband.

»Was? Schau nicht so entsetzt. Ich hasse Waschen, und Bügeln noch mehr.«

»Kochst du oft?«

»Ich koche leidenschaftlich gern. Gutes Essen ist das Fundament, wenn du Hochleistungssport betreibst.« Er nahm ein scharfes Messer aus dem Messerblock, ließ es einmal durch die Luft wirbeln und fing es wieder auf.

»Angeber.«

Er lachte. »Immerhin, du hast geschaut.«

»Nur weil ich gehofft habe, dass du dir mit der scharfen Seite in die Handfläche schneidest.«

»Touché«

Er öffnete den Kühlschrank, zog das Gemüsefach auf und nahm Fenchel, Paprika, Tomaten, Zucchini und Pilze heraus. Fasziniert beobachtete sie, wie er das Gemüse zuerst wusch und dann klein schnitt. Er war mit dem Messer überaus geschickt.

»Hör auf zu starren. Fang an zu lesen.«

Sie senkte hastig den Blick auf das Notizbuch und schlug es auf. Zuerst gab es auf der Umschlagseite eine Widmung von Florian, geschrieben in einer klaren, prägnanten Schrift: Träume nicht dein Leben – lebe deinen Traum. Florian.

Als Nächstes folgte ein Datum und mit Handlettering verziert nur ein einzelnes Wort: Schauspielerin. Die nächste Seite trug den Titel »Meine Vorbilder« und beinhaltete eine überraschende Liste. Aufgrund der Poster in Mias Zimmer hatte Natasha etwas anderes erwartet. Da waren Meryl Streep, Shirley MacLaine, Diana Keaton, Michelle Pfeiffer, Jody Foster und Sandra Bullock aufgeführt. Keine Sophie Marceau, keine Maria Ehrich, deren Namen sie vorhin anhand des Filmplakats herausgefunden hatte. Interessant. Sie schlug die nächste Seite auf.

»Hör auf, nur für dich zu denken. Sprich mit mir.«

»Mhm?« Sie sah auf.


Da war erneut der Ausdruck in ihren Augen, abwesend, verträumt, als würde sie erst langsam wieder in die Realität eintreten.

Peter hielt inne, deutete mit dem Messer auf sie. »Ich mach das Essen, du liest laut, das ist der Deal.«

»Es gab noch nichts zu lesen.«

»Du bist auf der dritten Seite.«

»Ja, aber es war bisher erst eine Widmung, ein Wort und eine Liste.«

»Egal, ich will es wissen, immerhin beschäftigt es dich, und ich möchte wissen, was dich daran beschäftigt. Denk einfach laut.«


Sie seufzte abgrundtief auf. Sie hasste es, ihre Gedanken zu teilen, lieber grübelte sie allein und folgte dabei ihren Instinkten.

»Dieser Fall. Ist das eine übliche Sache für Themis?«

»Weder üblich noch unüblich. Wir werden zu allen möglichen Fällen hinzugezogen. Du kannst uns als ein Einsatzkommando mit speziellen Fähigkeiten sehen, das nicht nur national, sondern auch international aktiv ist. Vor allem der letztere Aspekt macht uns in gewisser Weise zu etwas Besonderem.«

»Es gibt die GSG 9 und beim Militär das KSK, und dann noch zig andere Polizeisondereinheiten, also warum Themis?«

»Weil es in besonderen Situationen beider Komponenten bedarf und es diesen Mix bisher nicht gab. Generalmajor Karl Hartmann kommt vom BKA und ist zum Militär rübergewechselt – für eine Sondertruppe unter den UN, deren Aufgabe es war, Kriegsverbrechen aufzuklären. Den Soldaten fehlte die Polizeiarbeit, gleichzeitig machen Verbrechen nicht vor Grenzen halt. Wenn in Mexiko die Drogendealer überhand gewinnen, hat das Auswirkungen auf Deutschland. Ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit ist es, dass wir mit unserem Wissen die Polizeikräfte anderer Länder unterstützen, um gemeinsam Verbrechen weltweit einzudämmen. Im Grunde bräuchten wir heutzutage ein internationales Recht. Denk nur an das Darknet, das bedient sich der Internetstruktur. Server, die Pornografie verbreiten, stehen in Ländern, die eine andere Rechtslage haben als Deutschland. Deutsche schauen sich aber die Videos an und machen sich strafbar, zum Beispiel wenn es sich um Kinderpornografie handelt. Das ist nur ein Beispiel, aber bei so was sind wir darauf angewiesen, dass uns diese Länder erlauben, aktiv zu werden. Gleiches gilt für Drogen, Waffenhandel und Wirtschaftsverbrechen. Durch die vielen Kontakte von Generalmajor Hartmann und die Zusammenarbeit mit dem BKA in einigen Fällen wurde entschieden, dass man eine Sondereinheit gründet. Unsere Verpflichtung, uns an die Gesetze des jeweiligen Landes zu halten, während wir operieren, hat uns viele Türen geöffnet, allerdings hat die Sache ihren Preis.«

»Welchen?«

Ein Schatten legte sich über sein Gesicht. Seine Gesichtsmuskeln wirkten angespannt, die Lippen wurden schmal, die Augen dunkel. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Das wirst du sehen, wenn du wirklich dazugehörst. Das mit Mias Verschwinden ist ein Pro-bono-Fall, den wir aufgreifen dürfen, wenn wir Zeit haben. Da ich deinetwegen auf dem Abstellgleis stehe und der Fall mir am Herzen liegt, kannst du mir beweisen, ob du wirklich so gut bist, wie es in deiner Akte steht.«

»Das hier ist ein Test?«

Er holte eine Pfanne aus einer Schublade unter dem Herd, gab ein Stück Kokosöl darauf, entzündete den Gasherd und fügte das geschnippelte Gemüse hinzu.

»Klar, was denkst du? Alles, was wir machen, ist ein Test für dich. Also lass mich teilhaben an deinen Gedanken. Unsere Partnerschaft im Team geht um einiges tiefer als jede Ehe, das muss dir klar werden. Wenn wir zusammenarbeiten, vertraue ich dir mein Leben an und du mir deines. Es gibt kein Ich mehr, nur noch ein Wir.«

»Es muss verdammt hart für dich gewesen sein, als Carolina zu Mark gewechselt ist.«

»Ja. Nein. Vielleicht. Ein bisschen. Eher war ich enttäuscht, weil ich dachte, wir würden gut zusammenpassen.«

»Aber?«

Er schob eine Blechschale Reis mit Wasser in ein Gerät, das sie für einen Backofen gehalten hatte, und programmierte etwas ein. Er drehte sich um und fixierte sie.

»Aber um die Wahrheit zu sagen, ich bin kein guter Teamplayer. Bei Männern neige ich dazu, mit ihnen in Konkurrenz zu treten, und bei Frauen gelte ich als zu pushy.«

»Warum?«

»Weil ich mich nicht mit ›gut‹ zufrieden gebe, sondern nur mit ›perfekt‹.«


Es entstand eine Pause, in der er versuchte zu ergründen, was in ihrem Kopf vorging. Doch obwohl er meinte, sich aufgrund der Erfahrung mit seinen Schwestern hervorragend in der weiblichen Psyche auszukennen, scheiterte er bei Natasha damit.

Ein feines Lächeln wurde auf ihren Lippen sichtbar. »Okay, damit kann ich leben.« Sie sah auf das Notizbuch hinab, las die Widmung vor, hielt ihm die Seite mit dem Wort hin und las ihm die Liste vor.

»Es war ihr fünfzehnter Geburtstag. Florian wusste von ihrem Traum und hat sie dabei unterstützt. Dennoch hat er sich hinterher laut Paula vor deren Karren spannen lassen. Ich vermute, der Streit zwischen ihr und Florian ging darum, auf welcher Seite Florian stand.«

»Du meinst, Mia fühlte sich von ihm verraten?«

»Ich würde mich so fühlen.«

»Was beschäftigt dich bei der Liste?«

»Das, wofür die Schauspieler stehen. Viele von ihnen spielen noch heute in Filmen mit. Shirley MacLaine hat mit 83 Jahren sogar noch in einem Film gespielt. Es zeigt mir, wie ernst sie die Schauspielerei nahm.«

»Das stimmt. Was ist daran falsch?«

»Nichts, absolut nichts – oder doch. Es sind Charakterdarsteller, die eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegenüber Hollywood gezeigt haben, würde ich sagen. Sie haben sich nicht kaputtmachen lassen.«

»Es ist doch verdammt schwer, sich als Schauspielerin zu etablieren, und es gelingt nur einem kleinen Prozentsatz.«

»Das ist ein knallhartes Business, erfordert viel Disziplin, aber nicht nur das.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn, und an ihrem entrückten Blick erkannte er, dass sie wieder woandershin abtauchte.

»Laut denken.«

»Mhm?«

»Natasha, wenn wir beide ein Team werden wollen, musst du lernen, für mich laut zu denken. Du verschwindest immer wieder von hier.«

»Was habe ich zuletzt gesagt?«

»Knallhartes Business, Disziplin, nicht nur das.«

»Wer wirklich eine herausragende Schauspielerin sein möchte, muss in der Lage sein, mit Haut und Haar in die Rolle zu schlüpfen. Die Persönlichkeit der Figur anzunehmen, bis sie ein Teil von einem wird und man sie zum Leben erweckt. Damit vermischt man sein eigenes Ich mit einem selbst geschaffenen Ich, und das kann ziemlich verwirrend sein. Das ist der Grund, warum Drogen, Tabletten und Alkohol in diesem Job häufiger zum Problem werden als in anderen.«

»Wolltest du mal Schauspielerin werden?«

»Nein. Aber es gehört auch in unserem Job dazu, sich in die Haut eines anderen zu versetzen.«

»Das ist deine Stärke«, stellte er fest.

»Und meine Schwäche«, konterte sie, wich seinem Blick aus und blätterte auf die nächste Seite.

Sie las laut: »Ich habe es geschafft, ich habe die Rolle der Alice bekommen. Jasmin ist deshalb stinksauer und redet nicht mehr mit mir. Sie dachte, ich würde nicht zum Casting gehen, weil sie zu mir gesagt hat, es wäre ihre Traumrolle. Doch Florian hat recht, es ist nicht meine Entscheidung, denn die Regisseurin entscheidet, wem sie am Ende die Rolle gibt und wer am besten passt. Wenn ich nicht zum Casting gehe und es nicht wage, dann werde ich nie den Mut finden, meinen Traum zu verwirklichen. Es war von Jasmin nicht fair zu verlangen, dass ich nicht hingehe. Auch damit hatte Florian recht, dass sie es mir nicht gönnen würde, wenn ich die Rolle kriege. Ich muss lernen, für mich einzustehen. Andererseits, wie hätte ich reagiert, wenn Jasmin die Rolle bekommen hätte? Wäre ich eifersüchtig? Hätte ich es ihr nicht gegönnt?«


Natasha tauchte in die Welt der fünfzehnjährigen Mia ein. Hochphasen wechselten sich ab mit Tiefphasen. Überschäumende Freude mit Tagen, die angefüllt waren mit Selbstzweifel. Als ein Signalton ertönte, zuckte sie zusammen. Ein zweites Mal fuhr sie zusammen, als sie bemerkte, das Peter neben ihr auf dem Barhocker saß.


»Das ist eine echt gefährliche Eigenschaft von dir. Daran müssen wir arbeiten.« Er nahm das Notizbuch und klappte es zu. »Jetzt wird gegessen.« Sicherheitshalber nahm er das Buch, stand auf und legte es weiter oben ins Küchenregal, bevor er das Essen verteilte.

»Misst du gerade mit einer Waage den Reis ab, den du auf den Teller füllst?«

»Ja. Morgen gehst du auch auf die Waage bei Dr. Hofmeister. Ich möchte wissen, wie viel du wiegst, wie viel an Fett, wie viel an Muskelmasse und auch alle anderen Werte. Danach bauen wir deinen Essensplan auf, an den du dich ab morgen hältst.«


Sie starrte ihn einen Moment an und kam sich in ihre Kindheit zurückversetzt vor. Auch da hatte sie jahrelang nach einem strengen Ess- und Trainingsplan gelebt, der morgens um fünf Uhr startete und abends um acht Uhr endete. Vor zehn Jahren war sie daraus ausgebrochen, und es hatte lange gedauert, bis sie in der Lage gewesen war, die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Noch immer konnte das schlechte Gewissen zuschlagen, wenn sie sich einen Schokoriegel einverleibte. Der Mann vor ihr meinte es ernst. Er hatte keine Ahnung, was er da gerade von ihr verlangte.

»Hast du damit ein Problem?«

Sie atmete tief durch. »Ja. Ein gewaltiges sogar. Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden, was ich esse und wie viel, und es geht dich einen Scheißdreck an, wie viel Fett zu meinem Körper gehört.«

Er reichte ihr den Teller – das Gemüse hatte er nicht gewogen – und machte einen zweiten zurecht, für den er ebenfalls den Reis abwog. Mit seinem Teller setzte er sich zu ihr.

»Dein Fett interessiert mich auch nicht, sondern deine Muskeln. Wir bewegen uns in den körperlichen Grenzbereichen, nicht viel anders als ein Hochleistungssportler. Nur dass von deiner Leistungsfähigkeit Leben abhängen können. Also ja, es ist selbstverständlich deine Entscheidung, was du isst und wie viel. Doch wenn du deine Leistungsfähigkeit steigern und mit mir ein Team bilden willst, dann hältst du dich genau wie ich an den Ernährungsplan, den ich für uns aufstelle.«

Er ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten, kniff ihr in die Taille. »Von meiner Seite aus kannst du gerne mehr Speck ansetzen.«

Sie schlug seine Hand weg. Nachdem sie Gemüse und Reis vermischt hatte, schob sie sich die erste volle Gabel in den Mund und begann zu hecheln. Er schüttelte nur den Kopf.


»Das ist heiß«, brachte sie schließlich hervor, nachdem sie das Essen hinuntergeschlungen hatte. Dabei konnte sie den Weg, den es nahm, durch das Brennen in ihrer Speiseröhre bis zum Magen verfolgen.

»Was dachtest du? Es kommt frisch vom Herd. Was isst du sonst?«

»Müsli, Brot oder Obst.« Sie schob das Essen auf dem Teller auseinander, damit es auskühlen konnte, nahm weniger auf die Gabel und pustete eine Weile, bevor sie es sich in den Mund schob. Diesmal konnte sie es genießen. »Das ist echt lecker.«

»Warum klingst du dabei nur so erstaunt?« Er schenkte ihr ein schalkhaftes Grinsen, was ein Grübchen in seiner Wange sichtbar machte. Echt süß. »Hmh, lass mich überlegen. Weil du mich für einen Macho gehalten hast, der im Leben nicht den Kochlöffel schwingen würde?«

Sie ließ ihre langen Wimpern flattern und schaffte es auf faszinierende Weise, ihre Pupillen zu vergrößern, sodass ihr Gesicht einen kleinmädchenhaften, unschuldigen Ausdruck annahm wie damals bei Malte.

»Exakt auf den Punkt gebracht. Immerhin hast du … wie viele Kandidaten aus dem Bewerberpool zum Heulen und Aufgeben gebracht? Herzlos, kaltschnäuzig, echt selbstgefälliges Arschloch, das fällt mir noch als Begriff für dich ein.«

»Wie schon gesagt, gut reicht mir nicht, sondern nur perfekt.«


Nach dem Essen stand sie auf und wollte das Geschirr wegbringen. Er nahm es ihr ab.

»Du liest weiter, ich mache das.«

»Bist du sicher?«

»Ausnahmsweise.«

»Okay.«

Er reichte ihr das Notizbuch, und sie machte es sich im Schneidersitz auf einem der Sitzsäcke gemütlich. Während sie weiter vorlas, gab er Smart etwas zum Fressen und machte die Küche sauber, bevor er sich auf die Couch legte, die Augen halb geschlossen, um ihr zu lauschen. Sie besaß eine angenehme, warme Stimme, die nicht gleichmäßig dahinfloss, sondern die Stimmung aufnahm, in der Mia sich befunden hatte, als sie die Sätze niederschrieb. Es war, als würde er einem Hörbuch zuhören, und ohne es zu wollen, konnte er das Mädchen beinahe an ihrem Schreibtisch oder auf ihrem Bett sehen, wenn sie in das Tagebuch schrieb. Drei Stunden später kamen sie zu dem letzten Eintrag. Das Datum stimmte mit dem Tag überein, an dem Mia verschwunden war.

»Mama hat mich belogen. Es tut so furchtbar weh. Warum hat sie das getan? Ich weiß, dass sie mich liebt, aber sie hatte kein Recht, mich zu belügen. Ich habe gesagt, dass ich das Wochenende bei Florian verbringe. Sie ist so verliebt in Karlheinz, dass sie gar nicht gemerkt hat, dass ich sie anlüge. Karlheinz, Karlheinz, Karlheinz, alles in ihrem Leben scheint sich nur noch um ihn zu drehen. Was mit mir ist, ist ihr egal. Nur weil Karlheinz meine Leistung auf der Bühne gelobt hat, hat sie es auch getan. Ich weiß jetzt warum. Ich weiß jetzt auch, weshalb sie mich belogen hat. Aber bevor ich mit ihr rede, möchte ich mir sicher sein. Ich kann es spüren, dass dieses Wochenende das wichtigste in meinem ganzen Leben sein wird. Florian wollte es mir ausreden. Aber er hat ja keine Ahnung, wie das ist. Er hatte immer eine Familie. Ich hingegen hatte immer nur Mama.«

»Weinst du?«

Hastig wischte sich Natasha mit der Hand die Tränen vom Gesicht. Smart, der den Kopf in ihren Schoß und eine seiner Pfoten über ihr Bein gelegt hatte, winselte. Verwirrt sah sie ihn an. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er sich zu ihr gelegt hatte.

»Come here, Smart.«

Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte der Hund, dann sprang er auf und eilte schwanzwedelnd zu Peter, der ihn kraulte.

»Hat Paula der Polizei je erzählt, wer der biologische Vater von Mia ist?«

»Nein. Sie weigerte sich kategorisch. Sie sagte, es würde keine Rolle spielen, weil er von ihrer Existenz nichts wisse. Es gab nie einen Vaterschaftstest und außer ihr weiß niemand, wer es ist. Niemand kann sie zwingen, es zu sagen. Obwohl wir es versucht haben.«

Peter hielt inne, dann sprang er auf. »Also, los gehts, wir können uns beim Laufen über den Inhalt austauschen. Du hast heute noch nichts getan …«

»Ich bin geschwommen.«

»Du bist langsam geschwommen. Und Smart braucht seine Bewegung. Wo ist dein Sportzeug?«

»Im BKA.«

»Na, dann mal los.«

9

Check-up

Es war kurz nach acht Uhr, als sie Maltes Auto auf dem Parkplatz abstellte. Weil sie wusste, dass es die Zeit war, zu der er mit seiner Familie zu Abend aß, warf sie den Schlüssel in den Postkasten. Kaum hatte sie sich umgedreht, wurde die Tür geöffnet.

»Du bist spät dran.«

»Tut mir leid, brauchtest du das Auto?«

Er machte eine wegwerfende Geste, nahm sich seine Jacke vom Haken und schlüpfte in die Schuhe.

»Ich hab den Schlüssel in den Briefkasten geworfen. Wollte dich nicht beim Abendessen stören. Ich weiß, das ist dir wichtig.«

»Ich weiß, dass du das weißt und dass du darauf Rücksicht nimmst. Das ist eine deiner vielen Eigenschaften, die dich in meinen Augen zu einem besonderen Menschen machen.«

Natasha war froh, dass es dunkel war und er nicht sehen konnte, wie ihr Gesicht knallrot wurde. Sie stopfte die Hände in die Hosentaschen und folgte ihm zu den Zwingern.

»Pit hat mich vorhin angerufen und wollte wissen, wie weit du im Umgang mit den Hunden bist.«

»Was hast du gesagt?«

»Dass ich kein Problem sehe, wenn du Smart in einem Einsatz übernehmen müsstest, sofern er weiß, dass du ein Teil des Teams bist. Stimmt es, dass er sich heute zu dir gelegt hat?«

»Wer, Peter?«

»Nein, Smart.« Er hielt unter einer der Laternen an, drehte sich zu ihr, nahm ihr Kinn in die Hand. »Du bist doch nicht verliebt in ihn?«

»In Smart?«, versuchte sie, ein bisschen Zeit zu gewinnen, weil er sie mit der Frage völlig überraschte.

»Natasha! Kein Scherz.«

»Nein.«

»Sicher?«

»Ja. Er ist nicht mein Typ.«

»Klar, natürlich nicht. Weißt du, wie oft ich das schon gehört habe?«

»Marina?«

Er zog seine Hand weg und zuckte mit den Achseln. »Sie ist volljährig und lässt sich von mir nicht sagen, was gut für sie ist und was nicht. Am Ende ist es nicht mein Problem, sondern ihres. Sie weiß, worauf sie sich bei ihm einlässt.«

»Und das gilt für mich nicht?«

»Doch, aber du bist mir zu wertvoll. Versteh mich nicht falsch. Pit ist kein schlechter Typ. Keiner der Kerben in seinen Bettpfosten macht, um sich daran zu ergötzen. Er mag nur einfach Frauen, und sie mögen ihn. Sie machen es ihm viel zu leicht, und er kann die Finger nicht von ihnen lassen. Sie machen den Fehler, zu glauben, dass er sich für sie ändern wird.«

»Und das würde er nie, weil er seinen Job mehr liebt als alles andere und neben Smart kein Platz mehr in seinem Herzen ist.«

»Oh, Platz ist da genug. Eben viel zu viel. Aber ja, eigentlich hast du es exakt auf den Punkt gebracht. Du bist wie er. Du hast auch ein viel zu großes Herz, aber mit einem Unterschied.«

Natasha ließ ihre Schultern kreisen. Das Gespräch war ihr viel zu persönlich.

»Wenn du jemanden reinlässt, lässt du ihn nicht wieder raus, ohne dass es Spuren hinterlässt.«

»Ich kann auf mich aufpassen.«

»Ja, ich weiß. Ich möchte dir nur sagen, dass ich dein Freund bin und du jederzeit zu mir kommen kannst, um mir dein Herz auszuschütten. In meinem Haus ist immer Platz für dich. Okay, und das klingt jetzt ziemlich merkwürdig, wenn ich das zu dir sage. Ich möchte nicht, dass du das in den falschen Hals bekommst.«

»Werde ich nicht, versprochen. Ist es das, worüber du mit mir reden wolltest?«

»Nein, ich wollte mit dir sprechen, weil …« Winseln, lautes Bellen und Kratzen unterbrach ihn. Er seufzte abgrundtief auf. »Deshalb. Geh zu ihm, bevor er sich durch das Gitter beißt.«

Sie rannte, ihr Herz klopfte, und ein warmes Gefühl breitete sich vom Bauch her in ihrem ganzen Körper aus. Kaum war der Riegel geöffnet, stürzte Akiro sich auf sie.

Sie ging in die Knie. Er drehte sich im Kreis, leckte ihr Gesicht, ihre Hände, jede freie Hautstelle. Sie musste lachen, packte schließlich das aufgeregte Bündel und zog es in ihre Arme, bis es sich beruhigte.

»Ich habe dich auch vermisst«, wisperte sie in sein Fell und verbarg ihr Gesicht darin. Er stank nach Hund, und noch vor einer Woche hätte sie sich nicht vorstellen können, dass ihr dieser Geruch einmal mehr bedeuten würde als alles andere auf der Welt.

»Hier, gib ihm das.« Malte reichte ihr den Fressnapf. »Alle guten Worte haben nichts gebracht. Er hat den ganzen Tag auf dich gewartet. Ich habe die Kamera in seinem Zwinger aktiviert, darum wusste ich, dass du gekommen bist.«

Geduldig wartete Akiro vor seinem Napf. »Eat«, sprach sie die Freigabe aus. Wie ausgehungert stürzte sich der Hund auf das Fressen.

»Good boy, good boy.« Sie streichelte ihn.

»Ich habe mit Pit gesprochen. Er kommt morgen mit Smart. Bevor ich Oberst Wahlstrom einschalte, möchte ich sicher sein, dass es funktioniert, und natürlich ist es deine Entscheidung.«

»Welche Entscheidung?«

»Er liebt dich. Du bist die Welt für ihn. Er wird aufgrund seiner Verletzung nie wieder in den Einsatz gehen können. Dennoch hat er seine anderen Fähigkeiten nicht verloren und gehört zu den besten Hunden, die ich je ausgebildet habe.«

Langsam verarbeitete Natasha Maltes Worte. »Du meinst, ich darf ihn mit zur Arbeit nehmen?«

»Nein, es ist etwas komplizierter. Akiro ist Besitz des amerikanischen Militärs, und das hat sich nicht geändert. Er ist nur hier, weil Jake und ich alle unsere Kontakte eingesetzt haben, damit er noch mal eine Chance bekommt. Eigentlich wollte Jake ein Gutachten, um ihn selbst adoptieren zu können. Der Veterinär in den USA hat ihn als Risikofall eingestuft, das heißt, dass er eingeschläfert werden muss, und ich muss gestehen, dass ich seine Einschätzung teilte, bis du aufgetaucht bist. Aber du bist eine deutsche Polizistin mit null Erfahrung im Umgang mit Diensthunden, ganz abgesehen von all den anderen Dingen, die gegen eine Adoption sprechen.«

»Tut mir leid, aber ich kann dir nicht folgen.«

»Ich weiß, ich finde es auch manchmal kompliziert. Wenn wir es nicht schaffen, dass Akiro den Wesenstest besteht, kann Jake ihn nicht adoptieren, und dann wird er eingeschläfert.«

Akiro hatte zu Ende gefressen. Natasha zog den Hund auf ihren Schoß. »Nur über meine Leiche«, erklärte sie entschieden.

