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Die Tränen der Einhörner II: Die Prophezeiung

von Stephanie Rose (Autor:in)
179 Seiten

Zusammenfassung

Nachdem Miriel den Gral nach Elysion zurückgebracht hat und die Welt gerettet scheint, beginnt ihr Bruder Caylen sich in seinem Zorn über die Ungerechtigkeit der Welt zu verlieren und strebt nun nach der Vernichtung allen Lebens. Das Chaos, das das Teala der Dunkelheit behütet, soll ihm dabei helfen, seinen Wunsch zu erfüllen eine neue, bessere Welt zu erschaffen. Nun liegt es an Miriel und Sirion ihn daran zu hindern, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen und ihre Welt zu retten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


KAPITEL 1

Seit Miriel verschwunden war, waren viele Tage vergangen. Das Leben in Therun ging wieder seinen gewöhnlichen Lauf und nichts schien darauf hinzudeuten, dass wenige Tage zuvor ihre Welt beinahe ihr Ende gefunden hatte.

Die Beben hatten nachgelassen und Sirion war zu der Überzeugung gelangt, dass Miriel ihre Aufgabe erfüllt haben musste und das Gleichgewicht wiederhergestellt war.

Er hatte den Ältesten gebeten, Fidell trotz ihres Alters eine Chance zu geben, die Prüfungen abzulegen und ihr einen Platz in Therun zu sichern, da sie, wie er glaubte, ein großes Potenzial an Magie besaß. Ein Potenzial, das in seinen Augen nicht vergeudet werden durfte.

Elantris hatte sich schließlich bereit erklärt, Fidell zu prüfen und sich letztlich dazu entschlossen, sie zu ihrer Schülerin zu machen. Sie hatte viel von sich selbst in dem jungen Mädchen wiedererkannt und wollte ihr nach dem Erlebten das Gefühl geben, in Therun einen Ort zu haben, den sie ihr Zuhause nennen konnte.

„Fidell, beeil dich!“, rief Elantris ihr zu und schüttelte gelangweilt den Kopf, dann wischte sie sich ihr lockiges rotes Haar aus dem Gesicht. „Jetzt komm schon.“

„Einen Moment noch, Mei…“ Elantris warf ihr einen bösen Blick zu und Fidell verstummte, als ihr einfiel, dass Elantris einzig und allein bei ihrem Namen genannt werden wollte.

„Was machst du da?“, rief diese schließlich empört, als ihr klar wurde, was Fidell vorhatte. „Ich wollte nur noch mehr Proviant und Lehrmaterial mitnehmen, nichts weiter“, entgegnete sie eifrig und sah ihre Meisterin verwundert an. Jetzt, da sie sich auf eine Reise begaben, auf der sie die Bibliothek Theruns nicht länger nutzen konnte, musste sie ihre Ausbildung doch irgendwie vorantreiben und ihren Wissensdurst stillen.

Elantris konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und ließ sich neben Fidell auf dem Boden nieder. „Die Natur wird uns geben, was wir brauchen. Nichts von alledem hier ist wichtig.“ „Aber …“ Elantris schüttelte bestimmt den Kopf. „Du musst lernen, der Natur zu vertrauen. Höre auf die Stimme tief in deinem Innern. Sie wird dich führen und es wird uns an nichts mangeln, vertrau mir.“ Fidell sah sie mit großen Augen an und nickte schließlich langsam.

Seit sie mit Sirion nach Therun gekommen war, hatte sie viel über die Wege der Magie gelernt, doch sie wollte noch viel mehr erfahren. Warum Elantris sie nun mit der Natur vertraut machen wollte, anstatt sie in der Kunst der Zauberei zu unterweisen, konnte sie nicht verstehen.

Elantris zwinkerte ihr zu. „Bald wirst du es verstehen, vertrau mir einfach.“

Wieder nickte Fidell und sah zu Boden, dann legte sie die Bücher, die sie in ihren Rucksack gepackt hatte, wieder zur Seite.

Die Süßigkeiten, die Sirion ihr geschenkt hatte, wollte sie allerdings nicht zurücklassen und Elantris lenkte nach einer Weile kopfschüttelnd ein. „Na gut, nimm sie mit“, meinte sie lächelnd und strich Fidell durchs Haar. Sie konnte verstehen, dass Sirion, der ihr ein neues Zuhause gegeben hatte, sehr wichtig für sie geworden war und wieder fühlte sie sich an ihr jüngeres Selbst erinnert.

„Und nun komm, unser Weg ist lang.“

Die beiden verließen das Gebäude Richtung Osten und folgten dem schmalen Pfad, der sie in die Wälder des Elfenvolkes führen sollte.

Elantris wollte, dass Fidell zu allererst lernte, die Kräfte der Natur zu verstehen und sich diese zunutze zu machen, ehe sie ihr die Kunst der Zauberei beibrachte.

„Wohin gehen wir?“, fragte Fidell nach einer Weile neugierig. Elantris lächelte und blieb auf einer kleinen Anhöhe stehen. Sie hatte ein großes Geheimnis um den Ort gemacht, an den sie gehen wollten.

„Siehst du diesen Wald dort?“ Sie streckte die Hand aus und zeigte auf eine Ansammlung großer Bäume, die sich in der Ferne verloren. Fidell nickte und sah ihre Meisterin fragend an. Sie verstand nicht, was sie ihr dort zeigen wollte und runzelte letztlich die Stirn.

„Das ist die Heimat der Elfen des Idha‘hár-Clans. Ich möchte, dass du dort die Kunst des Heilens erlernst. Nicht mit Magie. Du sollst die heilende Kraft der Natur erfahren und es gibt keinen besseren Ort, dies zu erlernen“, fügte Elantris schnell noch hinzu, ehe Fidell etwas einwerfen konnte.

„Aber …“ Fidell sah betrübt zu Boden und trat nervös von einem Bein auf das andere. War sie ihrer Meisterin etwa ein Klotz am Bein?

Elantris legte ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte sie aufmunternd an. „Keine Angst, ich komme mit dir.“ Plötzlich tat es Elantris leid, nicht gleich erwähnt zu haben, dass sie jenen Ort zusammen aufsuchen würden. „Du bist nicht allein.“

Fidell nickte dankbar und sank zitternd auf die Knie. Sie spürte, wie Tränen ihre Wangen hinabrannen und sie es nicht vermochte, sie aufzuhalten. Mit einem Mal fühlte sie sich an all die Dinge erinnert, die sie verzweifelt versuchte zu vergessen und der stechende Schmerz in ihrem Innern raubte ihr beinahe den Atem.

„Verzeih mir …“, flüsterte Elantris mitfühlend, als sie sah, was sie angerichtet hatte, und ließ sich neben Fidell auf dem Boden nieder. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie so auf ihre Worte reagieren würde, noch das ihre Trauer nach all der Zeit noch immer so lebendig war.

„Ich weiß, …“, sie hielt für einen Moment inne, ehe sie weitersprach, „… was es bedeutet, geliebte Menschen zu verlieren …“ Fidell zuckte bei diesen Worten zusammen und vergrub das Gesicht schließlich in ihren Händen. Sie wollte es nicht hören; sie wollte einfach nur vergessen und dem Schmerz entfliehen, der sie innerlich zu zerreißen drohte.

Elantris sah sich hilflos um, ehe sie es schließlich wagte, Fidell an sich zu drücken und ihr sanft durchs Haar zu streicheln. „Schhhh, ist ja gut, Liebes. Ich bin bei dir. Ich werde immer bei dir sein“, flüsterte Elantris leise.

Sie wusste nur zu gut, dass sie Fidell niemals das geben konnte, was diese verloren hatte und Elantris musste unweigerlich an ihren eigenen Verlust zurückdenken.

„An meine Familie kann ich mich nicht mehr erinnern …“, begann sie dann leise zu erzählen. „Und mein Bruder starb vor meinen Augen in den Flammen, die unser Dorf heimgesucht hatten … Ein Feuer, in dem auch ich den Tod hätte finden sollen …“

Elantris‘ Blick verlor sich in der Ferne. Tränen glitzerten in ihren Augen, doch sie ließ es nicht zu, dass sie die Oberhand gewannen und sich ihren Weg nach draußen bahnten.

„Es tut mir leid …“, flüsterte Fidell schließlich und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Nicht doch“, meinte Elantris und lächelte. „Das ist jetzt so viele Zyklen her, dass ich mich nicht einmal mehr an sein Gesicht erinnern kann … aber er war etwas Besonderes … Ein Wunder, wenn du es so willst …“ Fidell sah sie fragend an. „Das ist eine lange Geschichte und ich fürchte, ich kann sie dir nicht vollständig erzählen, … verzeih.“

Fidell schüttelte den Kopf.

„Vielleicht kann ich ihn eines Tages zu dir rufen …, wenn ich gelernt habe, diese Kraft zu kontrollieren …“, murmelte sie und blickte verträumt in den Himmel. Sie hatte sich dazu entschlossen, Sirions Angebot, nach Therun zu gehen und die Kunst der Zauberei zu erlernen, anzunehmen, in der Hoffnung, eines Tages die Macht zu besitzen, die Toten zu sich zu rufen und ihre Schwester ein letztes Mal zu sehen.

Elantris sah Fidell mit forschendem Blick an. „Es ist verboten, die Toten in diese Welt zu rufen, sei es auch nur für einen Moment. Auch wenn du die Gabe besitzen magst, darfst du sie niemals benutzen. Es würde sicherlich deinen Tod bedeuten … und den Tod so vieler …“ Fidell sah sie an. „Aber …“ „Kein Aber, schwöre mir, es niemals zu versuchen“, drängte Elantris sie mit ernster Miene. „Diese Magie ist zu gefährlich. Sie ist heimtückisch und nicht alle Verstorbenen wünschen, in diese Welt zurückzukehren, weswegen sie vor langer Zeit verboten wurde. Wenn du auch nur den Versuch unternimmst, diese Magie anzuwenden, wirst du getötet werden!“ Fidell zuckte zusammen und schwieg einen Moment, ehe sie langsam nickte. „Ich will dich nicht verlieren, Kleines. Diese Magie ist nichts für dich, glaube mir.“

Fidell schluckte hart. Sie wusste zu wenig um die Magie und ihre Zauber, um die Wahrheit in Elantris‘ Worten zu ergründen, also konnte sie nur darauf vertrauen, dass sie sie nicht anlügen würde. „Ich schwöre es … auch wenn ich nicht verstehe, wozu ich diese Gabe sonst besitze …“ „Das kann ich dir auch nicht beantworten“, meinte Elantris betrübt und sah in die Ferne.

