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Sieh, was du getan hast

Sammelband

von Nicole Siemer (Autor:in)
492 Seiten

Zusammenfassung

***Zwei preisgekrönte Horrorjuwelen in einem Sammelband***

AKUMA:

»Armer Akuma. Zu böse, um ein Engel zu sein. Zu gut für einen Dämon.«

Charmant und bitterböse wird hier die Geschichte einer jungen Frau erzählt, in deren Körper ein Dämon haust. Akuma heißt der Plagegeist. Ein dauergelangweiltes, launisches Wesen aus den Tiefen der Hölle, das immer einen Spruch auf Lager hat. Er kann witzig sein, sogar freundlich, doch ein Dämon bleibt ein Dämon und so ist es nicht leicht für Kjara, ein normales Leben zu führen. Denn in Akuma lauert eine dunkle Seite, eine wilde Seite, geifernd nach Gewalt, Blut und Rache.

Mit Witz, Charme und einem Schuss Horror ist AKUMA ein Fantasy-Thriller, wie es ihn noch nie gegeben hat. Lassen Sie sich nach Grubingen entführen. In eine Stadt, in der alles möglich ist und in der die Dämonen unter uns wandeln. Manchmal anders, als wir es erwartet hätten.
 
EPIPHANIE:

»Sieh, was du getan hast, Eddie!«

Der forensische Psychiater Doktor Phillip Meiners soll Eddie Quinn, einen vermeintlich psychisch gestörten Serienmörder, begutachten und dessen Schuldfähigkeit beurteilen. Im Gefängnis von Grubingen treffen die Männer zum ersten Mal aufeinander.

Eddie schwört auf seine Unschuld. Immer wieder erwähnt er eine Gestalt, die er den „Unheimlichen Mann“ nennt. Er ist bereit, Meiners seine Geschichte zu erzählen. Doch er warnt ihn auch. Hat der Unheimliche Mann ihn erst einmal bemerkt, wird er bleiben. Und er wird jeden umbringen, der sich zwischen sie drängt.

Sitzung für Sitzung wird Doktor Meiners tiefer in den Fall hineingezogen, erkennt Parallelen zu Eddie, denn wie dieser, trägt auch er eine Bürde. Schon bald beginnt Meiners zu zweifeln. Ist Eddie tatsächlich unschuldig? Gibt es den Unheimlichen Mann? Und falls ja ...

Psycho-Horror, der unter die Haut geht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Sieh, was du getan hast!

 

Nicole Siemer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sammelband

Einleitung

 

Sieh, was du getan hast! Nervenkitzel, Spannung, Gänsehaut und Horror – dieser Sammelband vereint zwei Geschichten, die unter die Haut gehen. Geschichten über Dämonen, die in den Tiefen des Verstandes lauern und über Monster, die uns aus der Finsternis heraus beobachten. Wartend, geifernd. Epiphanie und Akuma: Das Grauen erwartet dich bereits.

Epiphanie

Sieh, was du getan hast, Eddie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Psycho-Horror

Kapitel 1 – Erste Begegnung

 

Abgründe. Jeder Mensch besitzt sie. Sie lauern im Verborgenen, oft unerforscht, zuweilen verdrängt. Einige sind bodenlos. Manche von solch einer Schwärze erfüllt, dass sie endlos erscheinen. Und in manch einem Abgrund lauern weitere Schlünde. Schlünde, die besser verschlossen geblieben wären.

– Dr. Phillip Meiners

 

* * *

 

›Hausbesuche‹, wie Meiners sie nannte, gehörten zu den interessantesten Teilbereichen seiner Arbeit. In der Psychiatrie war er immer mit denselben weißen Wänden konfrontiert. Denselben langen Fluren und sterilen Büros. Besuchte er einen Patienten im Gefängnis, schlug sein Herz jedes Mal ein bisschen schneller. Er war nervös, sogar etwas aufgekratzt – eine willkommene Abwechslung zu der Wut und der alles verschlingenden Melancholie, die ihn sonst erfüllten.

Das Gefängnis in Grubingen besaß ebenfalls lange Flure. Sie waren grau und strömten Gefahr aus. Stimmen und der Klang von Gegenständen, die gegen die Stäbe der Zellen geschlagen wurden, hallten durch das Gebäude.

Meiners versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, während er dem Wärter – einem breitschultrigen Mann mit kurzgeschorenen Haaren, der sich mit dem unpassenden Namen Benjamin vorgestellt hatte – folgte.

»Hey Süßer!«

Pfeifen.

»Verfickter Hurensohn!«

Schnarchen.

Meiners blickte starr geradeaus, ignorierte die Bemerkungen und Geräusche der Gefangenen links und rechts von ihm. Er fühlte sich an Das Schweigen der Lämmer erinnert und es hätte ihn nicht überrascht, wenn ihn am Ende des Ganges ein Stuhl erwartet hätte, der auf eine Glasscheibe gerichtet war, hinter der Hannibal Lecter ihn bereits mit verschlagenem Grinsen erwartete.

Es gab keinen Stuhl. Und keine Glasscheibe. Die Zelle unterschied sich nicht von den anderen. Grau und trostlos. Meiners musste zweimal hinsehen, um die Gestalt zu erkennen, die neben dem Bett kauerte. Im ersten Moment glaubte er, dort säße ein Kind. Tatsächlich handelte es sich um einen dürren Mann, der die Knie angezogen hatte und den Kopf darauf stützte. Sein Alter ließ sich aus der Entfernung nicht erraten, der Akte zufolge, war er 27 Jahre alt.

Als Meiners die Zelle betrat, die dunklen Augenringe und das eingefallene Gesicht des Mannes betrachtete, drehte er sich zu Benjamin um und flüsterte: »Das ist er? Ganz sicher?«

Benjamin grunzte etwas, das wie eine Mischung aus »Ja« und »Was für eine bescheuerte Frage«, klang, verließ die Zelle und schloss hinter Meiners ab.

Der Gefangene schien noch immer nicht bemerkt zu haben, dass er einen Besucher hatte. Oder aber es interessierte ihn nicht. Er blickte geradeaus, die Augen glasig ins Leere gerichtet. Würde sich seine Brust nicht rhythmisch heben und senken, hätte Meiners nicht unterscheiden können, ob ein lebender Mensch oder eine Leiche vor ihm saß.

Fasziniert betrachtete Meiners ihn eine Weile, ohne etwas zu sagen. Dann entdeckte er einen Stuhl in der Ecke – aha, also doch ein Stuhl –, schob ihn in die Mitte des Raumes, schlug seine Akte auf und setzte sich. Das Möbelstück knarzte, erst jetzt bemerkte Meiners, wie still es plötzlich geworden war.

Unheimlich, dachte er und holte aus der Innentasche seines Jacketts Notizbuch und Kugelschreiber hervor.

»Guten Tag, Herr Quinn. Mein Name ist Doktor Phillip Meiners. Ich bin Ihr forensischer Psychiater und freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie dürfen mich Meiners nennen, wenn Sie mögen. Bei meinem Vornamen nennt mich kaum jemand, ich sehe wohl nicht wie ein Phillip aus.« Er lächelte, wurde aber direkt wieder ernst, da keine Erwiderung folgte. »Darf ich Sie Eduard nennen? Oder lieber Herr Quinn?«

Meiners wartete.

»Eddie«, flüsterte der Mann so leise, dass er kaum zu verstehen war.

»Eddie? Sie wollen Eddie genannt werden?«

Endlich erwachte der Gefangene aus seiner Starre, blinzelte und blickte zu Meiners auf. Dann nickte er.

»Gut, Eddie«, sagte Meiners. »Sie mögen Ihren Vornamen wohl nicht, richtig?«

Eddie zuckte die Achseln. »So wurde ich schon immer genannt.«

»Wieso hocken Sie auf dem Boden? Ist das Bett zu unbequem?«

»Da sitzt er immer.«

Meiners wurde hellhörig. »Er?«

Eddie antwortete nicht. Er betrachtete Meiners mit seinen schmalen, dunkelblauen Augen und neigte den Kopf leicht zur Seite. Er schien zu überlegen. Vielleicht, ob er dem Kerl im Anzug, der mit übergeschlagenen Beinen und einer Akte in der Hand vor ihm saß, trauen konnte. Oder versuchte er, ihn gar zu analysieren? In den Augen des Mannes lag ein Schimmer, der Meiners irritierte. War es Weisheit? Boshaftigkeit? Unmöglich, es zu deuten. Zumindest noch nicht. Etwas sagte ihm, dass Eddie mehr war, als er auf den ersten Blick zu sein schien. Seine schmächtige Gestalt, das ungewaschene Haar, die verwahrloste Erscheinung. Schauspielerte er nur? Verbarg sich hinter seinem unscheinbaren Auftreten ein perfider Mörder? Oder lauerte eine dunkle Seite in ihm, von der er nicht einmal etwas wusste? Wie konnte jemand wie Eddie Quinn, solch grausame Taten begehen?

Meiners hatte in seiner Laufbahn als forensischer Psychiater schon Vieles gesehen: dissoziale Verhaltensstörungen, dissoziative Identitätsstörungen, Fälle von Schizophrenie, suizidale Personen, eben alles, was die menschliche Psyche zu bieten hat. Auf den ersten Blick wirkte Eddie wie ein ganz normaler Patient mit Anzeichen einer Paranoia. Doch irgendetwas an ihm war anders. Meiners wusste nicht, was es war, das entfachte eine Neugier, die er seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Eine Neugier, von der er geglaubt hatte, sie verloren zu haben. Ein Kribbeln breitete sich von seinen Fingerspitzen aus. Er konnte es kaum erwarten, mehr über diesen ungewöhnlichen Mann zu erfahren. Um seine Vorfreude zu verbergen, saugte Meiners kurz an seinen Lippen und wechselte das übergeschlagene Bein.

»Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein«, begann er und schlug die Akte zu. »Ihnen werden ein paar unschöne Dinge vorgeworfen, Eddie. Sie stehen im Verdacht, mindestens drei Morde begangen zu haben. Ist Ihnen das bewusst?«

Eddie nickte. Meiners machte sich einen entsprechenden Vermerk in seinem Notizbuch. »Ich bin hier, um Ihre Schuldfähigkeit zu prüfen. Und …«

»Halten Sie mich für schuldig, Doktor Meiners?«

Meiners verzog keine Miene. Eine Frage, die er schon unzählige Male gehört hatte. »Das weiß ich nicht, Eddie. Aber es ist meine Aufgabe, das herauszufinden und so lange bleibe ich neutral. Ich halte Sie weder für schuldig noch für unschuldig bis ich zu einem Ergebnis gelangt bin. Aber Sie machen auf mich einen ehrlichen und intelligenten Eindruck. Ich denke, wir werden uns in Ruhe unterhalten können. Ich bitte Sie, wirklich aufrichtig zu sein, denn nur so kann ich Ihnen helfen. Verstehen Sie?«

»Ich bin kein Mörder, Doktor.«

»Wissen Sie, wer Ihre Mutter ermordet hat?«

Eddie zögerte.

»Eddie, wenn Sie etwas wissen, müssen Sie es mir sagen. Kennen Sie den Mörder? Ist er auch für die anderen Morde verantwortlich?«

Weiteres Schweigen.

»Ist der Mörder gerade hier bei uns?«

Eddie schluckte hörbar, dann schüttelte er langsam den Kopf.

Meiners zückte den Kugelschreiber. Kritzelte: Anzeichen für Wahnvorstellung vorhanden. Paranoide Schizophrenie? Als er wieder aufblickte, betrachtete Eddie ihn prüfend.