»War mir klar, dass du das sagst. Aber so einfach, wie du dir das vorstellst, ist es nicht. Du kannst nicht einfach einen Hund aus dem Bestand des amerikanischen Militärs klauen. Die verstehen bei so was überhaupt keinen Spaß.«

»Also müssen wir es nur hinbekommen, dass er den Wesenstest besteht und ihn dieser Jake adoptieren kann? Oder hat er damit ein Problem?«

»Nein, grundsätzlich nicht, aber er ist im aktiven Dienst, was bedeutet, dass Akiro zwischendrin von seinem Bruder betreut werden muss, der eine Familie hat. Es muss sichergestellt sein, dass er keine Gefahr für die Familie darstellt. Das hat versicherungstechnische Hintergründe. Im Zweifel haftet das Militär für Schäden, die der Hund verursacht, und du hast bestimmt schon mal gehört, wie verrückt die Amerikaner in der Hinsicht sein können. Akiro wurde nie als Familienhund ausgebildet, er ist eine Waffe. Bei dir verhält er sich jedoch anders. Er ist gelassen, rücksichtsvoll und zeigt weniger Aggressivität. Die Frage ist, ob wir es schaffen, dass er sich grundsätzlich im Umgang so verhält.«

»Was ist dein Plan?«

»Ich komme nicht weiter ohne dich. Wenn ich Pit richtig verstanden habe, seid ihr zusammen an einem Fall. Das ist ein Teil deiner Bewährungsprobe. Weiterhin musst du bei jedem Leistungstest besser sein als im vorangegangenen. Der nächste steht in drei Wochen an, und du hängst mit dem Training hinterher. Wenn du hier wohnst, verlierst du zu viel wertvolle Zeit für dein Training. Wir schauen, wie Smart und Akiro miteinander zurechtkommen. Wenn das klappt, nimmst du Akiro mit. Außer wenn er mit dir allein ist, muss er immer einen Maulkorb tragen. Ein Vorfall, und es ist aus. Hast du verstanden?«

»Ja.«

»Du führst ihn an der kurzen Leine, und du darfst nie die Kontrolle über ihn verlieren. Wir versuchen, ihn nach und nach in den normalen Alltag zu integrieren. Wir fangen damit an, dass er Pit als Boss akzeptiert. Der Hund muss spüren, dass du Pit magst. Wenn das funktioniert, kommt Jake rüber. Wir testen die Alltagssituationen mit ihm, wenn du nicht dabei bist, und schauen, wie das funktioniert. Wenn alles so läuft, wie wir es uns vorstellen, hat Akiro bald eine neue Familie.«

Natasha wurde es schlecht. Akiro winselte und fing an, ihre Hände zu lecken. Malte ging in die Hocke und streichelte den Hund.

»Das war es, was ich damit meinte, dass du niemanden aus deinem Herzen lässt, ohne Spuren zu hinterlassen.«

Sie verbarg ihr Gesicht im Nackenfell des Hundes, damit Malte die Tränen nicht sah, die sie zu unterdrücken versuchte. Er hatte recht. Es war ihr Schwachpunkt.


Zwei Alpharüden, das konnte nur zu einem Kampf führen. Doch zur Überraschung aller ordnete sich Akiro unter, und Smart akzeptierte den anderen Rüden. Jetzt gab es zwei Hundetransportboxen im Auto. Sie hatten die Rückbank in dem Golf Kombi umgeklappt, damit die Hunde und ihre Klamotten, die sie mit zu Malte genommen hatte, Platz fanden.

»Das ist alles?«

Peter betrachtete ihren Rucksack und die Sporttasche.

»Jap.«

»Bist du heute Morgen gejoggt?«

»Jap.«

»Hast du es mit der App aufgezeichnet?«

»Jap.«

»Bist du ein Morgenmuffel?«

»Jap.«

»Hattest du schon mal Sex in einem Auto?«

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und setzte sich auf den Beifahrersitz.

»Wollte ja nur schauen, ob du neben ›jap‹ auch ›nope‹ sagen kannst. Dein erster Termin heute ist bei Dr. Bernd Hofmeister.«

Sie schraubte sich die Rückenlehne nach hinten und lehnte sich zurück, zog die Schuhe aus, pflanzte ihre Füße auf die Ablage, kreuzte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.

Das hatte nichts mit Morgenmuffeligkeit zu tun, wurde ihm klar. Sie brütete, und er wusste weshalb. Er konnte nachvollziehen, wie sie sich fühlte. Eine Scheißsituation, weil sie, egal was sie machte, Akiro am Ende verlieren würde.

»Ich war bei eurem Arzt und er hat eine komplette Untersuchung gemacht, bevor ich überhaupt zu diesem Vorbereitungs-Trainings-Folter-Lager zugelassen wurde.«

»Mag sein, aber jetzt geht es darum, dich zu einem Bestandteil unserer Einheit zu machen. Jeder von uns geht regelmäßig zum Check-up. Hast du ein Problem mit Ärzten? Denn dann haben wir ein Problem.«

Ja, hatte sie, und zwar nicht zu knapp.

»Nein«, log sie, ohne mit der Wimper zu zucken.


Als sie das Gebäude betraten, drückte sich Akiro an ihr Bein. Er hatte sich ohne Protest den Maulkorb von ihr anlegen lassen. Das hatte Peter zutiefst beeindruckt. Sie erreichten die Tür von Dr. Hofmeisters Untersuchungszimmer.

Natasha legte Akiro die Hand auf den Kopf – um ihn oder sich selbst zu beruhigen, war ihr nicht ganz klar. Sie klopfte, wartete, bis sie hereingebeten wurden, und betrat mit ihrem Partner den Raum.

Der ältere, hagere Mann musterte sie alle aufmerksam durch seine Brille, einschließlich der beiden Hunde. Er deutete mit der Hand auf die Tiere. »Ich bin für die Menschen zuständig, nicht für Vierbeiner.«

»Deshalb sind wir hier, Doc.«

Der Arzt fixierte Natasha mit einem durchdringenden Blick aus kühlen blauen Augen. »Sie sind also unser Zuwachs.«

Ihre Muskeln spannten sich an. Sie konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen, und versuchte bewusst, ihre Hände nicht zu verkrampfen.

»Ich brauche ein komplettes Check-up für sie zum Aufstellen der Trainingspläne«, erklärte Peter.

»Sie sind durch den Leistungstest geflogen«, stellte der Arzt fest.

»Ja.«

»Interessant.« Er wandte sich Peter zu. »Sie können sie in vier Stunden wiederhaben.«

»Vier Stunden?« Sie schaffte es nicht, das Entsetzen in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Findest du allein zum Büro zurück?«, wollte Peter wissen.

»Ja«, gab sie tonlos zurück. Dabei war ihr bewusst, dass beide Männer sie intensiv beobachteten, ebenso die Hunde. Akiro winselte leise.

»Okay.« Peter wollte den Raum verlassen.

»Einen Moment, Kriminalhauptkommissar Abel, Sie haben einen der Hunde vergessen«, bremste ihn der Arzt.

Er drehte sich zu Akiro um, der an Natashas Bein gepresst stand, den Kopf im Nacken, den Blick auf sie fixiert. Das war die erste Hürde, die sie nehmen mussten. Dass er nicht bereit war, mit Peter zu gehen und sie allein zu lassen. Akiro war eindeutig mit der Situation überfordert.

»Tut mir leid, Doc, im Moment haben wir eine spezielle Situation. Es ist ein Test für den Hund. Er muss bei meiner Kollegin bleiben.«

»Ein Test?«, echote Hofmeister.

Natasha konnte dem Arzt ansehen, dass er die Lüge ihres Partners mühelos durchschaut hatte und den Hund als das einschätzte, was er darstellte, ein Risiko. Allerdings war ihr an der Art, wie der Hund ihre Nähe suchte, klar, dass es absurd wäre, auch nur daran zu denken, sie könnten mit dem klitzekleinen Schritt beginnen, ihn im Büro auf sie warten zu lassen. Die Umgebung war neu und sie selbst viel zu angespannt.

»Der Hund ist im Einsatz verletzt worden, hat seinen Hundeführer verloren und ist traumatisiert«, erklärte sie wahrheitsgemäß. »Ich bin zur Zeit die Einzige, die an ihn herankommt. Wir versuchen gerade, ihn wieder in den normalen Alltag einzugliedern.« Sie strahlte den Arzt an. »Wir werden die Untersuchung verschieben müssen, bis ich sicher sein kann, dass Peter mit Akiro zurechtkommt und der Hund allein ohne mich im Büro bleibt.« Sie wandte sich ab.

»Das ist eine Ausnahme«, hörte sie die Stimme des Arztes hinter sich. »Eine absolute Ausnahme, damit das klar ist, und es bleibt unter uns. Verstanden, Kriminalhauptkommissar Abel?«

»Absolut. Meine Lippen sind versiegelt.« Peter trollte sich mit Smart aus dem Zimmer und schloss die Tür vor ihrer Nase.

»Setzen Sie sich, Kriminalhauptkommissarin Kehlmann. Haben Sie den Hund unter Kontrolle oder wird er versuchen, mir an die Kehle zu springen, wenn ich Sie untersuche?«

Sie schaute auf Akiro hinunter, der grundsätzlich nicht gestresst oder nervös aussah, nur angespannt, genau wie sie.

»Ich denke, es wird gehen.« Sie ließ sich auf der Stuhlkante nieder. Akiro setzte sich zu ihr und legte den Kopf auf ihrem Bein ab. Sie sollte wissen, dass er bei ihr war und sie nicht alleinlassen würde. Ein trauriges Lächeln glitt über ihr Gesicht, und ihre Kehle war zugeschnürt.

»Falls Sie annehmen, das sei eine beruhigende Aussage, liegen Sie falsch. Warum mögen Sie keine Ärzte, Kehlmann?«

Sie löste ihren Blick von dem Hund, atmete tief durch. »Ich bin lieber gesund als krank.«

Erneut erkannte sie, dass er sich nichts vormachen ließ. Er ging allerdings nicht näher darauf ein.

»Diese Einheit stellt hohe Anforderungen an Ihre physische und psychische Konstitution. Am Ende sind wir Ärzte auch nur Menschen, die ihre Meinung allein auf der Basis der erfassten Daten abgeben können. Das ist eine Einschätzung, die auch Fehlern unterliegen kann. Nach allem, was wir zwei heute machen, gehört die letzte Stunde unserer Psychiaterin Dr. Franziska Naumann. Ich habe sie gestern angerufen, und sie war so nett, kurzfristig ein Zeitfenster ab zwölf Uhr für Sie zu schaffen. Bis dahin sollten wir fertig sein. Abel schießt gerne mal bei seinen Partnern übers Ziel hinaus. Er kann ein echter Kontrollfreak sein. Nicht böswillig, dennoch muss man bei ihm eine klare Grenze ziehen. Ich bin Arzt, und alles was wir besprechen, ist selbstverständlich vertraulich.«

»Außer, es betrifft meinen Job.«

»Auch dann werde ich es zuallererst mit Ihnen allein besprechen und Ihre Freigabe abwarten. Auch darüber, was und wie viel ich preisgeben darf. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich kann jeden sofort aus gesundheitlichen Gründen vom Dienst suspendieren lassen. Aber ich bin dabei nicht gezwungen, ins Detail zu gehen. Also, kommen wir zu des Pudels Kern.« Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Abel ist unser bester Trainer, und das ist er, weil er den Körper ganzheitlich betrachtet. Manchmal frage ich mich, warum er es nie in Erwägung gezogen hat, in den Hochleistungssport zu gehen. Er hätte leicht bei einigen Sportarten Medaillen einsammeln können. Aber ich glaube, ich weiß, weshalb er sich davon ferngehalten hat. Er ist nämlich ein absoluter Gesundheitsfanatiker. Und egal, wie viele Untersuchungen es gibt – der Hochleistungssport ist nie frei von Doping. Das brauche ich Ihnen aber nicht zu erzählen, nicht wahr, Natasha? Ich darf Sie doch Natasha nennen?«

»Sie haben Nachforschungen angestellt«, bemerkte sie nüchtern.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte die Handflächen aneinander und die Fingerspitzen der Zeigefinger an den Mund.

»Sie sind die erste Frau bei unseren Rekruten, die sich bei allen Fragen, die ich stellte, überaus bedeckt hielt. Die meisten sind so wild darauf, in die Truppe zu kommen, dass ich sie eher in ihrem Erzählfluss bremsen muss. Ihnen hingegen musste ich jede einzelne Information aus der Nase ziehen. Ihr Gesicht, als Sie vorhin den Raum betraten, sagte alles. Ich habe mir Ihre Ergebnisse angeschaut, und wissen Sie, was interessant ist? Dass Sie überall Leistungssteigerungen zeigen, mit Ausnahme von einem Bereich, und ich frage mich wieso.«

»Vielleicht stoße ich da an meine Leistungsgrenze?«

»Das wiederum glaube ich nicht. Ich bin während des Vorbereitungstrainings stichprobenweise anwesend, auch beim Einstellungstest. Sie zeigten in diesem Bereich eine konstant gleiche Leistung, höchstens mal ein, zwei Sekunden schneller oder langsamer.«

»Ich habe Sie nicht gesehen.«

»Das ist auch nicht notwendig. Ich muss sicherstellen, dass sich niemand verletzt. Bei dem Typus Mensch, den wir für die Einheit brauchen, kann es leicht geschehen, dass einer über das Ziel hinausschießt. Sie brauchen Biss, müssen sich aber auch einschätzen können. Deshalb beobachten wir den Test, ohne dass die Bewerber es mitbekommen. Beim Einsatz sind wir schließlich auch nicht dabei.«

»Wir?«

»Dr. Naumann und ich. Sie war fasziniert von Ihnen. Sie sind verdammt stur, wenn Sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben. Nicht falsch verstehen, alle Kandidaten sind auf diese Art gestrickt, und das brauchen wir. Aber Sie ticken noch ein wenig anders.«

»Ich nehme an, dass Sie ein Vetorecht haben, wenn es um die Einstellung geht?«

»Selbstverständlich.«

»Warum nehmen Sie es nicht in Anspruch?«

»Weil ich noch nicht weiß, was ich von Ihnen halten soll. Kommen wir zurück zu meiner eigentlichen Frage, die wir bei unserem Gespräch aus den Augen verloren haben. Doping. Wie lange und wie oft?«

»Einmal über insgesamt drei Monate, und es war kein Doping.«

»War es Ihre Entscheidung?«

»Ich war fünfzehn. Minderjährig. Und noch mal, das Ziel war nicht eine Leistungsverbesserung. Es ging um die Behandlung einer Verletzung in meiner rechten Schulter. Das Mittel, das verwendet wurde, steht auf der Liste der Medikamente für Doping.«

»Was für eine Verletzung?«

»Ich bin vom Fahrrad gefallen und habe mir einen Bruch in der Schulter zugezogen. Nur ein kleiner Knochen, nichts Wildes.«

»Aber es passierte in einer wichtigen Phase Ihrer sportlichen Karriere.«

»Ja.«

»War das der Grund, weshalb Sie am Ende ausgestiegen sind?«

»Nein.«

»Macht Ihnen die Schulter unter Belastung Probleme?«

»Nein.«

»Und wieder sind wir zurück bei den einsilbigen Antworten.«

»Was soll ich sagen?«

»Ziehen Sie Ihr T-Shirt aus. Ich möchte mir die Schulter anschauen.«

Es half, dass Akiro beständig bei ihr blieb. Er verhielt sich vorbildlich. Meistens schien Dr. Hofmeister die Anwesenheit des Hundes vollkommen zu vergessen. Sie bekam einen Termin für ein Ganzkörper-MRT und ein CT. Er machte einen Ultraschall der Organe und röntgte die Schulter. Zwischendrin bekam sie eine Menge Blut abgezapft. Sie hasste diese Prozedur. Sie bekam viel zu trinken, musste eine Urinprobe abgeben und am Ende noch einen Belastungstest absolvieren. Hatte sie schon bei der ärztlichen Überprüfung beim Einstiegstest gedacht, dass dieser Mann gründlich vorging und nichts ausließ, wurde sie heute noch mal darin bestätigt. Es wunderte sie, dass er nicht noch Nagelproben von ihr nahm. Endlich schien er fertig zu sein.

»Sie können vor Ihrem Gespräch mit Dr. Naumann duschen. Wissen Sie, wo die Duschen sind?«

»Ja.«

Um seine Mundwinkel zuckte es. »Oberst Wahlstrom sagte mir, dass Sie eine Verhörspezialistin sind. Wie machen Sie das, ohne zu kommunizieren?«

»Indem ich zuhöre, statt zu reden, und die richtigen Fragen stelle.«

»Interessant. Das mit den Fragen können Sie mir bei Gelegenheit mal erklären. Vergessen Sie Ihren Hund nicht. Ich weiß zwar nicht, wie er das findet, wenn Sie duschen, aber ich möchte nicht, dass er in meinem Zimmer bleibt.«

»Wo finde ich Dr. Naumann?«

Er reichte ihr einen Zettel. »Das liegt außerhalb des BKAs.«

»Ja.« Sie schaute auf die Uhr und wieder zurück auf die Adresse. »Ich habe nur zwanzig Minuten Zeit bis zu dem Termin.«

»Dann sollten Sie keine Zeit verschwenden.«


Exakt zwei Minuten vor der vereinbarten Zeit stand Natasha vor einem der üblichen alten Wohnblocks in Alt-Treptow knapp zwei Kilometer entfernt vom BKA-Gebäude, das am Treptower Park lag. Sie klingelte bei dem Schild »Praxis Dr. Franziska Naumann«.

»Ja bitte«, kam es aus der Sprechanlage.

»Natasha Kehlmann, ich habe um zwölf Uhr einen Termin mit Frau Dr. Naumann.«

»Vierter Stock, rechte Tür.«

Statt den Fahrstuhl zu nehmen, stieg sie die Treppen hinauf. Fitnesstraining und gleichzeitig die Zeit mit der Psychologin verkürzen, dachte sie. Immerhin hatte sie pünktlich vor der Haustür gestanden.

Die Tür war offen. Sie ging durch den Flur, der in hellen Farben gehalten und mit indirekter Beleuchtung von den Wänden in ein warmes Licht getaucht war. Aquarelle. Der Empfang, die Stühle, der Wartebereich, alles war in pastellfarbenen Tönen gehalten. Altrosa, mintgrün und beige. Der Empfangsbereich bestand lediglich aus einem niedrigen Tisch. Keine hohe Theke. Hinter dem Tisch standen Aktenschränke. Ihre Akte lag vor der Empfangsdame, die ihr freundlich zulächelte und nur kurz auf Akiro blickte.

»Nehmen Sie bitte noch einen Augenblick Platz.«

»Gerne.« Noch mehr Zeit durfte verstreichen.

»Möchten Sie Wasser für Ihren Hund haben? Im Bad ist ein offener Schrank, wo Sie bei den Blumenvasen eine Schale finden.«

»Danke. Er hat gerade erst getrunken.«

Sie ließ den Raum auf sich wirken. Die Möbel waren stilvoll, aber schlicht gehalten, die Stühle überaus bequem. Es gab ein paar Zeitschriften, nicht die üblichen Klatsch- und Tratschblätter, sondern wissenschaftliche Zeitschriften, aber auch viele Bildbände von verschiedenen Ländern. An den Wänden wechselten sich Landschaftsaquarelle mit gerahmten Zitaten berühmter Persönlichkeiten ab.

»Frau Kehlmann, Dr. Naumann ist jetzt so weit.«

Sie stand auf und folgte der Sprechstundenhilfe zu einem Zimmer, das eher wie ein Salon wirkte, in dem früher Frauen der höheren Schicht ihren Besuch empfingen. Zwei Sessel, eine Couchkombination aus einem Dreier- und einem Zweiersofa. Kissen in vielfältigen Varianten, aber denselben pastellfarbenen Tönen wie alles andere in dieser Praxis. Ja, war es überhaupt eine Praxis oder eher eine gemütliche Wohnung?

Frau Dr. Naumann erhob sich. Eine Mittfünfzigerin, die kleiner gewesen wäre als sie, wenn sie nicht hohe Schuhe getragen hätte. Hellbraune freundliche Augen funkelten sie an. Auf ihren Lippen lag ein Lächeln, und die Brille saß wirklich an der Spitze ihrer schmalen, dafür überaus langen Nase. Ihre Haare glänzten in einem dunklen Kastanienbraun, ohne jeglichen Anflug von Grau. Schmale, warme Finger umfassten ihre Hand, und der Duft von Lavendel entfaltete sich zu einer entspannten Atmosphäre. Ein leichter, frischer Duft, kein schwerer. Auch bei ihrem Gespräch im BKA hatte der Geruch die Ärztin umweht. Hier, in dieser Umgebung, wirkte er um ein Vielfaches beruhigender als damals in den kühlen Büroräumen.

»Frau Kehlmann.«

»Frau Dr. Naumann.«

»Und was für einen hübschen Kerl haben wir denn da, oder ist es eine Sie?«

»Ein Rüde, Akiro.«

»Warum muss er einen Maulkorb tragen?«

»Er war verletzt und ist traumatisiert. Wir versuchen gerade, ihn wieder in den Alltag zu integrieren. Heute ist sein erster Tag.«

»Er macht keinen aggressiven Eindruck auf mich.«

Natasha strich dem Hund über den Kopf. Er hatte sich bisher vorbildlich benommen. »Good boy, good boy«, lobte sie ihn. Das hätte sie heute schon viel öfter machen müssen, fiel ihr ein. Seine Augen schienen aufzuleuchten, und er wedelte freudig mit dem Schwanz.

»Er liebt Sie nicht nur, er himmelt Sie regelrecht an. Wie lange haben Sie ihn schon?«

Die Freude, die Natasha empfunden hatte, schwand augenblicklich, als hätte jemand das Licht ausgeknipst.

»Ich kümmere mich nur für den Moment um ihn.«

»Er ist kein Diensthund des BKA?«

»Nein.«

Zu ihrem Erstaunen hakte die Ärztin nicht weiter nach, sondern ließ sich auf einem der Sessel nieder. Daneben stand ein Beistelltisch mit einem Teebecher und einer Thermoskanne darauf, einem Clipboard mit einem Block, einem Montblanc-Kuli und ihrer Akte.

»Setzen Sie sich, Frau Kehlmann. Möchten Sie auch einen Becher Tee?«

»Nein danke.« Ihr Blick schweifte über die anderen Sitzgelegenheiten. Sie war unschlüssig, auf welche sie sich setzen sollte, weil sie nicht wusste, ob die Ärztin etwas daraus schließen würde.

»Das ist kein Test, Frau Kehlmann, den es zu bestehen gilt.«

»Sie haben ein Vetorecht.«

»Das stimmt, so wie viele andere auch, mit denen Sie in Zukunft zusammenarbeiten werden.«

Natasha entschied sich für den Zweisitzer, weil sie dort der Ärztin genau gegenübersaß. Akiro legte sich auf ihr Zeichen hin.

»Ich bin nicht in die Einheit aufgenommen worden, sondern aktuell nur auf Probe dabei.«

»Zweifeln Sie daran, dass Sie ein fester Bestandteil der Einheit werden?«

»Nein.«

Die Ärztin lächelte. »Ich dachte mir, dass Sie das sagen. Sie sind ein Mensch, der, wenn er etwas ins Auge fasst und erreichen will, es auch erreicht. Wie kommen Sie mit Ihrem Partner Peter Abel zurecht?«

»Gut.«

»Das war kurz, spontan und kam von Herzen.«

»Überrascht Sie das?«

»Ja und auch wieder nein. Ja, weil Herr Abel mit seiner Persönlichkeit einen wertvollen Beitrag im Team leistet. Für seine Partner kann der Umgang mit ihm jedoch eine Herausforderung sein. Und nein, weil Sie eine Frau sind, die nach meiner Einschätzung mit dieser Herausforderung zurechtkommen wird.«

»Scheint, als wäre ich nicht die erste.«

»Die vierte seit Bestehen der Einheit.«

»Die vierte Frau als Partnerin oder die vierte Person?«

Ein Schmunzeln huschte Dr. Naumann über die Lippen. »Da waren sowohl ein Mann als auch eine Frau, aber wir sitzen heute nicht zusammen, um über Peter Abel zu sprechen, oder?«

»Nun, ich habe den Termin nicht gemacht, sondern Dr. Hofmeister, so weit ich es verstanden habe. Ist diese Vorgehensweise üblich?«

»Durchaus.«

Die Ärztin betrachtete sie über den Becher hinweg, während sie schlückchenweise den heißen Tee trank. Natasha hielt die Beine leicht geöffnet, hatte die Hände gefaltet und ließ sie locker herunterhängen, wobei ihre Unterarme von den Oberschenkeln gestützt wurden. Gern hätte sie jetzt Akiros Kopf gehalten oder ihn gestreichelt. Doch der Hund hatte sich auf die Seite gelegt und die Augen geschlossen und schien ein Nickerchen zu halten. Lavendel wirkte anscheinend auch bei Hunden.

»Sie mögen keine Ärzte. Ich dachte zuerst, es läge an meiner Profession, doch Dr. Hofmeister sagte, er habe denselben Eindruck von Ihnen.«

»Na ja, ich bin nicht gerne krank.«

»Verbinden Sie Ärzte mit Krankheit?«

»Weshalb sollte man sie sonst aufsuchen?«

»Wann waren Sie zuletzt zur Vorsorgeuntersuchung beim Frauenarzt?«

Natasha erstarrte. »Ist das auch eine Bedingung?«

Dr. Naumann fing herzlich an zu lachen. Sie besaß eine warme, angenehme Stimme, und ihr Lachen hatte einen vollen Ton, der ansteckend wirkte.

»Sie sind in vieler Hinsicht eine der interessantesten Kandidatinnen seit Gründung dieser Einheit. Sie wollen nicht ernsthaft Ihre Kandidatur zurückziehen, weil Sie regelmäßig zum Gesundheitscheck müssen, oder?«

»Ich bin mir gerade nicht so sicher, muss ich gestehen.«

Vorsichtig stellte Dr. Naumann den Becher auf den Tisch, rückte ein Stück nach vorn und beugte sich vor.

»Wissen Sie, Frau Kehlmann, als wir die Profile der Menschen, die für die Einheit infrage kommen, durchgearbeitet haben, gab es unter anderem ein Kriterium: Jeder sollte etwas Einzigartiges mitbringen, ohne dass wir das näher spezifiziert hätten. Etwas Besonderes. Ich kenne Generalmajor Hartmann schon sehr, sehr lange. Wir haben viel zusammengearbeitet, und ich verstand nicht, wonach genau er suchte. Er sagte mir, das bräuchte ich auch nicht, denn ich würde es im Laufe meiner Arbeit erkennen. Ich fand die Antwort unbefriedigend, doch er behielt Recht. Mir wurde mit jedem neuen Mitarbeiter klarer, was er meinte. Karl sieht etwas in Ihnen, und ich kann es auch sehen.

Themis ist nicht einfach eine weitere Sondereinheit. Wir haben hier nicht die Härtesten der Harten aus Polizei und Militär zusammengepackt. Die physischen Anforderungen sind nicht ohne, das liegt an der Art mancher Einsätze. Aber sie sind nicht so hoch wie bei anderen Spezialkommandos, sonst gäbe es keine Frauen im Team, und wir haben drei in der operativen Gruppe von zehn – immerhin dreißig Prozent. Mit Ihnen wäre es annähernd die Hälfte.