Eine drückende Stille legte sich über die beiden, die Elantris schließlich brach, indem sie sich nach vorn beugte und eine Pflanze betrachtete, die am Wegesrand blühte.

„Sieh dir das an“, meinte sie dann zu Fidell und lächelte.

Fidell folgte ihrem Blick mit Neugierde. „Eine Blume“, entgegnete sie dann tonlos und sah Elantris schließlich verwundert an. „Das ist doch nichts Besonderes. Es gibt doch so viele …“

Elantris hob die Hand und Fidell verstummte.

„Sie ist etwas Besonderes. Sieh sie dir genau an. Was siehst du?“ Fidell betrachtete die Blume eingehender, konnte aber nichts Besonderes an ihr feststellen. „Eine Pflanze wie jede andere“, meinte sie dann schulterzuckend und sah ihre Meisterin verwirrt an. Was wollte Elantris ihr mit dieser Pflanze zeigen? Sie verstand nicht.

„Du hast noch nie etwas von Heilpflanzen gehört, nicht wahr?“, frage Elantris schließlich entgeistert. Fidell schüttelte schuldbewusst den Kopf. Sie hatte sich in ihrer Kindheit nie damit befassen müssen. Ihr waren andere Aufgaben zugedacht worden, immerhin war sie die Nichte des Oberhaupts ihres Dorfes gewesen.

Elantris strich sich verlegen das Haar aus dem Gesicht.

„Nun gut … die Elfen werden es dir schon beibringen, da bin ich sicher. Komm jetzt, ich möchte Ceven erreichen, ehe die Nacht hereinbricht.“

Müde und völlig erschöpft erreichte Nell nach Tagen endlich ihre Heimat.

Es fiel ihr schwer, aufrecht zu stehen oder gar die Augen offen zu halten, so müde war sie.

Eryn trug sie auf ihren Schultern.

Schwer atmend passierte sie die Grenzen des Dorfes, wo sie zusammensackte und unter Eryns reglosem Körper begraben am Boden liegen blieb. Dunkelheit machte sich in ihrem Geist breit und die Ereignisse der vergangenen Tage zogen vor ihrem inneren Auge an ihr vorbei.

Das grelle Licht, dass Meera plötzlich ausgesandt hatte und die Blitze, die diesem Licht folgten, hatten sie alle von den Beinen gerissen und ihnen das Bewusstsein geraubt.

Nell wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, ehe sie wieder zu sich kam, doch konnte sie keine Spur von Meera oder den Nuín entdecken und auch die Erde in ihrer Umgebung konnte ihr die Frage ihres Verbleibs nicht beantworten.

Noch immer benebelt von der Macht jener Blitze, rappelte sie sich schließlich auf und ging zu Eryn hinüber, der reglos am Boden lag. Ihre Knie zitterten unter dem Gewicht ihres eigenen Körpers und sie hatte große Mühe, das Gleichgewicht zu wahren.

Sie kniete sich neben ihm nieder und drehte ihn zur Seite. Erschrocken sprang sie einen Schritt zurück, als sie das getrocknete Blut entdeckte, das den Boden an der Stelle getränkt hatte an dem Eryns Kopf wenige Augenblicke zuvor noch lag.

War er tot?

Sie musterte Eryn eingehend und stellte schließlich erleichtert fest, dass er noch immer am Leben war und das Blut aus einer kleinen Wunde an seinem Hinterkopf stammte, die sich aber bereits geschlossen hatte. Ein leiser, erleichterter Seufzer entrann ihrer Kehle, als sich Eryn nach einiger Zeit rührte und für einen Moment die Augen öffnete. Doch als er versuchte, sich zu erheben, sackte er wieder zusammen. Nell hatte ihn gerade noch rechtzeitig auffangen können, ehe er auf dem Boden aufschlug und sich weitere Verletzungen zuziehen konnte.

Sie hob ihn sich auf den Rücken und stapfte los …

Leise Stimmen riefen nach ihr. Vertraute, besorgt klingende Stimmen.

Was war geschehen?

Ihr Körper fühlte sich schwer an, unendlich schwer, und es schien ihr unmöglich, die Augen zu öffnen. Die Anstrengung, die es sie kostete, sie schließlich doch zu öffnen und sich zur Seite zu rollen, raubten ihr beinahe wieder das Bewusstsein.

„Was ist passiert?“, fragte die besorgte Stimme eines Mannes, dessen Silhouette langsam die Gestalt ihres Heilers Cerin annahm. Nell versuchte zu sprechen, doch es gelang ihr nicht.

Cerin hob ihren Kopf an und bettete ihn in seinem Schoß, dann zog er ein kleines Fläschchen unter seiner Kleidung hervor und flößte es Nell ein.

„Trinkt das“, flüsterte er und lächelte. „Es wird Euch wieder zu Kräften bringen.“

Nell schluckte die klare, kühle Flüssigkeit und spürte, wie wenige Augenblicke später ihre Kräfte zurückkamen.

„Was ist passiert?“, fragte Cerin schließlich erneut und half Nell, sich aufzusetzen.

„Wir wurden angegriffen …“, murmelte sie und sah zu Eryn hinüber, um den Cerin sich nun kümmerte. „Die Nuín haben Meera entführt. Sie vermuten Gaia in ihr.“

„Gaia?“, warf eine der Frauen ein, die sich um sie versammelt hatten. „Unsere Göttin Gaia? Sie weilt unter uns?“ Erstaunt warf sie einen Blick in die Runde und sah dann wieder zu Nell.

„Ich weiß es nicht …“ Sie schüttelte den Kopf und wandte sich an Cerin: „Kannst du ihn heilen? Er ist ein Freund.“

Cerin nickte und breitete ein ledernes Täschchen neben sich aus. Getrocknete Pflanzen und kleine gläserne Fläschchen mit verschiedenen Flüssigkeiten in ihrem Innern kamen zum Vorschein.

„Es wird einige Zeit dauern, bis er wieder bei Kräften ist. Ich spüre eine tiefe Erschöpfung in ihm, die nicht nur auf seine Verletzung zurückzuführen ist“, bemerkte er schließlich mit forschendem Blick und legte eine Handvoll gelber Blüten in ein kleines, steinernes Gefäß. Mit einem Stößel begann er die Blüten zu zerkleinern, die er anschließend auf Eryns Kopfwunde legte.

Cerin seufzte innerlich. Dieser Mann bedurfte weit mehr Zuwendung als nur die Heilung seiner Verletzungen mit Kräutern.

„Gebt ihm ein paar Tage“, meinte er. „Und Euch ebenso. Ich mag zwar Eure Erschöpfung mit Kräutern behandeln können, doch Euer Innerstes müsst Ihr selbst heilen.“

Nell nickte und bedeutete zwei Männern, sich um Eryn zu kümmern, dann erhob sie sich und wankte langsam davon.

Sie erreichten den Rand des Waldes bei Einbruch der Nacht.

Elantris hatte überrascht festgestellt, dass Ceven doch weiter entfernt zu sein schien, als sie es in Erinnerung hatte und Fidell zur Eile angetrieben.

Langsam führte sie Fidell durch den dicht bewachsenen Wald und blieb am Rande des Dorfes stehen. Nichts schien sich verändert zu haben, stellte Elantris erstaunt fest und lächelte beim Gedanken an die Zeit, die sie hier verbracht hatte. ‚Wie viele Zyklen wohl vergangen sein mögen?‘, dachte sie nachdenklich und wandte sich Fidell zu, die hinter ihr unruhig von einem Bein auf das andere trat.

„Es ist unheimlich hier …“, flüsterte sie kaum hörbar und rückte näher an Elantris heran, die bei diesen Worten verwundert eine Augenbraue nach oben zog. Ängstlich sah Fidell sich um, doch war es mittlerweile so dunkel geworden, dass sie es kaum noch vermochte, die Hand vor Augen zu sehen.

„Wer seid Ihr?“

Fidell fuhr erschrocken herum und ein ersticktes Keuchen entwich ihrer Kehle.

„Yaelle, bist du es?“, fragte Elantris schließlich erstaunt und kam näher, als sie die schlanke, hochgewachsene Gestalt zu ihrer Linken entdeckte.

„Ich hatte nicht geglaubt, dich wiederzusehen“, antwortete er lächelnd und kam näher. Sein helles kurzes Haar schimmerte im Licht des Mondes und verlieh seinen Gesichtszügen etwas Magisches.

„Ich kann nichts sehen“, flüsterte Fidell mit zitternder Stimme und verzog ängstlich das Gesicht.

„Verzeih“, entgegnete Yaelle und verbeugte sich entschuldigend vor ihr und Elantris, dann trat er an ihr vorbei auf Fidell zu, die erschrocken einige Schritte zurückwich, als sie spürte, dass sich jemand auf sie zu bewegte.

„Hab keine Angst. Ich befreie dich von dem Zauber, der deine Augen trübt.“

Mit einer Handbewegung wischte er über Fidells Gesicht, woraufhin diese blinzend einen weiteren Schritt zurücktrat, als sie das hübsche Gesicht des Mannes vor sich erblickte. Sie errötete. „Danke“, murmelte sie verlegen und sah zu Boden.

Sie fühlte sich seltsam an jenem Ort. Ein vertrautes Gefühl machte sich in ihr breit und sie erschauderte.