»Glauben Sie an paranormale Phänomene, Doktor?«

»Nun, ich glaube an das Gute und das Böse und dass beide Seiten uns allen innewohnen. Und ich glaube, dass das Böse manchmal an Macht gewinnt und Besitz von uns ergreift, sodass wir durch es gelenkt werden. Zwar bin ich davon überzeugt, das Gute überwiegt bei den meisten Menschen, doch ebenso, dass es Einige gibt, die sich vom Bösen leiten lassen.«

»Das war nicht meine Frage.«

»Falls Sie an Geister oder Dämonen gedacht haben, muss ich Sie enttäuschen.«

»Glauben Sie an den Himmel und die Hölle?«

»Glauben Sie daran?«

Eddie schmunzelte, antwortete dann aber doch. »Ich glaube an den Teufel, nicht an Gott.«

»Wieso nicht?«

»Gott hat uns schon vor langer Zeit verlassen. Vielleicht, weil er gesehen hat, was aus seiner Schöpfung geworden ist. Vielleicht aus Langeweile. Niemand ist da, der uns vor dem Teufel beschützt. Wir sind allein.«

»Denken Sie, der Teufel hat von Ihnen Besitz ergriffen, Eddie?«

Eddie stieß ein schallendes Lachen aus, bei dem Meiners überrascht zusammenzuckte.

»Seien Sie nicht albern, Doktor. Warum sollte der Herr der Hölle in einen einzelnen Menschen fahren? Ich glaube nicht an Besessenheit, aber ich glaube an Dämonen und daran, dass sie uns manchmal heimsuchen.«

Meiners schrieb stichpunktartig mit, was Eddie ihm erzählte und bemerkte, dass der Mann jedes Mal das Gesicht verzog, sobald er den Stift angesetzt hatte. Er entschied, ihn später nach dem Grund zu fragen.

»Sprechen die Dämonen mit Ihnen, Eddie?«

»Ich könnte Ihnen erzählen, was mir widerfahren ist. Aber welchen Sinn macht das, wenn Sie mir doch nicht glauben?«

»Überzeugen Sie mich.«

Eddie zögerte.

»Ich werde nicht lachen. Ich werde Sie nicht verurteilen. Ich möchte einfach nur die Wahrheit erfahren. Wenn Sie diese Morde nicht begangen haben, aber den Täter kennen, erzählen Sie mir von ihm. Was haben Sie zu verlieren? Im besten Fall kann ich beweisen, dass Sie schuldunfähig sind.«

»Indem Sie mich für verrückt erklären.«

»Halten Sie sich für verrückt?«

»Als ich ein Junge war, tat ich es. Heute weiß ich, dass es ihn tatsächlich gibt und dass er diese Menschen ermordet hat.

Also gut, ich erzähle Ihnen meine Geschichte. Entweder glauben Sie mir am Ende, oder eben nicht. Ich weiß, dass ich kein Mörder bin, aber ich bin dennoch schuldig.«

»Wer hat die Morde begangen, Eddie?«

»Der Unheimliche Mann.«

Meiners notierte. »Ist er eine Stimme in Ihrem Kopf?«

Eddie schnaufte. »Er ist mein Schatten. Er ist immer da, selbst wenn ich ihn nicht sehe. Es gibt Dämonen, Doktor Meiners, und Sie müssen sich im Klaren sein, dass auch Sie in Gefahr sind, wenn ich Ihnen von dem Unheimlichen Mann erzähle. Wollen Sie mir dennoch zuhören?«

»Das möchte ich.« Meiners spürte die Aufregung in ihm aufwallen. Er wollte diese Geschichte unbedingt hören. Trotzdem zogen sich seine Eingeweide ein Stück weit zusammen. Hatte er etwa Angst davor? Nie zuvor hatte ein Patient derartiges Interesse in ihm geweckt. Was war es, das Eddie besonders machte?

»Wieso halten Sie sich für schuldig, Eddie?«

»Weil ich den Unheimlichen Mann beschworen habe.«

 

Kapitel 2 – Eddie und der Tod

 

Eddie betrachtete den großen Mann mit der sportlichen Figur, der markanten Nase und den grau melierten Haaren. Er wirkte wie ein Anwalt oder Bankangestellter auf ihn. Doch sobald Meiners den Mund aufmachte, gab es keinen Zweifel mehr: Vor ihm saß ein Seelenklempner.

Trotzdem. Irgendetwas an dem Psychiater faszinierte Eddie. Waren es die traurigen Augen oder doch die Schrammen auf den Fingerknöcheln der rechten Hand. Auf den ersten Blick wirkte Meiners sauber, bei genauerer Betrachtung schimmerte jedoch etwas Dunkles hindurch. Etwas, das Eddie anzog und bannte. Der Psychiater gab an, nicht an paranormale Phänomene zu glauben, doch er sprach über das Böse wie von einer Art Dämon, der in den Menschen hauste. Und wie er davon redete, schien es, als lebte so ein Dämon in ihm.

»Was haben Sie schon zu verlieren?«, fragte Doktor Meiners.

Er hatte recht. Entweder wurde er schuldig gesprochen und zu Unrecht angeklagt, seine Mutter und weitere nahestehende Bekannte ermordet zu haben, oder aber, man erklärte ihn für verrückt. Er würde Meiners in seine forensische Psychiatrie begleiten, wo er unter Beobachtung stehen würde für den Rest seines Lebens. Sollte es so sein, wäre sein Umfeld sicher. Vielleicht würde es den ein oder anderen Patienten erwischen. Mörder. Schänder von Frauen und Kindern. Von den Unschuldigen, falls es sie gab, würde er Abstand halten. Keine Freundschaften erlauben. Ja, der Gedanke gefiel ihm. Vielleicht würde auch Er dann endlich verschwinden.

Meiners wirkte wie ein Mann, der fähig war, eine Schuldunfähigkeit vor Gericht zu beweisen. Er müsste nur lange genug überleben, um es tatsächlich zu schaffen.

 

* * *

 

Das erste Mal sah ich den Unheimlichen Mann, als ich acht Jahre alt war. Wir begruben gerade meinen Goldfisch, Eddie Junior, und meine Mutter sprach ein paar liebe Worte, weil mir nichts eingefallen war.

Eddie Junior war mein erster Goldfisch gewesen, ich hing wirklich sehr an ihm. Trotzdem weinte ich nicht. Ich wollte es, aber es ging nicht. Ich kann mich nicht erinnern, als Kind jemals geweint zu haben.

Das ist seltsam, nicht wahr? Ma hatte es befremdlich gefunden. Jedes Mal, wenn ich gestürzt war, oder mir das Knie aufgeschürft hatte, hatte sie mich mit diesem prüfenden Blick betrachtet. Gefragt, ob ich nicht weinen müsste. Wenn ich dann verneinte, sah sie mich immer seltsam an. Mit einer Mischung aus Sorge und Abschätzigkeit, so als fragte sie sich, ob ihr Junge ganz richtig im Kopf wäre.

Meine Mutter war eine tolle Frau. Sie zog mich ganz alleine groß, seit mein Erzeuger uns verlassen hatte. Damals war ich drei Jahre alt.

Ma sprach nie darüber, doch Kinder sind neugierig und als ich an einem Tag gar nicht aufhören wollte, Fragen zu stellen, erzählte sie mir, es habe eine andere Frau in seinem Leben gegeben. Danach hatte ich mich entschieden, in meinem Vater nur noch einen Erzeuger zu sehen.

Während wir an Eddie Juniors Grab standen und meine Mutter erzählte, was für ein toller Goldfisch er gewesen war, ließ ich den Blick über den Garten schweifen. Da sah ich ihn. Neben dem Brombeerstrauch stand eine Gestalt. Ein Mann. Er war groß und trug einen langen Mantel, der bis zum Boden reichte und in dessen Taschen er seine Hände vergraben hatte. Außerdem einen Hut mit breiter Krempe wie ein Cowboy, die das Gesicht vor mir verborgen hielt. Im ersten Augenblick dachte ich an einen Schatten, weil die Gestalt sich nicht regte und aus reiner Dunkelheit zu bestehen schien, doch je länger ich hinsah, desto sicherer war ich mir, dass dort drüben ein Mann stand, der uns beobachtete.

»Wer ist das, Ma?«, fragte ich und zeigte auf die Gestalt neben dem Brombeerstrauch.

Mas Blick folgte der Richtung, in die mein Finger deutete. »Wen meinst du?«

»Den Mann da, Ma. Der in dem Mantel.«

Sie strich mir über den Kopf. Ich wandte den Blick von der Gestalt ab, um ihr in die Augen zu sehen. Sie betrachtete mich mit demselben Blick, wie jedes Mal, wenn sie sich fragte, weshalb ich nicht weinen konnte.

»Da ist niemand, Schatz. Nur der Busch.«

»Doch, Ma. Guck!« Ich sah wieder zum Brombeerstrauch – die Gestalt war verschwunden. »Wo ist er hin?«

»Geh schon mal ins Haus, ja? Ich schütte noch schnell die Erde zu.«

»Ist Eddie Junior jetzt im Himmel, Ma?«

»Ja. Er ist jetzt bei ganz vielen anderen Goldfischen und schwimmt in einem gewaltigen Meer, viel größer als das kleine Goldfischglas.«

»Warum liegt er dann da unten?« Ich blickte auf den winzigen orangeroten Körper hinab, der so regungslos im Dreck lag. Sandkörner bedeckten seine Schuppen. Mir war, als starrte er mich mit weit aufgerissenem Auge und offenen Mund an. Ich möchte nicht in die Erde, schien er zu schreien und mit einem Mal wollte ich nicht länger, dass Eddie Junior begraben wird.

»Das ist nur sein Körper, Schatz. Seine Seele, die ist jetzt im Himmel.«

»Was ist eine Seele?«

»Das was ihn zu dem tollen Fisch gemacht hat, der er war.«

»Habe ich auch so eine?«

»Ja, wir alle haben eine Seele.«

»Uii!«

»Und jetzt marsch, marsch ins Haus. Ich koche uns gleich was Schönes.«

»Gibt es Pizza?«

Ma seufzte. »Nein.«

Ich zog einen Schmollmund, gehorchte jedoch.

 

* * *

 

Am Abend lag ich im Bett und starrte zur Decke. Eddie Juniors Tod beschäftigte mich. Zuvor war ich nie mit dem Tod konfrontiert worden, aber anstatt traurig zu sein, war Neugier in mir entflammt.

Ich fragte mich, was mit den Menschen geschah, nachdem sie starben. Ob alle Lebewesen an denselben Ort gelangten? Die Toten konnten unmöglich auf ewig in einem Meer schwimmen. Der Gedanke ließ mich frösteln, denn ich fürchtete mich vor Wasser. Ich fürchtete mich, vor der Dunkelheit, die unter der Oberfläche lauerte und vor dem, was sich darin verbarg. Diese Angst hatte ich schon, seit ich denken konnte.

Weil er mich gruselte, schüttelte ich den Gedanken an das Meer ab, fragte mich stattdessen, ob ich Eddie Junior wiedersehen würde, sobald auch ich eines Tages gestorben wäre.

Ob mein Erzeuger noch lebt?

Der Gedanke traf mich wie aus dem Nichts. Ich dachte selten über ihn nach und wenn es doch mal passierte, überraschte es mich immer wieder. Manchmal war mir, als spräche jemand anderer diese Gedanken aus. Als wollte diese Stimme in mir, dass ich mich erinnerte. Daran, dass ich einen Vater hatte. Irgendwo.

Bei der Überlegung, ob mein Erzeuger tot sein könnte, regte sich nichts in mir. Ma hatte mir erzählt, dass er fortgelaufen war. Wieso also, sollte er gestorben sein. Sicher lebte er irgendwo mit einer anderen Ma und einem anderen Sohn.

Aber wenn er gestorben wäre … Besaß jemand wie er überhaupt eine Seele? Hatte sie ihn verlassen, weil er so etwas Schreckliches getan hatte, wie Frau und Kind zurückzulassen? Vielleicht lag sein Körper jetzt an einem unbekannten Ort unter der Erde mit den gleichen glasigen Augen und dem geöffneten Mund, wie Eddie Junior.

Die Vorstellung machte mir Angst. Ich zwang mich, wieder an meinen Goldfisch zu denken. Es gelang mir nicht so recht, also schloss ich die Augen, um ein wenig zu schlafen.