Das, wonach wir suchen, ist eine Besonderheit, die in der Art von Einsätzen, mit denen Sie konfrontiert werden, zum Erfolg führt. Sie besitzen so etwas Besonderes. Ich möchte Ihnen gern helfen, zu einem Teil der Einheit zu werden. Was denken Sie, Frau Kehlmann, möchten Sie ein Teil von Themis werden?«

Natasha schloss die Augen und atmete tief durch. »Ja.«

Ein feines Lächeln erschien auf dem Gesicht von Dr. Naumann. »Das dachte ich mir. Lassen Sie sich von den Check-ups nicht abschrecken. Sie werden irgendwann zur Routine, auch für Sie.« Sie lehnte sich wieder in ihrem Sessel zurück und nahm den Becher wieder in die Hand. »Und jetzt erzählen Sie mir Akiros Geschichte.«

10

Training

Es war nicht das erste Mal, dass Natasha gegen ein Teammitglied kämpfte. Gegen eine Kollegin zu kämpfen, passierte seltener. Zoe war zierlich, beinahe grazil. Sie wirkte mehr wie eine Balletttänzerin als eine Polizistin. Blauschwarzes, glattes Haar rahmte ihr schmales Gesicht, sodass die mandelförmigen Augen, die kleine, schmale Nase und auch die Lippen kaum zu sehen waren. Ihre Augen waren nicht braun, sondern annähernd schwarz. In ihrem Trainingsanzug sah sie aus wie ein Ninja aus den Comicbüchern, die Natasha in ihrer Kindheit verschlungen hatte und sogar noch heute gerne las. Sie machte nicht den Fehler, Zoe zu unterschätzen. Ihre Kollegin gehörte zu den Rekruten der ersten Stunde, und sie hatte im Vorbereitungskurs ein paar Mal die Chance gehabt, sie in Aktion zu sehen.

Schweigend musterten sie sich. Aus Zoes Gesichtsausdruck ließ sich nichts ablesen. Natasha dachte an ihre Erfahrung mit Carolina. Es war definitiv Vorsicht geboten, doch es konnte nicht schaden, den ersten Schritt zu wagen. Mit einem freundlichen Lächeln reichte sie Zoe die Hand. Zoe betrachtete diese, als wäre sie ein ekelerregendes Insekt. Ohne ein Wort zog sie sie wieder zurück. Das würde eine harte Nummer werden.

»Zoe, ich möchte, dass du mit Natasha alle Grundlagentechniken durchgehst. Ich muss wissen, wo sie genau steht. Keine Sondersachen, keine Spezialtricks, nur unsere Routine. Und du, Natasha, komm erst gar nicht auf die Idee, Zoe flachlegen zu wollen. Zeig einfach, was du drauf hast. Zoe ist unsere Spezialistin für den Nahkampf. Okay, ihr zwei, legt los.«

Peter verschwand aus dem Raum und ließ sie allein. Natasha legte eine Decke in die nächste Ecke der Sporthalle und ließ Akiro sich dort hinlegen. Sie hatte Maltes Vorschlag beherzigt und mit der Decke am Körper geschlafen, sodass sie nun ihren Geruch enthielt. Malte meinte, es würde Akiro helfen, zu akzeptieren, abgelegt zu werden und sich zu entspannen.

Akiro rollte sich brav zusammen. Skeptisch musterte Zoe den Hund.

»Keine Sorge, den Maulkorb behält er an, dann kann nichts passieren.« So ganz wohl war ihr bei dem Gedanken auch nicht, Akiro bei einem Kampftraining zusehen zu lassen. Das ließ sie sich jedoch nicht anmerken.

Der Trainingsbereich war mit Gummimatten ausgelegt. Zoe nahm die Grundhaltung ein und signalisierte ihr, mit den Angriffen anzufangen. Sie ging leicht in die Knie, brachte ihr Gewicht gleichmäßig auf die nackten Fußsohlen und fokussierte sich auf ihre Gegnerin.

Der erste Grundsatz beim Nahkampf war, niemals still stehen zu bleiben. Der zweite hieß: Ausweichen ist die beste Verteidigung. Die Bewegungen ihrer Gegnerin waren fließend, ruhig und routiniert. So konterte Zoe ihre Angriffe. Sie verfügte über eine ausgezeichnete Balance, war biegsam und dehnbar. Flink und geschickt manövrierte sie Natasha immer wieder aus. Es machte Spaß, gegen Zoe zu kämpfen, die mühelos jede Bewegung und jeden ihrer Angriffe voraussah. Es war, als würde man versuchen, gegen sein eigenes Spiegelbild anzukämpfen. Natasha war froh, dass sie sich zuerst ordentlich aufgewärmt hatten. Immer wieder landete sie auf dem Rücken, geriet in einen Haltegriff und musste signalisieren, dass sie geschlagen war. Aber das frustrierte sie keineswegs.

Im Gegenteil. Unermüdlich stand sie wieder auf. Wieder und wieder. Sie versuchte sich abzuschauen, wie Zoe es schaffte, sie ein ums andere Mal aufs Kreuz zu legen. Ihre Gegnerin hatte nicht nur gelenkig ausgesehen. Sie war es auch. Und in ihrem Körper steckte mehr Kraft, als es den Anschein hatte. Außerdem verbrauchte sie längst nicht so viel Energie wie Natasha.

Gegenüber Zoe kam Natasha sich vor wie ein trampeliger Elefant. Schweiß lief ihr in die Augen und den Rücken hinab.

»Wie hast du das eben gemacht? Kannst du mir das noch mal langsam zeigen?«

Zoe zog leicht die Lippen auseinander. »Was genau?«

»Na, wie du mir ausgewichen bist, gleichzeitig meinen Arm gepackt, abgeblockt, den Schwung genommen und gegen mich verwendet hast.«

»Es ist mehr Instinkt als Technik. Du hast eine gute Technik, an der sich noch feilen lässt. Aber dir fehlt der Instinkt, wenn du reagierst. Du möchtest nicht kämpfen, oder besser ausgedrückt, du willst nicht verletzen. Du denkst zu viel. Was ich gemacht habe, war nur, deine Energie aufzunehmen und meine fließen zu lassen, ohne sie in den Bewegungsabläufen zu blockieren. Du dagegen bremst ab, sortierst neu, gehst zurück in die Ausgangsstellung und wiederholst den Angriff. In den klassischen Kampftechniken wird das oft gelehrt. Aber wenn du draußen bist, geht es nicht um Technik, sondern ums Überleben. Da darfst du keine Hemmungen haben, jemandem wehzutun, oder Angst davor haben, dass dich jemand verletzt. Du musst gegen mich anders kämpfen als gegen einen Mann. Greif mich noch mal an wie eben, und wir wiederholen es langsam.«

Die nächste halbe Stunde verbrachte Natasha damit, zuzuhören und Bewegungsabläufe langsam zu üben, bis sie Routine wurden, um zuletzt das Tempo zu erhöhen.

»Das reicht. Du wirst schlampig.«

»Können wir es nicht noch ein einziges Mal wiederholen? Ich versteh es noch nicht ganz. Bitte.«

»Also gut, einmal noch.«

Zoe hatte recht. Diesmal war sie noch schlechter als zuvor. Natasha wusste, dass Übertrainieren keinen Zweck hatte. Ab und an jedoch fiel es ihr schwer, etwas einfach loszulassen. Sie verkrümelte sich in die Dusche und nahm Akiro sicherheitshalber mit.

Peter fing Zoe ab, bevor sie Natasha folgen konnte. Er hatte zwar den Raum verlassen, war aber in den Beobachtungsraum gegangen, von wo aus er jeden Sportraum im Blick hatte.

»Und?«

»Gute Körperbeherrschung, Diszplin und vor allem eine hohe Auffassungsgabe. Sie akzeptiert, dass sie Fehler macht, und ist kritikfähig. Erstaunlicherweise kann sie einstecken und hat die körperlichen Auswirkungen von Adrenalin richtig gut im Griff. Ein Riesenproblem ist ihre Hemmung, andere zu verletzen. Irgendwas in ihrem Kopf blockiert sie da. Das, mein Lieber, musst du lösen, sonst ist sie der Schwachpunkt in unserem Team.«

»Ist das der Grund, weshalb du angefangen hast, sie zu trainieren, anstatt sie zu testen?«

Zoe schenkte ihm ein breites Grinsen. »Ehrlich gesagt kann ich dir gar nicht erklären, wie es dazu kam. Sie hat eine Art an sich, die einen automatisch dazu verleitet, ihr mehr zu geben, als man will.«

Er bekam von seiner Kollegin einen freundschaftlichen Klaps auf den Arm.

»Ehrlich gesagt hätte ich auch nie gedacht, dass dich mal jemand weichkocht. Dass du sie trainierst und sogar in Kauf nimmst, für die nächsten Monate auf dem Abstellgleis zu stehen? Hut hab, die Frau hat Potenzial.«

Er verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Ich hatte keine Wahl.«

Zur Antwort zog Zoe nur wissend die Augenbrauen hoch. »Dir ist klar, dass Hartmann seine Drohung niemals wahr machen würde, dich aus der Truppe zu werfen.«

»Das sagst du. Ich kenne ihn nur als jemanden, der zu dem steht, was er sagt.«

»Sieh zu, dass du sie schnell fit bekommst. Du fehlst uns im Einsatz.«

»Danke.«

»An welchem Fall bist du dran?«

»Wie kommst du darauf, dass ich Zeit für einen Fall hätte?«

»Wann lernst du eigentlich, dass bei uns der Klatsch und Tratsch schneller ist als jede andere Form der Kommunikation? Du hast dir die ungelösten Fälle hochbringen lassen. Lass mich raten. – Mia Borowski.«

»Vielleicht.«

»Erwischt. Ich wusste es. Immerhin ist gestern ihr Jahrestag gewesen. Mach dir nur nicht zu viel Hoffnung. Es gab nie auch nur den kleinsten Hinweis, dass es ein Verbrechen war. Wenn du meine Meinung hören willst – sie wollte unter den Fittichen ihrer Mama weg.«


Akiro lag in seinem Körbchen schräg neben ihr. Kaum betrat Peter den Raum, wurde jede seiner Bewegungen aufmerksam von ihm verfolgt. Smart lief auf seinen Platz und legte sich hin.

Natasha saß bereits an ihrem Schreibtisch und tippte auf der Tastatur herum. Ihre Haare waren noch feucht. Ihr Blick war konzentriert auf den Bildschirm gerichtet. Vor ihr lag aufgeschlagen Mias Tagebuch.

»Was machst du?«

»Ich suche zusammen, was ich zu Mia im Internet finde.«

»Und?«

»Zeitungsartikel, ein Facebook-Profil, und sie ist in verschiedenen Communities, bei denen es um Theater geht. Wusste gar nicht, dass es so was auch gibt«, murmelte sie vor sich hin.

Er warf eine Mappe auf ihren Tisch. »Dein Ernährungsplan und dein Trainingsplan. Du hast Mangelerscheinungen. Eisen und Zink, alles andere ist im grünen Bereich. Wie war dein Termin mit Frau Dr. Naumann?«

Zum ersten Mal, seit er in das Zimmer getreten war, schenkte sie ihm ihre volle Aufmerksamkeit.

»Sie ist nett.«

»Nett? Mehr nicht?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Mehr nicht.«

»Hat Sie mit dir über die Einschränkungen gesprochen?«

»Einschränkungen?«

»Ja. Sie hat bei dir ein paar Einschränkungen angegeben, nach ihrer ersten Beurteilung für die Zulassung zum Einstellungstest. Die wollte sie heute mit dir durchgehen.«

»Nein, darüber sprachen wir nicht.«

»Hat sie Bedenken geäußert?«

»Nein. Darf ich fragen, um welche Einschränkungen es geht?«

»Es ist deine Beurteilung, klar.«

Er kam hinter sie, schnappte sich ihre Tastatur, öffnete ein Programm, und es erschien eine Seite mit mehreren Diagrammen und Tabellen. Natasha schluckte, als sie das Dashboard sah, in dem all ihre Zeiten, Werte und jede Trainingseinheit erfasst waren. Aber nicht nur das. Auch die medizinischen Daten einschließlich Anmerkungen fand sie dort. Außerdem erschienen ihre Leistungen zum Vergleich im Gesamtverhältnis zu den anderen Teammitgliedern. Nur im Schwimmen war sie unter den ersten fünf. Bei allen anderen Übungen belegte sie den letzten Platz. Daneben gab es psychologische Beurteilungen verschiedener Charaktereigenschaften auf einer Skala. Drei Wertabstufungen: ja, eingeschränkt und nein. Bei Empathie und Risikobereitschaft waren die Kreuze bei »eingeschränkt«. Bei »töten« war die Wertung »nein«. Sie sah zu ihm hoch.

»Eingeschränkte Empathie?«, wollte sie wissen. Das war eine Eigenschaft, die sie im Verhörtraining zur Klassenbesten gemacht hatte.

»Darauf kann ich dir keine Antwort geben. Was das bedeutet, weiß nur Dr. Naumann. Der Wert ›eingeschränkt‹ bedeutet allerdings, dass es Faktoren gibt, die in Bezug auf unseren Job diese Eigenschaft zu einem Problem machen kann. ›Nein‹ bedeutet, dass dir die Eigenschaft fehlt. Es ist ihre Beurteilung deiner Bewerbung, nicht die des Gesprächs mit ihr heute. Es kann also sein, dass sie ihre Ansicht revidiert hat. Dennoch solltest du mit ihr darüber reden.«

»Kann jeder im Team jeden einsehen?«

»Nein. Nur Oberst Wahlstrom und Generalmajor Hartmann können deine Bewertungen so detailliert sehen. Du siehst deine und wie du im Verhältnis zu den anderen stehst. Nicht um den Wettbewerb anzuheizen, sondern damit du analysieren kannst, wo deine Stärken und Schwächen liegen.«

»Du kannst meine Bewertung aber sehen.«

»Ja, weil Wahlstrom und ich der Meinung sind, dass es in diesem speziellen Fall sinnvoll ist, dass ich darauf zugreifen kann. Ich muss wissen, ob du Fortschritte machst.«

»Ich könnte es dir auch regelmäßig zeigen, ohne dass du Zugriff hast.«

»Wie ist Akiro damit klargekommen, dass du mit Zoe gekämpft hast?«, lenkte er sie vom Thema ab.

»Er lag in seiner Ecke und hat uns beobachtet.«

»Ich bin erstaunt, wie gut er den heutigen Tag bisher weggesteckt hat.«

Aufmerksam blickte der Hund zwischen ihnen hin und her, als wüsste er genau, dass sie über ihn sprachen.

»Was ist nun, wenn ich nicht möchte, dass du Einblick in meine Daten erhältst?«

»Dann ist es dein Recht, mir jederzeit den Zugriff darauf zu verwehren. Sobald du den Leistungstest nach den neuen Vorgaben von Oberst Wahlstrom schaffst, sperrt er den Zugriff für mich sowieso.«

Sie sah ihn an, dachte über seine Worte und sein Verhalten in letzter Zeit nach. Es war nicht mehr seine Motivation, sie rauszukicken. Er wollte ihr helfen.

»Also gut. Dafür beantwortest du mir eine Frage.«

»Welche?«

»Sind die Neulinge immer auf dem letzten Platz?«

»Immer, und zwar in allen Bereichen. Du bist im Schwimmen echt gut.«

»Danke.«

Peter sah auf seine Uhr. »Wir haben noch Zeit bis zu unserem Termin mit Florian. Lass uns mit den Hunden eine Runde drehen und dann eine Trainingseinheit mit ihnen einlegen. Ich möchte wissen, wie Akiro auf mich reagiert.«

»Auf ihn ist heute verdammt viel eingeströmt. Ich finde, wir sollten nicht gleich alles von ihm verlangen.«

»Je eher wir anfangen, desto solider können wir an seinem Fundament arbeiten. Du weißt, du kannst ihn nicht behalten.«

Seufzend gab Natasha nach. In Wahrheit wollte sie gar nicht, dass Akiro mit jemand anderem zurechtkam. Sie hatte bereits angefangen zu recherchieren, ob es nicht eine Möglichkeit für sie gab, Akiro zu adoptieren. So leicht würde sie sich nicht geschlagen geben.


Akiro ignorierte ihn beim Training komplett, als wäre er nicht existent. Er war völlig auf Natasha fokussiert. Trotz seiner Verletzung versuchte er, mit Smart mitzuhalten. Als sie sich mit Nasenarbeit beschäftigten, lag er deutlich vor Smart. Als hätte sein traumatisches Erlebnis mit seinem Team seine Sinne zusätzlich geschärft. Er nahm jedes Signal von Natasha wahr, schien ab und an sogar vorwegzunehmen, was sie als Nächstes von ihm wollte. Manchmal reagierte er verwirrt, weil seiner Partnerin die Erfahrung fehlte, um ihre Körperbewegungen präzise zu kontrollieren. Was Peter jedoch wirklich ärgerte, war die Ignoranz des Hundes ihm gegenüber.

Er befahl Natasha, den Platz zu verlassen und sich langsam zu entfernen, während er mit Akiro auf dem Trainingsplatz blieb. Zuvor hatte Natasha dem Hund den Befehl gegeben, sich zu setzen und zu warten. Akiros gesamte Aufmerksamkeit blieb bei ihr. Er winselte leise, als sich die Distanz zwischen ihnen erhöhte. Schließlich legte er sich hin. Auch jetzt interessierte er sich kein bisschen für Peter.

Der kniete sich hin, streichelte seinen Kopf, begann ihn hinter den Ohren zu kraulen. Ein dumpfes Knurren war die Antwort.

»Alles gut. – Natasha! Komm noch mal zurück.«

Sie kam, öffnete die Gittertür zum Trainingsplatz. Kaum betrat sie den Platz, setzte sich Akiro auf, Augen und Ohren auf sie gerichtet. Seine Rute zuckte hin und her.

»Ruf ihn zu dir und lob ihn.«

»Akiro, come here. Good boy. Good boy.«

Er leckte ihre Hand, drückte sich an sie, und Peter konnte sehen, wie angespannt der Hund gewesen war.

Er ging zu ihnen hinüber. »Er ist völlig auf dich fixiert.« Die Arme vor der Brust verschränkt starrte er sie und den Hund finster an. Die Freude, die sie empfunden hatte, weil Akiro ihr treu geblieben war, verpuffte. Nicht nur war der Schäferhund auf sie fixiert, sondern sie auch auf ihn. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Liebe empfunden wie zu diesem Hund. Sie wollte ihn mit niemandem teilen. Sie war eifersüchtig.

»Dir ist klar, dass das sein Todesurteil ist?«

Sie schlang die Arme um den Hals des Hundes. »Nur über meine Leiche.«

»Was hast du vor? Willst du ihn verstecken?«

Sie schwieg. Sie arbeitete an dem Problem, nur wusste sie noch nicht, wie sie es lösen würde.

»Schlag es dir aus dem Kopf. Die Amerikaner verstehen überhaupt keinen Spaß in solchen Sachen. Es war schon ein Riesenambach für Jake, dass er ihn zu Malte bringen durfte. Ist dir klar, wie viel ein ausgebildeter Hund kostet und was er an laufenden Kosten verursacht?«

Trotzig presste sie die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Es war ihr egal.

»Malte bekäme richtig Ärger und du auch, und dann kannst du vergessen, bei uns reinzukommen.«

Natasha vergrub ihr Gesicht im Halskragen des Hundes. Am liebsten hätte sie sich auch noch die Ohren zugehalten.

Peter stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Heulst du?«

»Nein«, stieß sie hervor und presste die Augenlider zusammen.

Er hockte sich hinter sie und legte ihr die Hand auf den Rücken. Sie zuckte erschrocken zusammen, hüpfte hoch und wich zwei Schritte zurück. Ohne eine Warnung sprang der Hund ihn an, warf ihn auf den Boden, die Nase an seiner Kehle. Peter war froh, dass Akiro noch den Maulkorb trug. Smart, den er an den Pfosten gebunden hatte, spielte verrückt. Er sprang gegen die Leine an, bellte, knurrte und versuchte, sich aus seinem Halsband zu winden.

»Stop, Akiro. Let go.«

Bösartiges Knurren. Das Tier bewegte sich keinen Zentimeter. Peter atmete tief durch.

»Akiro! Let go!«, legte Natasha mehr Schärfe und Autorität in ihre Stimme.

Widerwillig setzte der Hund sich hin. »Smart, sit down!«, wandte sie sich dem anderen Schäferhund zu, der zu ihrem Erstaunen dem Befehl direkt Folge leistete.

»Alles klar?«

Peter richtete sich langsam auf und schaute sie erbost an.

»Du hast mich erschreckt, das hat er gemerkt. Er wollte mich nur beschützen.«

Nur mit einem Handzeichen holte sie Akiro zurück an ihre Seite. Brav setzte er sich neben sie und sah Peter an, als könnte er kein Wässerchen trüben.

»Komm zu mir her und lass ihn dort sitzen.«

»Wir sollten nicht gerade jetzt testen, ob er auf dich hört. Lass uns das verschieben.«

Peter klopfte mit der flachen Hand stumm neben sich auf das Gras. Den Teufel würde er tun und ihr Zeit lassen, sich irgendeine Dummheit auszudenken, damit sie den Hund behalten konnte. Das Problem musste jetzt gelöst werden, in ihrem Interesse und dem des Hundes. Mühsam versuchte er, seinen Ärger über das, was passiert war, zu verdrängen.


Natasha betrachtete Peter, der mit locker gespreizten Beinen auf dem Boden saß, die Arme auf seinen Knien abgelegt, mit einer Hand das Handgelenk der anderen umfassend. Täuschung. Seine Augen hatten die Farbe der finsteren Wolken, die einen Hurrikan begleiteten. Jeder Muskel in seinem Gesicht war angespannt, und sie glaubte zu hören, dass er mit den Zähnen knirschte. Er schaute nur auf sie.

Akiro sträubte das Fell, ließ Peter nicht eine Sekunde aus den Augen. Wie sollte sie nur diese Feindseligkeit, die der Hund Peter gegenüber an den Tag legte, seit er sie berührt hatte, in den Griff bekommen? Sie musste Peter vertrauen. Er hatte Erfahrung mit Hunden.

»Akiro, sit and wait.«

Sie holte einmal tief Luft und ließ sich mit etwas Abstand neben Peter auf dem Boden nieder. Beinahe konnte sie die Verunsicherung in den Augen des Hundes lesen. Seine Haltung blieb angespannt.

»Näher«, befahl Peter.

Sie rückte ein Stück an ihn heran.

Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich beiße nicht. Näher.«

»Wie nah?«

»So, dass wir uns berühren.«

Sie berührten sich an Schultern, Po und Beinen. Unwillkürlich versteifte sich Natasha. Akiro sträubte das Nackenfell.

»Entspann dich. Er muss merken, dass du mich magst, dass wir ein Team sind, dass wir zusammengehören.«

»Ich weiß noch nicht, ob ich dich mag«, grummelte sie.

»Das ist das Problem. Ich werde jetzt den Arm um dich legen. Deine Aufgabe ist es, dass es dir gefällt und du Akiro signalisierst, dass alles in Ordnung ist.«

Er legte ihr langsam seinen Arm um die Schulter.

»Entspann dich.«

»Tu ich.«

»Stell dir vor, ich wäre deine beste Freundin.«

»Ich hab keine.«

»Warum wundert mich das nicht? Jetzt sag was. Er ist kurz davor, sich auf mich zu stürzen.«

»Akiro, Team.«

»Das kauft er dir nicht ab. Du musst es ihm auch wirklich zeigen.«

Widerwillig schlang sie die Arme um seine Taille, legte ihren Kopf an seine Schulter.


Der unerwartete Körperkontakt erwischte ihn eiskalt und sein Körper reagierte, ohne dass er es kontrollieren konnte. »Wow, wow, wow – langsam«, rutschte es ihm heraus.

»Was mache ich jetzt wieder falsch?«


Sie konnte spüren, dass sein Herz eine Spur schneller schlug.

»Nichts, ich war nur überrascht.«

Er hielt sie fest, als sie sich von ihm lösen wollte, und sie spürte, wie er sein Kinn auf ihren Kopf legte. Jede ihrer Bewegungen wurde von Akiro verfolgt.

»Jetzt ruf ihn zu dir.«

»Akiro, come here.«

Der Hund sprang auf, kam zu ihnen und versuchte, sich zwischen sie zu quetschen. Sie musste lachen, weil Peter sie stur festhielt, auch als Akiro anfing, seine Pfoten zu Hilfe zu nehmen.

Schließlich gab der Hund auf und setzte sich vor sie hin. Er knurrte nicht, hechelte allerdings von der Anstrengung.

»Loben!«

»Good boy, good boy.«

»Streicheln, nicht nur mit der Stimme.«


Sie löste ihre Hände von ihm und beugte sich vor. Ihre Haare waren weich und seidig gewesen, ganz anders, als er es erwartet hatte bei der widerspenstigen Kurzhaarfrisur. Ihr Körper war fest, der Busen üppiger, als es in den weiten Sachen den Anschein gehabt hatte. Ihr feiner, schlanker Hals … Der Geruch nach frischen Zitronen weckte in ihm die Vorstellung von Strand, Meer und Urlaub.

Er biss sie sachte in den Nacken. Auch diesmal zuckte sie zusammen, richtete sich abrupt auf und fasste sich mit der Hand an die Stelle.

Wütend funkelte sie an. »Was sollte das?«

Statt einer Antwort zog er nur die Augenbrauen hoch und deutete mit dem Kinn auf Akiro. Der schien etwas verwirrt zu sein, war jedoch diesmal sitzen geblieben.

»Loben!«

Sie lobte den Hund, rückte dabei aber ein Stück von ihm ab.

Er erhob sich. »Du musst alles, jede Kleinigkeit loben, als wäre es das Tollste, was er je gemacht hat. Das ist das Wichtigste bei dem Versuch, neue Verhaltensmuster bei einem Hund zu etablieren. Ich dachte, Malte hätte dir das gesagt.«

»Hat er auch.«

»Und warum machst du es dann nicht?« Er war froh, dass Blicke nicht töten konnten.