„Verzeih uns diese Magie, doch wir wünschen keine Fremden in unserem Dorf, schon gar nicht die Nuín bei Nacht“, erklärte er schnaubend und riss Fidell schließlich wieder aus ihren Gedanken, die daraufhin nur den Kopf schüttelte und hilfesuchend zu Elantris sah.

„Es sind viele Zyklen vergangen, seit ich dich zuletzt hier sah“, meinte Yaelle dann an Elantris gewandt. „Was führt dich wieder hierher?“

Elantris deutete eine Verbeugung an und nickte Richtung Fidell. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

„Ich möchte Cerin bitten, sich ihrer anzunehmen. Sie soll die Kunst des Heilens erlernen, ehe ich sie in die Zauberei einweise.“ „Verstehe“, murmelte Yaelle langsam und musterte Fidell von Kopf bis Fuß. „Ist sie nicht ein wenig zu alt, die Magie zu erlernen?“

Fidell warf ihm einen finsteren Blick zu, wagte es aber nicht, etwas zu erwidern. Elantris lächelte und klopfte ihr auf die Schulter.

„Das mag sein, doch ihr Potential ist groß und es sollte nicht verschwendet werden.“ Sie zwinkerte ihr zu. „Außerdem hat sie keinen anderen Ort mehr, an den …“ Als sie bemerkte, was sie eben zu sagen begonnen hatte, brach sie ab und schüttelte entschuldigend den Kopf. Sie wollte Fidell nicht daran erinnern, was sie verloren hatte.

Yaelle schien zu verstehen und fragte nicht weiter nach.

„Ich biete euch ein Quartier für diese Nacht, kommt mit mir.“ Er wandte sich zum Gehen. „Wenn der Tag anbricht, kannst du Cerin einen Besuch abstatten. Er wird sich sicher freuen, dich nach so langer Zeit wiederzusehen.“

Ein Lächeln glitt über Elantris‘ Gesicht, als sie daran dachte, ihrem alten Freund und Lehrer wieder zu begegnen.

Fidell lief ihnen in einiger Entfernung nach und warf immer wieder unbehagliche Blicke in den dunklen Wald hinein. Sie fühlte sich seltsam fremd an diesem Ort und hoffte, ihn schnell wieder verlassen zu können.

Am nächsten Morgen wanderte Elantris in aller Frühe durch den Wald.

Sie hatte in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan und immerzu an Fidells Worte denken müssen. Auch sie wünschte sich nichts mehr, als ihren Bruder ein letztes Mal zu erblicken und ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte und vermisste.

Ein Seufzer ging über ihre Lippen und sie strich sich das wirre rote Haar aus dem Gesicht.

‚Ich sollte mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren …‘, dachte sie betrübt und setzte ihren Weg fort. ‚Was geschehen ist, ist geschehen … ich kann es nicht mehr ändern. Das ist der Lauf der Dinge … Ich dachte, ich hätte dies …‘

Sie blieb überrascht stehen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den jungen Mann, der vor ihr stand.

Die Zeit schien plötzlich still zu stehen.

„Oh mein …“, flüsterte sie und ein erstickter Laut entrann ihrer Kehle. Elantris schlug die Hände vor dem Mund zusammen. Ihre Knie gaben nach und sie sank zu Boden.

War dies Wirklichkeit?

Ihr Herz raste und sie fühlte sich in einen Traum versetzt.

„Wie … wie ist das möglich?“, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Tränen stiegen ihr in die Augen und rannen schließlich ihre Wangen hinab. „Ich habe dich … sterben sehen … wie …? Du … lebst?“

Sie konnte nicht fassen, wen sie da vor sich sah.

‚Eine Illusion?‘, dachte sie fassungslos und starrte weiter auf den jungen Mann vor sich. ‚Ein Traum, das muss ein Traum sein …‘ Sie schüttelte den Kopf und versuchte, zur Besinnung zu kommen.

„E… ryn? Bist du es wirklich?“, fragte sie dann zögerlich. Obwohl sie geglaubt hatte, nach all der Zeit sein Gesicht vergessen zu haben, war sie sich doch sicher, dass er es sein musste.

Der junge Mann musterte sie eingehend und kam schließlich näher.

Wer war diese Frau?

Sie kannte seinen Namen, dabei war er ihr noch nie zuvor begegnet und er runzelte fragend die Stirn.

„Ich heiße Eryn, ja“, antwortete er schließlich. „Ich kenne dich nicht und doch kennst du meinen Namen … aber wer bist du?“ Elantris schüttelte wild den Kopf und starrte ihn ungläubig an. Hatte er sie vergessen? „Ich bin es, Elantris! Deine Schwester!“, rief sie entsetzt. „Erkennst du mich denn nicht?“

Eryn schüttelte langsam den Kopf. Es tat ihm weh, in das traurige Gesicht dieser Frau zu starren und so wandte er sich letztlich von ihr ab.

„Es tut mir leid …“, murmelte er dann betrübt und entfernte sich von ihr.

„Warte!“, rief Elantris ihm entsetzt nach und sprang auf. „Lass mich nicht allein zurück! All die Zeit dachte ich, du seist in den Flammen ums Leben gekommen und jetzt finde ich dich hier!“

Eryn blieb stehen und wandte sich ihr schließlich wieder zu, dann holte er tief Luft: „Ich sehe dich heute zum ersten Mal. Verzeih mir diese Worte, doch ich habe keine Schwester. Ich habe niemanden, nur Cami, die an meiner Seite ist, und das ist alles, was ich brauche.“

Mit diesen Worten ging er davon und ließ Elantris allein zurück.

Sie sah ihm enttäuscht nach und gab sich schließlich vollkommen ihrer Trauer hin.

Hatte sie sich etwa geirrt? Sie wusste, dass er nicht mehr am Leben sein konnte und doch konnte sie nicht umhin, in diesem jungen Mann ihren Bruder zu erkennen.

‚Nein …‘, dachte sie und blickte wieder zu der Stelle, an der Eryn ihr den Rücken zugekehrt hatte. ‚Er ist mein Bruder … da bin ich sicher … und doch … er war mir so fremd …‘

Wieder vergrub sie das Gesicht in ihren Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Cerin, der gerade aus dem Wald zurückgekommen war, kam näher und sank neben Elantris auf die Knie.

„Elantris? Was führt dich denn hierher zurück?“, fragte er und musterte sie neugierig. „Geht es dir nicht gut?“ Hilflos sah er sie an und legte schließlich einen Arm auf ihre Schulter. Er konnte spüren, dass eine tiefe Trauer sich ihres Herzens bemächtigt hatte.

Elantris sah auf und schüttelte den Kopf.

„Er ist hier … er lebt …“, flüsterte sie mit zitternder Stimme. „Verstehst du, Cerin? Eryn ist hier! Mein Bruder! Er lebt!“

Cerin zog eine Augenbraue nach oben und tätschelte schließlich ihre Wange.

„So viele Sommer sind vergangen und doch erinnere ich mich an diesen Tag, als wäre es erst gestern geschehen“, entgegnete er leise. „Die Feuer, die dein Dorf heimsuchten, nahmen alles mit sich. Dich konnte ich nur mit Mühe aus den Flammen retten. Glaub mir, niemand sonst hat überlebt … auch nicht dein Bruder … Dieser Mann mag vielleicht denselben Namen tragen, doch seid ihr euch nie zuvor begegnet.“

Elantris schüttelte wild den Kopf und versuchte die Bilder, die vor ihrem inneren Auge vorbeizogen, zu verdrängen. Cerin hatte recht. Ihr Bruder konnte nicht überlebt haben.

Sie hatte seine hilfesuchenden, schmerzverzerrten Schreie vernommen. Sie hatte den Schmerz gespürt, der seinen Körper verschlang, und als seine Rufe letztlich verstummten, fühlte auch sie das Ende nahen.

Die Flammen waren überall und sie wusste, dass auch sie sterben würde, doch dann tauchte Cerin plötzlich wie aus dem Nichts auf und rettete sie.

Er hatte sie nach Ceven gebracht und geheilt. Er hatte sie das Wissen der Elfen gelehrt, sie zu einer der seinen gemacht und ihr ein neues Zuhause gegeben, bis sie schließlich den Entschluss fasste, nach Therun zu gehen, um die Magie zu erlernen.

Elantris nickte. „Verzeih … du hast ja recht …“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und atmete tief durch. ‚Wunschdenken … ja … so sehr ich mir auch wünsche, ihn wiederzusehen, es wird nie geschehen … Ich dachte, ich hätte das verstanden und hinter mir gelassen …‘, dachte sie betrübt und schüttelte schließlich den Kopf. Fidells Worte am vergangenen Tag hatte ihre innersten Wünsche an die Oberfläche gekehrt. ‚Ja, das muss es gewesen sein …‘ Elantris sah zu Cerin auf und versuchte zu lächeln.

„Kannst du meine Schülerin lehren, was du mich gelehrt hast?“, fragte sie schließlich und erhob sich. Cerin legte neugierig den Kopf zur Seite und folgte ihr mit seinem Blick. „Ich möchte, dass sie zu allererst die Magie der Natur verstehen lernt, ehe ich sie in der Kunst der Zauberei unterrichte.“

„Natürlich“, entgegnete Cerin lächelnd und verneigte sich. „Schick sie zu mir. Ich werde sie unterweisen.“

Elantris nickte und ging langsamen Schrittes davon.

„Ich werde sie gleich zu dir schicken!“, rief sie über die Schulter hinweg und hob die rechte Hand zum Abschied.

Nervös näherte sich Fidell der kleinen Hütte, die Elantris ihr beschrieben hatte.

„Meister Cerin?“, rief sie schließlich zaghaft und blieb vor dem Eingang, der durch ein langes Tuch verdeckt war, stehen.

Es dauerte einen Moment, ehe vom Innern der Hütte Geräusche erklangen und Cerin sie bat, einzutreten.

Vorsichtig näherte sie sich der Tür und schob das Tuch zur Seite, dann warf sie einen neugierigen Blick hinein.