Mitten in der Nacht schreckte ich auf. Ich hatte geträumt, langsam zu ertrinken. Es war kalt gewesen und meine Kleidung hatte sich mit Wasser vollgesogen, sodass sie mich nach unten zog. Über mir konnte ich die Oberfläche sehen und den Mond, der verzerrt auf mich herabsah. Meine Lunge füllte sich mit Wasser, ich versuchte, zu schreien, mich nach oben zu kämpfen. Und während ich hinabsank, wusste ich, dass sich unter mir etwas bewegte. Etwas so Schreckliches, dass es mich wahnsinnig machen würde, sobald ich es erblickte. In diesem Moment hallten die Worte durch meinen Kopf, so laut, dass ich glaubte, er würde zerspringen: SIEH, WAS DU GETAN HAST, EDDIE!

Etwas umfasste meinen Knöchel, zog, zerrte mich tiefer und tiefer in die Dunkelheit. Und dann …

… erwachte ich.

Nicht zum ersten Mal war ich von diesem Traum heimgesucht worden. Seit ich denken konnte, träumte ich ihn jede Nacht. Immer war da diese verzerrte, unmenschliche Stimme. Jedes Mal spürte ich das Wasser in meinen Lungen, spürte die Kälte, die meine Glieder erstarren lässt.

Ich lag da und weinte stumm. Obwohl ich schwitzte, fror ich. Ich hatte ins Bett gemacht. Der Gestank von Urin setzte sich in meiner Nase fest, doch ich blieb einfach liegen und wartete. Wartete auf den Tag, der die Dunkelheit vertreiben würde. Wartete darauf, dass sich mein Herzschlag normalisierte.

Kapitel 3 – Wut

 

»Ich möchte sie doch bloß sehen, Sarah.« Meiners schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu bleiben.

»Auf keinen Fall!«

»Es sind auch meine Kinder.«

»Ich werde jetzt auflegen, Phill.«

»Sarah, bitte. Ich möchte meine Jungs sehen, bevor sie mich vergessen haben. Du kannst das nicht einfach entscheiden. Sie brauchen ihren Vater!«

Sarah schnaufte. »Ich kann und das weißt du. Das Gericht hat mir das alleinige Sorgerecht zugesprochen und wenn ich nicht möchte, dass du die Jungs siehst, dann hast du das zu akzeptieren.«

»Sei nicht so ein Drachen!« Meiners biss sich auf die Zunge. Verflucht, warum konnte er nicht einmal die Klappe halten?

»Bis dann, Phill«, sagte Sarah.

So viel zum Thema, sie dieses Mal weichklopfen zu können. Er hatte es erneut geschafft, das genaue Gegenteil zu vollbringen. Ein Hoch auf Phill. Hurra.

»Sarah, entschuldige, ich …«

»Weißt du, Phill«, sagte Sarah. Aus ihrer Stimme war jegliches Gefühl verschwunden. »Vielleicht ist es ja gar nicht allein mein Wunsch, dass du die Kinder nicht siehst.«

Er öffnete die Augen und umklammerte sein Handy. »Wie meinst du das?«

»Wer sagt denn, dass die Jungs dich sehen wollen?«

»Haben sie das gesagt?« Er wurde laut, hasste den hysterischen Ton in seiner Stimme. Es gelang ihm nicht, ihn zu unterdrücken. »Haben sie das gesagt, Sarah?«

Statt zu antworten, erklang am anderen Ende der Leitung ein Klicken, Freitöne folgten.

Meiners nahm das Handy vom Ohr und starrte auf das Display. Ein Foto von ihm und seinen Jungs war darauf zu sehen, wie sie im Gras hockten und grinsten. Sie sahen ihm beide sehr ähnlich. Zufrieden wirkten sie, glücklich. Er hatte seine Arme auf ihre Schultern gelegt und auch er war glücklich gewesen. Und das, obwohl die Ehe damals schon bröckelte. Immerhin hatte er seine Jungs gehabt. Ruben und Marcel.

Au, Papa, du tust mir weh! Lass los, lass los!

Meiners schüttelte den Kopf und legte das Handy mit dem Display nach unten auf den Küchentisch.

Was hast du getan? Mein Gott, was hast du getan, du Saukerl?

Weinen. Kreischen. Er, der sich zu seinem Sohn hockt.

Es tut mir so leid! Ist alles okay? Es tut mir leid. Leid!

»Ich habe alles verkackt. Ich hab’s verkackt, so einfach ist das.« Meiners vergrub das Gesicht in den Händen.

Wer sagt, dass die Jungs dich sehen wollen?

Meiners verkrampfte sich, das Blut rauschte durch seine Adern. Auf dem Küchentisch stand ein Glas, er nahm es in die Hand und warf es mit voller Wucht. Es prallte gegen die Wand, zersprang mit lautem Klirren in viele kleine Scherben.

Meiners blickte darauf hinab. Sein Atem ging stoßweise. Dann erschlafften seine Muskeln und er sank auf den Stuhl zurück.

»Scheiße.«

 

* * *

 

Nachdem Meiners die Scherben beseitigt hatte, saß er eine Weile ruhig auf dem Küchenstuhl und starrte in die Leere. Gott, er brauchte einen Drink. Doch er trank nicht mehr. Er sah sich nicht als Alkoholiker, dafür hatte er sich zu unregelmäßig in Bars aufgehalten und auch zuhause hatte er nie einen Tropfen angerührt, außer an Silvester. Trank er, endete es immer gleich. Er verlor die Kontrolle. Als es das letzte Mal passiert war, hatte er sich über seinem Sohn stehen sehen, der in der Ecke kauerte und sich den Arm gehalten hatte. Ruben hatte gekreischt, geheult vor Schmerzen. Der rote Schleier, der eben noch über Meiners’ Augen gelegen hatte, hatte sich augenblicklich aufgelöst und Scham und Reue seinen Platz eingenommen.

Er hatte sich geschworen, nie wieder die Kontrolle zu verlieren. Was ihm nur bedingt gelungen war. Seit der Sache mit Ruben schien er noch schneller aus der Haut zu fahren. Sein Geduldsfaden besaß die Dicke eines Nähzwirns. Eines porösen Nähfadens. Antwortete ein Patient während der Exploration nicht schnell genug, spürte Meiners bereits, wie etwas in ihm aufwallte. Etwas, das dafür sorgte, dass er mit den Zähnen knirschte und die Fäuste ballte.

Vor nicht allzu langer Zeit galt Meiners als der am härtesten arbeitende Psychiater seiner Institution. Er hatte Ansehen genossen, sowohl bei den Patienten als auch beim weiteren Fachpersonal und dem Gericht. Wurde ein strafrechtliches Gutachten benötigt, dann von ihm. Die Leitung der Einrichtung hatte schon so gut wie ihm gehört. Doch es sollte sich alles verändern.

Der Job hatte ihn ausgefüllt. Eine 64-Stunden-Woche war normal gewesen. Ständig musste er sich in die Köpfe von Mördern hineinversetzen, während ihm sein Zuhause als Ruhepol diente. Das Haus und Sarah.

Sie hatten immer Kinder gewollt und gewusst, dass er seine Arbeitszeit kürzen müsste, wenn es so weit war. Dann kam Marcel auf die Welt. Meiners’ 64-Stunden-Arbeitswoche reduzierte sich auf eine 32-Stunden-Woche, und plötzlich wusste er nichts mehr mit sich anzufangen. Er liebte seinen Sohn, er liebte Sarah, dennoch fehlte ihm die Arbeit. Das ließ er seine Familie spüren. Die Ehe kriselte bereits einige Monate nach Marcels Geburt. Ruben zu zeugen, war ein törichter Versuch gewesen, sie geradezubiegen. Anstatt besser zu werden, wurde alles schlimmer. Sarah und er stritten sich täglich. Meiners erwachte mit Wut im Bauch und ging mit ihr zu Bett. Eine Wut, die sich selbst auf der Arbeit nicht legte. Und sein erster Ausbruch hatte dafür gesorgt, dass sein Ruf nie wieder derselbe sein sollte.

»Erzählen Sie mir von seinen Neigungen«, sagte Meiners und ließ den Kugelschreiber zwischen Zeige- und Mittelfinger tanzen. Er betrachtete den Neuankömmling, der mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen dasaß, als würde er Reue empfinden. Seine Betreuerin, eine schwarzhaarige Frau mit Fliegerbrille, ergriff das Wort. »Es fängt meist mit kleinen Dingen an. Er geht zu einem Jungen und bietet ihm an, sein Shirt in die Hose zu stecken oder den Gürtel zu richten. Und dann …«

Der Patient hob ruckartig den Kopf. »Ich habe nichts getan, was sie nicht wollten.«

Meiners verengte die Augen zu Schlitzen. »Erzählen Sie mir gerade, die Jungen wollten sich anfassen lassen?«

»Ich habe nur die Kleidung gerichtet.«

»Laut Ihrer Akte haben Sie weit mehr getan.«

»Mir sind ein-, zweimal die Finger ausgerutscht.«

Die Betreuerin legte eine Hand auf die Schulter des Patienten und er sank zurück in seine reuevolle Haltung. Meiners nahm einen tiefen Atemzug. Er hatte schlecht geschlafen und das Haus vor seinem ersten Kaffee verlassen, weil er Sarah nicht antreffen wollte. Er brauchte einen Kaffee, und zwar sofort. Er umklammerte den Kugelschreiber.

Die Betreuerin fuhr fort. »In der letzten Einrichtung hatte es Probleme gegeben. Einige der anderen Patienten wurden handgreiflich ihm gegenüber. Wir hoffen, hier mehr Glück zu haben.«

Glück, dachte Meiners und unterdrückte ein Schnaufen. Wieder ein Pädophiler, der die Schuld bei den Kindern sucht, nie bei sich selbst.

Der Patient fing an, vor sich hin zu murmeln. Meiners versuchte, es auszublenden, aber er verlor immer wieder den Faden, kämpfte gegen den Zorn, der in seinem Inneren loderte und irgendwann hörte er nicht mehr, was die Betreuerin sagte. Er hörte nur noch das Gemurmel und seinen eigenen Puls. Dann explodierte er: »Halten Sie endlich Ihre gottverdammte Schnauze!«

Der Patient und die Betreuerin wichen zurück. Meiners bemerkte, dass er aufgesprungen war, dass er wild schnaufend über die beiden gebeugt stand, mit zu Fäusten geballten Händen, so als würde er jeden Moment auf sie losgehen.

Zu Meiners’ Leidwesen war sein Wutausbruch nicht unbemerkt geblieben. Professor Doktor Seidel war auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum gewesen und gerade als Meiners brüllend aufgesprungen war, am Sprechzimmer vorbeigelaufen.

Seinem guten Ruf hatte er es zu verdanken, dass er nicht gekündigt worden war. Trotzdem blieb sein Ausbruch nicht ohne Folgen.

»Nicht nur mir ist aufgefallen, dass sie seit einer Weile …«, Seidel suchte nach den passenden Worten, »ein wenig unkonzentriert und reizbar wirken. Ich halte es für angebracht, Ihren Patientenumgang zu reduzieren. Nur bis Sie sich besser fühlen.«

Meiners hatte stumm dagesessen und genickt. Das Ganze war mittlerweile zwei Jahre her. Professor Doktor Seidel war vor 13 Monaten in Rente gegangen und ein anderer Professor hatte seine Nachfolge angetreten. Eine Nachfolge, die für ihn bestimmt gewesen war.

Noch immer wurden ihm die meisten Patienten entzogen. Und das, obwohl es keinen weiteren Ausbruch dieser Art gegeben hatte. Gut, er war ungeduldig und hatte an Höflichkeit eingebüßt. Die Leute trauten ihm nicht mehr wie früher, aber er war immer noch ein verdammt guter Psychiater! Der beste! Es musste ihm nur gelingen, seine Wut unter Kontrolle zu bekommen.

Meiners seufzte. Was war nur mit ihm los? Wann hatte das angefangen? Dieser Zorn, diese ständige Wut. Die Scheidung hatte alles verschlimmert. Neuerdings waren Visionen dazu gekommen. Augenblicke, in denen er vor sich sah, wie er auf Leute losging. Wie er auf sie eindrosch.

Was stimmt nicht mit mir?