»Weil ich es noch nicht gewohnt bin, einen Hund zu haben, und weil ich angepisst bin.«

»Dafür hast du es gut gemacht. Jetzt wiederholen wir die Übung von zuvor. Mal sehen, ob er mich weiterhin ignoriert.«

»Du hast mir noch nicht gesagt, weshalb du mich gebissen hast.«

Er grinste sie an. »Weil ich wissen wollte, ob du so gut schmeckst, wie du riechst.«

»Ich dachte, wir hätten eine klare Regel.«

»Haben wir auch. Wenn eine Hündin ihre Welpen korrigiert, packt sie sie im Nacken. Ich habe Akiro nur gezeigt, wer der Boss im Team ist, und er hat es akzeptiert.«

»Wenn du das noch einmal versuchst, das schwöre ich dir, verpasse ich dir eine. Verstanden?«

»Geh, bevor Akiro deinen feindseligen Vibe wahrnimmt, als hättest du es ernst gemeint.«


Natasha schluckte ihren Ärger hinunter. Am meisten brachte sie jedoch ihre Reaktion auf seine körperliche Nähe auf die Palme. Es hatte sich nicht nur verdammt gut angefühlt, ihn zu umarmen, sie passte auch perfekt in seine Arme. Sein Geruch hing ihr noch in der Nase. Bei seinem Biss in ihren Nacken hatte sich alles in ihr zusammengezogen, und nicht nur das … Sie befürchtete, dass der Hund mit seiner feinen Nase genau das wahrgenommen und Peter deshalb nicht angegriffen hatte.

Sie entfernte sich, ging vom Platz und bewegte sich weiter. Diesmal befolgte Akiro Peters Befehle, auch wenn er immer wieder kurz zu ihr hinsah. Schließlich war sie außer Sichtweite.

Sie hockte sich ins Gras, atmete tief durch. Was um alles in der Welt war nur los mit ihr? Sie hatte noch nie Probleme mit ihrer eisernen Regel gehabt, nie etwas mit einem Kollegen anzufangen, und ausgerechnet bei Peter spielten ihre Hormone verrückt? Aber gut, sie war schließlich ein vernünftiger Mensch, der sich weder von Hormonen noch von Gefühlen kontrollieren ließ. Sie würde das schon in den Griff bekommen.

Verärgert schnaubte sie aus. Immerhin hatte sie mitbekommen, dass er kein Kostverächter war, egal was Malte ihr erzählt hatte. Sie entschied sich, die Zeit für eine Meditation zu nutzen, um mit ihren Gedanken und Gefühlen wieder in Einklang zu kommen.

11

Florian

Obwohl es Florians Vorschlag gewesen war, zu ihnen ins BKA zu kommen, rutschte er unruhig auf dem Besucherstuhl herum. Peter saß hinter seinem Schreibtisch, Natasha hatte einen der Besucherstühle seitlich von seinem Tisch hingestellt und saß auf diese Weise jetzt schräg vor dem jungen Mann.

»Möchtest du was trinken? Ist es okay, wenn ich dich duze?«, übernahm sie die Gesprächsführung.

»Nein danke. Ja, Sie können mich duzen. Hat sich bei der Suche nach Mia etwas ergeben? Ist das der Grund, weshalb Sie mit mir sprechen möchten?«

»Gestern war der Jahrestag ihres Verschwindens.«

»Ich weiß.« Er senkte den Kopf. »Manchmal, wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich sie. Ich renne hinter ihr her, nur um festzustellen, dass ich einem wildfremden Mädchen hinterhergerannt bin.«

»Du vermisst sie nicht nur, du fühlst dich schuldig«, stellte Natasha fest. »Warum?«

Er zuckte die Achseln. »Wenn wir uns in der Schule nicht gestritten hätten, wenn ich für sie dagewesen wäre …«

»Worüber habt ihr gestritten?«

»Das habe ich damals der Polizei schon alles gesagt.«

»Würdest du es mir noch mal erzählen?«

Florian seufzte. »Sie fühlte sich als fünftes Rad am Wagen, seit ihre Mutter einen Freund hatte. Es war ungewohnt für sie, obwohl er sehr nett war. Am meisten ärgerte es sie, dass ausgerechnet er sie darin bestärkte, Schauspielerin zu werden. Als würde er sie besser verstehen als ihre Mutter. Ich sagte ihr, dass das Quatsch ist. Dass Paula einfach wollte, dass sie erst mal ihr Abitur macht und einen Abschluss in der Hand hat. Dass es sehr schwer ist, sich als Schauspielerin zu etablieren. Paula hatte auch Angst, dass sie an dem harten Job zerbricht.«

»Du meinst, weil man da zig Castings und Absagen ertragen muss, immer in der Hoffnung, eine Rolle zu bekommen? Immer in der Konkurrenz mit anderen talentierten Schauspielerinnen und Schauspielern?«

Etwas flackerte in seinen Augen auf. »Genau. Man weiß nie, was man verdient, wo man ein Engagement bekommt, und wenn man eines hat, für wie lange. Ist es so schwer zu verstehen, dass Paula wollte, dass sie erst studiert? Mia war so gut in der Schule.«

»Paula hat nie studiert.«

»Nein, weil sie keine Möglichkeit dazu hatte. Sie wurde schwanger, und ihr Vater hielt es nicht für sinnvoll, Geld in ein Studium zu stecken.«

»Das hat Paula dir erzählt?«

»Nein, Mia. Es war Paulas Traum, zu studieren, aber Mias nicht.« Florian knetete nervös die Hände, aber nicht nur das. Er wich dem direkten Augenkontakt aus.

»Und weil Mia das Gefühl hatte, du würdest auf der Seite ihrer Mutter und nicht auf ihrer stehen, war sie wütend auf dich.«

»Ja.«

»War es denn so?«

»Nein, natürlich nicht. Ich wusste, wie viel ihr die Schauspielerei bedeutet, aber ich habe miterlebt, dass es in der Branche keine echten Freunde gibt, nur Konkurrenz.«

»Du meinst, du hast es bei ihr miterlebt oder bei dir?«

»Bei Mia. Sie hatte mit fünfzehn eine allerbeste Freundin. Jasmin. Beide spielten in der Theatergruppe unserer Schule mit. Dort lernten sie sich auch kennen. Jasmin hat sich direkt an Mia drangehängt. Sie wusste, dass sie die Beste war, und wollte davon profitieren. Beim Casting für die Rolle der Alice in ›Alice im Wunderland‹ schwatze Jasmin Mia das Versprechen ab, sich nicht zu bewerben. Dabei war sie viel talentierter als Jasmin und konnte besser tanzen. Mia hielt Jasmin für ihre erste richtige beste Freundin. Ich meine, Mia war immer beliebt, das schon, aber sie hielt sich von den anderen Mädchen eher fern. Als sie mir erzählte, was Jasmin von ihr wollte, hab ich sie rundheraus gefragt, ob sie spinnt. Es wäre so ein Quatsch gewesen. Sie sollte sich ruhig bewerben, und am Ende würde sowieso die Regisseurin entscheiden, welche von den Bewerberinnen die Rolle der Alice bekommt, und wenn Jasmin wirklich ihre Freundin wäre, würde sie das auch verstehen.«

»Du hast ihr geraten, das Versprechen zu brechen, das sie Jasmin gegeben hat?«, hakte Peter ein.

Florian verschränkte die Arme vor der Brust und schob trotzig das Kinn nach vorn. »Ja. Und? Ich hatte recht. Jasmin hat Gift und Galle gespuckt, als Mia die Rolle bekam. Ist das die Reaktion einer echten Freundin? Nein, denn die hätte erst gar nicht von Mia gefordert, sich die Rolle entgehen zu lassen. Jasmin wusste genau, dass sie gegen Mia nicht die Spur einer Chance hatte.«


Natasha warf ihm einen mahnenden Blick zu, und Peter schluckte seine Erwiderung hinunter. Dieser Junge war auf die Freundschaft zwischen Mia und Jasmin eifersüchtig gewesen. Mia hatte viele Freundinnen gehabt, nur keine beste Freundin. Diesen Platz hatte immer Florian als bester Freund eingenommen, das wusste er von seiner Schwester, die Mias Patentante war.

»Wie hat sich das Verhältnis der beiden danach entwickelt?«

»Jasmin machte ihr das Leben zur Hölle, wo immer sie konnte. Etwa ein halbes Jahr vor Mias Verschwinden gab es einen heftigen Streit in der Aula, bei dem sich Jasmin auf Mia stürzte. Ein Lehrer trennte die beiden, und Jasmin bekam eine Verwarnung vom Rektor.«

»Worum ging es dabei?«

»Mia hatte die Rolle als Belle in ›Die Schöne und das Biest‹ erhalten. Jasmin warf Mia vor, sie hätte den Regisseur bezirzt, damit sie die Rolle bekommt, weil eigentlich sie die bessere Gesangsstimme hätte.«

»Und stimmt das?«

»Nein!« Florian blitzte sie empört an. »Okay, vielleicht wäre Jasmin im Gesang besser gewesen, aber alles andere? Mia war die beste Besetzung. Schluss, aus, Ende. Es gibt sogar einen Artikel in der Tageszeitung, wo sie als Deutschlands talentierteste Nachwuchsschauspielerin bezeichnet wird.«

»Das war die Schulaufführung, zu der sie Karlheinz, den Freund von Paula, eingeladen hat«, rekapitulierte Natasha die Zeitachse des Falls. »Ist Jasmin nach dem Vorfall in der Aula noch mal handgreiflich gegenüber Mia geworden?«

Florian zuckte mit den Achseln. »Reicht das nicht?«

»Jasmin stand im Fokus der Ermittlungen der Polizei.«

»Weil sie Mia gedroht hat, sie würde sich eines Tages an ihr rächen, wenn sie es am wenigsten erwartet.«

Laut den Berichten hatte sich Jasmin mit ihrer Abneigung gegen Mia nicht zurückgehalten, doch ihr Alibi war hieb- und stichfest. Nicht nur ihr Freund bestätigte, dass sie die ganze Zeit mit ihm bei einer Party gewesen war, sondern auch die anderen Gäste untermauerten die Aussage. Später habe Jasmin bei ihrem Freund übernachtet.

»Ging es bei dem Streit, den du und Mia an dem Freitag hattet, nur darum, dass du zu Paula gehalten hättest, oder noch um was anderes?«

Florian rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Mehr brauchte Natasha nicht.

»Mit wem wollte sich Mia am Freitagabend treffen?«, fragte sie und ließ ihre Stimme besonders samtweich klingen.

Mit einem Ruck hob er den Kopf und starrte sie an. »Wie kommen Sie darauf, dass sie sich mit jemandem treffen wollte?«

»Es war nur ein Gedanke«, log sie ihn schamlos an. Schließlich wusste sie es aus dem Tagebuch. »Also wollte sie sich mit jemandem treffen. Mit wem, Florian?«

Er schlug die Hände vors Gesicht. »Mit ihrem Vater.«

»Ihrem Vater?«, wiederholte Peter verblüfft. »Woher wusste sie von ihrem Vater?«

»Keine Ahnung. Ehrlich. Ich dachte immer, dass ihr Vater tot ist, weil mir Mia das als Kind mal irgendwann erzählt hat. Ich fragte sie auch, woher sie wüsste, dass er ihr Vater ist. Sie sagte, dass sie einen Vaterschaftstest gemacht hätte. Aber sie hat mir hoch und heilig versprochen, dass sie das Treffen absagen und ein neues vereinbaren würde, damit ich sie begleiten kann.«

»Hat sie dir gesagt, wer es ist?«, wollte Natasha wissen.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie sagte, sie wäre selber noch unsicher, was sie davon halten soll, und dass sie Angst davor hätte, ihm zu begegnen. Darum wäre es sicherer für sie beide, wenn erst mal niemand wüsste, wer es ist.«

»Warum hast du das bei deinem Verhör mit der Polizei verschwiegen?«, fragte Peter mit unterdrücktem Ärger.

»Weil ich ihr versprochen hatte, dass ich es niemandem erzähle. Und weil sie mir versprochen hat, sich doch nicht mit ihm zu treffen. Mia hätte ein Versprechen mir gegenüber niemals gebrochen.«

»Ach so, und was ist mit dem Versprechen gegenüber Jasmin?«, brauste Peter auf.

Natasha versuchte, ihn mit Blicken dazu zu bekommen, ruhig zu bleiben und ihr die Gesprächsführung zu überlassen, doch er ignorierte sie.

»Das war etwas vollkommen anderes. Wir sind echte Freunde.«

Peter starrte den Jungen fassungslos an. »Ist dir klar, dass du mit deinem Schweigen einen der wichtigsten Hinweise zu Mias Verschwinden unterschlagen hast? Dass du dich mitschuldig gemacht hast an allem, was ihr passiert ist?«

Der Junge fing an zu heulen. »Das ist nicht wahr. Sie hat sich nicht mit ihm getroffen. Es war Jasmin, aber keiner will mir das glauben. Ob sie ein Alibi hat oder nicht. Das war der Grund, weshalb sie dafür gesorgt hat, dass sie eins hat. Sie konnte jeden um den Finger wickeln. Jemand anders hat die Drecksarbeit für sie erledigt.«

»Du kannst Jasmin wirklich nicht leiden«, übernahm Natasha das Gespräch wieder.

»Ich hasse sie. Sie ist eine echte Bitch und zu allem fähig. Ich habe Mia von Anfang an gesagt, sie soll ihr nicht über den Weg trauen.«

Sie reichte dem Jungen eine Packung Papiertaschentücher. Er nahm sich eins heraus und schniefte. »Was machen Sie jetzt?«

Peter stand auf und nahm sich seine Jacke. »Das, was wir vor einem Jahr hätten tun können, wenn du der Polizei alles erzählt hättest.«


»Verflucht!«, schimpfte Peter und schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad, um gleich darauf zu hupen.

Sie hütete sich, ein Wort zu sagen. Beide Hunde lagen in ihren Transportboxen und hielten den Kopf tief. Ihr Partner strahlte eine Aggressivität aus, die sie bisher lediglich in ihm vermutet, aber nicht erlebt hatte. Sie hatte eine Ahnung, wohin sie fuhren, und überlegte, was sie tun konnte, um seine Aufregung runterzufahren. In der Stimmung würde er das, was sie wollten, nämlich Leute – zum Beispiel Paula – zum Reden zu bringen, jedenfalls nicht erreichen, eher das Gegenteil. Einen Vaterschaftstest bei einer Minderjährigen konnte man in Deutschland nicht ohne die Einwilligung der Mutter durchführen.

Sie setzte zu sprechen an, aber er hob die Hand. »Halt den Mund. Ich will nichts hören.«

Okay. Es reichte. Offensichtlich kam sie mit Verständnis hier nicht weiter. Sie musste ein deutliches Signal setzen, um ihm klarzumachen, dass er den Bogen überspannte.

»Halt an.«

»Den Teufel werde ich«, knurrte er.

Sie löste ihren Gurt und machte sich daran, nach hinten zu klettern. Er packte sie mit einer Hand und trat auf die Bremse. Sie reagierte rasch und hielt sich fest, sonst wäre sie gegen die Windschutzscheibe geflogen.

»Hast du sie noch alle?«, schimpfte sie.

»Ich? Bist du völlig übergeschnappt, dich einfach loszuschnallen und nach hinten zu klettern? Während der Fahrt?«

»Lass mich los.«

Bremsen quietschten. Hinter ihnen ertönte ein Hupkonzert. Mit einem Ruck am Arm wurde sie zurückgerissen und landete auf Peters Schoß.

Wütend stierte er sie an. »Ich hab jetzt echt keine Zeit für eine prä- oder postmenstruelle Gefühlsschwankung.«

»Gefühlsschwankung? Ich, wie? Wer rennt denn wie ein wild gewordener Stier los, fährt wie ein Berserker durch den nachmittäglichen Berufsverkehr und meint, mir sagen zu können, was ich zu tun und zu lassen habe? Wir sind hier verdammt noch mal nicht beim Militär, und mir steht dein ›Ich bin hier der Boss und du mein Untergebener!‹-Gehabe bis hier!« Sie hielt sich die Handkante über die Nase.

Hinter ihnen hupte es weiter. Aus den Fahrzeugen, die an ihnen vorbeifuhren, zeigte man ihnen den Vogel oder den Mittelfinger. Sie konnte ihm ansehen, dass er sie am liebsten gewürgt hätte. Sollte er es mal versuchen. Er hatte sich selbst in die viel gefährlichere Situation gebracht, indem sie auf seinem Schoß saß, ihre Hand bereit zuzupacken, wo es ihm am meisten wehtäte. Sie wartete nur darauf, dass er als Erster etwas tat. Wie lange sie sich anstarrten, wusste sie nicht. Der nächste Autofahrer begnügte sich nicht damit, an ihnen vorbeizufahren. Er hielt neben ihnen an und drehte die Scheibe runter.

»Sucht euch gefälligst einen anderen Platz für euren Autosex! Seht ihr das da?«, brüllte er mit hochrotem Kopf, hielt sein Smartphone in die Luft und machte ein Foto von ihnen. »Das Kennzeichen hab ich auch.« Triumph stand nun neben Wut in seinen Augen. »Erregung öffentlichen Ärgernisses!« Erst dann schoss sein Mittelfinger hoch. »Fuck you!«

»Scheiße!«, fluchte Peter.

Unter ihr wurde etwas hart. Bevor ihr Gehirn es verarbeiten konnte, hatte er sie von seinem Schoß heruntergeschoben.

»Schnall dich an. Sorry. Bitte schnall dich an, und es tut mir leid, dass ich rotgesehen habe. Ich weiß, dass ich manchmal ein Problem damit habe, meine Wut zu kontrollieren.«

Sie konnte ihren Herzschlag in der Halsschlagader laut pochen hören. Seine Entschuldigung und die Einsicht, dass er etwas falsch gemacht hatte, überraschten sie. Schockiert war sie von der erregenden Welle von Lust, die sie kurzfristig nach dem Kommentar des Autofahrers übermannt hatte. Sex in der Öffentlichkeit? Sie atmete tief durch und unterdrückte das Gefühl gewaltsam, schnallte sich an.

Er fuhr los, diesmal gesittet und brav.

»Scheiße, scheiße, scheiße«, murmelte er vor sich hin.

Sie räusperte sich. »Meinst du, er erstattet wirklich Anzeige?«

»Bei so einem Typen? Darauf kannst du Gift nehmen.«

»Mitternachtsblauer Audi A8, Kennzeichen B-AD-7777, was für ein Arsch.«

Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Du hast dir das Kennzeichen gemerkt?«

»Ich bitte dich, ›Bad‹ und viermal die Sieben? Vermutlich holt er sich noch einen runter, wenn er sich das Bild anschaut.«

Sein Ärger verflog vollkommen, dafür musterte er Natasha jetzt mit anderen Augen. Erstens hatte sie sich in keiner Weise von seiner Wut einschüchtern lassen, sondern war auf Konfrontationskurs gegangen, was bei ihm noch nie jemand gewagt hatte. Außerdem war er sich nicht sicher gewesen, was ihn erwartet hätte, wäre er seinem ersten Impuls gefolgt und hätte sie gewürgt – natürlich nur kurz. Aber dieser Blick aus den geschliffenen Smaragden, denen ihre Augen glichen, hatte eine stumme Herausforderung und eine wilde Entschlossenheit enthalten, die besagten, dass er es ruhig wagen könne und schon sehen würde, was er davon hätte. Das hatte seinem Wutausbruch einen kompletten Dämpfer verpasst. Besser als eine eiskalte Dusche, kam es ihm in den Sinn. Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass sie auf seinem Schoß gesessen hatte …

Und dammit, sie war tatsächlich trotz allem so schlau gewesen, sich das Kennzeichen des Fahrzeugs zu merken, wohingegen er sein Blut erst mal wieder ins Gehirn hatte zurückbekommen müssen. Sie hatte aber auch einen echt knackigen, wohlgeformten Ar… Vorsicht, mein Lieber, das schlag dir mal ganz schnell wieder aus dem Kopf. Zum Glück war sie lesbisch, aber das bewahrte ihn auch nicht davor, gegen eine weitere Erektion kämpfen zu müssen. Er sah, wie sie ihr Smartphone zückte.

»Was hast du vor?«

Sie hob die Hand, während sie ihr Handy ans Ohr führte, ein breites, strahlendes Lächeln auf dem Gesicht.

»Hey Marla, ich bin’s, Natasha.«

Sie lachte leise und wohlklingend auf die Antwort von der anderen Seite der Verbindung. Es war unglaublich, wie diese Frau von einer Sekunde auf die andere einen Schalter in ihrem Kopf umlegen konnte.

»Würdest du mir einen kleinen Gefallen tun? – So in etwa. – Das Kennzeichen ist Berlin AD und viermal die Sieben. – Genau, das ging mir auch durch den Kopf, und rate mal, was für ein Auto.« Wieder ein Lachen. »Ich hätte auch nichts anderes von dir erwartet. – Nur ob da was kommt, mehr nicht. – Klar, schick es mir. – Ach ja, und sollte etwas von ihm kommen … – Genau, würdest du das machen? – Du bist ein echter Schatz. Hast was gut bei mir. Danke.«

»Eine Ex?«

Er bekam ein schelmisches Lächeln zugeworfen, das zusammen mit ihren erhitzten Wangen einen Anblick zum Anbeißen bot.

»Sozusagen. Ich habe ihr mehr als einmal geholfen, einen Fall zu lösen. Deshalb sitzt sie jetzt in der Abteilung, in der sie sitzt. Allerdings hat sie die besten Kontakte, die du dir vorstellen kannst.«


Was kein Wunder war. Marla war das weibliche Gegenstück zu Casanova. In ihrem früheren Leben war sie bestimmt einmal eine mächtige Kurtisane gewesen, die die Weltpolitik in ihrem Bett beeinflusste.

»Scheint, als wärst du genauso wie ich in der Lage, ein gutes Verhältnis mit deinen Exfreundinnen zu pflegen. Siehst du, so unterschiedlich sind wir beide gar nicht.«

Ihr Lächeln verschwand. »Ich nehme an, wir fahren zu Paula?«

»Ja, aber nicht zu ihr nach Hause.«

»Du solltest aber mir das Reden überlassen. Du mahlst schon wieder mit deinem Kiefer, das ist schlecht für die Zähne und keine gute Ausgangslage. Jedenfalls nicht, um jemanden dazu zu bringen, eine Information preiszugeben, die herauszurücken er sich bisher geweigert hat. Und das trotz aller Sorge um ihre Tochter, die ihr Ein und Alles ist.«

Er schlug erneut mit der Hand auf das Lenkrad. »Ich versteh das einfach nicht. Wo liegt das Problem?«

»Genau das ist dein Problem. Ich kann es verstehen.«

Er warf ihr einen raschen Blick zu.

»Überlass einfach mir das Reden. Ich verstehe nicht, weshalb die ermittelnden Beamten nicht darauf bestanden haben, dass sie die Identität des Vaters preisgibt. Ich meine, Mias Mutter hat zum ersten Mal einen festen Freund, da ist es doch klar, dass Mia wissen will, wer ihr biologischer Vater ist.«

»Ganz offensichtlich schlossen sich die Ermittlungsbeamten Paulas Meinung an, dass der Vater keine Rolle spielte. Vermutlich weil Paula ihnen plausibel dargestellt hatte, dass Mia ihn für tot hielt. Es gab einfach keinen Grund, den Faden weiterzuverfolgen. Nur der Hinweis von Florian hätte einen geliefert. Ich begreife nicht, dass er es für sich behalten hat. Ein Versprechen halten zu wollen, was für ein Quatsch in so einer Situation.«

»Er war davon überzeugt, dass sie sich an ihres halten würde, und er ist sicher, dass Jasmin hinter ihrem Verschwinden steckt. Seine Idee, dass sie womöglich jemand anderen ins Boot geholt hat, um ihre Rache auszuführen, ist durchaus plausibel.«

»Der Junge war eifersüchtig. Er hat Mia dazu gebracht, ihr Versprechen gegenüber Jasmin zu brechen.«

»Er hatte aber recht mit dem, was er über eine echte Freundin sagte. Selbst wenn man eifersüchtig ist, weil der andere besser als man selbst ist, verlangt man von der Freundin nicht, dass sie ihre Chance nicht ergreift.«


In ihrer Stimme lag ein trauriger, dumpfer Ton, sodass er sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Überhaupt war ihre Stimme eine echte Waffe, egal ob sie diesen samtigen, weichen Ton annahm, den eiskalt beherrschten, den scharfen Befehlston oder diesen traurig warmen. Er fragte sich, wie ihre Stimme beim Sex … Hastig schob er den Gedanken beiseite.

Sie hielten vor einem dieser modernen Bürobauten mit Tiefgarage, die in Berlin förmlich überall aus dem Boden schossen.

Peter ließ das Fenster hinunter.

Natasha hielt seinen Arm fest. »Meinst du nicht, es wäre besser, wenn wir uns bei ihr zu Hause mit Paula treffen?«

»Oh nein, ich werde keine Sekunde zu viel verstreichen lassen.«

Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Kriminalhauptkommissare Abel und Kehlmann. Wir müssen mit Frau Paula Borowski sprechen.«

Das Gitter, das den Eingang zur Tiefgarage versperrte, wurde hochgefahren. Sie parkten, stiegen aus und nahmen die Hunde mit. Auf deren Brustgeschirren stand in reflektierenden Buchstaben »Polizei«.

Akiros Humpeln hatte sich verstärkt.

»Hier, nimm du Smart.« Pit reichte ihr die Leine.

»Was hast du vor?«

Kurzerhand umschlang Peter Akiros Hinterhand und Brustkorb und hob ihn hoch. Ohne zu murren, ließ der Hund es sich gefallen.

»Es war ein anstrengender Tag für ihn. Hol den Aufzug.«

»Welches Stockwerk?«

»Wir müssen erst zur Anmeldung, dort holt uns Paula ab.«

»Woher kennst du Paula überhaupt so gut?«

»Paula ist die beste Freundin von Yvonne, meiner ältesten Schwester, und die ist auch Mias Patentante. Sie bat mich um Hilfe, doch wir waren die letzten Monate fast permanent im Einsatz. Außerdem fiel es in die Zuständigkeit des Landeskriminalamts. Scheiße, ich hätte Urlaub beantragen und mich selbst um den Fall kümmern müssen.«

Die Fahrstuhltür ging auf und sie betraten einen in Grau- und Weißtönen gehaltenen Empfangsbereich. Peter setzte Akiro ab. Durch die hohen Fenster fiel reichlich Licht in den Raum. Der ganze Bereich war offen gehalten, bot gemütliche Sitzgelegenheiten und eine Theke mit Barhockern, an der zwei Leute saßen und an ihren Laptops tippten. Der Empfang selbst war in einem Rundbogen gestaltet, der mit einer Schwingtür wie bei einem Westernsaloon zur Wand hin endete. Hinten an der Wand waren das Logo und der Firmenname mit dezenter Beleuchtung angebracht. Eine Frau in einer eleganten schokoladenbraunen Kombination mit blondem Pagenkopf lächelte ihnen freundlich zu, doch bevor sie den Empfang erreichten, öffnete sich die Tür des Fahrstuhls direkt neben dem, aus dem sie ausgestiegen waren, und Paula trat heraus.