Langsam trat sie ein. „Da bist du ja“, begrüßte Cerin sie lächelnd und bedeutete ihr, näher zu kommen. „Elantris hat mich gebeten, dich in der Kunst des Heilens zu unterweisen.“

Fidell nickte zögerlich und trat unruhig von einem Bein auf das andere. Sie war sichtlich nervös.

Cerin nickte ihr aufmunternd zu.

„Hab keine Angst“, meinte er dann mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, als er das Zittern ihrer Hände bemerkte. „Setz dich und trink etwas mit mir.“

Fidell sagte kein Wort und sank schließlich auf eine dicke Baumwurzel nieder, die sich hinter ihr befand, dann beobachtete sie Cerin, wie er ein gläsernes Gefäß aus einer Sammlung verschiedener Gefäße hervorzog.

Im Innern des großen Glases befanden sich kleine violettfarbene Blüten.

Cerin reichte es Fidell und bat sie, es zu öffnen. Sie sah ihn fragend an.

„Nur zu, öffne es“, meinte er lächelnd und sah sie erwartungsvoll an.

Fidell zögerte einen Moment, ehe sie das Gefäß schließlich entgegennahm und es öffnete. Ein süßlicher Duft stieg ihr in die Nase und zauberte ihr unweigerlich ein Lächeln auf die Lippen.

„Was ist das?“, fragte sie neugierig und reichte das Glas wieder Cerin. „Dieser Geruch ist wundervoll. Er hat so etwas … Beruhigendes an sich.“

Cerin nickte und grinste. Er konnte spüren, wie sich Fidell langsam entspannte.

„Das sind getrocknete Nardenblüten. Eine ihrer Wirkweisen hast du ja eben schon genannt.“ Fidell errötete leicht und sah verlegen zu Boden.

„Trink das.“ Cerin reichte ihr ein kleines hölzernes Gefäß, das ebenso duftete, wie die Blüten zuvor. „Aber sei vorsichtig, es ist heiß.“

Fidell nickte und nahm das Schälchen dankend entgegen.

Sie warf einen neugierigen Blick hinein. Es war mit heißem Wasser gefüllt und auf dem Boden des Gefäßes schwammen eben diese Blüten, die Cerin ihr Augenblicke zuvor gezeigt hatte.

Fidell nippte vorsichtig daran und stellte überrascht fest, dass es ebenso gut schmeckte wie es roch. Wenige Augenblicke später konnte sie spüren, wie sie eine Woge tiefer Ruhe überkam und ein sanftes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Cerin beobachtete sie eingehend, sagte aber kein Wort.

Erst als sie den Blick hob und ihn anlächelte, fragte er sie, ob sie seine Wirkung schon fühlen konnte und begann ihr mehr über die Wirkungsweise und heilenden Kräfte der Nardenblüten zu erzählen. Fidell lauschte seinen Worten voller Neugierde und konnte es schließlich kaum erwarten, mehr über die Kunst des Heilens zu erfahren.

Nach einer Weile beschloss Cerin, in den Wald zu gehen, um Kräuter zu sammeln und er fragte Fidell, ob sie ihn begleiten wolle. Sie nickte freudig und sprang auf, dann verließen sie die kleine Hütte und machten sich auf den Weg.

Cerin führte sie durch den dichten Wald und Fidell musste verwundert feststellen, dass trotz des dichten Blätterdachs und des schwachen Sonnenlichts, das kaum bis zum Waldboden durchdrang, aller Art Pflanzen gediehen.

„Das ist die Macht unserer Göttin“, bemerkte Cerin schließlich verträumt und blieb stehen. „Gaia umfasst alles und schenkt uns allen das Leben. Sie ist überall. In der Luft, der Erde, sogar in uns selbst.“

„Aber warum herrscht hier dann diese drückende Stille?“, flüsterte Fidell verunsichert und sah sich um. Unbehagen stieg in ihr auf und sie konnte fühlen, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten.

Etwas stimmte nicht.

Cerin sah sie an und nickte ernst, antwortete ihr aber nicht. Stattdessen murmelte er etwas in einer Sprache, die Fidell nicht verstand.

Ein sanftes Licht ging nun von ihm aus und ein schwacher Wind kam auf, der ihn in die Luft erhob. Das Rauschen der Blätter in eben diesem Wind klang plötzlich wie der Klang von Musik und ließ Fidell erschaudern.

Fasziniert beobachtete sie das Ganze und wagte es nicht, sich zu rühren oder gar zu atmen.

Wenige Augenblicke später öffnete Cerin die Augen und sah sie mit ernstem, alarmiertem Blick an.

„Deine Ausbildung muss warten. Folge mir!“ Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Fidell hatte große Mühe, mit ihm mitzuhalten. Doch irgendwie gelang es ihr schließlich, zu ihm aufzuholen.

Völlig außer Atem erreichte sie Ceven und blieb stehen.

Cerin schritt an ihr vorbei und Fidell stellte überrascht fest, dass nicht einmal der kleinste Hauch von Erschöpfung an ihm haftete.

„Nell!“, rief er mit lauter Stimme und blieb stehen. „Nell!“

Es dauerte einen Augenblick, ehe sie aus einer der Hütten hervorlugte und ihn fragend ansah. Sie schob den Vorhang, der den Eingang verdeckte, zur Seite und trat hervor, gefolgt von Elantris.

„Du siehst besorgt aus“, bemerkte sie verwundert und musterte ihn eingehend. Nell kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Eine dunkle Vorahnung machte sich in ihr breit.

Elantris sah zu Fidell hinüber, die immer noch nach Luft ringend versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

„Was ist geschehen?“, fragte sie dann überrascht und besorgt zugleich. „Was hast du mit ihr gemacht?“ Sie ließ die beiden stehen und ging auf Fidell zu.

„Es geht … mir … gut“, keuchte sie und setzte ein verlegenes Lächeln auf.

„Unsere Welt stirbt, wenn Gaia nicht zurückkehrt“, meinte Cerin dann mit zitternder Stimme und sah Nell mit festem Blick an. Er war sich sicher, dass auch sie es fühlen konnte. „Ich konnte die Furcht spüren, die in ihrem Herzen wohnt und sie davon abhält, ihre Kraft zu kontrollieren. Ihre Macht wird unsere Welt vernichten, wenn sie nicht zur Ruhe kommt!“

Nell schnaubte etwas Unverständliches und schüttelte wütend den Kopf. „Ich werde sie befreien, auch wenn es mein Leben kostet! Diesmal sind die Nuín zu weit gegangen!“

Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder in der Hütte, aus der sie gekommen war.

„Ich werde sie begleiten“, meinte Elantris an Cerin gewandt und nickte ihm zu. Dann sah sie zu Fidell und lächelte gequält. „Kümmerst du dich um Fidell während ich weg bin?“ Ein Lächeln glitt über seine Lippen und er nickte. „Aber natürlich. Ich werde ihre Ausbildung fortsetzen und beendet haben, ehe du zurückkehrst.“ Er legte seine rechte Hand auf sein Herz und verneigte sich tief vor ihr.

„Ich möchte dich aber begleiten!“, rief Fidell und lief ihr nach, als sich Elantris zum Gehen wandte.

Elantris blieb stehen und seufzte.

„Nein“, meinte sie bestimmt und wandte sich ihr wieder zu. „Dein Platz ist hier, bis ich zurückkomme. Es ist zu gefährlich für dich. Du könntest dich nicht verteidigen gegen sie und ich weiß nicht, ob ich die Macht besitze, dich zu beschützen.“ Sie setzte ein gequält wirkendes Lächeln auf. Es schmerzte sie, Fidell anzusehen, die ihre Enttäuschung nicht zu verbergen vermochte, doch sie hatte keine andere Wahl. „Cerin wird sich deiner annehmen. Hab keine Angst, du bist hier willkommen. Du wirst sehen, alles wird gut werden. Und ich verspreche dir, bald zurück zu kommen.“

Fidell senkte den Kopf und sah betrübt zu Boden.

„Ja, Meister …“, flüsterte sie kaum hörbar und versuchte verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten, die sich ihren Weg nach draußen suchten. Sie schluckte hart und konnte nur mit Mühe ein Zittern unterdrücken.

Plötzlich fühlte sie sich unendlich einsam und das drückende Gefühl, das sie seit kurzem begleitete, wurde schier unerträglich. Sie konnte fühlen, dass in naher Zukunft etwas geschehen würde, das ihr Leben von Grund auf veränderte.

Fidell sah auf und hielt den Atem an. Elantris umgab nun eine seltsam vertraute Aura, als sie sich von ihr entfernte, fand sie, doch sie vermochte nicht zu sagen, was es war. Es schien ihr wie ein helles Licht, das sie umgab und den Anschein weckte, als wolle es sie mit sich nehmen.

Fidell wandte sich ab und sah Cerin mit traurigem Blick an.

„Sie werden bald zurückkehren“, versuchte er sie aufzumuntern. „Du wirst sehen, dass die Zeit schneller vergehen wird, als dir lieb ist und ehe du dich versiehst, sind sie zurück.“

Als der Morgen anbrach, erwachte Fidell.

Langsam schob sie den Umhang zurück, den sie als Decke benutzt hatte, und erhob sich aus ihrem moosigen Schlaflager, das Cerin für sie bereitet hatte.

Sie versuchte, so leise sie konnte, die kleine Hütte zu verlassen und im Morgengrauen ein paar Übungen zu absolvieren, die Sirion ihr gezeigt hatte.

Zu ihrer Überraschung war sie nicht die einzige, die so früh am Morgen bereits wach war.

„Wer bist du?“, fragte sie neugierig den jungen Mann, der verträumt auf einem Felsen saß und die verschwindenden Sterne am Himmel beobachtete.

Langsam senkte er den Blick und sah sie an.

Das wuschelige rote Haar, das seinen Kopf zierte, fiel ihm ins Gesicht.

„Wer bist du?“, fragte er stattdessen und musterte Fidell von Kopf bis Fuß. „Du bist mit dieser Elantris hier aufgetaucht, nicht wahr?“ Fidell konnte den abwertenden Ton in seiner Stimme nicht überhören und ballte die Hände zu Fäusten, wagte es aber nicht, etwas dazu zu sagen.