Er rieb sich die Stirn. Seine Kehle fühlte sich trocken und kratzig an. Er brauchte diesen Drink wirklich.

Meiners dachte an Ruben und Marcel. Er dachte daran, wie er über seinem Sohn gebeugt dagestanden hatte, wie sich langsam der rote Schleier gelichtet hatte. Wie der Junge geweint hatte.

Dann fiel sein Blick auf Eddies Akte. Eigentlich müsste er arbeiten. Er schluckte und hustete. Nur ein Drink. Es würde schon gut gehen.

»Ich kann mich nicht von meiner Wut beherrschen lassen«, sagte er in den leeren Raum hinein. Die Wände antworteten, indem sie schwiegen. Es stimmte. Es war nicht gut, in einer Welt voller »Was wäre, wenn …« zu leben. Er lebte nur einmal und bei Gott, er würde nicht wieder einen Abend damit verbringen, die Nase in irgendwelche Unterlagen zu stecken.

Heute war ihm alles egal. Seine Arbeit, die Akten, die es zu bearbeiten galt, die Notizen zu seinem Gespräch mit Eddie, seine Ex-Frau, sogar die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Alles, was er jetzt wollte, war, sich hoffnungslos zu betrinken. Schmerzen und Sorgen zu ertränken. Es würde schon gutgehen.

Also erhob Meiners sich erneut und machte sich auf den Weg in die nächste Bar.

 

* * *

 

Kurz nach 21 Uhr traf Meiners ein. Er hatte sich entschieden, nicht den Wagen zu nehmen, obwohl er darüber nachgedacht hatte, auf den Heimweg volltrunken Schlenker zu fahren, lautstark zu alter Rockmusik zu grölen und gegen den nächsten Baum zu brettern. Letztlich hing er jedoch genug am Leben, um solch ein armseliges Ende nicht in Kauf zu nehmen.

In seiner Brieftasche befanden sich zwei 50-Euro-Scheine. Die galt es zu versaufen und genug Kleingeld für ein Taxi übrig zu lassen.

Meiners betrat die Bar. Sofort schlugen ihm laute Stimmen und Hells Bells von AC/DC entgegen. Die Kneipe war rappelvoll, obwohl es Mittwoch war. Drei Kerle standen zwischen zwei Stehtischen, sie führten einen wilden und unrhythmischen Tanz auf. Einige unterhielten sich lautstark in Grüppchen. Die meisten Leute versammelten sich um die Bar. Meiners verschwendete keine Zeit mehr, er lief ebenfalls direkt darauf zu, dabei wurde er von einem kleinen Mann mit Glatze angerempelt. Der hielt ein Glas in der Hand, dessen Inhalt bedrohlich schwappte. Er blickte mit zu Schlitzen verengten Augen zu Meiners auf und wankte. Der Farbe seiner Nase nach, war er kein Gelegenheitstrinker.

»Ey, passs doch au-auf, du Pisss-pissss-pisskopp, du!«

»Entschuldigung«, sagte Meiners. Er wollte weiterlaufen, als der Glatzkopf ihn am Arm packte.

Meiners biss sich von innen auf die Lippen, bemühte sich, ruhig zu bleiben und wandte sich dem Mann erneut zu.

»Du hasssd mein Gedränk verschüddet, Pissskopp.«

Meiners betrachtete das Glas, dann wieder den Mann.

»Schpendia mir ’n Neues.«

»Ja, wie Sie meinen«, sagte er und riss sich los. Der Glatzkopf hob abwehrend die Arme und grinste schief. »Enschuldiggen Se, feiner Herr, dass ich es wahgen konne, Se ansufassen.«

Meiners ließ ihn stehen. »Ich ziehe Idioten an«, murmelte er, da wurde er erneut am Arm berührt und unsanft nach hinten gezogen. »Hey!«, rief er und wirbelte herum. »Lass gefälligst deine dreckigen Griffel bei dir!«

Da schoss bereits eine Faust auf ihn zu. Weil sein Angreifer, der Glatzkopf, aber schon zu betrunken war, gelang es ihm mühelos, auszuweichen.

»Wadde, du …!« Wieder holte Glatzkopf aus.

»Es reicht!« Meiners brüllte und stieß den Betrunkenen so kräftig, dass er zurücktaumelte und auf dem Hintern landete. Der rote Vorhang war wieder da, machte ihn rasend. Meiners beugte sich über Glatzkopf und schlug zu. Der Kopf des Mannes schnellte zur Seite. Der hob abwehrend die Hände, versuchte, Meiners von sich zu stoßen, doch der ließ sich nicht beirren. Er schlug erneut zu. Wieder und wieder. Spürte, wie Glatzkopfs Nase unter seiner Faust brach, fühlte warmes Blut auf seinen Knöcheln. Da wurde er bei den Schultern gepackt und zurückgerissen. Meiners wehrte sich mit Händen und Füßen, doch immer mehr Männer hielten ihn fest.

Langsam verblasste der rote Vorhang und Meiners kam zu sich. Alle starrten ihn an. Auf dem Boden lag Glatzkopf, bewusstlos und blutüberströmt.

»O mein Gott ...« Ich habe ihn umgebracht. Meiners wollte sich losreißen, um nach ihm zu sehen – die Männer ließen ihn nicht. Glatzkopf regte sich und stöhnte. Erst jetzt fiel Meiners auf, dass die Musik verstummt war. Zwei Männer halfen dem Betrunkenen auf, der kein klares Wort mehr zustande brachte. Einer von ihnen hielt ein Handy in der Hand und telefonierte.

Das war’s, dachte Meiners, ich komme in den Knast. Doch statt ihn weiter festzuhalten, drängten ihn die Kerle quer durch die Kneipe und warfen ihn auf die Straße.

»Lass dich hier nicht mehr blicken!«, rief einer von ihnen, ein muskulöser Bursche mit schulterlangem schwarzen Haar.

Meiners betrachtete seine Hände. Das meiste Blut daran, war nicht seins.

»Es ist schon wieder passiert.«

Er hatte das Bedürfnis zu weinen, doch nicht einmal das gelang ihm. Er fühlte sich leer und nutzlos. Wie hatte er dermaßen die Kontrolle verlieren können? Schon wieder. Und das ohne einen einzigen Tropfen Alkohol.

Aus der Bar drangen die gewohnte Rockmusik und lautes Grölen. Meiners wandte sich ab, um sich auf den Heimweg zu machen. Erneut betrachtete er seine Fingerknöchel. Die letzte Verletzung war noch nicht komplett verheilt gewesen. Ein Schlag gegen die Wand. Zwei gebrochene Finger.

»Wem mache ich etwas vor?«

Ein Taxi rief er nicht.

 

* * *

 

»Was ist denn mit Ihnen passiert?« Eddie betrachtete ihn mit prüfendem Blick, wie er es schon während ihrer ersten Sitzung getan hatte.

Meiners verkrampfte sich, ein säuerlicher Geschmack brodelte in seiner Kehle. Er schluckte ihn hinunter. »Fahren Sie mit Ihrer Geschichte fort, Eddie. Dieses Mal nehme ich unser Gespräch auf, ist das in Ordnung für Sie? Wenn ich mir bloß Notizen mache, entgehen mir Einzelheiten.« Ohne eine Antwort abzuwarten, holte er einen Kassettenrekorder hervor und legte ihn vor sich auf dem Boden.

»Kassetten?«, fragte Eddie. »Sie sind wohl irgendwo in den 90ern steckengeblieben, was?«

Meiners reagierte nicht darauf, drückte auf Aufnahme, lehnte sich zurück und holte Stift und Notizbuch aus der Jackett-Innentasche hervor.

»Ganz ehrlich, Doktor, was ist mit Ihnen? Sie wirken ganz schön grummelig und die roten Augen sprechen entweder für Schlafmangel oder dafür, dass sie geweint haben. Wirklich, sagen Sie es mir, es interessiert mich.«

Meiners ging die letzten Notizen durch und begann mit weiteren Stichpunkten, die aus sinnlosen Kritzeleien bestanden, um Eddie zu demonstrieren, dass es an der Zeit war, fortzufahren. Außerdem, um ihn nicht anzubrüllen. Am heutigen Morgen war seine Wut mit ihm erwacht und es gelang ihm kaum, sie zu bändigen.

»Haben Sie sich geprügelt, Doktor?«, fragte Eddie. »Die Abschürfungen an Ihren Fingern sind …«

»Es reicht!« Meiners erschrak vor dem Zorn in seiner Stimme. Er nahm einen tiefen Atemzug. Auch Eddie war zurückgewichen. Wie beim letzten Mal, saß er neben dem Bett auf dem Boden, jetzt zog er wieder die Knie an.

Meiners lehnte sich vor und drückte die Stopp-Taste des Kassettenrekorders. »Ich arbeite gerne auf altmodische Art mit Notizbüchern und Kassetten. Das braucht Sie aber nicht zu interessieren, Herr Quinn. Alles, was Sie zu tun haben, ist, mir Ihre Geschichte zu erzählen, damit ich sie auswerten kann.«

»Das würde mir leichter fallen«, sagte Eddie und streckte die Beine aus, »wenn ich auch etwas über Sie wüsste. Sie wissen schon, ›quid pro quo, Clarice‹.«

Meiners schnaufte. Sie hatten sich also beide durch diese Situation an Hannibal Lecter erinnert gefühlt.

»Ich meine, schließlich weiß ich doch gar nicht, ob ich Ihnen trauen kann, Doktor. Sie erzählen mir etwas von Ihnen und ich erzähle Ihnen im Gegenzug einen Auszug aus meiner Lebensgeschichte.«

»Sie haben mir doch gestern schon etwas erzählt.«

»Ja, aber ich habe darüber nachgedacht. Es würde mir leichter fallen, wenn die Situation zwischen uns nicht so angespannt wäre. Sie wissen am Ende alles über mich und ich weiß nicht das Geringste über Sie. Dadurch vergesse ich im schlimmsten Fall Einzelheiten, weil ich zu verkrampft bin oder so was. Ich finde es seltsam, wenn Sie alles wissen und ich gar nichts. Das ist doch unfair, finden Sie nicht?«

»Nein.«

Eddie betrachtete ihn erneut prüfend, das spülte den säuerlichen Geschmack zurück in Meiners Kehle. Er umklammerte den Kugelschreiber, bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. »Unfair ist das ganz und gar nicht, denn es hat Sie nicht zu kümmern, was für ein Mensch ich bin und wie meine Kindheit ausgesehen hat.«

»Es müssen ja nicht …«

»Nein! Wir befinden uns nicht in irgendeinem Film, in dem wir uns annähern und am Ende beste Freunde werden, verstehen Sie das? Das hier ist das reale Leben. Sie haben vermutlich Menschen getötet, darunter Ihre Mutter und Sie können froh sein, dass ich hier bin, um die Wahrheit herauszufinden, andernfalls haben Sie nämlich ein sehr langes oder auch sehr kurzes Leben im Gefängnis zu erwarten. Ich bin imstande, Ihnen da rauszuhelfen, wenn Sie mich lassen. Und zwar nur ich. Denn entweder sind Sie ein Mörder und wissen das. Oder sie morden, ohne sich dessen gewahr zu sein. Möglicherweise haben Sie niemanden umgebracht, kennen dafür aber den Täter, was auch nicht gerade für Sie und Ihre Situation spricht. Darum bin ich hier. Nicht, um über mich zu sprechen. Nur darum. Also reißen Sie sich zusammen und fangen Sie endlich an.«

Eddie funkelte ihn an. Ein Blick, wie er ihn schon oft gesehen hatte – bei Sarah. Dieser Zorn mit einer Spur Enttäuschung darin. Es machte Meiners rasend. Er sprang auf, wodurch der Stuhl krachend auf dem Boden landete, und preschte auf Eddie Quinn zu. Dieser hob abwehrend die Hände, doch Meiners schlug sie zur Seite und versetzte ihm einen Kinnhaken. Eddie lag vor ihm, ohne etwas zu erwidern, weiterhin mit diesem Blick, der Meiners’ Blut zum Kochen brachte. Er drosch und drosch wieder und wieder auf Eddie ein, bis er das Nasenbein und die Wangenknochen unter seinen Fäusten bersten spürte.