Natasha musste blinzeln, um diese Frau mit der Paula von gestern in Einklang zu bringen. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit einem Stiftrock und hochhackige Schuhe und war dezent geschminkt. Ihre Haare hatte sie kunstvoll hochgesteckt, was die scharfen Linien in ihrem Gesicht hervorhob. Allerdings wirkte sie diesmal nicht verhärmt, sondern streng und kompetent. Die Blässe unter ihrem Make-up schimmerte dennoch hervor und ihre Pupillen wirkten unnatürlich groß. Neugierig beobachtete die Empfangsdame die Szene.

»Gibt es eine Spur?«

»Ja. Können wir uns irgendwo mit dir zurückziehen? Ich würde es ungern in der Empfangshalle besprechen.« Peter sagte es in erstaunlich sanftem Ton nach seinem Wutanfall im Auto.

Paula schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh mein Gott, sie ist tot.«

»Paula.« Natasha legte ihr den Arm um die Schulter. »Wir haben neue Erkenntnisse, die ein anderes Licht auf das werfen, was vor einem Jahr geschehen ist. Damit wir dieser Spur folgen können, brauchen wir Ihre Unterstützung.«

»Und das hatte keine Zeit bis heute Abend?« Paula sah Peter vorwurfsvoll an.

»Bitte, Paula, lassen Sie uns ein ruhiges Plätzchen suchen«, kam Natasha ihm zuvor.

»Lyon ist frei, Paula«, mischte sich die Empfangsdame ein. »Frau Ackermann ist es sicher lieber, wenn die Hunde nicht in die obere Etage kommen.«

»Danke, Elena, das wäre in der Tat ungünstig mit ihrer Allergie. Kannst du ihr kurz eine Nachricht schicken, dass Sie mich im Besprechungszimmer erreichen kann, wenn sie mich braucht, und meine Gespräche auf dich umleiten?«

»Selbstverständlich.«

Paula ging voraus, und Natasha kam nicht umhin, ihr neidvoll zuzusehen, wie gekonnt und anders sie sich in den Schuhen und dem Rock bewegte. Als wäre sie ein Topmodel auf dem Laufsteg. Dazu passte auch die Hungerfigur.

Akiro sah bettelnd zu Peter hoch und winselte leise.

»Glaub ja nicht, dass das jetzt zur Gewohnheit wird«, brummte er, hob dann aber den knapp 36 Kilogramm schweren Hund auf seine Arme, während Natasha Smart an der Leine führte.

»Was ist mit ihm?«, wollte Paula wissen, als Peter den Hund im Besprechungszimmer absetzte.

»Er ist im Dienst verletzt worden und noch nicht vollständig wiederhergestellt«, antwortete Natasha.

»Trägt er deshalb einen Maulkorb?«

»Das ist nur eine Pro-forma-Sicherheitsmaßnahme«, wiegelte sie ab.

Sie setzten sich am Besprechungstisch über Eck, Paula gegenüber von Natasha und Peter vor Kopf.

»Wir hatten ein Gespräch mit Florian, und er erzählte uns, dass sich Mia an dem besagten Freitagabend ursprünglich mit ihrem Vater treffen wollte.«

»Unmöglich!«

»Warum ist das unmöglich, Paula?«, hakte Natasha sanft nach.

»Weil es unmöglich ist.«

»Wussten Sie davon?«

»Nein, und es wäre auch gar keine Option gewesen.«

»Paula, ich möchte Ihnen jetzt gern ein paar Fakten darstellen. In unserem Land gibt es Menschenhandel. Wir verschließen gern unsere Augen und Ohren davor, dabei ist dieses Verbrechen eines der verabscheuungswürdigsten überhaupt. Die geschätzte Anzahl der Delikte schwankt stark. Einer der Gründe ist die Problematik, dass die Opfer sich weigern, gegen die Verbrecher auszusagen. Prostitution ist in Deutschland ein Beruf, der besteuert wird. Das erschwert den Frauen zusätzlich den Weg zur Polizei.«

»Ich verstehe nicht, was das mit Mia zu tun hat.«

»Deutsche Mädchen stellen derzeit nach rumänischen Mädchen europaweit die zweitgrößte Gruppe von Opfern im Menschenhandel dar. Das Internet ist inzwischen eines der wichtigsten Medien, mit denen die Täter Kontakt zu potenziellen Opfern aufnehmen und sie unter der Vorspiegelung falscher Versprechen dazu bringen, auf ihre Angebote einzugehen. Soziale Profile geben den Tätern Informationen darüber, wovon die Mädchen träumen, und das nutzen sie gezielt aus. Mia ist ein hübsches, süßes Mädchen mit einer sehr weiblichen Figur. Was, wenn jemand ihre emotionale Situation ausgenutzt hat? Paula, haben Sie Ihr Einverständnis zu einem Vaterschaftstest gegeben?«

»Natürlich nicht. Wieso auch? Ich habe Mia gesagt, dass ihr Vater tot ist.«

»Aber er lebt.«

Paula schwieg und wich ihrem Blick aus.

»Paula, was, wenn ein Mann Mia glaubhaft vorspielte, dass er ihr Vater ist? Wäre sie darauf eingegangen?«

»Ich weiß es nicht«, wisperte Paula. Ihre Unterlippe begann zu zittern.

»Könnte es nicht doch sein, dass der echte Vater Kontakt zu Mia aufgenommen hat? Dass er irgendwie von ihrer Existenz erfahren hat?«

»Aber wieso sollte er? Und wenn ja, warum hat sie mich dann nicht zur Rede gestellt? Und wieso meldet sie sich nicht bei mir? Warum mich in dem furchtbaren Glauben lassen, dass ihr etwas passiert ist? Warum würde sie mich dermaßen verletzen? Dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund.«

»Ich kann Ihnen all diese Fragen nicht beantworten. Ich weiß nur eines: dass es manchmal schwer ist, zu verstehen, was im Kopf einer Siebzehnjährigen vorgeht.«

»Nein.« Paula schüttelte entschlossen den Kopf. »Er hat keinen Kontakt zu ihr aufgenommen.«

»Warum nicht, Paula? Warum schließen Sie das so kategorisch aus?«

Paula verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Natasha schickte einen mahnenden Blick zu Peter hinüber, dass er weder etwas sagen noch sie in die Arme nehmen sollte.

Schließlich hob Paula das Gesicht. In ihren Wimpern hingen Tränen. »Peter, könntest du uns allein lassen?«

»Paula, egal was …«

»Bitte«, unterbrach ihn Paula.

Er seufzte, machte ein Zeichen für die Hunde, ihm zu folgen.

»Kannst du die Hunde hier lassen? Smart?« Paula klopfte auf ihren Oberschenkel. Nach einem Handzeichen von Peter setzte sich Smart neben Paula und legte den Kopf auf ihrem Bein ab. Sie streichelte ihn mit langen, festen Bewegungen. Peter schloss leise die Tür hinter sich.

Natasha schwieg und ließ Paula Zeit, sich zu sammeln. Innerlich machte sie sich auf alles gefasst.

»Ich wollte immer Abitur machen und studieren. Ich war in unserer Familie die beste Schülerin. Mein Vater war jedoch der Meinung, dass eine Frau kein Abitur oder gar Studium braucht, weil sie sowieso heiratet und Kinder bekommt. Also musste ich nach der Mittleren Reife die Schule verlassen und wurde in eine Lehre gesteckt. Ich entschied mich für den Beruf der Bürokauffrau, weil ich mir erhoffte, so eine gute Ausgangsbasis zu haben, um mich weiterzubilden. Ich war fleißig, belegte zusätzlich Kurse bei der Volkshochschule: Stenografie, Schreibmaschine, Englisch und Französisch. Wenn ich nicht weiterkam, half mir Yvonne, meine beste Freundin. Sie ist Peters älteste Schwester und inzwischen Lehrerin.« Ein trauriges Lächeln huschte Paula über die Lippen.

»Unser Unternehmen ist eine Dependance einer großen amerikanischen Anwaltskanzlei. Immer wieder kommen Anwälte von drüben für eine Zeit lang zu uns nach Berlin, so auch Scott Gilbert. Ich wurde ihm als Sekretärin zugeteilt, obwohl ich mich noch in der Lehre befand, da ich über die besten Sprachkenntnisse verfügte und Stenografie konnte. Ich war so jung und so unglaublich naiv. Er war aufmerksam, machte mir Geschenke, und wir arbeiteten viel, oft bis in die Nacht. Manchmal lud er mich zum Essen ein. Nach drei Wochen war ich bis über beide Ohren in ihn verliebt. Ich ließ mich auf ihn ein. Er bat mich, absolutes Stillschweigen über unsere Beziehung zu bewahren, da er ansonsten Ärger bekommen könnte. Natürlich dachte ich, es bezöge sich auf die strengen Regeln in einem amerikanischen Unternehmen. Ein Mann in einer höheren Position, ich eine Auszubildende, das kann leicht als sexuelle Nötigung betrachtet werden.

Ich wusste, dass er nur für sechs Monate nach Deutschland abberufen worden war. Er machte eine Rundtour durch alle Niederlassungen und galt als der Durchstarter in der Kanzlei. Kaum war er zurück in New York, brach er jede Verbindung mit mir ab. Als hätte es das mit uns nie gegeben. Kurz darauf wurde mir der Grund klar. Er war seit einem knappen Jahr mit der Tochter von Lewin verlobt, und kurz nach seiner Rückkehr feierten sie eine riesige Hochzeit. Der Name der Kanzlei änderte sich zu Lewin, Howard & Gilbert. Ich war lediglich ein Zeitvertreib für ihn gewesen. Eine Wärmflasche für die Nacht.«

»Und Sie waren schwanger?«

Paula schloss die Augen. »Im Grunde war mir von Anfang an klar, dass Scott nicht mehr als Sex von mir wollte. Nach zwei Monaten hörte ich mit der Pille auf und verschwieg es ihm. Normalerweise verwendete er trotzdem ein Kondom, er wusste schon weshalb.« Sie zuckte die Achseln. »Aber manchmal sitzen wir Frauen halt am längeren Hebel, und im Eifer des Gefechts vergisst ein Mann dann schon mal den Schutz.«

»Paula, egal was ihre Motivation war, schwanger zu werden. Sie sind eine tolle Mutter.«

»Ich hatte Glück, dass Frau Ackermann mir damals half. Mein Vater hat mich als Schlampe bezeichnet, und ich durfte mein Elternhaus nie wieder betreten. Yvonnes Eltern sind für Mia mehr Großeltern gewesen als meine eigenen Eltern. Erst als Mia sechs wurde und mein Vater an Krebs starb, lernte meine Tochter ihre Großmutter kennen. Frau Ackermann ermöglichte mir flexible Arbeitszeiten. Außerdem durfte ich anfangs von zu Hause aus arbeiten, und als Mia älter war, kam sie manchmal mit in die Kanzlei. Ich habe Frau Ackermann viel zu verdanken.«

»Scott Gilbert hat keine Ahnung, dass er Mias Vater ist?«

»Nein. Ich wäre mir vorgekommen wie der letzte Dreck, und ich wollte nicht, dass Mia eines Tages, wenn sie von der Geschichte erfahren hätte, genauso über mich denkt. Scott hätte Ruth niemals für mich verlassen, und er war ein gewiefter Anwalt. Er hätte sich auch aus der Vaterschaftsklage gewunden, und was hätte ich dabei gewonnen? Nichts.«

»Kann Mia auf irgendeine Weise herausgefunden haben, dass Scott ihr Vater ist?«

»Ich wüsste nicht wie. Es gibt keine Briefe, keine Bilder, nichts. Es gab nie etwas Schriftliches, keine Erinnerungen oder sonst etwas in meiner Wohnung, das mich mit ihm in Verbindung gebracht hätte. In meinem privaten Leben existiert er nicht und ich nicht in seinem. Beruflich, klar, gibt es Kontakt, da ja Frau Ackermann die Niederlassung in Deutschland leitet. Unsere Wege kreuzen sich bei Firmenanlässen immer mal wieder. Doch Scott und ich halten Abstand, ignorieren uns. Wenn ich auf der einen Seite des Raums stehe, steht er auf der anderen. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, er wäre mir egal. Immerhin hat er mir, ohne es zu wollen, das schönste Geschenk gemacht, das ein Mensch einem anderen machen kann. Mia. Aber es tut nicht mehr weh, ihn zu sehen. Dennoch ist es mir lieber, wenn ich bei ihm auf Distanz bleibe.«

»Könnte es nicht sein, dass er von Mia erfahren und mit ihr Kontakt aufgenommen hat? Immerhin ist in Ihrer Gehaltsabrechnung ein Kind aufgeführt, und wenn er ein wenig nachrechnet …«

»Nein. Scott ist im Grunde ein Mann wie damals mein Vater. Alles muss sich um ihn drehen. Er konnte charmant sein, wenn er was wollte, doch das war’s. Im Bett ging es immer nur um ihn und um seine Bedürfnisse. Ich habe alles für ihn getan, gekocht, eingekauft, meine Freundin vernachlässigt. Er brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, und ich war für ihn da. Nein, er hat mir keine Träne nachgeweint. Die Liebe existierte nur in meinem Kopf. Heute hat Scott drei Kinder – zwei Töchter und einen Sohn. Selbst wenn er es herausgefunden hätte, aus welchem Grund sollte er nach siebzehn Jahren auf einmal hinter meinem Rücken Kontakt mit Mia aufnehmen?«

»Danke, Paula, dass Sie mir die Geschichte erzählt haben.«

»Hilft es Ihnen weiter?«

»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Manchmal hilft es, die Geschichte eines Menschen zu kennen, damit man ein Gespür dafür bekommt, was in all den Informationen, die man sammelt, wichtig sein könnte und was nicht. Es ist wie ein Rätsel, ein Puzzle, das wir lösen müssen.« Natasha erhob sich.

Auch Paula stand auf und hielt sie fest. »Niemand von der Familie Abel kennt die wahre Geschichte, auch nicht Yvonne. Wie gesagt, Scott bat mich um absolute Verschwiegenheit. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es dabei belassen würden. Ich habe den Beamten, die die Ermittlungen leiteten, Mias Laptop gegeben. Sie hatten auf alles Zugriff, auch auf ihre E-Mail-Korrespondenz. Nur nicht auf die Informationen von ihrem Smartphone, weil sie das natürlich mitgenommen hat. Es gab nicht einen Hinweis, dass Scott mit ihr Kontakt aufgenommen hätte. Im Internet bewegte sie sich vorsichtig. Sie war dort nur mit Leuten befreundet, die sie auch persönlich kannte. Sie wusste um die Gefahren, die dort bestehen, und kannte sich besser damit aus als ich. Hätte es Hinweise gegeben, dann hätte die Polizei doch etwas gefunden, oder nicht?«

»Ja, mit Sicherheit.«

Manchmal, das wusste Natasha, war eine Lüge besser als die Wahrheit.

12

Recherche

»Und?«, wollte Peter wissen, kaum dass sie im Auto saßen. »Ist Paula vergewaltigt worden? War das der Grund, weshalb ich euch allein lassen sollte?«

»Nein. Sie wurde nicht vergewaltigt. Was hat sie euch damals erzählt?«

»Das sie leichtsinnig war. Ein One-Night-Stand mit Folgen. Yvonne hat sich den Mund fusselig geredet, dass sie den Vater verklagen sollte, sie zu unterstützen. Doch sie sagte, sie wollte nicht, dass eine Nacht sie an einen Mann bindet, der ihr nichts bedeutet. Außerdem würde sie noch nicht einmal seinen Namen kennen.«

»Und das hat deine Schwester ihr abgekauft?«

Er warf ihr einen raschen Blick zu. »Es war also gelogen?«

Natasha biss sich auf die Lippen. Mist, wie war ihr das nur rausgerutscht? Vielleicht weil sie nicht nachvollziehen konnte, warum die gefakte Geschichte besser sein sollte als die Wahrheit. Dann dachte sie an das, was Paula ihr über ihren Vater erzählt hatte, und sie verstand. Paula hatte bei Scott die Frauenrolle eingenommen, die ihr Vater ihr immer zugedacht hatte. Die Frau und Mutter, die sich um den Haushalt und die Familie kümmert. Mit dem ältesten aller weiblichen Tricks hatte sie versucht, Scott dazu zu bringen, sie zu heiraten, nur um dann festzustellen, dass er in Wahrheit schon einer anderen die Ehe versprochen hatte. Sich das einzugestehen, wäre Paula schwerer gefallen, als Mias Existenz als Fehler einer Nacht auszugeben.

»Sie hat es mir erzählt, wollte aber, dass ich es für mich behalte. Sonst hätte sie dich nicht rausgeschickt.«

»Das ist mir egal. Wir sind ein Team. Wie soll das zwischen uns beiden funktionieren, wenn du einen wichtigen Teil der Informationen für dich behältst?«

»Indem du mir vertraust. Im Moment weiß ich nicht, ob es wichtig ist. Sie konnte mir ziemlich plausibel darstellen, dass das spontane ›unmöglich‹ wirklich ein ›mehr als unwahrscheinlich‹ ist.«

»Mit wem hat sich Mia dann getroffen? Sie war nicht das naive Mädchen, von dem du vorhin gesprochen hast, das auf eine Anmache im Internet reinfällt. Herrgott noch mal, glaubst du denn, keiner von uns hätte sie je auf die Gefahren aufmerksam gemacht? Yvonne ist Lehrerin, ich bin Polizist, meine andere Schwester Cecilia arbeitet in der Jugendpsychiatrie und ist auf Opfer von sexuellem Missbrauch spezialisiert. Wir wissen, dass die Welt auch in Deutschland Gefahren für Mädchen birgt. Vor allem hier in Berlin, in einer Großstadt.«

»Bisher habe ich die Ermittlungsakte nur überflogen. Ich werde mir die Daten ziehen und schaue mir vor allem an, was die Untersuchungen des Laptops ergeben haben, und ich lese mir ein weiteres Mal das Tagebuch durch. Was ist eigentlich aus der Beziehung mit Karlheinz geworden? Wer von den beiden hat Schluss gemacht?«

»Paula. Ich vermute, dass sie Schuldgefühle hatte. Es hat uns allen unendlich leidgetan. Er war wirklich nett und über die Maßen verliebt in Paula. Lange Zeit hat er sie immer wieder angerufen oder einen Anlauf gemacht, sich mit ihr zu verabreden. Warum willst du das wissen?«

»Habt ihr einen Background Check von ihm gemacht?«

»Natürlich.«

»Wohin fährst du?«

»Zu Yvonne. Ich habe sie vorhin angerufen und ihr gesagt, dass wir vorbeikommen.«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«

»Paula und sie sind seit einer Ewigkeit befreundet. Sie ist Mias Patentante und leidet fast genauso wie Paula unter der Ungewissheit ihres Verschwindens. Manchmal ist das schlimmer, als wenn man jemanden begraben muss. Ich weiß, das klingt herzlos.«

»Nein, tut es nicht. Ich weiß, was du meinst.« Natasha drückte sich in die Ecke des Autos. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, einem Familienmitglied von Peter zu begegnen. Schon gar nicht der besten Freundin von Paula, die nichts von deren Affäre wusste. Auch wenn es albern war, doch dass Paula einer Wildfremden ihr größtes Geheimnis anvertraute, hätte sie im Gegenzug von ihrer besten Freundin ungeheuer verletzt. Dabei wusste sie aus eigener Erfahrung, dass einem manchmal jemand Fremdes eher bei etwas helfen konnte, wofür man sich zutiefst schämte.


Sie parkten vor einem hübschen Einfamilienhaus inklusive Garten in Spandau. Ein Mädchen öffnete die Haustür, als Peter gerade den Zündschlüssel aus dem Schloss zog. Sein breites Grinsen machte die Grübchen in seiner Wange sichtbar. Als er aus dem Auto stieg, sprang das Mädchen in seine Arme. Er wirbelte es einmal durch die Luft, bevor er es wieder absetzte und ihm mit der Hand durch die Haare fuhr. Fröhliches Gekreische begleitete die Szene.

»Und wer bist du?«, fragte die Kleine sie neugierig.

Natasha ging in die Hocke und brachte sich auf Augenhöhe mit dem Mädchen. »Ich bin Natasha, und wer bist du?«

»Charlie, und ich bin fünfeinhalb und im Kindergarten. Aber Tim, der ist noch ein Baby, der ist erst zwei.«

»Wow, das habe ich mir gleich gedacht, dass du die Große bist.«

»Darf ich Smart aus dem Auto holen? Bitte, bitte, bitte.«

Zwei große braune Kinderaugen sahen Peter mit kindlich flehendem Blick an.

»Klar.«

»Charlotte!«, kam es von der Haustür. »Was habe ich dir gesagt?«

Charlie verdrehte die Augen. »Dass ich warten soll, weil Onkel Peter noch einen anderen Hund mitbringt. Und der mag vielleicht keine Kinder.«

»Peter!«

»Hey, ich gebe ihr Smart, nicht Akiro. Natasha, ich möchte, dass du ihm Zeit lässt, sich zu akklimatisieren. Wir öffnen jetzt erst mal die Klappe und holen Smart aus der Box. Akiro bleibt noch drin.«

Smart winselte und kratzte bereits am Gitter. Kaum hatte Peter die Klappe geöffnet, sprang der Schäferhund auch schon freudig um Charlie herum, bis sie ihn zu packen bekam und die Arme um ihn warf. Akiro lag still in seiner Box und beobachtete die Szene. Er zeigte kein Anzeichen von Stress, eher Interesse. Dennoch wartete Natasha, bis Charlie und Smart durch das Gartentor neben dem Haus gingen.

Peter nickte ihr zu. »Du kannst ihn rausholen. Den Maulkorb ruhig erst mal ab lassen.«

»Akiro, get out.« Der Hund hatte gehorsam auf Natashas Kommando gewartet und kam ohne einen weiteren Befehl an ihre Seite, setzte sich und wartete, darauf, dass sie die Leine an seinem Halsband befestigte.

»Loben«, mahnte Peter.

Sie verdrehte die Augen, kam jedoch seiner Aufforderung nach.

Yvonne war inzwischen zu ihnen gekommen und nahm sie mit vor der Brust verschränkten Armen in Augenschein. »Sie sind also die neue Kollegin meines Bruders.«

»Kollegin auf Probe«, präzisierte Natasha.

Sie hielt Akiro an der kurzen Leine. Es war nicht direkt Feindseligkeit, was Yvonne ausstrahlte, doch sie war nicht gerade erfreut, sie zu sehen, das spürte sie deutlich. Weder hatte sie ihre Haltung verändert, noch ihr die Hand gereicht. Kein Wunder, dass Akiro anfing, das Nackenfell zu sträuben.

»Also gut, kommt rein, aber behalten Sie den Hund im Auge. Ich habe zwar den Kindern eingebläut, dass sie sich von ihm fernhalten sollen, möchte jedoch kein Risiko eingehen.«

»Das verstehe ich. Wir könnten aber auch die Box rausnehmen. Wenn er darin bleibt, schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Er kann in Ruhe alles beobachten, ist an der frischen Luft und gleichzeitig sicher hinter Schloss und Riegel.«

Yvonnes Arme lösten sich aus der Verschränkung. »Das wäre mir ehrlich gesagt am liebsten, wenn keiner sagen kann, wie der Hund reagiert. Auch wenn er mir einen ganz ruhigen Eindruck macht.«

Peter hatte bereits die Box aus dem Auto geholt.

»Ihr könnt gleich durch zur Terrasse gehen.«

»Kann ich dir was helfen?«, bot Peter sich an.

»Ja, indem du machst, was ich dir sage.«

»Jawohl, Frau Lehrerin.«

Er bekam einen Klaps auf den Hinterkopf, als er an seiner großen Schwester vorbeiging.

Kurz spannte Akiro sich an, aber Yvonne bemerkte nichts davon, weil sie bereits wieder auf dem Weg zur Haustür war.

Natasha kraulte den Hund hinterm Ohr. »Good boy, good boy«, wisperte sie.

Der Garten war ein kleines Kinderparadies. Es gab eine uralte, weit verästelte Eiche, an der eine Schaukel hing und hinter deren Zweigen ein Baumhaus durchblitzte, eine Sandgrube und ein Planschbecken auf der Wiese. Ein kleiner Junge mit Schwimmflügeln an den Armen saß im Wasser und protestierte lautstark, weil Smart mit allen vier Pfoten im Becken stand und das Wasser herausschlabberte. Das musste dann wohl Tim sein. Kein Wunder, dass der kleine Kerl protestierte, immerhin war der Wasserstand gerade mal einen Finger tief, und wenn Smart so weitertrank, würde nicht mehr viel übrig bleiben. Charlie lag auf dem Boden und lachte sich schlapp.

Peter stellte die Box in den Schatten und öffnete die Gittertür. Gehorsam legte sich Akiro in die Box. Natasha ließ sich daneben auf dem Boden nieder, während Peter sich den Jungen aus dem Planschbecken schnappte und zu dessen Entzücken in die Luft warf. Indessen versuchte das Mädchen mit vollem Körpereinsatz, Smart am Halsband aus dem Planschbecken zu zerren.

»Charlie, lass Smart und bring Natasha den kleinen Eimer mit Wasser. Akiro hat bestimmt auch Durst.«

Eifrig folgte Charlie der Aufforderung ihres Onkels. »Was hat der Hund denn?«, fragte sie, als sie sich neben Natasha niederließ und beobachtete, wie Akiro das Wasser soff. »Mama hat gesagt, dass er krank ist.«

»Er hat jemanden verloren, den er sehr lieb hatte, und dabei wurde er verletzt. Jetzt ist er traurig und hat manchmal Angst. Wir wissen nur nicht, wann er genau Angst kriegt.«

»Er humpelt. Geht das wieder weg?«

»Hoffentlich, aber es ist noch zu früh, um das mit Sicherheit zu wissen.«

Natasha kraulte Akiro hinterm Ohr. Er atmete tief und ließ sich nieder, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und schielte abwechselnd zu ihr und zu Charlie.