„Also? Wer bist du?“

Sie schnaubte.

„Ich heiße Fidell und du bist … wer?“ Fidell versuchte genau denselben abwertenden Ton zu benutzen, wie er es tat. Der junge Mann grinste und sprang vom Felsen herab. „Ich bin Eryn. Was tust du so früh hier draußen?“ Fidell schüttelte den Kopf. „Nichts Besonderes“, entgegnete sie schroff und sah an ihm vorbei. „Ich konnte einfach nicht mehr schlafen. Und was ist mit dir?“ „Ich habe nicht geschlafen“, entgegnete er lächelnd und blickte wieder in den Himmel.

Eine drückende Stille legte sich über die zwei, die nur durch das fröhliche Zwitschern der Vögel und das leise Rauschen des Windes durchbrochen wurde.

„Was hoffst du dort zu sehen?“, fragte Fidell schließlich neugierig und versuchte den negativen Eindruck, den er ihr von sich gegeben hatte, zu vergessen. Dann folgte sie seinem Blick.

Ein leiser Seufzer entrann seiner Kehle. Fidell konnte spüren, dass ihn etwas bedrückte.

„Willst du reden?“, fragte sie dann zögerlich und lehnte sich an den Felsen, auf dem Eryn zuvor gesessen hatte.

„Man hat mich zurückgelassen“, murmelte er nach einer Weile enttäuscht und versuchte zu lächeln, doch mehr als eine unwirklich erscheinende Grimasse brachte er nicht zustande.

„Mich ebenso …“, entgegnete Fidell nur und sah zu Boden.

Die beiden schwiegen sich an und keiner wagte es, die Stille zu durchbrechen.

In der Ferne begann die Sonne allmählich am Horizont emporzusteigen und tauchte alles in goldenes Licht.

Fidell schloss die Augen und genoss den Augenblick, in dem die Sonne ihr Gesicht erwärmte, ehe sie hinter den dichten Bäumen verschwand und nur noch vereinzelt ein Sonnenstrahl seinen Weg durch den Wald fand.

Als sie die Augen wieder öffnete und zu Eryn hinübersah, stellte sie erstaunt und enttäuscht zugleich fest, dass er verschwunden war und sie allein zurückgelassen hatte.

Langsam erhob sie sich und stapfte zurück.

Vor Cerins Hütte blieb sie stehen und dachte nach. Konnte sie wirklich an diesem Ort verweilen? Alles war ihr fremd.

„Bedrückt es dich noch immer, dass sie dich hier zurückgelassen hat?“, hörte sie eine freundliche Stimme hinter sich.

Erschrocken fuhr sie herum und erkannte Cerin, der sie lächelnd ansah. Er trug einen kleinen Korb bei sich, der mit Früchten und Nüssen gefüllt war.

„Du hast sicher Hunger“, bemerkte er noch immer lächelnd und schob sie in die Hütte hinein.

Fidell ließ sich wiederwillig von ihm lenken und sank schließlich auf der Baumwurzel nieder, auf der sie immer saß. Schweigend starrte sie Cerin an, der sich nun an der Feuerstelle zu schaffen machte.

Ihre Gedanken kreisten noch immer um das seltsame Gefühl, das sie in Eryns Gegenwart verspürt hatte. Wer war er wirklich? Sie kannte jenes Gefühl nur zu gut. Ein leiser Seufzer ging über ihre Lippen, als sie daran dachte. Sie wollte mehr über ihn erfahren und doch fürchtete sie die Antwort.

„Willst du mir nicht erzählen, was dich so sehr beschäftigt?“, fragte Cerin nach einer Weile mit einem sanften Lächeln auf den Lippen und riss sie aus ihren Gedankengängen. Fidell sah verwundert auf und blinzelte. Er sah sie mit forschendem Blick an und musterte sie eingehend. „Du scheinst tief in Gedanken zu sein.“

Fidell nickte langsam.

„Eryn … wer ist er?“

Cerin nickte verstehend. Er hatte vermutet, dass sie sich noch immer den Kopf über Elantris zerbrach, die sie zurückgelassen hatte.

„Ich weiß nicht viel über ihn“, entgegnete er und dachte nach. „Nell hat ihn vor wenigen Tagen hierher geschleppt, kurz bevor du und Elantris hier aufgetaucht seid. Er wurde bei einem Angriff des Nuín-Clans verletzt und jetzt ist er hier, bis er wieder bei Kräften ist.“

„Kannst du es spüren?“, fragte sie nach einiger Zeit zögerlich und sah auf. Ein ängstlicher Schimmer lag in ihren Augen. „Diese seltsame Aura, die ihn umgibt … ich kenne sie … Ich kenne sie nur zu gut …“ Ein Schauder rann ihr den Rücken hinab, als sie daran dachte.

Cerin musterte sie neugierig und nickte verstehend. „Er trägt eine große Kraft in seinem Herzen, ja.“

Fidell schüttelte entgeistert den Kopf. Konnte er es etwa nicht spüren? „Nein, nicht diese Kraft. Da ist etwas anderes … etwas …“ Sie wagte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen und sah wieder zu Boden.

Traurige Erinnerungen erfüllten ihren Geist.

„Erzähl mir davon“, ermutigte sie Cerin, nachdem sie keine Anstalten machte, weiter zu sprechen.

Sie schluckte hart und überlegte, wie sie ihre Gefühle in Worte fassen konnte. „Der Hauch des … Todes haftet an ihm … ich kann es sehen … Die Engel haben ihn nicht zu sich gerufen, als er starb …“ Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie daran dachte, wie die Engel ihre Schwester zu sich riefen, nachdem sie von der Tiefe verschlungen worden war und auch, wie sie ihren Vater mit sich trugen, als er sie mit letzter Kraft beschützte.

„Ich spüre nichts dergleichen“, antwortete Cerin ruhig und dachte nach. Dann erinnerte er sich an das, was Elantris sagte. War es möglich, dass er jenes Feuer, das alles verschlang, irgendwie überlebt hatte? Oder war er nur eine Erinnerung, der der Weg in die andere Welt verwehrt geblieben war?

„Tut mir leid …“, murmelte Fidell schließlich betrübt.

Cerin schüttelte den Kopf. „Auch wenn ich es nicht spüre, so mag es doch der Wahrheit entsprechen.“ Fidell sah ihn verwundert an. „Ich weiß von deiner Gabe, das Licht der Ewigkeit zu sehen und Elantris hat in ihm ihren tot geglaubten Bruder erkannt.“

„Du meinst, er … ist ein Geist?“ Fidell zuckte unweigerlich bei diesem Gedanken zusammen.

Sirion saß gelangweilt in den Archiven und starrte aus dem Fenster.

Seine Gedanken glitten immer wieder zu Miriel und die Frage, wer oder was sie war, kam ihm wieder in den Sinn.

„Wo bist du gerade?“, hörte er eine amüsierte Stimme hinter sich fragen. Es war Rayan.

Sirion drehte sich nicht um und lächelte. „Ich weiß nicht, weit weg …“

„Was ist los mit dir?“, fragte Rayan besorgt und ließ sich auf der Tischkante nieder. „Seit du zurückgekommen bist, sind deine Gedanken nicht mehr bei deinen Aufgaben.“

Sirion senkte beschämt den Kopf und seufzte. „Verzeiht, Meister.“

Er rieb sich die Stirn und versuchte, das Gesicht Miriels aus seinem Geist zu verbannen. Sie war dorthin zurückgekehrt, von wo sie gekommen war – wo auch immer das sein mochte –, und hatte ihn ohne ein Wort des Abschieds zurückgelassen.

Wieder und wieder fragte er sich, wie sie den Weg in das Reich Elysions kennen und den Gral zurückbringen konnte. Seine Gedanken drehten sich immer wieder um diese eine Frage, auf die er trotz allem keine Antwort fand, doch er wollte nicht aufgeben. Früher oder später würde er seine Antwort finden und vielleicht würde Miriel sogar eines Tages zu ihm zurückkehren.

„Du hast an sie gedacht, nicht wahr?“ Rayan legte eine besondere Betonung auf das Wort sie und Sirion wusste sofort, dass er ihn ertappt hatte. „Ja …“, murmelte er langsam und ließ den Kopf hängen.

„Sag bloß, du hast noch immer nicht die Lösung deines Problems gefunden“, bemerkte Rayan verblüfft und grinste. „Warum wehrst du dich so verbissen dagegen, deinem Herzen Glauben zu schenken? Du kennst die Antwort doch bereits.“ Sirion schüttelte langsam den Kopf. „Ich müsste mir nicht solche Gedanken machen, wenn ich es wüsste“, entgegnete er schroff. „Wie sinnlos das doch ist!“ Wütend schob er die Bücher zur Seite, die er vor sich aufgeschlagen hatte und zuckte beim Geräusch des zerreißenden Papiers zusammen.

„Verdammt … auch das noch.“

Rayan klopfte ihm amüsiert auf die Schulter.

Fa’ein lo naag!“, murmelte er und das Papier fügte sich wie durch Geisterhand wieder zusammen.

„Ruh dich aus, ehe du deine Arbeit fortsetzt. Nicht, dass du noch das ganze Archiv ruinierst.“ Rayan zwinkerte ihm zu. „Wir brauchen es noch und dich ebenso. Also, sieh zu, dass du wieder zu dir kommst.“

Mit diesen Worten ließ Rayan ihn allein.

Gedankenverloren erhob sich Sirion und trat ans Fenster hinüber.

Die Sonne stand hoch am Himmel und vereinzelte Wolken zogen vorüber. Es erschien ihm wie ein Traum und das seltsame Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, schwand in die tiefsten Winkel seines Bewusstseins.

Lange stand er reglos am Fenster und starrte in die Tiefe.

Die Wasserfälle, die unterhalb Theruns aus den Felsen hervorschossen, vermischten sich mit den Nebeln, die aus der Tiefe emporstiegen und bildeten einen weißen, undurchdringlichen Vorhang, der ihm die Sicht verwehrte.