Meiners blinzelte und die Vision war verschwunden. Eddie betrachtete den Boden. Hatte er sich den Blick ebenfalls eingebildet? Genau wie den Wutausbruch? Meiners holte zitternd Luft. Was passierte mit ihm?

»Also gut«, sagte Eddie. »Sie haben mich überzeugt. Schalten Sie Ihren Retro-MP3-Player ein. Ich werde reden.«

»Danke«, sagte Meiners, ohne zu wissen, wofür er sich bedankte. Weil du ihn sonst zu Brei schlagen würdest, du Irrer, hörte er eine Stimme in sich. Dann beugte er sich vor und drückte auf Aufnahme.

Kapitel 4 – Der Unheimliche Mann

 

Mas beste Freundin hieß Kristina Eiing. Sie kam ständig zu Besuch und spielte sich auf, als wäre sie der Mittelpunkt der Welt.

Es war der Morgen nach der Erscheinung und Eddie Juniors Tod, und ich war nicht in der Stimmung für Kristina. Als ich in die Küche kam und sie sah, wäre ich am liebsten direkt wieder umgedreht und hätte mich in meinem Bett verkrochen.

Sie stand am Fenster und stützte sich mit den Ellbogen am Fensterbrett ab. Wie immer, trug sie ein zu enges Oberteil, bei dem ich fürchtete, der BH – wenn sie denn einen anhatte – könnte jeden Moment platzen und ihre gewaltigen Brüste sprängen hervor, um mich zu erschlagen. Ihr Mondgesicht wurde von falschen roten Locken umrahmt und ihr knalliger Lippenstift verfolgte mich jahrelang in meinen Träumen. Als sie mich bemerkte, schlug sie ein Bein über das andere. Sie glaubte, damit Eindruck zu schinden. Kristina versuchte, jeden Mann zu beeindrucken, selbst wenn er erst acht Jahre alt war.

Mich beeindruckte allerdings nichts an ihr, eher empfand ich sie als abschreckend und fragte mich, wie bei jedem ihrer Besuche, warum Ma sich mit ihr abgab. Sie konnten unterschiedlicher kaum sein: Kristina das Barbie-Püppchen gegen meine unscheinbare Mutter, die man wohl gemeinhin als graue Maus bezeichnen konnte.

Ich erinnere mich an ein Foto von ihr, auf dem sie schwanger gewesen war. Damals, als ihre Welt noch in Ordnung schien. Sie trug ein blaues Kleid mit weißen Blumen darauf und ich bin mir sicher, dass sie glücklich aussah. Mein Erzeuger stand ihr zur Seite. Sein Äußeres habe ich verdrängt. Wenn ich an das Foto denke, sehe ich an der Stelle, an der er stehen sollte, nichts als einen Schatten. Ma hat das Foto kurz nach seinem Verschwinden entsorgt. An weitere Fotos erinnere ich mich nicht.

Doch was ich weiß, ist, dass sie auf diesem alten Bild wunderschön ausgesehen hat, nicht aufgehübscht wie Kristina, deren Motto lautete »Je mehr Schminke, desto besser.«, sondern wie eine natürliche Schönheit. Zu dieser Zeit war sie glücklich gewesen. Jetzt aber, wo sie keinen Mann mehr hatte, dafür einen Sohn, der mit acht Jahren noch ins Bett pinkelte, sah sie müde und ausgezehrt aus. Die dunklen Ringe unter ihren Augen wechselten zwischen den Tönen grau und lila hin und her und sie wirkte mindestens um fünf Jahre älter, als sie in Wirklichkeit war.

Ich sorgte mich um meine Mutter, doch was konnte ich schon ändern? Ein Kind! Ich bemühte mich, es ihr leichter zu machen, indem ich ihr im Haushalt unter die Arme griff, so gut dies mit acht Jahren eben möglich war.

»Guten Morgen, Kleiner«, sagte Kristina. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Ich brummte etwas, dass ›guten Morgen‹ heißen sollte und lief zum Küchenschrank, um mir Cornflakes zu nehmen. Nachdem ich mir eine Schüssel, einen Löffel und Milch gegriffen hatte, wollte ich mich an den Tisch setzen, doch aus dem Augenwinkel registrierte ich etwas hinter Kristina, die genau vor dem Fenster stand.

Und da sah ich sie erneut. Die vermummte Gestalt, die gestern neben dem Brombeerstrauch verharrt hatte, stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schien genau in meine Richtung zu sehen. Wie zuvor, blieb ihr Gesicht unter der breiten Hutkrempe verborgen.

»Da ist er wieder!«, rief ich und zeigte nach draußen.

Kristina hob eine Augenbraue und drehte sich um. »Wen meinst du?«

»Den Mann da! Der in dem Mantel und dem breiten Hut.«

Kichernd wandte Kristina sich wieder vom Fenster ab, da betrat Ma die Küche.

»Was ist so witzig?«, fragte sie.

»Dein Sohn möchte mich auf den Arm nehmen.« Dann an mich gerichtet: »Bist du nicht schon etwas alt für einen Fantasiefreund?«

Ich erwiderte nichts, sondern blickte weiterhin auf die andere Straßenseite, wo der Mann regungslos wartete. Sein Mantel bewegte sich leicht im Wind. Das war auch schon alles, was vermuten ließ, dass es sich nicht um eine Statue handelte.

Weil die Gestalt beim letzten Mal verschwunden war, nachdem ich geblinzelt hatte, kämpfte ich damit, die Augen offen zu halten, obwohl sie schon brannten.

»Was für ein Fantasiefreund?«, fragte Ma. In ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit, den ich damals nicht zu deuten wusste. Allerdings hatte ich keine Zeit, darüber nachzudenken, da ich mich zu fest auf das Nicht-Blinzeln konzentrierte.

Kristina kicherte wieder. »Er denkt, vor dem Fenster steht ein Cowboy.«

Eine kurze Pause entstand.

»Schatz«, sagte Ma, ohne auf Kristinas Kommentar einzugehen, »du solltest langsam frühstücken, sonst schaffst du es nicht, aufzuessen, bevor du in die Schule musst.«

»Gleich, Ma.«

»Nein, Eddie. Jetzt!«

Ich fuhr zusammen. Dabei blinzelte ich. Als ich sie wieder öffnete, war die Gestalt verschwunden.

Mist.

Mit hängenden Schultern drehte ich mich um und schlurfte zum Tisch.

Ma kam zu mir, sie befühlte meine Stirn, sagte aber nichts. Ich wusste, sie machte sich Sorgen. Schlimm genug, dass ich dauernd von Albträumen gequält wurde, in denen ich ertrank, und immer noch ins Bett machte, jetzt fing ich zudem an, unsichtbare Männer zu sehen.

Mich dagegen faszinierte die Erscheinung. Hätte ich sie nur einmal gesehen, wäre sie schnell in Vergessenheit geraten, doch es war wieder passiert. Damit war für mich klar, dass ich sie mir nicht eingebildet hatte, dass es kein seltsamer Schatten gewesen war, den der Brombeerstrauch geworfen hatte. Nein, es gab diesen Mann mit dem breiten Hut, und aus irgendwelchen Gründen erschien er nur mir. Warum? Hatte ich eine Mission zu erfüllen? Galt es, die Welt zu retten und allein ich war in der Lage dazu?

Ich freute mich darauf, den Mann ein weiteres Mal zu sehen, dann würde ich ihn fragen. Damals wusste ich nicht, welches Grauen der Wunsch nach sich ziehen würde.

 

* * *

 

In der folgenden Nacht ging ich früh ins Bett, um in meinen Spider-Man-Comics zu lesen. Ich liebte Superhelden und besonders ihn, weil er wendig war und ich den Gedanken ungeheuer aufregend fand, von einer radioaktiv verseuchten Spinne gebissen zu werden, Spinnennetze zu verschießen und an Wänden hochzukrabbeln.

Während ich mit einer Taschenlampe in der Hand unter der Bettdecke Spider-Man dabei beobachtete, wie er eine Frau aus den Fängen des Kobolds befreite, drifteten meine Gedanken immer wieder zu der Gestalt ab, die ich gesehen hatte.

Ihre Regungslosigkeit war unheimlich gewesen. Ich hoffte, dass mir ihr Gesicht noch eine Weile verborgen bliebe. Vielleicht war es verbrannt oder entstellt, warum sonst, sollte sie es verstecken?

Ich gähnte und klappte das Comicheft zu. Wenn die Konzentration fehlte, konnte ich genauso gut schlafen.

Etwas kratzte über den Fußboden.

Kratz-kratz.

Was war das? Ich hielt die Luft an. Kälte breitete sich in meinen Gliedern aus, die langsam jeden Teil meines Körpers beschlich.

Kratz-kratz.

Sofort schaltete ich die Taschenlampe aus und schnappte nach Luft. Was auch immer in meinem Zimmer über dem Boden schabte, würde mich nicht sehen, solange ich mich unter der Decke versteckte. Oder?

Mit angehaltenem Atem lauschte ich. Nichts passierte. Vorsichtig zog ich an der Bettdecke, lugte hervor. Mein Blick huschte von links nach rechts, während mein Herz gegen den Brustkorb hämmerte, als wäre darin ein kleiner Vogel gefangen.

Nichts.

Dann richtete ich mich auf, um auch den Boden überschauen zu können.

Kratz-kratz-kratz.

Japsend zog ich die Bettdecke wieder über den Kopf.

Tränen rannen meine Wangen hinunter, trotzdem gab ich keinen Laut von mir. Das Schaben nahm an Geschwindigkeit zu. Es hörte sich an, als versuchte sich jemand mit bloßen Fingernägeln einen Weg in die Freiheit zu schaufeln – oder in mein Zimmer. Mein Körper zitterte unkontrolliert. Wie sehr ich mich auch bemühte, es zu unterdrücken, es wurde immer schlimmer. Meine Angst, von dem Wesen entdeckt zu werden, raubte mir den Verstand. So fest ich konnte, presste ich meine Handflächen gegen die Ohren, kniff die Augen zusammen, biss mir auf die Lippen.

Plötzliche Stille.

Ich lauschte mit angehaltenem Atem. Einige Zeit passierte nichts mehr. Dann erklang ein schleifendes Geräusch. So, als würde ein Gegenstand über den Boden gezogen werden. Es begann links neben dem Bett und wanderte dann weiter.

Ich verspürte den Impuls, aus dem Bett zu springen und schreiend zu meiner Mutter zu rennen, doch ich war wie gelähmt.

Schritte.

Sie schienen von der Tür aus zu kommen und sich langsam dem Fußende des Bettes zu nähern. Etwas kroch zu mir. Ich spürte, wie sich die Matratze senkte, hörte das Wesen atmen. Es klang rasselnd wie von einem Raucher oder einer erkälteten Person, deren Kehle mit Schleim verklebt war.

Ich hielt es kaum aus.

Auf der Mitte des Bettes verharrte das Wesen eine Weile. Schien es sich bequem zu machen, als wäre es ein Hund, der die Nähe seines Herrchens sucht. Wir hatten keinen Hund.

Ich hörte es weiter atmen, während es in der Mitte meines Bettes hockte, ohne sich zu rühren. Was hatte es vor? Beobachtete es mich? Wartete es auf den passenden Moment, um mich anzugreifen wie ein Raubtier? Ich konnte nicht schreien, ich konnte kaum atmen, nie zuvor hatte ich eine ähnliche Angst verspürt.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort ausharrte, irgendwann fand ich mich auf dem Grund des Meeres wieder. Wasser drang durch Nase und Mundhöhle ein, füllte meine Lungen, und irgendetwas packte meinen Knöchel.

»SIEH, WAS DU GETAN HAST, EDDIE!«

Dieses Mal schrie ich. Ich kreischte, bis mein Hals kratzte und meine Stimme brach. Ich schlug um mich, als gäbe es kein Morgen mehr. Da wurde die Bettdecke von mir gerissen, das Wesen packte mich an den Schultern, schüttelte mich. Ich brüllte noch immer, wagte es nicht, die Augen zu öffnen.