»Er ist hübsch. Das schwarze Fell um seine Augen sieht wie eine Brille aus.«

»Du hast recht, das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

»Meinst du, ich darf ihn mal streicheln?«

»Lieber nicht. Er ist ziemlich geschafft von den vielen Übungen heute.«

»War er auch bei Malte?«

»Ja. Kennst du Malte?«

»Pit nimmt mich manchmal mit, weil ich auch Hundetrainerin werden möchte.«

Langsam schloss Akiro die Augen. Er entspannte sich weiter.

»Ich glaube, er fühlt sich wohl.«

Natasha lachte. »Ja, das glaube ich auch.«

Als hätte der Hund sie verstanden, ging sein Schwanz einmal träge hin und her.

»Hey Charlie!«, rief Peter. »Wenn du dich weiterhin nur um Akiro kümmerst, wird Smart noch eifersüchtig. Geh und spiel mit ihm und Tim.«

Charlie warf einen letzten Blick auf den schlafenden Akiro, dann sprang sie auf und rief Smart zu sich, der ihr aufs Wort folgte.

Peter ließ sich auf einen der Stühle fallen und streckte die Beine aus, während er die Hände hinter dem Kopf verschränkte. »Eine Hürde hast du schon mal genommen.«

Sie sah zu ihm hoch. »Welche?«

»Charlotte. Sie mag normalerweise keine Fremden und setzt sich auch nicht zu ihnen.«

»Das lag aber eher an dem Hund als an mir.«

Yvonne kam mit einem Tablett aus der Küche, auf dem ein Krug mit einer grünen Flüssigkeit, fünf Gläser und ein Teller mit Keksen standen.

»Möchten Sie einen frischen Minztee?«

»Gerne.« Natasha erhob sich, nahm das Glas entgegen, das Yvonne ihr reichte, und schnupperte daran. »Mhm, der ist nicht von einem Beutel.«

»Nein, frisch aus meinem Garten. Die Kekse sind mit Haferdinkel, auch selbst gebacken. An den gekauften ist immer viel zu viel Zucker.«

Peter schlug ihr auf die Hand, als sie sich einen Keks nehmen wollte. »Kekse stehen nicht auf deinem Ernährungsplan!«

Mit einem provozierenden Lächeln schnappte sie sich gleich zwei vom Teller. »Hmm, lecker. Sind da Nüsse drin?«

»Gemahlene Mandeln und gehackte Walnüsse. Mit anderen Worten viel Protein und Fett.«

Erneut wurde sie von Yvonne in Augenschein genommen. Im ersten Moment hatte Natasha geglaubt, ihre Augen hätten dasselbe helle Grau wie die ihres Bruders, doch jetzt, aus der Nähe, sah sie, dass es bei ihr eher ein blasser Blauton war, der in einem dunkleren blauen Rand auslief. Der Lehrerberuf passte zu Yvonnes Persönlichkeit. Vermutlich brauchte sie einen Raum nur zu betreten, und die Kinder würden still sein und sich setzen. Äußerlich entsprach sie eher einer Angestellten in einem Modeladen. Sie war todschick angezogen, trug eine dreiviertellange beigefarbene Tuchhose, ein weinrotes Top und darüber eine durchsichtige oliv-braune, mit weinroten Blumen gemusterte Bluse, dazu raffinierte Riemensandalen. Sie war dezent geschminkt. Ihre Gesichtszüge waren wesentlich feiner als die von Peter, doch ähnlich geformt.

»Solange die Kinder beschäftigt sind, können wir reden. Peter sagte, Paula habe Ihnen erzählt, wer Mias Vater ist.«

Direkt und ohne Small Talk kam sie zum Thema. Ihr Ton war kühl, die Körperhaltung geschlossen.

»Wir dachten, es könnte eine Rolle bei Mias Verschwinden spielen. Sie sind Paulas beste Freundin und Mias Patentante. Vielleicht fühlen Sie sich verletzt, weil sie es mir erzählt hat und nicht Ihnen. Ich glaube aber, Sie wissen, wer Mias Vater ist, auch wenn Sie nie darüber gesprochen haben, weil Sie Paula lieben und Ihnen die Freundschaft viel bedeutet.«

»Es tut weh, zu erkennen, dass man all die Jahre ein Geheimnis respektiert hat, um dann zu erleben, dass sie es einer wildfremden Person anvertraut.«

»Manchmal fällt es einem leichter, einer Fremden etwas zu erzählen, als einem Menschen, der einem viel bedeutet und dessen Meinung einem wichtig ist.«

»Wie kommt ihr darauf, dass Mias Vater in dem Fall eine Rolle spielen könnte? Die ermittelnden Beamten verfolgten die Spur nicht weiter, und auch mir fällt es schwer, nachzuvollziehen, wieso er nach siebzehn Jahren auf einmal Kontakt aufnehmen sollte.«

»Natasha hat Mias Tagebuch gefunden, und in ihrem letzten Eintrag stand, dass Paula sie belogen habe und sie jetzt wisse weshalb. Sie wollte sich mit jemandem treffen, und Florian hätte versucht, es ihr auszureden. Ich wüsste nicht, dass Paula Mia sonst belogen hätte. Also liegt die Vermutung nahe, dass dieser jemand ihr Vater war.«

»Ein Tagebuch? Mia? Wusste Paula davon?«

»Wusstest du es?«

»Nein. Hätte ich es gewusst, dann hätte ich es damals erwähnt. Was genau bedeutet deine Formulierung, Natasha habe es gefunden? Weiß Paula davon?«

Natasha stieg die Röte ins Gesicht, und sie war dankbar, dass Peter weiterhin das Reden übernahm.

»Nein, um ehrlich zu sein, habe ich es mitgenommen. Ich weiß, wie empfindlich sie mit allem ist, was Mia betrifft, und du weißt, sie hätte es nicht einfach rausgerückt.«

»Wo war es?«

»Versteckt in der ›Schatzinsel‹, einer Art Buchsafe, in dem man etwas, was andere nicht finden sollen, praktisch vor deren Nase verstecken kann.«

Ein trauriges Lächeln huschte über Yvonnes Gesicht. »Das habe ich ihr geschenkt, als sie zwölf wurde. Ich habe selbst so eine Kiste, und sie war ganz vernarrt darin. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«

»Du hast so eins? Welches Buch?«

»Das verrate ich dir nicht, und es ist inzwischen leer. Wo war das Buch? Lag es auf dem Tisch?«

»Nein, es stand in einem Regal«, antwortete Natasha.

»Wie haben Sie es dann gefunden? Sie haben doch nicht alle Bücher herausgezogen? Es sieht wie ein richtiges Buch aus, vor allem, wenn man nur den Buchrücken sieht.«

»Es passte einfach nicht zu den übrigen Büchern, die dort standen. Wie war Mia?«

Yvonne nahm ihr Glas, lehnte sich zurück, trank und beobachtete eine Weile die Kinder. Die warfen abwechselnd einen Ball, den wiederzubringen Smart nicht müde wurde. Es war schwer zu entscheiden, wer mehr Spaß an dem Spiel hatte, die Kinder oder der Hund.

»Sensibel, überaus empathisch, wahnsinnig kreativ, egal ob es ums Malen, Tanzen, Singen oder Schauspielern ging, und sie hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie machte nie dummes Zeug, wie es Teenager sonst tun. Klar hatte sie ihre emotionalen Schwankungen, aber das hielt sich in Grenzen. Manchmal war sie mir viel zu vernünftig. Die Polizei glaubte, dass sie auf jemanden hereingefallen sein könnte, der sie über das Internet kontaktierte, ihr vielleicht einen Job beim Film versprach. Das Profilfoto von Mia ist wirklich süß. Mit ihrem Lockenkopf, dem runden Gesicht – darauf stehen offensichtlich gewisse Männer. Aber Mia kannte die Gefahren. Genauso abwegig erscheint es mir, dass sie sich einen … Wie nennt ihr diese jungen Verführer noch? Diese neue Masche, um Mädchen zur Prostitution zu nötigen?«

»Loverboys«, sprang Peter ein.

»Genau, obwohl ich mir das schon eher hätte vorstellen können. Mia ist wirklich sehr empathisch. Sie ist hilfsbereit und war auch viel für Jasmin da, als sich deren Eltern trennten. Das Mädchen hat sie meiner Meinung nach ziemlich ausgenutzt, und ich war froh, als die Freundschaft in die Brüche ging. Aber es ist nicht so, dass sie keine Freunde gehabt hätte und sich über das Interesse eines gut aussehenden Jungen in eine emotionale Abhängigkeit begeben hätte. Sie weiß, was sie will, auch wenn sie ein eher introvertierter Mensch ist und schüchtern.«

»Schüchtern? Und dann steht sie auf der Bühne?«

»Ich weiß, das klingt für viele seltsam, aber dort spielte sie eine Rolle, schlüpfte in die Haut einer anderen Person, und das konnte sie richtig gut. Sie war wirklich eindrucksvoll in ihren Rollen. Ich verstehe, dass Paula Angst davor hatte, dass sie Schauspielerin wird. Es ist kein Job, mit dem man leicht seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Hinzu kam, dass Mia einen Schnitt von 2,3 in ihren Zeugnissen hatte. Doch es wäre eine Schande gewesen, wenn sie ihre Begabung außen vor gelassen hätte. Ich wollte sie dazu überreden, nach Vancouver an die University of Arts zu gehen. Eine Freundin von uns lebt dort, und ich fand, es wäre ein guter Kompromiss gewesen, weil die jungen Menschen dort in einem breiten Spektrum von künstlerischen Fertigkeiten ausgebildet werden. Paula ist beinah ausgeflippt, als ich ihr den Vorschlag unterbreitete. Erst als die Beziehung mit Karlheinz anfing, wurde sie offen dafür.«

»Wusste Mia, dass Sie Paula dazu überreden wollten?«

»Klar, was für einen Sinn hätte es gehabt, dass ich mit Paula auf Konfrontationskurs gehe, wenn Mia es gar nicht in Erwägung zieht? Das war der Kompromiss, auf den wir uns einigten. Mia macht das Abi, wir drei Mädels fahren zusammen nach Kanada, besuchen Lisel und schauen uns alles in Ruhe an.«

»Davon höre ich gerade zum ersten Mal«, mischte sich Peter ein.

Yvonne verdrehte die Augen. »Weil du immer viel zu sehr mit deiner Arbeit beschäftigt bist. Wir bekommen dich ja kaum noch zu Gesicht. Und wage es nicht, an Mamas rundem Geburtstag zu fehlen. Es ist mir egal, dass du der Einzige bist, der die Welt vor dem Untergang retten kann.«

»Keine Sorge, Schwesterherz, ich habe Urlaub eingereicht.«

»Urlaub, so was gibt es bei euch?«, zog Yvonne ihn auf.

Peter rollte die Augen. Es waren die Art, wie sie sich ansahen, wie sich ihre Hände berührten, der Spott in der Stimme und die Gelassenheit im Umgang miteinander. Natasha fühlte Neid in sich aufkommen. Sie hatte sich immer Geschwister gewünscht.

»Wer ist Mias Vater?« Die Frage kam direkt und klar von Yvonne.

Natasha hielt den Blickkontakt. »Sie wissen es.«

»Es war ein Arbeitskollege, nicht wahr?«

»Ich kann mich nur wiederholen.«

»Ich wusste es. Ich wusste es die ganze Zeit. Es war dieser Scott Gilbert, der kurz darauf die Tochter von Lewin heiratete und dann Partner wurde. Stimmts?«

»Ich habe es Paula versprochen.«

»Der Mann verdient ein Vermögen. Paula hat oft jeden Cent dreimal umdrehen müssen. Ich verstehe sie nicht.«

Natasha legte den Kopf schräg und betrachtete Peters Schwester eingehend.

»Sie hat gemacht, was er von ihr wollte, hat ihn selbst vor mir geheim gehalten. Wir waren so lange befreundet, aber dieses halbe Jahr hat unsere Freundschaft auf eine harte Probe gestellt, und das nicht, weil ich mein Studium angefangen habe. Das war immer Paulas Traum gewesen, und sie hätte es ohne Probleme schaffen können, wenn sie den Rückhalt ihrer Eltern gehabt hätte.«

»Sie hätte es jederzeit nachholen können«, merkte Peter an.

»Hast du mal versucht, ein Kind allein großzuziehen?«

»Sie wäre nicht allein gewesen, wir alle hätten ihr geholfen.«

»Aber die Verantwortung trägst du am Ende doch ganz allein. Die anderen können sich herausstehlen, man selber nicht. Bekomm mal Kinder, dann kannst du mitreden.«

»Nein danke, mir reichen Nichte und Neffe vollkommen. Was kannst du uns über diesen Scott Gilbert erzählen? Du musst ihm doch begegnet sein.«

Yvonne lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. »Nein. Wie gesagt kühlte unsere Freundschaft in der Zeit ziemlich ab. Paula arbeitete, besuchte Zusatzkurse und hatte kaum Zeit. Dann sahen wir uns manchmal tagelang nicht, schließlich sogar eine oder zwei Wochen nicht. Sie ließ ihre Kurse fallen, besuchte das Abendgymnasium nicht mehr, und das führte zu einem ernsthaften Streit zwischen uns, weil ich nicht verstand, weshalb sie von heute auf morgen alles aufgab, was ihr einmal etwas bedeutet hatte. Jedenfalls machte es den Eindruck auf mich. Erst als sie eines Nachts bei mir aufkreuzte, völlig verzweifelt, und nicht wusste, ob sie das Kind bekommen sollte oder nicht, heilte unsere Freundschaft wieder. Wir haben nicht mehr über diese Zeit gesprochen seitdem. Nach Mia veränderte Paula sich. Auch das fiel mir anfangs schwer zu akzeptieren.« Ein weiches Lächeln umflutete Yvonnes Gesicht und ließ es von innen erstrahlen. »Heute kann ich es verstehen. Mir fällt es auch oft schwer, meiner Arbeit nachzugehen, und ich habe neben Robert sogar noch Mama, Carina, Cecilia und Angela, die immer mal wieder einspringen, wenn ich Hilfe brauche.«

»Und was ist mit mir?«, protestierte Peter.

Sie gab ihm eine Kopfnuss. »Du auch, aber bei dir bin ich mir nie sicher, wer mehr Blödsinn anstellt, du oder die Kinder.«

»Wissen Sie, was ich glaube, was Paula am meisten zu schaffen macht?«

»Dass Sie glaubt, ich würde schlecht über sie denken. Dass ich sie verurteile. Ich weiß. Der Scheißkerl war die ganze Zeit verlobt und Paula nur ein Zeitvertreib. Sie selbst war doch bis über beide Ohren in ihn verliebt. So sehr verliebt, dass sie beinahe sechzehn Jahre gebraucht hat, um sich ein zweites Mal auf einen Mann einzulassen. Das erste Mal bekommt sie ein Kind, das zweite Mal verliert sie ihr Kind.«

»Machen Sie den ersten Schritt. Sagen Sie ihr, dass sie wissen, wer der Vater ist. Sie braucht das. Sie muss darüber reden. Glauben Sie mir.«

»Und was ist mit mir? Denken Sie, ich leide nicht unter Mias Verschwinden?«

Natasha warf einen Blick zu den Kindern, denen beim Spielen langsam die Puste ausging, dann sah sie zu Peter und zuletzt zu Yvonne. »Sie haben Ihre ganze Familie. Paula hat nur noch sich selbst.«

»Sie nehmen sich ganz schön viel raus.«

»Und ich glaube, dass Sie ein viel weicheres Herz haben, als Sie zugeben wollen.«


»Du kannst mich an der Haltestation rauslassen.«

Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie nicht wollte, dass er sah, wo sie wohnte.

»Du weißt schon, dass deine Adresse in deiner Personalakte steht?«

»Ich möchte nur keine Umstände machen.«

»Ich fahr dich nach Hause. Hast du eigentlich kein Auto?«

»Nein. Hast du eins?«

»Nein, aber ich hab ein Dienstfahrzeug, das ich auch privat verwenden darf.«

»Und für mich gibt es öffentliche Verkehrsmittel, die mich überall hinbringen. Der Weg von der S-Bahn-Station zu mir ist nicht weit.« Sie verkniff sich eine patzige Bemerkung, als er ihren Wunsch ignorierte und einfach bis zu ihrer Straße weiterfuhr. Kein Wunder, dass kein Partner es lange mit ihm aushielt. Er war verdammt anstrengend.

Tatsächlich fand er einen Parkplatz vor dem Plattenbau an der Alfred-Kowalke-Straße im Bezirk Lichtenberg, einem der sozialen Brennpunkte in Berlin. Sie sprang schnell aus dem Auto. Er folgte ihr.

»Du kannst sitzen bleiben. Ich kann Akiro allein aus der Transportbox holen. Danke, dass du mich gefahren hast. Wir sehen uns dann morgen.«

»Du spendierst mir nichts zu trinken?«

»Du hast gerade erst was bei deiner Schwester getrunken.«

»Wir können uns noch mal gemeinsam das Tagebuch anschauen und die Akte durchgehen.«

»Nein, können wir nicht. Es ist das erste Mal, dass Akiro woanders schläft, und es reicht für heute. Bis morgen.«

Bevor er ihr weitere Gründe aufzählen konnte, warum er sie in ihre Wohnung begleiten sollte, hatte sie sich bereits den Hund und ihre Sachen aus dem Auto geschnappt.

Nachdenklich sah er ihr nach.

13

Kollegen

Das Erste, was Oberst Ben Wahlstrom sah, als er die Wohnzimmertür öffnete, war sein Patenkind Nathanael. Der Junge trug ein altes Hemd von ihm, und es war über und über voller Farbkleckse. Mit ernsthafter, konzentrierter Miene führte er einen Pinsel mit Farbe über eine Leinwand. Das Sonnenlicht fing sich in seinem braunen Lockenkopf und brachte einzelne Strähnen dazu, dass sie dunkelrot schimmerten. Der Boden unter der Staffelei und rings herum war mit einem Teppichbodenrest abgedeckt, der die uralten Eichendielen vor der Acrylfarbe schützte. Hanna saß im Schneidersitz auf dem Boden und machte Fotos.

Erst als seine Frau mit einem verschmitzten Grinsen hinter dem Objektiv hervorschaute, merkte er, dass er unfreiwillig zum Motiv geworden war.

»Das wird ein Kalenderfoto. Meine zwei Lieblingsmotive.«

»Ben!«, kreischte Nathanael.

Er warf den Pinsel beiseite und wurde in letzter Sekunde von Hanna am Schlafittchen gepackt.

»Nein, mein Freund, nicht das nächste T-Shirt ruinieren. Gib mir deine Hände, ich mach sie schnell sauber, dann kannst du Ben mit deiner Begeisterung überschütten.«

Ungeduldig und gespannt wie ein Flitzebogen ließ Nathanael sich die Hände säubern und das Hemd ausziehen. Er bekam noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er Ben in die Arme laufen durfte, der ihn wie in einem Karussell an einem Arm und einem Bein auf und ab durch die Luft kreisen ließ, bis er laut »Stopp« rief.

Lachend hob Ben seinen Neffen auf den Arm, dessen Gesicht rot angelaufen war. Das Kind schien aus jeder einzelnen Pore zu strahlen, was nur eines bedeuten konnte. »Was habt ihr heute alles angestellt, du und deine Patentante?«

Natty, wie ihn alle in der Familie riefen, fing an loszuplappern und war gar nicht mehr zu bremsen. Sie waren mit dem Fahrrad die Spree entlanggefahren, hatten die Enten gefüttert und ein Eis gegessen. Dann waren sie noch auf dem Spielplatz gewesen, und zuletzt durfte er malen. Sein Neffe liebte es, zu malen, aber nur mit Hanna, weil sie die Ruhe und Geduld aufbrachte, die nötig waren, damit er Leinwand und Acrylfarbe benutzen konnte. Es war interessant, was er mit seinen fünf Jahren auf die Leinwand brachte. Manchmal sah ein Gemälde nur wie ein Haufen bunter Farbkleckse aus, dann wiederum, so wie heute, sah Ben, dass er versucht hatte, einen Fluss zu malen.

Hanna, die in der Zwischenzeit die Pinsel gesäubert und die Malsachen weggeräumt hatte, schmiegte sich an seine Seite, schlang einen Arm um ihn, den anderen um Natty, und gab Ben einen Kuss auf die Wange.

»Oh nein, so einfach kommst du mir nicht davon«, murmelte er. Von diesen weichen, vollen Lippen würde er niemals genug bekommen.

»Nicht küssen, das ist eklig«, protestierte Nathanael.

Es artete in eine Kussorgie aus, in der sie allesamt auf dem Boden landeten und sich gegenseitig kitzelten und an jeder freien Stelle küssten, bis Elisabeth, Bens Schwester, in der Tür erschien, die Hände in die Hüften gestemmt.

Lisa schüttelte den Kopf. »Ehrlich, manchmal weiß ich nicht, wer in dieser Dreierrunde die Erwachsenen sind und wer das Kind. Komm Natty, lass die zwei allein weitertoben.«

Ben ließ seinen Neffen los, hielt aber Hanna weiterhin auf dem Boden fest, bis sie schließlich aufhörte, Widerstand zu leisten.

»Hi«, sagte er und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.

»Hi«, antwortete sie mit diesem intensiven Blick, bei dem er immer das Gefühl hatte, dass sie bis in seine Seele blicken konnte. »Möchtest du darüber reden?«, wisperte sie.

»Später.«

Er senkte den Mund auf ihren und nahm sich diesmal viel Zeit für den Kuss. Sie roch nach Sommer und schmeckte nach Pistazieneis. Ihre Lieblingseissorte. Sie schmiegte ihren festen Körper an ihn, legte ein Bein über seines. In einem überaus geschickten Manöver rollte sie sich auf ihn, nahm sein Gesicht in beide Hände und betrachtete ihn.

»Du hast mich vermisst«, stellte sie lächelnd fest.

»Immer. Seit wann bist du hier? Ich dachte, du kommst erst übermorgen.«

»Überraschung. Ich war mit dem Auftrag schneller fertig als gedacht und bin um kurz vor zwei hier gewesen.«

»Warum hast du mich nicht angerufen?«

»Lisa und Tom hatten die Praxis voll, also habe ich angeboten, Natty vom Kindergarten abzuholen und mit ihm Zeit zu verbringen. Es ist schon lange her, dass wir einen Nur-Hanna-und-Natty-Tag hatten. Das wollte ich genießen.«

»Zeigst du mir die Fotos?«

Statt ihm zu antworten, fing sie an, mit Lippen und Zunge sein Gesicht und seinen Hals aufs Intensivste zu erforschen. Sie war unglaublich geschickt darin, ihn abzulenken, wenn er eine Frage stellte, die sie nicht zu beantworten gedachte. In diesem Fall ließ er sich nur allzu bereitwillig darauf ein. Er hatte sie wirklich sehr vermisst. Es gab Tage, da verursachte ihm das Bedürfnis, sie in seiner Nähe zu wissen, sie jederzeit berühren und küssen zu können, regelrecht körperliche Schmerzen. Er wusste, dass er ohne sie eines Tages an dem Grauen zerbrochen wäre, mit dem er in seinem Job konfrontiert wurde. Sie hatte seine Seele in ihre Hände genommen, und dort lag sie sicher und geborgen. Auf ihm sitzend befreite sie ihre Haare von dem Gummiband und schüttelte sie aus. Dann zog sie sich das T-Shirt aus. Das Sonnenlicht wurde von dem goldenen Kreuz seiner Mutter reflektiert, das er Hanna vor langer Zeit als Talisman geschenkt hatte.

Seine Hände glitten ihren nackten Oberkörper entlang. Er kam hoch, drückte sein Gesicht an ihren Busen und atmete tief den Geruch ihrer salzigen Haut ein. Erst dann fuhr er mit seiner Zunge die obere Linie ihres BHs entlang. Sie erschauderte in seinen Armen. Ein Stöhnen kam über ihre Lippen.

»Das hab ich auch vermisst.« Er schaute zu ihr empor. Ihre Augen hatten das tiefe Blau von Veilchen angenommen. Ihre Unterlippe hatte sie zwischen die Zähne gezogen. Ohne auch nur für eine Sekunde die Augen von ihr abzuwenden, öffnete er den Verschluss ihres BHs.

»Wir sollten vielleicht besser die Wohnungstür abschließen«, murmelte sie und rieb dabei mit weichen Wellenbewegungen ihre Hüfte über seine Erektion. Bevor sie die Oberhand gewinnen konnte, drehte er sie unter sich.

»Keine Sorge, du hast Lisa gehört. Natty soll uns Zeit zum Rumtoben lassen.«


Nackt ineinander verschlungen lagen sie im Bett. Hanna hatte den Kopf auf seine Brust gebettet. Er hätte wie ein Kater schnurren können, so satt und vollkommen entspannt, wie er sich fühlte.

Sie lachte leise. »Da ist aber jemand verdammt zufrieden mit sich.«

»Soll das heißen, du bist es nicht?«

»Och …«

Er hielt inne, öffnete die Augen und erkannte, dass sie ihn foppte.

Sie gab ihm einen Kuss und sprang auf. »Ich weiß ja nicht, wie es bei dir aussieht, aber ich hab jetzt Hunger.«

Er dehnte, reckte und streckte sich, bevor er sich seine Joggingsachen überzog und ihr in die Küche folgte.

»Hanna, sagt dir der Name Natasha Kehlmann etwas?«

Nur für den Bruchteil einer Sekunde hielt sie beim Zwiebelschneiden inne, aber er hatte es gesehen.

»Weshalb fragst du?«

»Sie hat deine Bilder erkannt, die in meinem Büro hängen, und sagte mir, dass du mal ein Fotoshooting mit ihr gemacht hättest.«

»Hat sie das? Was macht sie in deinem Büro?«

»Sie ist auf Probe in unserem Team.«

»Auf Probe? Ich wusste gar nicht, dass ihr so was macht. Ich dachte, ihr seid die ganz harte Truppe. Entweder man besteht den Einstellungstest oder man ist raus.«

»Normalerweise ja.«

»Aber?«

»Sie hat etwas, was wir brauchen, und Hartmann will sie dabei haben.«

»Seit wann gibst du bei der Personalfrage klein bei?«

Er zog die Nase kraus und runzelte die Stirn. »Weil sie tatsächlich etwas an sich hat, worauf ich meinen Finger noch nicht so recht legen kann.«

»Dann vertrau deinen Instinkten.«

»Trotzdem muss sie den Sporttest bestehen, sonst ist sie raus.«

Ein geheimnisvolles Lächeln huschte Hanna übers Gesicht. Es war die Art, wie sie in sich ruhte, mit sich selbst im Reinen war, was ihn so magisch anzog wie das Licht die Motte. Dabei war sie durch die Hölle gegangen und zweimal nur knapp dem Tod entronnen. Im Gegensatz zu früher sprach sie mehr, wenigstens, wenn es um die Familie ging. Mit Fremden war sie so wortkarg, wie er sie kennengelernt hatte. Es war erstaunlich, was für ein starkes Band sie mit Lisa, seiner Schwester, verband. So stark, dass Lisa einmal sogar zu ihr, statt zu ihm gehalten hatte. Genauso rasch hatte sie sich in das Herz seines Vaters geschlichen. Lange Zeit hatte der Mord an seiner und Lisas Mutter zwischen den Geschwistern und dem Vater gestanden. Es war bei einer Geiselnahme in der norwegischen Botschaft geschehen, und er und Lisa waren dabei gewesen. Sein Vater hatte ihn und Lisa damals bei der Tante, der Schwester seiner Mutter abgeliefert und war nur noch zu Besuchen bei ihnen gewesen oder hatte die Ferien mit ihnen zusammen in der Hütte in Norwegen verbracht. Heute lief, nicht zuletzt durch Hanna, das Verhältnis zu seinem Vater wieder in normalen Bahnen. Es dauerte, bis es Ben bewusst wurde, dass sie ihm seine eigentliche Frage mal wieder nicht beantwortet hatte und er sich in der Vergangenheit verlor.