Als die Sonne allmählich weiterzog und ihn letztlich zu blenden begann, wandte er seinen Blick ab und drehte sich wieder dem Tisch zu, auf dem seine Arbeit unordentlich verteilt lag.

Kaum hatte er sich wieder gesetzt, erschütterte ein Beben Therun.

Sirion wurde vom Stuhl geworfen und landete unsanft auf dem kalten Steinboden.

Bücher fielen aus den Regalen und Gefäße zerbrachen. Sirion rollte sich zusammen und schützte seinen Kopf, um von den herunterfallenden Gegenständen nicht erschlagen zu werden.

Die steinernen Wände begannen zu bröckeln, bis schließlich große Blöcke aus ihnen hervorbrachen und zu Boden stürzten.

Sirion konnte sich gerade noch rechtzeitig vor einem der herunterfallenden Brocken in Sicherheit bringen, indem er sich zur Seite warf.

Im denkbar ungünstigsten Augenblick kam ihm Miriel erneut in den Sinn, wie sie ihm den Kopf wusch, nachdem er sie beinahe getötet hatte.

Das Beben hielt weiter an und Sirion konnte um sich herum die hilflosen und schmerzerfüllten Schreie anderer Magier vernehmen, wie sie sich verzweifelt versuchten in Sicherheit zu bringen.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Beben endlich an Stärke verlor und schließlich endete.

Sirion richtete sich langsam auf und sah sich um.

Das Archiv glich einem Schlachtfeld, fand er, und nichts, außer den am Boden liegenden Büchern, erinnerte an die einstige Funktion des Raumes.

Ein Schauder rann seinen Rücken hinab, als er die zierliche Hand einer Frau unter den Trümmern hervorragen sah und Blut sich mit den herumliegenden Bruchstücken vermischte.

Geschockt starrte er auf die Hand. Er konnte den Blick nicht abwenden und sank schließlich zitternd zu Boden.

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, ehe jemand in weiter Ferne seinen Namen rief, doch er schaffte es noch immer nicht, sich von dem grausigen Anblick abzuwenden.

Jemand schlug ihm ins Gesicht und erst jetzt fand er die Kraft, den Kopf zu drehen und sich der Person zuzuwenden, die ihn geschlagen hatte.

„Bist du verletzt?“, fragte der Mann besorgt und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Sirion schüttelte langsam den Kopf und sah wieder zu dem Felsbrocken hinüber, unter dem die Frau verschüttet war.

„Sieh mich an!“, rief der Mann ernst und stellte sich ihm ins Blickfeld.

Erst jetzt erkannte er, dass es Rayan war. Blut rann aus einer klaffenden Wunde an seiner rechten Schläfe und vermischte sich mit Schweiß und Schmutz.

„Ihr seid verletzt, Meister“, bemerkte Sirion langsam. „Das spielt jetzt keine Rolle. Komm mit mir“, rief Rayan bestimmt und zog ihn auf die Beine.

„Aber …“, begann Sirion und wollte sich umdrehen, doch Rayan hielt ihn davon ab. „Kein Aber, komm mit mir!“

Sirion bemerkte den wankenden Gang seines Meisters und schloss schließlich zu ihm auf.

Allmählich begann sich alles in seinem Geist zu entwirren, bis er schließlich wieder klar denken und das volle Ausmaß der Zerstörung um sich herum begreifen konnte.

„Meister!“, rief er und hielt ihn am Arm fest. Rayan zuckte bei der Berührung zusammen und Sirion zog augenblicklich die Hand zurück.

„Lasst mich Eure Wunden heilen“, bat er und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Keine Zeit“, entgegnete Rayan mit zusammengebissenen Zähnen und presste seine rechte Hand an seinen linken Arm. Der Schmerz, der in seinem Arm pochte, brachte ihn schier um den Verstand.

„Wie es scheint, war nicht der Gral die Ursache dieser Katastrophe“, murmelte Rayan deprimiert und sah Sirion in die Augen.

„Aber die Entwendung des Grals hat das Gleichgewicht gestört. Jetzt, da er wieder an seinem rechtmäßigen Platz ist, sollte alles in Ordnung sein! Das Gleichgewicht ist wieder hergestellt … oder etwa nicht?“, murmelte er und wurde mit jedem Wort immer leiser. Eine dunkle Vorahnung machte sich in ihm breit.

Rayan nickte. „So sollte es sein, doch haben wir etwas Wichtiges außer Acht gelassen.“

„Etwas …“, murmelte Sirion und dachte angestrengt nach.

„Ihr meint doch nicht etwa … die Zerstörung Jun’Aris‘?“ Sirion riss die Augen auf und musterte seinen Meister eingehend. Dieser nickte langsam und blieb schließlich vor einer Tür stehen.

„Was ich dir nun zeigen werde, ist streng geheim. Eigentlich dürfte ich dich in dieses Wissen nicht einweihen, doch mir bleibt keine Wahl. Folge mir!“

Er zog einen großen Schlüssel unter seinem Umhang hervor und öffnete das Schloss.

Die Tür sprang mit einem leisen Knarren auf.

Neugierig trat Sirion ein und sah sich verwundert um. Rayan folgte ihm und schloss die Tür hinter sich ab.

„Das ist das verbotene Archiv?“, flüsterte er und schnappte nach Luft. „Diese kleine Kammer birgt das geheime Wissen des Hohen Rates?“

Ungläubig ging Sirion zu einem der kleinen Regale hinüber und strich über die Bücherrücken.

„Dafür ist keine Zeit“, ermahnte ihn Rayan und hob einige der Bücher auf, die zu Boden gefallen waren.

„Setz dich, ich werde dir zeigen, was du wissen musst.“

Sirion nickte langsam und trat zu dem kleinen Tischchen hinüber.

„Die Dämonen haben etwas Furchtbares freigesetzt, das das Gleichgewicht verschoben hat. Eine grausame Macht, die kein Wesen besitzen sollte.“

„Wovon sprecht Ihr, Meister?“, flüsterte Sirion und starrte gebannt auf das Buch, das Rayan vor ihm niederlegte. „Die Macht des Chaos“, entgegnete er langsam und schlug das Buch auf. „Sieh selbst.“

Es dauerte einen Moment, ehe Sirion erschrocken aufsprang und Rayan mit weit aufgerissenen Augen ansah.

„Wie konnten sie in den Besitz dieser Phiole kommen?“

Ryan schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, aber jetzt ist es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Der Inhalt dieser Phiole wurde in Jun’Aris freigesetzt. Es breitet sich immer weiter aus und verschlingt alles. Der Gral hätte die Verschiebung des Gleichgewichts kompensieren können, wäre er aus der Himmelswelt nicht entwendet worden.“

„Aber er befindet sich wieder an seinem Platz, warum …“

Rayan hob eine Hand und unterbrach ihn. Dann rollte er eine Schriftrolle vor ihm aus. „Hier …“ Er deutete auf eine Stelle in der Mitte der Schriftrolle. „Der Gral ist machtlos. Es gibt nur eine Magie, die stark genug ist, die Macht des Grals zu neutralisieren.“

Sirion überflog den Text und rieb sich besorgt über die Stirn.

„Ihr habt recht …“, bemerkte er entgeistert und sah Rayan hilfesuchend an. Sein Herz raste.

„Der Heilige Gral hat seine Macht verloren“, murmelte Rayan betrübt.

„Aber wie konnte das geschehen?“ Sirions Gedanken überschlugen sich, als er verzweifelt nach einer Antwort suchte. Was hatte er übersehen?

Rayan deutete auf die Schriftrolle und wartete geduldig, bis Sirion sie gelesen hatte.

„Das ist ja furchtbar …“, flüsterte Sirion schließlich entsetzt und schob die Schriftrolle zur Seite. Nun wurde ihm alles klar. „Das Blut des Einhorns hat ihn mit einem Fluch belegt … Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, wird dieser Fluch den Gral verschlingen und uns …“ Sirion wagte es nicht, diesen Satz zu Ende zu sprechen oder gar daran zu denken, was geschehen würde.

„Aber was können wir tun?“, fragte er dann nach einigen Augenblicken der Stille und sah seinen Meister ängstlich an. Dieser schüttelte nur den Kopf. Auch er wusste auf diese Frage keine Antwort. „Ich weiß es nicht …“

KAPITEL 2

Lian saß lächelnd auf einem Stuhl und sah Caylen durchdringend an.

„Was ist?“, fragte dieser nach einer Weile gereizt. Seine Stimme zitterte unter der Anstrengung, seine Wut im Zaum zu halten.

Lian antwortete nicht und wandte den Blick von ihm ab, das Grinsen auf seinem Gesicht verschwand allerdings nicht. „Du hast doch tatsächlich versagt, ihn unter Kontrolle …“

„Schweig!“, fuhr Caylen ihn an und schlug mit der Faust auf den Tisch ein, auf dem er sich niedergelassen hatte.

„Schon gut, schon gut“, meinte Lian und hob kopfschüttelnd die Hände. „Ich sag nichts weiter dazu.“

Caylen murmelte etwas Unverständliches und entfernte sich dann von ihm.

Lian folgte ihm mit seinem Blick und ließ ihn nicht aus den Augen.

In den vergangenen Tagen hatte er vergeblich versucht, Caylen aufzuspüren, der wie vom Erdboden verschluckt schien, bis er plötzlich wie aus dem Nichts wieder vor ihnen stand und tobend vor Wut sein anderes Ich verfluchte.

Es hatte lange Zeit gedauert, bis Lian erfahren hatte, dass der andere Caylen den Heiligen Gral seiner Schwester überreicht hatte und mit letzter Kraft versuchte, sich in den Abgrund des Nichts zu stürzen, ehe sein dunkles Ich die Kontrolle zurückgewinnen konnte und sich selbst vor dem Tod bewahrte.

„Was regst du dich eigentlich so auf?“, fragte Lian nach einer Weile vorsichtig und setzte erneut sein breites Grinsen auf, als Caylen sich ihm zuwandte.