»Eddie, um Gottes willen!«

Ma? Endlich beruhigte ich mich. Vorsichtig öffnete ich die Augen und blickte in das sorgenvolle Gesicht meiner Mutter. Sie hatte das Licht eingeschaltet, draußen war es dunkel. Sie half mir auf und drückte mich an sich. Langsam erwiderte ich die Umarmung. Mein Zimmer ließ ich dabei nicht aus den Augen.

Es war niemand da. Kein Kratzen, kein Schleifen mehr, nur Ma, die leise in mein Ohr schluchzte. Endlich entspannte ich mich, vergrub das Gesicht in ihrer Schulter und ließ die Tränen ungehindert fließen.

So weinten wir gemeinsam.

 

* * *

 

Die Geräusche kehrten wieder. Nacht für Nacht. Mal hörte ich ein stetes Atmen, mal Kratzen oder Schlurfen und hin und wieder, wie in jener Nacht, alles zusammen. Ich litt Todesängste.

Der wiederkehrende Traum vom Ertrinken besaß eine gewisse Eintönigkeit. Er war schrecklich, ja, aber ich wusste, sobald die Kreatur mich gepackt hatte, wachte ich auf. Das Wesen in meinem Zimmer dagegen war unvorhersehbar.

Es gab Nächte, in denen hörte ich kaum etwas. Dafür spürte ich, wie es mich beobachtete. Wie es meinen Körper durch Blicke fesselte und mit irgendeiner Macht paralysierte. Nächte, in denen ich dalag, mit weit geöffneten Augen und schwerem Atem. Erstarrt. Und ich wusste, dass er es war. Der Mann, der mir an jenen zwei Tagen erschienen war. Ich wusste es einfach. Ich kann nicht erklären wieso, es war so ein Gefühl. Er war immer da, beobachtete jeden meiner Schritte.

Die Gewissheit folgte, als ich ihn in einer der folgenden Nächte in der Ecke meines Zimmers stehen sah. Wieder verharrte er regungslos und die Finsternis verschluckte ihn so weit, dass bloß seine Umrisse erkennbar waren. Ich sah den Mantel, den Hut mit der breiten Krempe. Er rührte sich nicht und starrte mich an, bis der Schlaf mich packte und mit sich riss.

Nächte, in denen der Unheimliche Mann – wie ich ihn mittlerweile nannte – regungslos in den Schatten lauerte, häuften sich. Manchmal redete ich mit ihm. Fragte, was er von mir verlangte – er antwortete nie. Ich hielt seinem Starren stand, aus Furcht, er fiele über mich her, sobald ich ihm den Rücken kehrte. Trotz der Angst, übermannte mich der Schlaf letztlich doch jedes Mal und am nächsten Morgen wachte ich auf, als wäre alles nur ein schrecklicher Traum gewesen.

Eines Morgens schlug Ma vor, Tante Anna einen Besuch abzustatten. Sie war seit einigen Jahren bettlägerig und litt an Demenz.

Wir brachen relativ früh auf, um Tante Annas Pflegekraft nicht in die Quere zu kommen, denn die hasste es, bei ihrer Routine unterbrochen zu werden. Ma besaß einen Schlüssel für das Haus. Manchmal fuhr sie hin, um für Tante Anna Einkäufe zu erledigen oder die Blumen zu gießen. Auch dieses Mal trugen wir ein paar Lebensmittel mit uns – Kartoffeln, Joghurt, Reis, Fleischbällchen. Tante Annas Geschmackssinn hatte sich durch die Demenz verändert, oft fehlte ihr die Lust, überhaupt Nahrung zu sich zu nehmen. Sie musste gefüttert werden und wenn ihre Apathie zu stark war, blieb noch Flüssignahrung als Möglichkeit. Trank sie, dann mit einem Strohhalm.

Ma und ich fanden Tante Anna tot in ihrem Bett. Sie sah aus, als würde sie schlafen, außer, dass ihre Augen offen gewesen waren und ihr Blick zur Decke gerichtet war.

Ma bemerkte sofort, was vor sich ging, und wollte mich in den Flur drängen. Ich versuchte, einen letzten Blick auf meine Tante zu erhaschen, auf ihre blasse Haut, die trüben Augen, als der Unheimliche Mann erschien. Zunächst tauchte seine Hutspitze auf, als habe das Wesen neben dem Bett gelegen. Der Rest des Hutes folgte, der langsam nach oben schwebte, dann die Schultern. Der Unheimliche Mann wuchs und wuchs, bis er aufrecht dastand. Wie immer blieb mir sein Gesicht verborgen, doch ich spürte seinen Blick regelrecht auf mir. Er hob den Arm und trug schwarze Handschuhe. Seine Hand schwebte über Tante Anna. Ich schrie auf: »Nein! Nein!«

Ma redete beruhigend auf mich ein und drückte mich weiter aus dem Zimmer.

»Geh weg von ihr!«, rief ich. Ma zuckte zusammen. Sie umfasste mich fester und schob mich in den Flur.

»Warte hier«, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie weinte. »Warte einfach.«

»Ma«, schluchzte ich. »Ma, er ist da drin, er …«

»Still jetzt!« Mas Stimme brach. Sie sah gleichzeitig wütend und unbeschreiblich traurig aus. Augen, Nase und Wangen waren gerötet, der Rest ihrer Gesichtsfarbe glich der weißen Tapete in Tante Annas Zimmer.

»Sei einfach still«, flüsterte sie und ließ mich allein im Flur zurück.

Einige Zeit später wurde meine Tante auf einer Liege abtransportiert. Ma versperrte mir die Sicht auf sie, indem sie sich vor mich stellte. Ich hatte genug gesehen.

Der Unheimliche Mann hatte sie geholt.

 

* * *

 

Seit jener Nacht, in der ich kreischend erwacht war, suchte meine Mutter nach einem passenden Psychotherapeuten für mich. Sie probierte alles durch, auch Psychologen und Psychiater. Es war schwierig, einen Termin zu bekommen, der nicht erst Monate in der Zukunft lag.

Ich sah den Unheimlichen Mann weiterhin. Tagsüber selten, dafür besuchte er mich jede Nacht.

Irgendwann hatte Ma die Anrufe satt und nahm einen Termin bei einem Psychiater mit dem Namen Doktor Stanislav Wassili an. Die Wartezeit betrug sechs Monate.

Doktor Wassilis Praxis wirkte kalt und abstoßend auf mich. Die Wände waren in einem sterilen Weiß gestrichen. Hier und da hingen Bilderrahmen mit Fotos, auf denen Kinder zu sehen waren. Sie grinsten oder lachten. Jede dieser Emotionen wirkte gestellt.

Ich hatte keine Lust, einen Psychiater aufzusuchen, wollte nicht, dass irgendwer davon wusste, und ich hasste es, dass meine Mutter mich zwang, zu ihm zu gehen. Gleichzeitig sollte sie sich nicht länger um mich sorgen. Die Ringe unter ihren Augen waren dunkler geworden und sie schien jede Freude verloren zu haben.

Ich wollte nicht der Grund für ihren Kummer sein, also hatte ich aufgehört, von dem Unheimlichen Mann zu sprechen. Ma erwischte mich weiterhin, wie ich probierte, die Bettwäsche ohne ihr Wissen, zu säubern, wenn ich hineingemacht hatte. Sie saß nach wie vor häufig an meinem Bett, nachdem ich aus Albträumen hochgeschreckt war. Aber ich sprach nicht mehr von den Geräuschen in der Nacht und der Gestalt, die hin und wieder in der Ecke meines Zimmers lauerte. Zumindest das wollte ich ihr ersparen.

Obwohl ich mich bemühte, wie ein normales Kind zu wirken, sollte ich den Termin bei Doktor Wassili wahrnehmen. Wir hatten schließlich lange darauf warten müssen und Ma hoffte, eine Lösung gegen meine Albträume zu finden.

Ich fuhr bereitwillig mit zur Praxis. Ließ mir nicht anmerken, dass ich diesen Ort hasste.

Doktor Wassili empfing uns einige Minuten nachdem die Empfangsdame uns gebeten hatte, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Er war mir direkt unsympathisch. Der Psychiater sah aus wie eine Mischung aus Einstein und Herrn Schleicher, meinem Geschichtslehrer, der sich für allwissend und atemberaubend hielt. Wassilis Haar stand ungebändigt ab. Er trug einen Anzug, der ihm eine Nummer zu groß war.

»Guten Tag, Frau Quinn«, sagte er und reichte Ma die Hand. »Und du musst wohl Eduard sein.« Er blickte zu mir herunter und lächelte dünn.

»Eddie«, sagte ich und wollte ihm ebenfalls die Hand reichen, doch der Psychiater zog ein Brillenputztuch aus dem Jackett, nahm die Brille von der Nase und putzte die Gläser. Wir warteten, bis er das Tuch wieder verstaut hatte und die Sehhilfe zurückgesetzt worden war.

»Hereinspaziert«, sagte er und führte uns in sein Sprechzimmer.

Hier waren die Wände ebenso kalt und abstoßend wie im Wartebereich. Am liebsten hätte ich Ma an die Hand genommen, um sie zurück zum Auto zu ziehen. Bloß weg von hier. Der Ort war mir zu unheimlich. Bilder hingen hier keine mehr, nur diverse Urkunden und ein gewaltiger Schrank mit Büchern bekleidete die Wand hinter Wassili, die sich alle um die Psyche der Menschen drehten. Es erstaunte mich, dass so viele Bände über das Thema existierten.

»Nun«, sagte Wassili und bedeutete uns, dass wir uns hinsetzen sollten. Er selbst nahm gegenüber auf einem Lederstuhl Platz und schlug die Beine übereinander. Er wirkte erstaunlich groß, trotz der Armee von Büchern in seinem Rücken.

Ich ließ meinen Blick wandern und wunderte mich, dass es keine Liege in diesem Zimmer gab. Musste man sich nicht hinlegen, wenn man nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte?

»Deine Mutter erzählte mir, dass du immer mal wieder einen Mann siehst, den, allem Anschein nach, nur du sehen kannst.«

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf den Psychiater, der jetzt ein Notizbuch vor sich liegen hatte. Er drückte auf das hintere Ende eines silbernen Kugelschreibers, sodass die Spitze mit einem Klicken hervorschnellte.

»Ich sehe ihn nicht mehr«, sagte ich. Ich saß mit durchgedrücktem Rücken da, mit angespannten Schultern und erhobenem Kinn. Das musste seltsam aussehen, daher zwang ich mich, in eine entspanntere Position zu wechseln. Es gelang mir nur bedingt.

»Achso«, sagte Wassili und kritzelte etwas in sein Notizbuch. Der Kugelschreiber kratzte über das Papier, wodurch sich überall auf meinem Körper eine feine Gänsehaut bildete. Kratz-kratz-kratz.

»Seit wann siehst du ihn nicht mehr?«

Ich bemerkte, dass ich mich wieder versteift hatte, und legte die Hände in den Schoß. »Schon seit einer ganzen Weile. Ich weiß, dass er nur eine Fantasiegestalt war. Jetzt geht es mir besser.«

»Was war der Auslöser dafür?«

Ich rutschte unruhig hin und her. Mas Anwesenheit machte mich nervös. Sie saß da wie eine Statue, den Blick auf den Psychiater gerichtet und sagte kein Wort.

»Was?«, fragte ich, obwohl ich die Frage klar und deutlich verstanden hatte, nur um etwas Zeit zu gewinnen.

»Was war der Grund für deine Besserung? Wie kommt es, dass du den Mann nun nicht mehr siehst?«

»Ich weiß nicht. Ich …es ist einfach so.«

»Achso«, sagte Wassili wieder und erneut kratzte der Kugelschreiber über das Papier. Kratz-kratz-kratz.

»Erzähl mir ein bisschen was von dir, Eddie«, fuhr der Psychiater fort. »Was ist deine erste Kindheitserinnerung?«

Kurz blitzte das Meer vor meinem inneren Auge auf und für den Bruchteil einer Sekunde wurde ich in den Albtraum zurückversetzt. Ich schluckte. Warum musste ich ausgerechnet jetzt an diesen Traum denken?