»Du hast mir meine Frage nicht beantwortet. Stimmt es, dass du ein Fotoshooting mit ihr gemacht hast?«

Hanna schwieg.

Er verdrehte die Augen. Das war ihre Antwort, und er wusste, dass er eher einen Toten dazu brachte, zu reden, als seine Frau, wenn sie beschlossen hatte, zu schweigen. Sie schob die fertig geschnittenen Zwiebeln in eine Schüssel, wandte sich ihm zu, drückte ihm Möhren und ein Schälmesser in die Hand.

»Hat Peter Abel für dich das Vorbereitungstraining geleitet?«

»Ja.« Er beobachtete sie mit schmalen Augen.

»Und den Parcours hat er auch zusammengestellt?«

»Was willst du damit andeuten? Carolina Herrmann war Abels letzte Partnerin. Die beiden haben gut zusammengearbeitet.«

Sie lächelte ihn an. »Gar nichts. Ich frage nur, sonst nichts.«

»Hartmann hat ihm ein Ultimatum gestellt. Wenn Kehlmann es nicht schafft, ist Abel raus aus dem Team.«

»Und natürlich wirst du dich vor ihn stellen, sollte es hart auf hart kommen.«

»Er ist mein bester Mann.«

»Weißt du Ben, wenn du Kindern immer alle Hindernisse aus dem Weg räumst, schaffen sie es nie, die Suppe, die sie sich eingebrockt haben, selber auszulöffeln.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich es ihm leicht machen werde.«

Hannas Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich bin gespannt, wie es enden wird.«


Natasha wurde wach, als sich Akiro aufrichtete. Die ganze Nacht hatte er an ihrer Seite gelegen. Während sie noch ihre Gedanken sortierte, klingelte es an der Tür. Sie tippte auf ihr Smartphone. Fünf Uhr dreißig. Wer in Herrgottsnamen klingelte um diese Uhrzeit bei ihr?

Sie schnappte sich ihre alte Jogginghose, zog sie über und tappte zur Tür. Akiro folgte ihr, die Ohren wachsam nach oben gerichtet. Er winselte nur kurz, dann deutete er ein Schwanzwedeln an, was nur eines bedeuten konnte, nämlich dass er denjenigen kannte, der vor der Tür stand. Verärgert riss sie die Tür auf und blockierte gleichzeitig mit ihrem Körper den Weg in die Wohnung.

»Verdammt noch mal, was machst du hier? Es ist kurz nach halb sechs.«

Peter grinste sie an. »Die beste Art, den Tag zu starten, ist eine Laufrunde, und zwar vor dem Frühstück.«

Kurzerhand schob er sie beiseite und stand in ihrem Korridor. Smart und Akiro begrüßten sich schwanzwedelnd.


Natasha trug ein altes, weites T-Shirt und eine Jogginghose. Ihr ganzes Gesicht wirkte zerknautscht, als hätte er sie aus dem Tiefschlaf geweckt. Nur ihre Augen blitzten ihn verärgert an. Die kurzen Haare standen kreuz und quer von ihrem Kopf ab.

Neugierig sah er sich in der Wohnung um. Viel gab es nicht zu sehen. Eine Küchenzeile, einen Schreibtisch, auf dem ihr Laptop stand, mit einem bequemen Bürostuhl, und einen Sitzsack. Auf dem Boden lag eine dicke Matte mit Bettzeug. Es gab einen großen Weidenkorb, eine Kommode und eine Kleiderstange auf Rollen, an der Klamotten hingen. Neben der Eingangstür befanden sich auf einem offenen Gitterregal ihre Schuhe, daneben hingen Jacken an einer Garderobenleiste. Er sah zwei Fenster mit Stoffrollos und eine Tür, die vermutlich zum Badezimmer führte. Das war’s. Aus mehr bestand die Wohnung nicht. Alles war penibel sauber, die Wände weiß gestrichen, Akiros Decke lag in einer Ecke bei der Küche. Dort standen auf einem Tuch seine zwei Näpfe.

Peter war nicht gerade jemand, der Schnickschnack um sich scharte, aber die Wohnung seiner Partnerin machte einen mehr als spartanischen Eindruck. Sie war unpersönlich.

Die Arme vor der Brust gekreuzt starrte sie ihn missmutig an. »Zufrieden?«

»Womit?«

»Ist deine Neugierde gestillt? Das war doch der Grund des Überfalls, dass du sehen wolltest, wie ich wohne.«

Er grinste. »Das liegt nur daran, dass du dich so damit angestellt hast. Du hast kein Bett.«

»Nein. Gib mir zehn Minuten.«

Sie ging zu der Kommode, holte sich ein frisches T-Shirt und ihre gute Jogginghose heraus und verschwand im Bad. Peter ging zum Schreibtisch und setzte sich auf den Bürostuhl, außer dem Sitzsack die einzige Sitzgelegenheit in der ganzen Wohnung. Bei ihrem Laptop lag Mias Tagebuch, in dem mehrere Klebestreifen in unterschiedlichen Farben steckten.

Auf einem Collegeblock stand in der Mitte der oberen Seite der Name Scott Gilbert mehrfach umkringelt, daneben Stichworte: verheiratet, drei Kinder, Amy 13, Leyla 11 und Gideon 10, wohnen Upper Eastside in New York. Ruth Lewin ist viel karitativ unterwegs, viele Bilder, viele gemeinsame Auftritte. Lücke vor 16 Monaten, aktuelle Bilder seit Mai dieses Jahres. Wieso?

Das letzte Wort war dick umkringelt. Ein Pfeil zeigte auf den Begriff Facebook-Profil. Peter hob den Block hoch, als Natasha aus dem Bad kam.

»Ich dachte, du wolltest nichts mehr machen?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich hatte keine Lust mehr, was mit dir zu machen.«

»Was meinst du mit der Lücke vor sechzehn Monaten?«

Natasha schüttelte ihr Bett auf, faltete es und verstaute es in dem Weidenkorb.

»Die Gilberts sind viel in der High Society von New York unterwegs. Man begegnet ihnen bei Charity-Veranstaltungen und kulturellen Events. Mindestens einmal alle zwei Monate findest du ein Bild oder einen Artikel über sie im Internet. Lewin, Howard & Gilbert hat außerdem eine Website mit einem Blog, auf dem Scott regelmäßig zu rechtlichen Problemstellungen etwas schreibt, vor allem was den Umgang mit den neuen Medien betrifft. Dann, etwa ab März des letzten Jahres, ist Funkstille für volle fünf Monate. Im August fangen dann die Artikel von Gilbert auf dem Firmenblog wieder an. Bilder von den beiden findest du erst wieder seit April dieses Jahres. Mit anderen Worten, die beiden sind für eine Zeit komplett von der Bildfläche verschwunden, und in den Zeitraum fällt auch der elfte Juli letzten Jahres.«

»Dafür kann es viele Gründe geben.«

Sie zuckte mit den Achseln, begann die Matte zusammenzurollen. »Es ist eine Auffälligkeit, eine Abweichung von der Routine, und mich würde interessieren, wie es dazu kam.«

»Was ist mit deinen Markierungen in Mias Tagebuch?«

»Einträge mit Formulierungen, die anders zu interpretieren sind. Mia hat sich auch am Ende nicht konkret zu ihrem Vater geäußert. Sie schreibt: Florian wollte mir das Treffen mit ihm ausreden. Sie spricht also von ›ihm‹ und ›er‹, nicht von ihrem Vater, und sie nennt keinen Namen.«

»Was bedeuten kann, dass es sich um jemand anderen handelt.«

»Ja, oder dass sie absolut kein Risiko eingehen wollte, selbst mit ihrem Tagebuch nicht. Also bin ich die Einträge noch mal nach Stellen durchgegangen, wo sie von einer männlichen Person spricht, ohne sie konkret zu benennen. Beim ersten Lesen bin ich immer davon ausgegangen, dass es sich in dem Fall um Florian oder Karlheinz handelt. Es könnte sich aber auch um die Person handeln, von der sie im letzten Eintrag spricht.«

Peter schlug einen der Einträge auf und las: »Er hat gesagt, dass er meine Hilfe braucht. Soll ich ihm helfen oder nicht? Danach schreibt sie von der Mathearbeit. Hmh, interessant. Wie viele solcher Einträge hast du identifizieren können?«

»Zehn Stück. Der erste stammt von Ende April.« Sie stellte sich zu ihm, nahm ihm das Tagebuch aus der Hand und blätterte zu dem Eintrag. »Lies und schau dir das Schriftbild an. Es ist längst nicht so ordentlich wie in den Einträgen davor. Im Gegenteil, es ist krakelig, als wäre sie innerlich aufgewühlt gewesen oder durcheinander.«

»Jeder Mensch lügt an einem Tag zig Mal, dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Oft liegt es daran, dass wir jemanden nicht verletzen wollen. Wenn Mama sich ganz viel Mühe mit dem Essen gegeben hat und mich fragt, ob es mir schmeckt, würde ich nie ›nein‹ sagen, sondern lieber ›ganz gut‹, weil ich sie nicht verletzen möchte. Er sagt, dass ich ihr keine Vorwürfe machen soll, dass sie mich belogen hat. Im Gegenteil, sie hätte es gemacht, weil sie mich liebt. Ich weiß, dass Mama mich liebt, aber ich bin kein kleines Kind mehr. Ich möchte mein eigenes Leben leben.«

Peter sah auf das Datum und spürte ein Kribbeln im Magen. »Das war an Yvonnes Geburtstag. Das war ein Samstag. Es war ein wunderschöner, unglaublich warmer Maitag, weshalb sie sich spontan entschied, eine Gartenparty zu veranstalten. Paula und Mia waren natürlich auch da, und ich erinnere mich, dass Mia eine Diskussion über das Lügen mit mir vom Zaun brach. Sie war ziemlich aufgewühlt und ungewöhnlich kratzbürstig zu Paula. Irgendwann griff Angela ein und stellte Mia Fragen zu dem neuen Stück, das sie in der Theatergruppe einübten. Damit konnte man Mia immer ablenken.«

Natasha zog sich den Sitzsack heran. »Kannst du dich noch an etwas anderes aus der Zeit erinnern? Irgendetwas Ungewöhnliches?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir waren in dem Jahr ziemlich viel unterwegs. Das intensive Training, die Einarbeitung in unser Team und die Ausbildung von Smart, das alles hat mich praktisch rund um die Uhr in Anspruch genommen. Du hast Yvonne gehört. Es stimmt, ich habe mich in der Familie ziemlich rar gemacht.«

»Ab hier …«, Natasha schlug das Tagebuch an dem ersten Markierungszeichen auf, »… hat sich der Ton in dem Tagebuch geändert. Ich denke, es war der Moment, als Paula Karlheinz in ihr gemeinsames Leben brachte.«

Peter betrachtete das Datum. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich frage Yvonne. Karlheinz ist ein alter Freund von Robert, der lange Jahre in den USA lebte und dann nach Deutschland zurückkam. Es fiel ihm anfangs schwer, sich wieder in unserer Gesellschaft zurechtzufinden. Yvonne war diejenige, die die beiden miteinander verkuppelte. Sie macht so was gerne.« Er verzog das Gesicht.

Natasha grinste. »Wie oft hat sie es bei dir versucht?«

»Ich hab aufgehört zu zählen. Sie wird erst zufrieden sein, wenn sie alle ihre Schäfchen unter der Haube hat.«

»Ich dachte, das wäre immer die Aufgabe der Mutter, nicht der ältesten Schwester.«

»Yvonne war ein ungeplantes Kind, und meine Eltern standen beide am Beginn ihrer Karriere. Erst als sie fünf war, kamen die Zwillinge, Carina und Cecilia, auf die Welt, zwei Jahre später ich, und fünf Jahre nach mir Angela. Mama hat nur bei den Zwillingen eine berufliche Pause eingelegt. Bei mir machte das mein Papa, und unser Nesthäkchen übernahmen wir alle zusammen. Von Anfang an hat Yvonne sich für uns alle verantwortlich gefühlt. Wir hatten oft mehr Schiss vor ihr als vor Mama oder Papa.«

Peter bremste sich. Warum erzählte er ihr das? – Er hatte das bisher noch niemandem im Team erzählt.

Sie sah ihn mit diesem intensiven, fokussierten Blick an, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt, als ihm zuzuhören. Die Art, wie sie jemanden in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellte, gab einem das Gefühl von Wertschätzung.

»Ich kann das gut nachvollziehen. Sie hat diese Wirkung, dass man sich automatisch von seiner besten Seite zeigen möchte, wenn man ihr begegnet.«

»Genug Zeit geschunden. Auf geht’s, nimm deine Sachen gleich mit. Nach der Trainingsrunde fahren wir direkt ins Büro.«

»Akiro hat seine Tabletten noch nicht bekommen und darf erst eine Stunde danach etwas fressen.«

»Kein Problem. Ich hab eine doppelte Portion für die beiden dabei. Sie bekommen ihr Frühstück, wenn wir unseres bekommen. Soll ich dir bei den Tabletten helfen? Smart stellt sich damit immer tierisch an.«

»Akiro nimmt sie so.«

Natasha erhob sich und ging zu der Medikamentendose, die sie bereits für den heutigen Tag für Akiro fertiggemacht hatte. Sie nahm die Portion für morgens heraus und legte sie auf ihre flache Hand.

Akiro, der sofort den Kopf gehoben hatte, als sie die Dose in die Hand nahm, beobachtete sie und wedelte freudig mit dem Schwanz.

»Komm, Akiro, Leckerchen.«

In letzter Sekunde erwischte Peter Smart am Halsband, als Akiro zu Natasha sprang und hastig die Tabletten fraß, was Smart mit einem neidvollen Bellen kommentierte. Er steckte ihm rasch ein Leckerchen zu.

»Feiner Hundi, brav gemacht. Good boy«, lobte sie ihren Patienten.

»Das nächste Mal warnst du mich, wenn du so was vorhast. Es mag ja sein, dass die zwei sich erstaunlich schnell angefreundet haben, aber beim Fressen versteht Smart keinen Spaß.«

»Tut mir leid, daran hab ich nicht gedacht.«

Sie starteten mit einem strammen Spaziergang, damit die Hunde sich erleichtern konnten. Danach folgte eine lockere Aufwärmrunde von sechs Kilometern Laufen. Zuletzt absolvierten sie ein Intervalltraining über weitere vier Kilometer. Phasen mit reiner Sprintbelastung wechselten sich mit lockerem Laufen ab, exakt nach Natashas Puls auf der Trainingsuhr. Danach ging es ins BKA zum Duschen. Dann gab es ein Frühstück, das Peter in der kleinen Kochecke im Gemeinschaftsraum der zweiten Etage zubereitete: einen frischen Saft mit Gemüse und Obst sowie eine Portion Porridge mit Nüssen. Alles war exakt abgewogen.

Carolina schenkte Natasha ein mitleidiges Grinsen. Zoe nickte zustimmend. Mark, Chris, Kevin und Ulf waren inzwischen eifrig dabei, sich Rühreier mit Speck und Toast einzuverleiben, was Natasha das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Gabriella hingegen rümpfte die Nase und schimpfte lautstark über das ekelhafte Junkfood, während sie sich einen Getreidebrei mit Himbeeren und Blaubeeren zu Gemüte führte.

»Esst ihr häufiger zusammen?«, fragte Natasha in die Runde.

»Im Einsatz immer, hier nur ab und an, wie es gerade passt«, erklärte Chris.

Carolina hatte sich den Jungs angeschlossen und verspeiste zusätzlich zu Rührei und Speck noch einen Toast mit dick Butter und Honig drauf.

»Ehrlich, Caro, wenn du so weitermachst, hast du bald einen Rettungsring um den Bauch. Ganz abgesehen davon wirst du mit dieser Ernährungsform beim nächsten Leistungstest noch ein Stück weiter hinter deine Bestleistung zurückfallen«, konnte Pit sich nicht verkneifen, anzumerken.

Demonstrativ biss Carolina in den Toast, sah dabei Peter an und kaute genussvoll. »Weißt du, Natasha, wenn du von dem Tyrannen die Nase voll hast, komm zu mir, und ich gebe dir Rückendeckung.«

»Hey!« Mark gab seiner Teampartnerin einen Stoß in die Rippen. »Du wirst mir ja wohl nicht untreu werden.«

»Bei den Augen …« Caro zwinkerte ihr zu. »Da kann man nur schwach bei werden.«

»Du stehst auf Nebelgrau?«, wollte Natasha wissen.

»Nein, du dumme Nuss, ich stehe auf Smaragdgrün, das erinnert mich immer an eine ägyptische Katze.«

»Ich dachte immer, die hätten blaue Augen«, merkte Chris an.

»Quatsch, die haben amberfarbene Augen wie meine«, entrüstete sich Gabriella, die nicht nur einen italienischen Namen trug, sondern durch und durch dem Bild einer Italienerin entsprach. Klein, drahtig, lockige schwarze Haare, aber keine kleinen Kräusellocken, sondern stattdessen weiche Wellen, die ihr bis über die Schultern fielen, dazu eine schmale römische Nase, große runde Augen, gerade Augenbrauen mit klassischen hohen Wangenknochen. Sie konnte in einem Moment fluchend einen Schwall italienischer Schimpfwörter ausstoßen, um im nächsten in Lachen auszubrechen. Damit hatte sie Zoe beim letzten Nahkampftraining aus dem Konzept gebracht und beinahe geschlagen, aber nur beinahe.

»Was ist eigentlich mit Akiro? Wird er dauerhaft ins Team integriert?«, wollte Zoe wissen.

Die Frage verdarb Natasha den Appetit.

»Nein, er ist nur die nächsten paar Wochen mit dabei«, übernahm Peter die Antwort.

»Was passiert dann?«

»Jake will versuchen, ihn zu adoptieren.«

»Unser Schnuckelchen, Jake Benedict?« Carolina grinste.

»Da behauptest du immer, wir wären sexistisch«, schimpfte Mark, »und dabei bist du schlimmer als wir alle zusammen.«

»Frauen sind nie sexistisch, sie sind nur ehrlich, schreib dir das hinter die Ohren, Partner. Wäre ich nicht lesbisch, sondern hetero, wüsste ich, mit wem ich ins Bett steige, und das wäre keiner von euch, sondern Jake.«

»Das ist nicht dein Ernst«, konterte Zoe.

»Mein voller.«

»Fertig?«, wollte Peter von Natasha wissen.

Mist, jetzt, wo es gerade interessant wurde! Doch leider war ihre Schüssel leer, und bevor sie antworten konnte, stand er bereits auf.

Sie dackelte ihm brav hinterher. Noch saß er am längeren Hebel.

14

Treffer

Natasha setzte die Sicherheitsbrille auf und zog sich den Gehörschutz über die Ohren. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Sie hasste es, sich in der Raumschießanlage aufzuhalten. In den letzten zwei Jahren war sie nur zu dem quartalsmäßigen polizeilichen Training gegangen. Während der Vorbereitungswochen zum Leistungstest hatte sie mehr Munition verschossen als in ihrer gesamten Ausbildungs- und Polizeilaufbahn zusammen. Wenn es nach ihr ginge, würde sie in der nächsten Zeit keine Waffe mehr in die Hand nehmen. Es gab andere Methoden, einen Gegner handlungsunfähig zu machen. Eine Pistole barg immer auch das Risiko zu töten. Ihr wurde eiskalt, ihr Herzschlag beschleunigte sich, und gleichzeitig wurde ihr schlecht. Reiß dich zusammen, Natasha, es ist nur eine blöde Übung, mehr nicht, wies sie sich zurecht.


Die Arme vor der Brust verschränkt beobachtete Peter sie. Kaum dass sie die Raumschießanlage betreten hatte, waren das fröhliche Grinsen und auch die Farbe aus ihrem Gesicht verschwunden. Stattdessen wurde es von einem verbissenen, konzentrierten Ausdruck beherrscht. Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt. Sie hatte mehrmals ihre Waffe überprüft, bewegte sich langsam, und die Bewegungen wirkten verkrampft. Jetzt rollte sie die Schulter, danach den Nacken.

Der Raum war etwa zweihundert Quadratmeter groß. Er verfügte über eine moderne Anlage, mit der man eine Vielzahl von verschiedenen Szenarien unterschiedlicher Schwierigkeitsstufen durchspielen konnte. Die Schussrichtung war immer dieselbe. In dem Raum gab es aus Spanplatten konstruierte Pseudo-Hausecken, Wände und Mauern, die sich über Filzgleiter schnell unterschiedlich positionieren ließen und als Deckung dienten. Diese zusätzlichen Materialien nutzten sie vor allem bei den Schießübungen für längere Distanzen. Er beschloss, erst mal langsam zu beginnen. Sie war eine grundsolide Schützin, die eine Waffe mit einem gewissen Respekt verwendete, was in seinen Augen durchaus in Ordnung war. Wenn sie traf, dann genau das, was sie wollte. Allerdings war das Verhältnis zwischen abgegebenen Schüssen und Treffern für die Erfordernisse zu niedrig. Seiner Meinung nach lag es nicht daran, dass sie nicht die Fähigkeit besessen hätte, die Leistung zu erbringen, sondern an einer mentalen Blockade. Während der Vorbereitungswochen war ihm das nur recht gewesen, da ihre Hemmung seinen Favoriten unter den Rekruten in der Disziplin auf den ersten Platz brachte. Jetzt jedoch musste er der Ursache auf den Grund gehen.

»Du kennst alle Übungen aus dem Vorbereitungstraining. Locker, die Waffe im Anschlag, und deine Ziele sind die Kreise. Bereit?«

Er meinte beinahe, das Knirschen ihrer Zähne hören zu können, so fest presste sie die Kiefer zusammen. Ein knappes Nicken. Einzig und allein ihr Griff um die Waffe blieb locker.

Treffsicher und ohne einen Fehlschuss absolvierte sie die ersten Übungsszenarien. Als er das Tempo erhöhte, lockerte sich sogar für eine Zeit lang ihre Körperhaltung, und er erkannte eine professionelle Konzentration.

Er ging von den geometrischen Formen zu Szenarien mit Menschen über. Verschiedene Distanzen und das Schießen aus der Deckung heraus mit der Pistole aus fünfzehn Metern. Hier erzielte sie eine solide Trefferquote.

Sie atmete tief und sichtbar erleichtert durch, als sie das letzte Szenario beendet hatte. »Zufrieden? Können wir zum nächsten Training übergehen?«

»Nein. Eine Übung fehlt uns noch: der schnelle, gezielte Schuss.«

Sie sah aus, als wäre ihr schlecht.

»Übertrainieren ist nicht gut. Bei mir ist die Luft raus.«

»Nimm meine Waffe, deine hat genug gearbeitet. Pack sie ins Holster. Wo trägst du deine Waffe?«

»Links, mit Griff nach vorn. Mit der rechten Hand ist es für mich leichter, die Waffe von links zu ziehen.«

Ihrer Stimme fehlte der Biss, und sie klang rau. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, und sie verkrampfte sich wieder. Sie tauschten die Waffen. Wie zuvor bei ihrer eigenen prüfte sie sie. Ohne Magazin packte sie die Waffe in das Schulterholster und wiederholte mehrmals das Ziehen. Er wartete.

»Der Griff ist anders als an meiner.«

Ein weiterer Versuch, sich aus dem Training herauszureden. »Wir fangen mit geometrischen Mustern an wie zuvor.«

Diesmal dauerte es länger, bis sie lockerer wurde und die Treffer besser und zielsicherer platzierte. Ohne es vorher anzukündigen, wechselte er in ein menschliches Szenario.

Waffe weg, Szene, Waffe ziehen, schießen. Die Bewegungen wurden verkrampfter, doch die Schussgenauigkeit blieb im Toleranzrahmen. Dann kam ein Szenario, in dem ein Täter in eine Gasse floh. Das Ziehen ihrer Waffe und auch der Schuss kamen reflexartig, doch in letzter Sekunde verzog sie den Lauf um wenige Millimeter, und er ging daneben.

Sie zog den Gehörschutz ab und atmete tief durch. »Das war ziemlich daneben«, versuchte sie, die Situation zu überspielen.

Er baute sich vor ihr auf und musterte sie. Sie wich seinem Blick aus, ging ein Stück zurück.

»Daneben?«

»Was mache ich falsch? Ich nehme an, nachdem du mich die ganze Zeit beobachtet hast, hast du jede Menge zu kritisieren. Ich denke, mein Stand ist falsch.«

»Nein, an deinem Stand ist alles in Ordnung.«

»Ich halte die Arme nicht korrekt.«

»Nein, deine Armhaltung ist vorbildlich.«

»Meine Atmung?«

»Schau mich an.«

Sie hob den Kopf, sah aber mehr an ihm vorbei als ihn an. Er nahm ihr Kinn zwischen seine Finger und zwang sie, ihn direkt anzusehen.

»Was ist dein Problem?«

»Keine Ahnung, sag du es mir.« Sie schob aggressiv ihr Kinn vor und blitzte ihn an.

»Ich denke, du weißt es.«

»Ach ja? Glaubst du wirklich, es würde mir Spaß machen, danebenzuschießen?«

»In diesem Szenario? Definitiv. Ja. Du bist eine sichere Schützin mit Respekt vor der Waffe. Was gut ist, denn wir brauchen keine wild rumballernden Rambos, die ihren Kick aus dem Schießen ziehen. Die Verhältnismäßigkeit beim Einsetzen der Waffe ist ein wichtiger Grundsatz in der Polizeiordnung.«


Natasha war vor ihm zurückgewichen, ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre. Er hielt immer noch ihr Kinn fest und war nachgerückt, sodass sie seinem Blick nicht ausweichen konnte. Sie spürte eine der Wände in ihrem Rücken, fühlte, wie Panik in ihr hochkam. Er nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie war ein Mensch, der Raum um sich brauchte, um sich wohlzufühlen, und dieses Bedürfnis stieg unter Stress immens an.