„Warum ich mich so aufrege, fragst du?“, rief er aufgebracht. „Denk doch mal nach, was wir verloren haben! Jetzt, da der Gral wieder im himmlischen Palast ist, kann ich meine Aufgabe nicht mehr erfüllen und Leyla wird für immer hier gefangen sein!“

Lian seufzte mit gespieltem Missmut.

„Da muss ich dich leider enttäuschen“, entgegnete er einige Augenblicke später und setzte ein geheimnisvolles Lächeln auf. „Die Macht des Grals wird bald versiegen, dafür habe ich schon gesorgt. Erinnerst du dich etwa nicht mehr?“

Caylen sah ihn verständnislos an und wartete mit zusammengebissenen Zähnen darauf, dass er weitersprach.

„Ich habe dich nicht nur benutzt, um den Thron zu übernehmen, nein, ich habe viel weiter gedacht. Mein Ziel war nicht allein das Königreich der Dämonen, mein Ziel ist das Ende der Welt“, erklärte er ruhig und beobachtete aufmerksam Caylens Reaktion, ehe er weitersprach. „Zugegeben, dass du die Kontrolle verlierst und den Gral zurückgibst war so nicht geplant, aber das hat das Ende nur aufgeschoben. Bald schon wirst du spüren, dass ich die Wahrheit spreche, denn der Gral wird verschwinden und mit ihm das verfluchte Volk des Himmels. Die Welt wird in Chaos versinken und durch deine Macht wird eine neue Welt aus ihr erstehen. Eine Welt, die wir nach unseren Wünschen gestalten. Du und ich.“

Lian brach in ein euphorisches Gelächter aus.

„Schweig!“, fuhr Caylen ihn schließlich genervt an. „Du benutzt mich nach wie vor für deine Zwecke, das dulde ich nicht!“

„Du hast keine Macht über mich“, entgegnete Lian kühl und baute sich vor ihm auf. „Und ohne mich wirst du die vollkommene Macht der Dunkelheit niemals bekommen. Wir benutzen uns gegenseitig und am Ende streben wir doch nach demselben Ziel, warum vertragen wir uns also nicht und vergessen, was geschehen ist.“

Lian streckte ihm seine rechte Hand entgegen. Seine Augen blitzten.

Caylen schnaubte und kam näher. Er zögerte einen Moment, ehe er Lians Hand ergriff und sie ihren Pakt besiegelten.

„Wage es nicht, mich noch einmal im Unklaren zu lassen“, stieß Caylen unter zusammengebissenen Zähnen hervor und fügte in Gedanken noch hinzu: ‚Das nächste Mal könnte es dich dein Leben kosten.‘

„Was beschäftigt dich?“, fragte Gabriel ruhig und musterte den Mann, der vor ihm am Boden lag, eingehend.

Gabriels Blick folgte dem des Mannes und blieb am hellblauen Himmel haften.

„Was siehst du, Raphael? Die Zukunft?“, fragte er nach einiger Zeit, als Raphael keine Anstalten mache, etwas zu erwidern und gesellte sich schließlich zu ihm.

„Es ist lange her, dass du mich zuletzt besucht hast“, bemerkte Raphael nach einigen Augenblicken und überging so Gabriels Frage. „Was führt dich zu mir? Trägst du eine Nachricht des Herrn mir dir?“

Gabriel schüttelte langsam den Kopf.

„Ist es so ungewöhnlich, deine Gesellschaft zu suchen?“, fragte Gabriel überrascht und strich sich durchs Haar. „Genau so ist es“, entgegnete Raphael lächelnd und bat ihn, sich zu ihm zu setzen.

„Erzähl mir, was dich zu mir führt.“

Gabriel seufzte, ehe er zu sprechen begann und es bereitete ihm sichtlich Unbehagen diese Worte über seine Lippen zu bringen. „Uriel ist verschwunden“, murmelte er schließlich kaum hörbar.

Raphael setzte sich ruckartig auf und sah ihn verwundert an.

„Du meinst, du kannst ihn nicht finden“, hakte er nach und sah Gabriel in die Augen. „Du weißt doch, wie er ist. Immer ein …“

Gabriel hob kopfschüttelnd eine Hand und brachte Raphael so zum Schweigen. „Ich meine es, wie ich es sage. Er ist verschwunden. Weg. Und nichts scheint darauf hinzudeuten, wohin er verschwunden ist.“ „Verstehe …“

Raphael ließ sich wieder zurück ins Gras fallen und starrte erneut in den Himmel, doch sein Blick schien diesen nicht zu sehen. Er verlor sich in der Ferne, wo er etwas ganz anderes zu sehen schien.

Es dauerte einen Moment, ehe er den Kopf zur Seite drehte und Gabriel betrübt ansah.

„Du sprichst die Wahrheit“, bemerkte er verwundert. „Es scheint fast so, als wäre seine Exis…“ Er wagte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen und erhob sich.

„Lass uns die Wächter aufsuchen. Ich habe eine böse Vorahnung …“

Gabriel zog eine Augenbraue nach oben, nickte wortlos und folgte ihm schließlich.

Miriel wälzte sich unruhig hin und her.

Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und sie hatte das Gesicht schmerzvoll verzerrt.

„… Sirion …“, flüsterte sie kaum hörbar, ehe sie plötzlich aufschreckte und sich schwer atmend umsah.

‚Wo … bin ich?‘, fragte sie sich verwundert und rieb sich die Stirn. Ein unsicheres Lächeln ging über ihre Lippen, ehe ihr bewusst wurde, wo sie sich befand. Langsam atmete sie aus und versuchte, sich zu beruhigen. Sie war Zuhause. In Elysion.

Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt und den Gral wieder in ihre Welt gebracht, der das Gleichgewicht wiederherstellen sollte.

„Nein …“, flüsterte sie und schüttelte langsam den Kopf.

‚Das Gleichgewicht ist nicht wiederhergestellt … Unsere Welt schwindet noch immer …‘, dachte sie betrübt und schob die seidene Decke von sich.

Es war wieder dasselbe.

Ein jedes Mal, wenn sie erwachte, konnte sie es fühlen. Das Licht verblasste und das, was sie ihre Heimat nannte, begann zu verschwinden. Obwohl sie es nicht sehen konnte, so wusste sie doch, dass es erneut begonnen hatte und bereits ihre Welt bedrohte. Das Chaos. Das Nichts.

Langsam kroch sie aus dem Bett heraus und sank auf der kühlen Bettkante nieder, ehe sie sich erhob und zum Fenster hinüber schritt.

Der sanfte Wind wehte durch die große Öffnung herein und versuchte, ihr Trost zu spenden, doch sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte.

Die Wächter wollten sie nicht mehr empfangen und sie hatte niemandem, mit dem sie über ihre Sorgen sprechen konnte.

Was also sollte sie tun? Was konnte sie tun?

Dann kam ihr Sirion in den Sinn.

Er hatte nach ihr gerufen, sie gebeten, zurückzukommen. Er schien verzweifelt, doch Miriel hatte nicht die Kraft gefunden, seinem Ruf zu folgen. Etwas schien sie davon abzuhalten und sie wurde das Gefühl nicht los, immer schwächer zu werden.

Wieder und wieder ging sie ihre Sorgen in Gedanken durch, bis sie sich schließlich dazu entschied, Sirion um Hilfe zu bitten.

Vielleicht vermochten sie es gemeinsam eine Lösung zu finden, immerhin hatten sie es gemeinsam geschafft, den Gral zurückzubringen. Dann erinnerte sie sich, dass sie es ohne Caylen womöglich nicht geschafft hätten und ihr Mut sank.

Traurig blickte sie zu Boden und auf das Wasser, das im hellen Sonnenlicht erstrahlte und dem Raum zusätzliches Licht spendete.

Dann kniete sie sich nieder und betrachtete ihr Spiegelbild in der unbewegten Oberfläche des Wassers.

Langsam hob sie ihre rechte Hand und tapste das Wasser mit ihrem Finger an. Kleine Kreise umzogen ihren Finger, die sich immer weiter, in immer größeren Ringen, ausbreiteten und ihr Spiegelbild verzerrten.

‚Bin das wirklich … ich?‘, fragte sie sich zögernd und wartete geduldig, bis sich die Wasseroberfläche wieder beruhigt hatte. Dann starrte sie sich erneut an und Tränen begannen in ihren Augen zu brennen.

Langsam strich sie sich durch das weiße Haar und zog es über ihre Schulter nach vorne, wo es die Wasseroberfläche streichelte und erneut große Kreise die Oberfläche durchzogen.

Einen Moment lang rührte sich Miriel nicht. Ihr Blick ging in die Ferne, bis schließlich ein Lächeln ihre Lippen berührte. Sie hatte ihn gefunden.

Gedankenverloren erhob sie sich und ging nach draußen.

Schneeweiße Schwingen brachen aus ihrem Rücken hervor und sie erhob sich langsam in die Lüfte.

Elena verneigte sich tief, als Raphael und Gabriel sich ihr näherten.

„Wir ersuchen Euren Rat“, begrüßte Raphael sie lächelnd und verneigte sich ebenfalls. Gabriel hielt sich hinter ihm einige Schritte entfernt.

„Ihr werdet erwartet, folgt mir“, meinte Elena und bedeutete ihnen, ihr zu folgen.

Sie führte sie durch die Hallen des himmlischen Palastes, bis sie schließlich den Raum betraten, in dem der Heilige Gral aufbewahrt wurde.

Dieser thronte in der Mitte des Raumes auf einem kleinen Altar.

Raphaels Augen weiteten sich und er sank vor dem Altar auf die Knie. Es war das erste Mal in seinem langen Leben, dass er den Gral zu Gesicht bekam, und sein Herz begann höher zu schlagen.

„Was geschieht hier?“, bemerkte Gabriel schließlich mit kühler Stimme und trat neben Raphael, der sich langsam erhob und ehrfurchtsvoll den Gral ansah.

Gabriel hatte recht. Das Licht des Grals schien zu verblassen.