»Ich weiß nicht genau«, erwiderte ich.

»Lass dir ruhig Zeit.«

Ich überlegte. »Ich glaube … ich glaube, es ist Ma, die mir mein Frühstück vor die Nase setzt. Es ist Bananenbrot. Früher stand ich auf das Zeug, heute finde ich es abartig.«

Kratz-kratz-kratz.

Wie in meinem Zimmer. Ich erschauerte.

»Was ist so besonders an dieser Erinnerung?«, fragte Wassili. »Warum ist sie dir im Gedächtnis geblieben?«

»Keine Ahnung.«

Wassili wartete.

»Das muss kurz nach dem Verschwinden von meinem Vater gewesen sein«, fuhr ich fort. »Vielleicht auch später, ich bin mir nicht sicher. Ich schätze, ich war da ungefähr vier.«

»Und was tat deine Mutter, als sie dir das Frühstück hingestellt hat?«

»Sie weinte.«

Ma rührte sich neben mir, erstarrte aber direkt wieder.

Kratz-kratz-kratz.

Der Psychiater nickte, ohne von seinen Notizen aufzusehen. »Wann ist dein Vater verschwunden?«

»Er ist gegangen, als ich drei war.«

»Erinnerst du dich an ihn?«

»Nein. Ich kenne ihn nur von einem Foto.«

»Nur eins? Gibt es nicht mehr?«

»Ich kenne nur das eine.«

»Besitzen Sie nur ein Foto?«, fragte Wassili Ma und blickte zum ersten Mal auf, seit er mit der Sitzung begonnen hatte.

»I-ich habe alle entsorgt.«

»Achso.« Kratz-kratz-kratz.

»Frau Quinn, ich würde gerne alleine mit Eddie sprechen, ist das möglich?«

Ma zögerte, dann nickte sie, stand auf und verließ den Raum. Ich fühlte mich mit einem Mal sehr einsam. Das Büro erschien mir riesig, während ich mir zwergenhaft vorkam auf dem gepolsterten Sofa; meine Füße baumelten hilflos in der Luft, weil ich zu klein war, um den Boden zu berühren.

»Wie ist die Beziehung zwischen dir und deiner Mutter?«, fragte Doktor Wassili plötzlich. Er vermied es weiterhin, mich anzusehen.

»Gut«, antwortete ich sichtlich irritiert über diese seltsame Frage.

»Findest du es in Ordnung, dass sie alle Bilder weggeworfen hat?«

»Warum nicht? Ich kenne meinen Vater nicht.« Langsam wurde ich wütend. »Er hat mich gezeugt und dann entschieden, dass er mich nicht haben wollte, also ist er abgehauen. Und Ma war wohl auch nicht gut genug für ihn. Von mir aus kann mein Erzeuger bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ich brauche keine Fotos oder Erinnerungen. Wenn er der Meinung war, zu verschwinden, dann finde ich das okay, keine Gedanken an ihn zu verschwenden.«

Kratz-Kratz-Kratz.

Ich rieb mir die Augen.

»Streitet deine Mutter und du euch häufig?«

»Nein! Warum fragen Sie so was?«

»Ich möchte dich nur näher kennenlernen, Eddie. Dafür muss ich alles wissen. Wie sah deine bisherige Kindheit aus, was machst du in deiner Freizeit, wie sind deine schulischen Leistungen, wovor hast du Angst – alles eben.«

»Ich habe Angst um Ma.«

»Warum?«

»Weil sie sich Sorgen um mich macht. Pausenlos. Sie versucht alles, damit ich glücklich bin. Sie arbeitet sehr viel, hat zwei Jobs und muss sich auch noch um mich kümmern. Sie sieht immer so müde aus und traurig und deswegen habe ich Angst.«

»Hilfst du viel im Haushalt, Eddie?«

»Ja.«

»Und bist du viel allein?«

»Nein. Vormittags bin ich in der Schule. Ma arbeitet dann noch. Wir sehen uns, sobald ich schulfrei habe und am Abend arbeitet sie wieder.«

»Da bleibt nicht viel Zeit für Schlaf.«

»Sie legt sich oft hin, wenn ich aus der Schule gekommen bin.«

»Und dann erledigst du den Haushalt.« Es war keine Frage. »Du machst dir also auch Frühstück für die Schule und verlässt allein das Haus.«

»Ja, aber das ist okay, warum sagen Sie das so komisch?«

»Wie sage ich das denn?«

»Ich weiß nicht. Komisch eben. So als wäre Ma eine schlechte Mutter.«

»Ist sie das?«

»Nein!«, schrie ich und erschrak über meine laute Stimme. »Sie ist eine tolle Mutter. Sie kellnert von fünf bis 13 Uhr und dann wieder von 18 Uhr bis Mitternacht. Dazwischen schläft sie und kümmert sich um mich. Sie ist keine schlechte Mutter. Wir brauchen das Geld.«

Der Kugelschreiber flog über das Papier und kratzte so laut, dass ich mir von innen auf die Lippen beißen musste, um nicht zu schreien. Zudem setzte ich mich auf meine Hände, damit ich nicht aufsprang und den Stift aus dem Fenster warf.

»Du siehst den Mann immer noch, richtig?«

Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke und hustete.

Endlich sah Wassili von seinen Notizen auf. Er blickte mir in die Augen. Das erschwerte, die Beherrschung nicht zu verlieren, und ich wünschte mir, dass er doch wieder wegsah. Den Gefallen tat er mir nicht.

»Nein«, sagte ich knapp. Immer noch kratzte mein Hals.

»Nein. Hm«, erwiderte der Psychiater und tippte sich mit dem hinteren Ende des Kugelschreibers gegen die Lippen. »Möchtest du hören, was ich denke?«

Ich sagte nichts.

»Ich denke, du siehst die Gestalt und du behauptest nur, du sähest sie nicht mehr, um deine Mutter nicht zu beunruhigen. Du hast gesehen, wie viele Sorgen sie sich um dich macht und möchtest ihr nicht noch mehr aufbürden. Vielleicht sind die Erscheinungen sogar schlimmer geworden.«

Ich blieb weiterhin stumm.

»Deine Mutter hat mir erzählt, dass du manchmal ins Bett machst.«

Röte schoss mir ins Gesicht. Ich wich seinem Blick aus. Wieder kratzte der Kugelschreiber über das Papier. Ich krallte die Fingernägel in das Polster des Sofas.

»Ich möchte dir nur helfen, Eddie. Genau wie deine Mutter. Also sag mir, und dieses Mal ehrlich, siehst du die Gestalt noch?«

»Ja.«

»Könnte sie der Grund sein, weshalb du ins Bett machst?«

»Weiß nicht. Das passiert einfach. Kann’s nicht kontrollieren.« Ich zögerte, dann erzählte ich dem Psychiater von den Geräuschen in der Nacht und meinem wiederkehrenden Traum vom Ertrinken. Währenddessen schrieb Wassili mit. Es kostete mich weiterhin Mühe, das Gekratze zu ertragen.

»Wart ihr mal im Hallenbad oder ist dir beim Spielen in der Badewanne etwas passiert?«

»Nicht, dass ich wüsste. Ich weiß nicht, warum ich solche Angst vor Wasser habe. Das war schon immer so.«

»Hm. Ich werde deine Mutter fragen, ob sie etwas weiß«, sagte Wassili mehr zu sich selbst. »Siehst du eine Verbindung zwischen den Träumen und dem Mann mit Hut? Wie nennst du ihn? Den Unheimlichen Mann?«

Ich nickte. »Da gibt es keine Verbindung. Den Mann habe ich zum ersten Mal am Todestag meines Goldfischs gesehen, die Träume sind schon immer da gewesen.«

»Ein Fisch schwimmt im Wasser«, murmelte Wassili und machte sich erneut eine Notiz. »Erzähl mir von den Erscheinungen in der Nacht. Ist es immer der Mann, den du siehst? Kommen auch hin und wieder andere Gestalten in dein Zimmer? Oder auch Schatten? Geräusche?«

»Es ist immer er. Die Geräusche sind unterschiedlich. Mal sind keine da, dann starrt er mich nur an und mal höre ich das Kratzen oder Atmen. Und manchmal … manchmal setzt er sich zu mir aufs Bett.«

»Kannst du dich während dieser Erlebnisse bewegen?« Wassili blickte weiterhin auf seine Notizen und sein Kugelschreiber kratzte über das Papier. Lange würde ich das nicht mehr aushalten.

»Nein. Also, ja. Ich weiß nicht. Mal ja, mal nein.«

Er blickte auf und wirkte dabei wie ein Lehrer, der mich für eine dumme Antwort tadelte.

»Meistens nicht.«

Wassili nickte. »Du sagtest, du siehst den Unheimlichen Mann meistens nachts, was ist tagsüber anders?«

Ich entschied mich, einfach zu erzählen. Der Psychiater würde ohnehin nicht locker lassen, bis ich redete. Also erzählte ich, von der Erscheinung am Todestag meiner Tante und den wenigen Malen, als ich den Unheimlichen Mann in der Ferne stehen sah.

»Zwei Todesfälle. Denkst du oft über den Tod nach, Eddie?«

»Manchmal.«

»Warum tust du das?«

»Ich möchte wissen, was danach passiert. Nachdem man gestorben ist.«

Wassili nickte und schaute erneut auf sein Notizbuch. Der Kugelschreiber flitzte über das Papier.

Da sah ich ihn. Der Unheimliche Mann stand in der Ecke und starrte mich an. Wie immer, verharrte er regungslos, den Hut im Gesicht, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben.

Ich sog zischend Luft zwischen den Zähnen ein, bemüht, mir nichts anmerken zu lassen. Was machte er hier?

»Was hat es mit den Worten am Ende deines Traums auf sich?«, fragte Wassili und ich fuhr zusammen. Er starrte noch immer auf seine Notizen, wodurch er von meiner Reaktion nichts mitbekommen hatte.

»›Sieh, was du getan hast, Eddie.‹ Was bedeutet das?«

»Weiß nicht«, presste ich hervor.

»Hm«, machte der Psychiater und schrieb weiter.

Ich blickte erneut in die Ecke und zum zweiten Mal seit der Unheimliche Mann mir erschien, bewegte er sich. Langsam glitt seine Hand aus der Manteltasche. Er trug dieselben schwarzen Handschuhe wie am Todestag meiner Tante. Nun streckte er den Arm aus, ballte eine Faust und zeigte auf mich.

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich schwitzte, wollte weg.

»Nun«, sagte Doktor Wassili. Ich sah ihn hilfesuchend an, doch er legte den Kugelschreiber ab und kramte erneut das Brillenputztuch hervor, um die Gläser abzuwischen.

Als ich ein weiteres Mal in die Ecke blickte, war der Unheimliche Mann verschwunden.

Ich zitterte. Es gelang mir kaum, mich zu beruhigen. Warum hatte er auf mich gezeigt? Was bedeutete das?

»Ich denke«, fuhr Wassili fort, »wir werden deine Mutter nun doch wieder dazu holen. Wärst du so freundlich?«

Ich nickte und sprang auf. Meine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an, ich schwankte bedrohlich.

»Ist alles in Ordnung, Eddie?«

»Ja«, sagte ich und schenkte ihm ein Lächeln. Seinem Gesichtsausdruck zufolge war es nicht sehr überzeugend. Bevor er etwas erwidern konnte, lief ich Richtung Tür und ließ Ma herein.

Wir unterhielten uns eine Weile weiter. Im Grunde redeten die Erwachsenen und ich saß stumm daneben. Doktor Wassili stellte eine erste Diagnose: Schlafparalyse. Er sagte, ich befände mich oft in einem Zustand zwischen Schlaf und Aufwachen, was zwar ungefährlich sei, jedoch Traumbilder entstehen ließe, die erschreckend realistisch wirken würden. Ich wusste, dass er sich irrte. Aber das war in Ordnung. Zumindest für den Augenblick, denn Ma schien durch diese erste Diagnose ein wenig beruhigter. Ich kämpfte immer noch damit, mein klopfendes Herz zu beruhigen und die Gedanken zu ordnen.