Ihre Körper waren dicht voreinander. Schweiß rann ihr in die Augen und es brannte höllisch.

Sie blinzelte. »Lass mich los.« Sie schnappte nach Luft.

Er ließ sie los. Sie versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, ging ein paar Schritte in den Raum und setzte sich auf das flache Mauerimitat, beide Hände über dem Kopf.

Peter reichte ihr ein Handtuch. Sie nahm es, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und rubbelte sich die feuchten Haare trocken.

»Du warst in der Polizeiausbildung auf Platz vier beim Schießen. Mit anderen Worten, wenn du willst, kannst du schießen und auch die erforderliche Trefferquote halten. Das schaffst du auch bei vielen Übungen, nur nicht bei dieser. Also, was ist dein Problem?«

»Ich bin nicht zur Polizei gegangen, um Menschen zu töten, sondern um sie zu beschützen.«

»Trotzdem musst du in der Lage sein, dich im Zweifelsfall zu verteidigen. Außerdem ist es wichtig, dass du präzise schießt, damit du das Leben Unschuldiger nicht gefährdest..«

Tränen traten ihr in die Augen.

Er hockte sich vor ihr nieder, nahm ihre Hände in seine, hielt sie fest. Sie versuchte zuerst, sich zu wehren, doch ihr Stresslevel war, seit sie den Raum betreten hatte, kontinuierlich gestiegen, und hielt nur zwei Optionen für sie bereit. Entweder ließ sie ihrer Aggressivität freien Lauf oder sie öffnete sich.

Sie schloss die Augen, fühlte seine warmen Hände auf ihren eigenen eiskalten. Keine Geheimnisse, absolutes Vertrauen. Es war lange, sehr lange her, dass sie so viel Nähe in ihrem Leben zugelassen hatte. Doch sie hatte es in dem Moment gespürt, als sie dieses Gebäude betreten hatte und mit dem Vorbereitungstraining für den Einstellungstest begann. Hier war der Platz, wo sie sein wollte. Hier war der Platz, wo sie hingehörte. Wenn sie ein Teil des Teams werden wollte, musste sie auch sich selbst als Mensch einbringen. Selbst ihre verletzliche Seite. Er wartete geduldig ab, bedrängte sie diesmal nicht und ließ ihr Zeit, ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren.

»Ich war mit einem Kollegen bei einem Raubüberfall im Einsatz. Der Täter flüchtete, und wir sind hinterher. Er lief in eine Sackgasse. Mein Kollege erreichte ihn zuerst. Bevor er überhaupt etwas sagen konnte, schoss der Täter auf ihn.« Sie hielt inne, schüttelte den Kopf. »Es war ein Reflex. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Ich meine, durch das ständige Training reagierte ich einfach. Es waren nur Bruchteile von Sekunden. Er richtete die Waffe auf mich, und ich schoss.«

»Dein Kollege?«

»Tot.«

»Der Täter?«

»Auch tot. Finaler Rettungsschuss direkt in den Kopf. Ich hätte in seinen Arm schießen müssen oder ins Bein. – So viel Blut.«

Peter setzte sich neben sie und zog sie in seine Arme. »Es ist ein Unterschied, ob du auf ein Bild in einer Simulation schießt oder auf einen realen Menschen.«

»Ich habe ihn umgebracht.«

»Nein, das hast du nicht. Du hast dein eigenes Leben geschützt. Das ist rechtlich und auch moralisch vollkommen in Ordnung.« Er ließ Zeit verstreichen, damit sich seine Worte setzen konnten. »Es macht dir Angst, gut im Gebrauch deiner Waffen zu sein.«

Sie nickte, war dankbar, dass sie sich an ihn lehnen durfte. Die Kälte wich ihr aus den Gliedern, und ihr Pulsschlag beruhigte sich. Natürlich hatte es eine Untersuchung gegeben, und ja, auch die Kritik, dass sie den Täter hätte außer Gefecht setzen müssen. Doch in Anbetracht der Situation, dass er kurz zuvor ihren Kollegen erschossen hatte und sie unmittelbar bedrohte, war ihre Handlung eine psychologisch nachvollziehbare Reaktion gewesen. Eine Reaktion, die einen Menschen das Leben gekostet hatte.

»Wie hast du es geschafft, dich um die Übungen zu drücken?«

Sie drehte den Kopf und sah ihn an. »Woher …« Sie brach ab und musste lächeln. »Ich bin gut im Reden.«

Er schüttelte sie kurz, gab ihr einen Klaps auf den Hinterkopf. »Also, los geht’s, wir nähern uns dem Problem Schritt für Schritt, dann gehen wir zu dem Training über, bei dem wir Häuser, Flugzeuge oder Camps stürmen müssen. Wir werden den Fokus im Training darauf legen, dass du auch in einer kritischen Situation einen kühlen Kopf bewahrst und einen Angreifer handlungsunfähig machst. Okay?«

»Ich versuch’s.«

Er hielt sie am Arm fest.

»Ja, ja, ja. Schon gut, so machen wir es. Du kannst mich loslassen. Scheiße, ich komme mir vor wie bei dem Gespräch mit Frau Dr. Naumann, nur dass du um einiges schlimmer bist als sie.«

»Behaupte nicht, dass du keine psychologische Ausbildung gehabt hast. Ich habe gesehen, wie du selbst Yvonne dazu gebracht hast, dir alles zu erzählen, was du wissen wolltest, und das will was heißen.«


Am Tag zuvor hatte Natasha für ihre Recherche eines ihrer Avatar-Profile benutzt. Als sie den Rechner hochfuhr, sah sie, dass Ruth Gilbert ihre Freundschaftsanfrage auf Facebook bestätigt hatte. Wunderbar. Sie vertiefte sich in ihre Arbeit.

Das Telefon riss sie aus der Recherche. Ohne auf die Nummer zu achten, ging sie ran.

»Natasha Kehlmann.«

»Heiß, heiß, heiß! Wer ist der Typ, auf dessen Schoß du sitzt?«

Sofort konzentrierte sie sich ganz auf das Telefongespräch mit Marla. »Sag nicht, der Arsch hat uns tatsächlich angezeigt.«

»Hat er, aber keine Sorge, ich habe ihm die rechtlichen Fakten dargelegt und ihm erklärt, dass er damit nicht weiterkommt. Wir haben uns noch ein wenig über eine Anzeige wegen Nötigung unterhalten, die vor Kurzem gegen ihn eingereicht wurde. Mit anderen Worten, die Sache ist vom Tisch, und ich habe was gut bei dir. Also, wer ist der Typ, auf dessen Schoß du sitzt?«

Natasha verdrehte die Augen. »Mein neuer vorläufiger Partner.«

»Autsch, hast du da nicht eine eisenharte Regel?«

»Habe ich, und an die halte ich mich auch.«

»Bist du sicher? Ich meine, auf dem Bild sieht das gerade ganz anders aus.«

»Ich bin mir sicher! Ich wollte aus dem Auto klettern, weil ich angepisst war, und er hat mich zurückgerissen. Dabei bin ich auf seinem Schoß gelandet.«

»So so, dann hättest du also nichts dagegen, wenn ich mal mein Glück bei ihm versuche?«

»Kommt darauf an, was du willst. Eine deiner ungefähr zwei Bahnstationen lang anhaltenden Beziehungen oder eher etwas Langfristiges.«

»Langfristig kann so ein dehnbarer Begriff sein.«

»Also, bei mir bedeutet langfristig …«

»Lebenslang. Ich weiß. Du weißt gar nicht, was für einen Spaß du verpasst. Sagen wir mal so – ich fände etwas im mittleren Bereich mal interessant.«

»Tut mir leid, da bin ich überfragt, ob es funktionieren kann.«

Die Tür ging auf, und Peter kam ins Büro. Er war mit bei der Einsatzbesprechung des Teams gewesen, weil er mit Smart auf der Reserveliste stand. Sie würde erst daran teilnehmen dürfen, wenn sie etwas beizutragen hatte.

»Lass uns das später besprechen, ich muss jetzt auflegen.«

»Hey, was hältst du von einem netten Video von ihm beim Training, am besten ohne T-Shirt, damit ich weiß, ob es sich auch wirklich lohnt?«

»Danke noch mal.«

»Denk daran, du bist mir was schuldig.«

»So viel nun auch wieder nicht.«

Sie beendete das Gespräch, bevor ihr Marla weiter in den Ohren liegen konnte.

»Wer war das?«

»Eine Freundin.«

»Ist sie nett?«, fragte er sie mit einem Grinsen und stellte sich hinter sie. »Facebook? Du weißt schon, dass du …« Er brach mitten im Satz ab und zog sich einen Stuhl heran. »Das bedeutet der Kringel um Facebook auf dem Collegeblock. Du hast einen Fake Account.«

Sie grinste. »Einen? Viele. Und ja, Ruth Gilbert und Susan Anderson sind jetzt befreundet.«

»Susan Anderson? Wow, nicht schlecht.« Er betrachtete das Bild einer hübschen Blonden, die nicht zu sexy, aber ziemlich attraktiv aussah. Nicht in einer Beziehung. »Wo hast du das Bild her?«

»Soll das heißen, du hast keine Fake IDs bei Facebook?«

»Hast du nur weibliche?«

»Nein, selbstverständlich auch männliche.«

»Du scheinst da echt Zeit reinzustecken, nach deiner Timeline zu urteilen.«

»Ehrlich jetzt?«

»Was?«

»Dafür gibt es eine Abteilung von Polizeianwärtern, die für uns arbeiten und die jeden Tag ein paar Stunden lang soziale Profile pflegen. Wenn ich mich nicht irre, setzen wir dabei auch auf einen externen Service.«

»Ist nicht mein Gebiet, aber gut zu wissen. Und was hast du herausgefunden?«

»Dass sie zu den typischen unbedarften Amerikanerinnen zählt, die ihr halbes Privatleben über Facebook für alle zugänglich macht.«

»Wieso hat sie deine Freundschaftsanfrage beantwortet?«

»Social Engineering, schon mal was davon gehört?«

»Ja, hab ich, aber trotzdem hattest du nur wenige Ansatzpunkte für Ruth Gilbert. Immerhin bist du ihr noch nie begegnet.«

»Erstens habe ich mich gestern die halbe Nacht mit den Gilberts beschäftigt. Zweitens ist das eines meiner vielen Talente.« Sie strahlte ihn an.

Er sah angespannt aus. Die Muskeln an seinem Kiefer traten leicht hervor. Seine Augen hatten einen dunklen Ton angenommen.

»Gibt es Ärger?«

»Nein.«

»Du wärst gern bei dem Einsatz dabei.«

»Was hast du rausgefunden?« Er starrte stur auf den Monitor, ohne auf ihre Frage einzugehen.

»Sie postet ziemlich viel, und ich bin noch nicht bei dem Zeitraum, der interessant ist. – Wann brechen sie auf?«

»Morgen.«

»Alle?«

»Ja.«

»Gehen immer alle zusammen in den Einsatz?«

»Nicht immer, kommt auf den Fall an. – Stopp.«

Sie hatte es ebenfalls gesehen. Das Bild eines blassen Jungen mit dunklen Rändern unter den Augen, der in einem Bett inmitten von einem Meer aus bunten Karten, Luftballons, Kuscheltieren und Spielzeug lag. Thanks for all your prayers, help and thoughts. We are so happy to have him home again. Unter dem Bild gab es 231 Kommentare. Dear Ruth, I am so happy for you all. Big hug and kisses. Ein weiterer: I knew that everything would be working out. Life is precious.

So ging es weiter. Nach einer Weile bildete sich aus den Kommentaren und Antworten ein klareres Bild heraus. Gideon hatte Leukämie gehabt, und das Bild war an dem Tag seiner Entlassung gemacht worden, als er wieder nach Hause durfte. So wie bei den fehlenden Blogartikeln ihres Mannes auf der Website der Anwaltskanzlei gab es auch ein Loch in der Facebook-Timeline von Ruth. Sie mussten noch eine Weile in die Vergangenheit zurückwandern, bis sie zu einem Eintrag mit einem Bild von drei Kindern gelangten, die Ruth in den Armen hielt. Gideons erhitztes volles Gesicht in einem Baseball-Outfit, die Kappe halb nach hinten geschoben, die Wangen knallrot. You never know what you have. Each day is a present. Als Datum war der 17. März angegeben. Auch unter diesem Eintrag gab es jede Menge Kommentare. Ich wünsche euch Kraft. Verliert nicht den Mut. Ich bete für dich. Sag mir, wie ich euch helfen kann. Du weißt, dass ich immer für dich da bin.

Natasha lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Wie läuft die Therapie für Leukämie überhaupt ab?«, stellte sie laut die Frage, die ihr durch den Kopf ging.

»Früher hat man Knochenmarkstransplantationen vorgenommen, heute zieht man die Stammzellentransplantation vor. Die Stammzellen werden von einer Person gewonnen, die in möglichst vielen HLA-Faktoren mit der erkrankten Person übereinstimmt.«

Natasha drehte den Stuhl zu ihrem Kollegen. »HLA-Faktoren?«

»Human Leukocyte Antigen, im Prinzip wird durch die Übertragung der Stammzellen das gesamte Immunsystem ausgetauscht. Stimmen die Faktoren nicht überein, greift das ›fremde‹ System die Organe des Empfängers in Form einer Immunreaktion an. Jeder abweichende Faktor erhöht die Wahrscheinlichkeit dieser Abwehrreaktion. Da man jedoch außer bei eineiigen Zwillingen nicht die Situation hat, dass die HLA-Faktoren von Spender und Empfänger eins zu eins übereinstimmen, versucht man, die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion möglichst gering zu halten. Inzwischen gibt es ein neues Verfahren mit monoklonalen Antikörpern, mit denen man die Stammzellen des Spenders im Vorfeld sozusagen trainiert.«

»Wie lange ist es her?«

»Dreiundzwanzig Jahre. Cecilia und Carina waren acht. Weil Carina der eineiige Zwilling von Cecilia ist, war eine syngene Transplantation möglich. Nach der Erfahrung haben wir uns alle in der deutschen Knochenmarkspenderdatei registrieren lassen.«

»Und das bedeutet?«

»Dass deine Daten erfasst werden, und wenn es einen Patienten gibt, mit dem du in vielen HLA-Faktoren übereinstimmst, wirst du angeschrieben und kannst überlegen, ob du bereit bist, ihr oder ihm Stammzellen zu spenden.«


Es war diese Faszination und Intensität, mit der sie zuhörte, die ihn ein weiteres Mal etwas aus seinem Privatleben ausplaudern ließ, was niemand sonst wusste.

»Wo und wie mache ich das mit dem Spendenregister?«

»Geh ins Internet, auf die Seite ›dkms.de‹, dort findest du alle Informationen.«

Peter stand auf und ging zur Pinnwand, die an der langen Seite des Büros an der Wand befestigt war. Er pinnte eine nach der anderen die Fakten mit Karten an. Dabei bildete ein Zeitstrahl das zentrale Element. Oben kamen die Fakten hin, die sie von Mia und ihrem Verschwinden aus Mias Tagebuch und aus den Ermittlungen der Polizei zusammengestellt hatten, unten die neuen Informationen über die Familie Gilbert. Letzteres fiel entsprechend dürftig aus, wurde jedoch mit mehr Informationen gefüllt, während Peter das Schaubild erstellte.

»Hatte Mia eigentlich einen Reisepass?«

Er sah sie an, nahm sein Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer. »Hi. Ja, nur ganz kurz. Hatte Mia einen Reisepass?« Er lauschte einen Moment auf die Antwort. »Hast du ihn noch? – Sei bitte so lieb und prüf das, sobald du zu Hause bist. Danke.«

Er wandte sich wieder Natasha zu. »Ja, sie hatte einen, ganz frisch.« Er nahm die Akte in die Hand und blätterte darin. »Das darf echt nicht wahr sein. Wie kann man so schlampig arbeiten?«, fragte er erbost.

»Soll das heißen, niemand hat geprüft, ob ein Zugticket oder Flugticket auf den Namen Mia Borowski ausgestellt wurde?«

Er hielt inne. »Doch, ich nehme alles wieder zurück. Sie haben es überprüft. Nichts. Einen neuen Pass für sie ausstellen zu lassen, womöglich auf einen anderen Namen, hätte eine Menge bürokratischer Hürden bedeutet, neben der Einwilligung von Paula.«

»Wenn es stimmt, was Mia Florian erzählt hat, gab es einen Vaterschaftstest. Auch dafür hätte es einer Einwilligung von Paula bedurft.«

»Die sie nicht gegeben hat.«

»Er könnte mit einem Privatjet rübergeflogen sein. Was aber noch immer nicht erklären würde, wie er von Mia erfahren hat.«

Peter warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Sag mal, denkt ihr Frauen eigentlich, dass wir Männer völlig gehirnamputiert sind?«

»Wieso ihr Frauen? Und was meinst du damit?«

»Jetzt mal ehrlich, man muss ja wohl kein Einstein sein, um herauszufinden, dass eine Angestellte ein Kind in ihrer Gehaltsabrechnung aufgeführt hat. Dann recherchiert man ein wenig, findet das Alter des Kindes heraus, rechnet zurück – und voilà. Sex ohne Kondom bleibt auch einem Mann durchaus im Gedächtnis haften.«

»Also gut, nehmen wir mal an, die Gilberts erfahren, dass ihr Sohn Leukämie hat. Nehmen wir weiter an, dass zur Behandlung eine Knochenmarkstransplantation notwendig ist. Keiner aus der Familie hat die passenden Werte. Also erinnert sich Scott in seiner Verzweiflung an die Affäre mit Paula. Er weiß, dass sie eine Tochter hat, ja womöglich hat er jahrelang in der Angst gelebt, dass sie ihn damit konfrontiert. Jetzt kommt er auf sie zu, lässt ihre Werte überprüfen, was er ohne die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten eigentlich nicht kann, aber egal, lassen wir das mal beiseite. Wie es der Zufall will, kommt Mia als Spenderin infrage. Und dann? Wieso nicht mit Paula sprechen? Und wieso kommt Mia nach der ganzen Aktion nicht zurück? Glaubst du wirklich, sie würde ihre Mutter in dem Glauben lassen, sie wäre womöglich Opfer eines Verbrechens geworden?«

Peter ließ sich auf seinen Stuhl fallen und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Nein, das würde sie nicht, egal wie sauer sie auf Paula war. Und egal, was Scott Gilbert ihr erzählt hätte.«

»New York«, schob Natasha nachdenklich ein. Sie wandte sich wieder ihrem Laptop zu und begann etwas einzutippen. »Genau. Wusste ich doch, dass es da eine berühmte Tanz- und Schauspielschule gibt. Hier: Juilliard School – performing arts conservatory.«

»Da kommst du aber nicht mal eben so rein, selbst wenn du das nötige Kleingeld hast, um die Schulgebühren zu tragen.«

»Man merkt, dass du keine siebzehn mehr bist und Träume hast«, bemerkte sie. »In dem Alter ist alles möglich, auch dass du bei der Juilliard School aufgenommen wirst. Sag mal, arbeiten wir nicht im Rahmen von Themis mit den Polizeibehörden vieler Länder zusammen und haben Zugriff auf deren Informationen?«

Peter grinste sie an. »Einer der vielen Vorteile, und ich weiß auch schon, an wen ich mich wenden kann. Okay, was brauchen wir?«

»Privatjets, die um den elften Juli des letzten Jahres von und nach New York geflogen sind.«

»Ein Visum für Mia Borowski. Ohne das lassen die USA dich nicht ins Land, egal ob du ein Eliteanwalt bist oder sonst was. Dann die Frage, ob der Juilliard School eine Bewerbung von Mia vorliegt. Es wäre ein Motiv für sie gewesen, Paula vor vollendete Tatsachen zu stellen und mit ihrem Vater zu konspirieren.«

Während Peter sich hinter seinen Schreibtisch klemmte, schnappte sich Natasha die Hunde, um mit ihnen eine Runde zu gehen. Sie brauchte frische Luft, um besser denken zu können.

15

Brain

Als sie zurückkam, war das Büro leer. Sie füllte die Wassernäpfe beider Hunde auf.

Zoe steckte den Kopf ins Büro. »Ich soll dich holen, wir sind gerade alle im Besprechungsraum wegen der Vorbereitungen für den Einsatz.«

»Ich dachte, das hättet ihr heute morgen schon gemacht?«

»Ja, doch jetzt hängen wir in den Details, und Ben meint, dass du einen besseren Einblick in unsere Arbeit bekommst, wenn du teilnimmst.«

»Aber ich bin auf Probe.«

»Er findet, dass es dich motivieren wird, dich mehr in das Training reinzuknien. Du hängst zurück, und er dachte, du wärst weiter.«

»Und das erzählt er in der Besprechung?«

»Nein, das war in einem Gespräch zwischen mir, ihm und Peter.«

»Warum du?«

»Unser Boss wollte wissen, was ich von deinen Fähigkeiten in der Nahkampftechnik halte.«

»Und wie lautete deine Antwort?«

»Ausbaufähig. Kommst du jetzt, oder willst du mich weiter mit Fragen löchern?«

Zoe drehte sich auf dem Absatz um, und Natasha beeilte sich, ihr zu folgen.

»Am besten hörst du nur zu und hältst die Klappe. Wahlstrom kann es nicht leiden, wenn man doofe Fragen stellt«, raunte ihr Zoe zu, bevor sie den Besprechungsraum betraten. Die Rollläden waren heruntergelassen, an die Wände projiziert sah man verschiedene Bilder von Personen, Gebäuden und geografischen Informationen. Eindeutig südamerikanischer Herkunft. Nur um welches Land es sich handelte, konnte sie bei dem kurzen Blick nicht feststellen. In der Mitte stand die Gruppe um einen großen Tisch. Als sie näher kam, stellte sie fest, dass es kein Tisch war, sondern ein riesiger Bildschirm. Darauf abgebildet waren Pläne von einem Haus, die Straßenkarte einer Stadt und die Website eines Unternehmens.

Gerade lief das Video eines Gesprächs. Der Raum war mit dicken Teppichen und Gemälden an den Wänden bestückt. Es gab einen wuchtigen antiken Besprechungstisch mit sechs Ledersesseln drumherum. Die Videoaufnahme hatte keine Tiefe, weshalb die Details schwer auszumachen waren. In den zwei durch die Perspektive der Kamera sichtbaren Ecken des Raums standen vier Männer in schwarzen Anzügen, vom Körperbau und ihrer Ausstrahlung her Bodyguards. Auf der einen Seite des Tisches saßen zwei Männer. Einer von ihnen war glatzköpfig und trug einen schlecht sitzenden Anzug. Sein Gesicht war vernarbt und wirkte grobschlächtig. Schweinsaugen fixierten bedrohlich den Menschen, aus dessen Perspektive die Videoaufnahme aufgenommen wurde. Seine Pranken ruhten auf dem Tisch, und die Finger waren ineinander verschränkt. Er wirkte neben dem zweiten, eleganten Mann, der neben ihm saß, reichlich deplatziert. Dessen schwarze Haare waren zurückgegelt, er trug einen weißen Anzug und ein schwarzes Hemd und hatte gepflegte Hände, eine markante Einkerbung im Kinn, eine gerade Nase. Er bot ein Lächeln dar, das seine Augen nicht erreichte.

Natasha erkannte die beiden Männer auf den Fotos, die an die Wand projiziert waren. Sie lauschte der Aufnahme.

»Secretario Valposa«, sprach der elegante Mann auf Spanisch mit einem leichten Dialekt, den Natasha nach Mexiko einordnete. »Wir bedauern außerordentlich die Umstände unserer Zusammenkunft. Ich darf gar nicht daran denken, in welchen Verruf unser Land kommen kann, wenn wir solche Vorfälle nicht mit äußerster Diskretion abhandeln würden.« Er machte eine Pause und verzog den Mund nach unten.

»Zum Glück ist bisher niemand zu Schaden gekommen. Lassen Sie uns hoffen, dass es dabei bleibt.«

»Bevor wir das Geld an Sie übergeben, muss ich sicherstellen, dass Herr Freiling und seine Frau unverletzt sind.«

Nervosität ließ die Stimme des hinter der Kamera verborgenen Sprechers hell klingen und immer wieder abbrechen. Die Forderung klang dadurch eher wie eine unterwürfige Bitte. An der Haltung der Gesprächspartner konnte Natasha deren überhebliche Selbstsicherheit ablesen. Das Gespräch ging weiter, und sie begriff, dass es um eine Erpressung ging. Lösegeld in Höhe von drei Millionen Euro gegen den Austausch der Geiseln – das Ehepaar Freiling. Der Mann war offensichtlich der Geschäftsführer von Freiling & Söhne, dessen Website auf dem Tischcomputer geöffnet war. Das Bild auf der Firmenseite zeigte drei Personen: einen Mittsechziger und zwei um die dreißig Jahre alte Männer. Sie standen in Anzügen locker verteilt vor dem Firmengebäude.

Der Mann mit der Glatze tippte auf seinem Smartphone, drehte es zur Kamera. Dort war der Mittsechziger – blass, gestresst und in schmutziger Kleidung zu sehen. Körperlich schien er jedoch unversehrt zu sein.

»Herr Freiling, können Sie mir sagen, welchen Tag wir heute haben?«, erklang die piepsig hohe Stimme.

»Donnerstag, den dritten August. Uns geht es den Umständen entsprechend gut, Secretario Valposa. Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie sich für die Übergabe des Lösegeldes zur Verfügung gestellt haben.«

Dieses Gespräch erfolgte auf Englisch. Als Nächstes wurden die Details über den exakten Ablauf des Austauschs besprochen. Dann verabschiedete man sich voneinander in einer Art, als hätte man gerade ein normales Geschäft abgewickelt und nicht einen Erpressungsfall.

Unglaublich. Natasha wusste, dass es viel häufiger vorkam, dass Firmen mit Erpressungen konfrontiert wurden, als die Presse es veröffentlichte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752138450
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Terrorismus Familienkonflikte romantische Thriller Spezialeinheiten Berlin Hauptstadt Polizeikrimi internationale Verbrechen Detektivinnen Diensthunde Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Sondereinheit Themis Boxset Volumen 1