„Die Macht des Grals schwindet“, hörten sie eine leise Stimme hinter sich sprechen. „Das Gleichgewicht verschiebt sich und das Chaos hat Einzug gehalten in unsere heilige Welt.“

Jetzt trat die Frau, der die Stimme gehörte, nach vorne und gesellte sich zu den beiden. Es war Bell, die älteste und weiseste der Wächter.

Raphael nickte langsam.

„Wisst Ihr etwas über den Verbleib Uriels? Er ist ver…“ Bell hob eine Hand und brachte ihn damit zum Schweigen. „Sprecht nicht davon“, entgegnete sie knapp und kniff die Augen zusammen, dann wandte sie sich Elena zu.

„Bitte Telial und Celevrin zu uns.“ Elena nickte knapp und verschwand.

Verwundert sah Raphael zu Gabriel hinüber. Dieser zog nur eine Augenbraue nach oben und schwieg. Beide konnten spüren, dass etwas nicht stimmte, doch keiner wagte es, etwas zu sagen. Stattdessen standen sie schweigend vor dem kleinen Altar und starrten den Gral an, bis sie plötzlich ein leises Knacken vernahmen, das die Stille durchzog.

Ein weiteres Knacken folgte kurze Zeit darauf und Raphael stellte überrascht fest, dass es der Gral war.

Kleine Risse hatten sich in ihm gebildet, die sich immer weiter ausbreiteten und vermehrten.

„Ehrwürdige Bell, seht doch!“, rief Raphael entsetzt und wandte sich ihr zu. Bell nickte langsam; sie wusste es bereits.

„Wir werden das Ritual der Reinigung vollziehen“, erklärte sie schließlich und kam näher. „Ein Fluch liegt auf diesem heiligen Objekt des Lichts.“

„Ein Fluch?“, flüsterten Gabriel und Raphael wie aus einem Mund und sahen Bell an, als wäre sie verrückt geworden.

„Vergebt mir, ehrwürdige Bell,“, Raphael senkte entschuldigend den Kopf, „kein Fluch vermag es, die Macht unseres Herrn zu brechen.“

Bell schüttelte traurig den Kopf. „Eine Macht gibt es. Nur eine …“ Sie schwieg einen Moment und legte sich ihre nächsten Worte zurecht.

„Ihr meint …“ Gabriel nickte verstehend. „… das Blut eines Einhorns.“ Bell nickte bestätigend. „In der Tat. Der Gefallene hat ihn mit ihrem Blut besudelt und uns alle dem Tod geweiht. Der Gral vermag nicht länger das Gleichgewicht zu wahren. Er wird verschwinden. Zusammen mit uns allen, zusammen mit der ganzen Welt.“

Raphael zuckte zusammen und dachte nach. Er besaß die Macht der Heilung und seine Magie war stark. Sollte es ihm nicht möglich sein, den Fluch zu entfernen?

„Gebt mir eine Chance“, bat er leise und trat an den beiden vorbei. Langsam streckte er eine Hand aus, zögerte aber, den Gral zu berühren.

„Was habt Ihr vor?“, fragte Bell misstrauisch und kam näher.

„Lasst ihn gewähren, ich bitte Euch“, bat Gabriel und hielt Bell zurück. „Er weiß, was er tut.“

Raphael atmete tief ein, ehe er den Gral ergriff und eingehender betrachtete. Der untere Teil des Grals begann sich allmählich schwarz zu verfärben und er konnte spüren, wie der Fluch seine Macht immer mehr entfaltete.

Er stellte den Gral wieder auf den Altar und hob seine linke Hand über ihn. Dann schloss er die Augen und murmelte etwas Unverständliches. Der Gral wurde in schwaches Licht gehüllt und für einen Moment hatte es den Anschein, als würde die schwarze Färbung verschwinden und die Risse sich schließen.

Ein Lächeln kroch auf Raphaels Gesicht, doch im nächsten Moment verfinsterte sich sein Blick, als er feststellen musste, dass seine heilenden Kräfte zu schwach waren, um den Gral vollständig wiederherzustellen.

Resigniert ließ er den Kopf hängen und überlegte.

Eine Chance blieb ihm noch. Eine Macht, die nur er besaß. Eine verbotene Macht. Doch was hatte er schon für eine Wahl? Es stand zu viel auf dem Spiel. Er musste es tun.

„Zieht Euch zurück, Raphael“, hörte er Celevrins laute Stimme hinter sich sagen.

Ein Seufzen entrann Raphaels Kehle, als er sich geschlagen zurückzog und Celevrin Platz machte.

„Geht jetzt. Dieses Ritual ist nicht für Eure Augen bestimmt.“

„Aber …!“, warf Raphael ein, doch Gabriel zog ihn mit sich.

Als sie den Raum verlassen hatten und die Türen verschlossen waren, blieb er stehen.

„Unsere Magie ist nicht stark genug. Was hast du dir nur dabei gedacht?“, fuhr Gabriel ihn kopfschüttelnd an. „Dieser …“

„Es hat funktioniert“, murmelte Raphael leise und unterbrach ihn. Gabriel zog eine Augenbraue nach oben und musterte seinen alten Freund eindringlich. „Für einen Moment hat es funktioniert. Ich konnte es sehen, doch dann wurde ich unterbrochen … verdammt! Ich besitze die Macht dazu!“ Raphael schlug mit der flachen Hand gegen die Wand, bereute dies aber beinahe sofort wieder und rieb sich die schmerzende Stelle.

„Lass uns von hier verschwinden“, meinte Gabriel schließlich und legte Raphael besänftigend eine Hand auf die Schulter. „Das Ritual wird erfolgreich sein, vertrau auf die Magie der Wächter.“

Raphael schnaubte und warf einen sehnsüchtigen Blick zurück. „Das kann ich nicht.“

Mit diesen Worten stapfte er davon und ließ Gabriel stehen.

„So warte doch!“, rief dieser ihm nach und folgte ihm dann schließlich.

Nachdenklich rieb sich Sirion die Stirn.

Warum war er nicht eher darauf gekommen?

Die Lösung ihres Problems lag doch so offensichtlich vor ihm, wie hatte er dies nur übersehen können?

Hätte er von Anfang an getan, was der Hohe Rat vom ihm verlangt hatte, so hätten all jene unschuldigen Menschen noch immer am Leben sein können.

Er hatte versagt.

‚Vergebt mir …‘, dachte er resigniert und ließ den Kopf hängen.

„Und doch hättest du ihr Schicksal nicht abwenden können, denn du allein besitzt nicht die Macht, diese Welt zu retten“, hatte der Älteste zu ihm gesagt, doch Sirion konnte und wollte das nicht glauben. Es war seine Schuld, dass all die Unschuldigen ihr Leben lassen mussten. „Finde die anderen! Gemeinsam vermögt ihr es vielleicht, dieses Wunder zu vollbringen.“

Die Teala bargen die Macht der Elemente in sich: Feuer, Wasser, Erde, Luft, Dunkelheit und zuletzt das Element des Lichts. Jedes von ihnen repräsentierte eines dieser Elemente. Sie waren die Wächter, die Hüter dieser unvorstellbaren Kräfte, und nur wenige Wesen waren dazu auserkoren, anstelle dieser Wächter über ein Element zu herrschen.

Sirion dachte nach.

Rayan hatte seine Verbindung zum Element der Luft vorhergesehen, doch wie konnte er die anderen fünf Auserwählten finden? Und wie konnte er den Wächter des Elements der Lüfte aufspüren? Was musste er tun, um sich als würdig zu erweisen?

Ein Seufzer ging über seine Lippen, als er auf immer mehr Fragen stieß, die einer Antwort bedurften.

„Das ist sinnlos …“, flüsterte er kaum hörbar und sank mit angewinkelten Knien an der Wand zu Boden.

Das kühle Gestein an seinem Rücken holte ihn schließlich in die Realität zurück und ließ ihn erneut deprimiert seufzen, als ihm ein Schauder über den Rücken rann.

Er musste einen Weg finden, die Wächter aller Elemente aufzuspüren und sich mit ihnen zu verbinden.

Plötzlich kam ihm Miriel in den Sinn und er schüttelte enttäuscht von sich selbst den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit, Erinnerungen nachzuhängen. Er musste handeln, ehe es zu spät war, doch der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.

Miriel war etwas Besonderes, das war ihm vom Tag ihrer ersten Begegnung an klar. Doch was war es, das sie so besonders machte?

Waren es nur sehnsüchtige Gefühle, die er ihr entgegenbrachte?

‚Nein … da ist noch etwas anderes …‘, dachte er und versuchte, diesen Gedanken zu greifen, der ihm eben durch den Kopf schoss. Doch sobald er glaubte, ihn fassen zu können, verschwand er und alles andere mit ihm.

„Das bringt mich nicht weiter … nur Wunschdenken meinerseits …“, murmelte er nachdenklich und ließ den Kopf zurück gegen die Mauer fallen, bis sein Blick an die hohe Decke glitt.

„Sie ist wie das Licht …“, flüsterte er schließlich und streckte eine Hand nach oben, wo er versuchte, etwas Unsichtbares zu greifen.

„Sie ist wie das Licht. Die Aura, die sie umgibt, ist rein … und sie …“ Er riss die Augen weit auf und sprang auf.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739463698
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Gut gegen Böse Magie Einhorntränen Fantasy Dämonen Engel Elementmagie Elementwesen Romantasy Episch High Fantasy Romance

Autor

  • Stephanie Rose (Autor:in)

Stephanie Rose, am 15.05.1987 in Heilbronn am Neckar geboren und im beschaulichen Städtchen Gundelsheim aufgewachsen, wurde die künstlerische Begabung von ihrem Vater, einem Goldschmiedemeister und erfolgreichen Maler expressionistischer Werke, in die Wiege gelegt. Ausgestattet mit einer regen Fantasie und stets fasziniert von Mythen und fantastischen Geschichten verfasste sie bereits während der Schulzeit Gedichte und Kurzgeschichten.
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Titel: Die Tränen der Einhörner II: Die Prophezeiung