Der Unheimliche Mann hatte auf mich gezeigt, direkt nachdem Doktor Wassili die Worte aussprach, die mich jedes Mal aus meinem Albtraum schreckten: Sieh, was du getan hast, Eddie.

Konnte es sich dabei um einen Zufall handeln? Nein, das glaubte ich nicht. Das führte zu der nächsten Frage: Was hatte ich getan? Und wenn es sich um eine Sache handelte, die eine so unheimliche Kreatur heraufbeschwört hatte, wie schrecklich war es?

Kapitel 5 – Die Erscheinung

 

Lange Schatten krochen durch das Haus und fraßen sich am restlich verbliebenen Sonnenlicht satt.

Meiners studierte seine Notizen. Er saß im Wohnzimmer auf dem Sofa. Auf dem Tisch vor sich ausgebreitet lagen Eddie Quinns Akte und seine eigenen Aufzeichnungen. Der Kaffee, den Meiners sich vor zwei Stunden gemacht hatte, war halb ausgetrunken und erkaltet. Aus dem Kassettenrekorder drang Eddies ruhige Stimme und erzählte von seiner ersten Therapiesitzung bei Doktor Wassili.

»Das Kratzen des Kugelschreibers ist eine Art Trigger«, murmelte Meiners und knabberte an seinem Stift herum.

»Er trug dieselben schwarzen Handschuhe wie am Todestag meiner Tante. Nun streckte er den Arm aus, ballte eine Faust und zeigte auf mich.«

Meiners hielt inne und lauschte. Er deutete auf ihn. Warum? Wegen des seltsamen Satzes, den Eddie immer wieder in seinen Träumen hörte? Er schob ein Blatt zur Seite und fuhr mit dem Finger über die Aufzeichnungen. An der passenden Stelle verharrte er und las vor: »Sieh, was du getan hast, Eddie.«

Meiners griff sich den Kaffeebecher und nahm einen Schluck. Angewidert verzog er das Gesicht und stellte den Becher ans hinterste Ende des Tisches.

Früher hätte Sarah ihn ausgelacht. Sie hatte stets einen frisch gebrühten Kaffee parat gehabt. Wenn er in seine Arbeit vertieft war, blieb so manches Getränk unberührt.

Meiners schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, und drückte auf die Stopp-Taste am Rekorder.

»Wer bist du?«, fragte er seine Notizen in denen in großen Lettern ›Unheimlicher Mann?‹ stand.

Eddie Quinn wies verschiedene Symptome auf. Symptome, die sowohl auf eine Form der paranoiden Schizophrenie hindeuteten – die Wahnvorstellungen, das Gefühl, von der Kreatur verfolgt zu werden, die Stimme in seinem Traum –, aber auch eine dissoziative Identitätsstörung nicht ausschließen ließen. Möglicherweise war eine weitere Persönlichkeit in Eddie, dieser besagte Unheimliche Mann. Diese Figur beging die Morde, was erklären würde, weshalb er sich nicht an die Taten erinnerte. Doch Menschen mit einer Persönlichkeitsspaltung wussten in der Regel nichts von den anderen Identitäten, in die ihr Geist zerbrochen war. Eddie dagegen fühlte sich verfolgt, gar verflucht.

Meiners rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Bisher war es ihm nie passiert, keine anfängliche Diagnose stellen zu können. Er galt als der Beste seines Fachs, auch wenn ihm weniger Fälle zugewiesen wurden. Meiners seufzte. Es war kein Wunder, dass seine Kollegen ihm nicht mehr trauten.

Sarah und er hatten sich auseinandergelebt. Das hatte er nicht akzeptieren wollen. Das Ende der Geschichte war ein Wutausbruch vor einem Patienten, der gebrochene Arm seines Sohnes und seine Unterschrift auf den Scheidungsunterlagen. Der ständige Kampf um das Sorgerecht hatte seinen Aggressionen nicht gerade gutgetan. Und jetzt, wo Sarah gewonnen hatte und ihm verbot, seine Kinder zu sehen, schien Meiners immer weiter abzurutschen. Er fühlte sich, als würde er sich verzweifelt an einen Felsvorsprung klammern. Unter ihm ein unendlich tiefer Abgrund, darin Finsternis, die darauf wartete, ihn zu verschlingen. Sie würde alles zerstören, was ihn ausmachte. Deswegen hielt er sich fest. Doch die Steine waren glitschig und die Kraft seiner Arme ließ nach.

Mit einem wütenden Knurren schlug Meiners das Notizbuch zu. Es gelang ihm einfach nicht, sich zu konzentrieren. Immer wieder drifteten seine Gedanken ab.

Mit Daumen und Zeigefinger massierte er seine Schläfen und gähnte. Danach betrachtete er erneut das Papier-Gewusel auf seinem Tisch und stand vom Sofa auf. Er musste dringend den Kopf freibekommen, wenn er heute Abend noch etwas schaffen wollte, also entschied er sich für einen Spaziergang.

Er schnappte sich Schal und Handschuhe und schlüpfte in seinen Mantel. Vor der Haustür nahm er einen tiefen Atemzug. Es roch nach Winter, obwohl der Boden bereits taute und sich erste Knospen bildeten. Meiners rieb die Hände aneinander, zog sich die Handschuhe an und vergrub sie tief in den Taschen seines Mantels. Ein Wölkchen kondensierter Luft stieg mit jedem Atemzug auf, ehe es vom Wind davon getragen wurde.

Er spazierte langsam die Straße entlang. Es freute ihn, dass er scheinbar der Einzige war, der sich für einen Spaziergang entschieden hatte und somit nicht gezwungen war, mit Nachbarn und Bekannten Smalltalk zu halten. Im Augenblick wollte Meiners nur für sich sein und seine Gedanken sammeln.

Aus der Ferne drang Verkehrslärm an seine Ohren, von den Bäumen schwebten vereinzelte Vogelstimmen zu ihm herüber. Die Sonne lugte zwischen den Häusern hervor und würde bald untergegangen sein.

Meiners richtete den Blick in den Himmel. Er genoss die Abendröte. Wie ein Meer aus Blut, schoss es ihm durch den Kopf und er wunderte sich über diesen düsteren Gedanken. Er hatte die Abenddämmerung bisher nie mit Blut in Verbindung gebracht, sondern sie eher mit schönen Gefühlen, wie Liebe oder Freude, assoziiert. Meiners blickte wieder vor sich. Wann hatte das angefangen? Seit wann sah er in allem etwas Negatives? Er ärgerte sich über sich selbst. Bevor er der Wut erneut eine Schleuse öffnete, zwang er sich, an Eddie und seine Psychose zu denken.

Der Unheimliche Mann existierte nicht. Einen Stalker schloss er aus. Andernfalls wäre Eddie nicht der Einzige, der diese seltsame Gestalt sah. Sie manifestierte sich vor allem nachts, wenn der junge Mann sich ohnehin seiner Angst hingab. Doch was waren die Auslöser für das Erscheinen am Tag? Der Goldfisch, die Tante – sie beide verband eine wichtige Gemeinsamkeit: der Tod. Erschien der Unheimliche Mann immer dann, wenn Eddie mit dem Tod konfrontiert war? Suchte sich sein Unterbewusstsein Menschen aus, die als Nächstes den Tod finden würden? Finden sollten? War die Kreatur eine Halluzination oder doch ein Teil seiner selbst? Ein Splitter seiner Seele, der sich zu einem eigenen Individuum geformt hatte? Hatte ein Erlebnis im Wasser dazu geführt? Was veranlasste Eddie bzw. die zweite Persönlichkeit zu diesen Gräueltaten? Möglicherweise der Verlust des Vaters. Bei der Erzählung über die Therapiesitzung wurde deutlich, dass Eddie zwar nichts mit seinem Erzeuger – wie er ihn nannte – zu tun haben wollte, aber dennoch wütend auf ihn war. Vielleicht hatte sich diese Wut manifestiert und weil Eddie es nicht ertrug, zu töten, erschuf seine Psyche den Unheimlichen Mann, der diese Aufgabe erfüllte. Ließe das nicht vermuten, dass er hauptsächlich Menschen männlichen Geschlechts tötete? Männer wie seinen Vater?

Meiners bog in eine Seitenstraße ein und näherte sich einem Spielplatz. Dieser wirkte ebenfalls wie ausgestorben.

Immer wieder kam ihm die Frage in den Sinn, was all diese Dinge mit Eddies Angst vor Wasser zu tun hatten. Warum träumte er ständig davon, zu ertrinken? Ein Szenario könnte sein, dass sein Unterbewusstsein ihm damit deutlich zu machen versuchte, dass er mit der Last, sich um seine überarbeitete Mutter zu sorgen, nicht klar kam. Eddie hatte eindeutig zu früh erwachsen werden müssen. Er hatte sich um den Haushalt kümmern müssen, sich selbst versorgen müssen und schien für Freunde wenig Zeit zu haben.

Meiners notierte sich im Geiste, mit Eddie über Schulfreunde zu sprechen. Das Thema war kurz zur Sprache gekommen, als er seinen Fragebogen abgearbeitet hatte, aber er hätte etwas übersehen können. Er wusste, Kinder ertrugen einiges, um ihren Eltern keine Sorge zu bereiten. Sie waren aufmerksamer als die meiste Erwachsenen. Eltern, die behaupteten, ihr Kind hatte keine Ahnung von ihren Eheproblemen, logen entweder oder waren verblendet.

Er war verblendet gewesen. Sarah und er. Wie oft hatten sie sich gestritten, während die Jungs oben in ihren Zimmern hockten. Sie hatten gedacht, leise genug zu sein.

»Ihr streitet euch nur noch!«, hallte Marcels Stimme durch seinen Kopf, am Tag, als er seine Sachen gepackt hatte, um in eine eigene Wohnung zu ziehen. Mittlerweile besaß er ein Haus, seine Jungs hatten es nicht einmal gesehen.

Meiners blieb stehen und schloss die Augen. Schon wieder. Ich möchte doch nur in Ruhe arbeiten, warum schaffe ich das nicht?

Er stützte sich an dem Zaun ab, der den Spielplatz von der Seitenstraße abgrenzte. Die Kälte des Stahls drang durch seine Handschuhe wie Wasser durch den löchrigen Rumpf eines Schlauchboots. Sie breitete sich aus, bis seine Fingerspitzen schmerzten. Dennoch verharrte Meiners und betrachtete die Spielgeräte, eins nach dem anderen. Es gab zwei Schaukeln, die sich leicht im Wind wiegten. Davor befand sich ein Sandkasten, in dem ein Plastikboot steckte, das bis zur Hälfte im Sand vergraben war, der noch von den Regenschauern der letzten Tage feucht war.

Die Sandkästen wirkten trostlos, wenn sich keine Kinder darin aufhielten.

Meiners’ Blick wanderte zu einer Wippe, deren eines Ende in die Luft ragte. Es folgte eine weitere Schaukel. Eine Nestschaukel, in die sich manchmal sogar Erwachsene legten, um die Wolken zu betrachten oder nachzudenken. Kurz überkam ihn der Drang, sich hineinzulegen, doch dann würde er nur wieder an Sarah und die Jungs denken, und dafür war in seinem Kopf kein Platz. Er hatte zu arbeiten!

Das letzte Spielgerät war ein Klettergerüst, das …

Meiners erstarrte. Hinter dem Gerüst, versteckt hinter dem Gebüsch, stand jemand. Es schien ein Mann zu sein, der einen langen Mantel trug und einen Hut, dessen breite Krempe sein Gesicht verdeckte.

Der Unheimliche Mann!

Meiners schrak zurück und stolperte dabei über seine Füße. Er konnte den Blick nicht von der Gestalt am anderen Ende des Spielplatzes abwenden, die ihn unverwandt anstarrte. Meiners sah genauer hin. Dann kicherte er leise und fasste sich ans Herz, so als könnte er das schnelle Pochen dadurch verlangsamen.

Seine Augen hatten ihm einen Streich gespielt. Dort stand kein Mann. Was er als vermeintliche Gestalt ausgemacht hatte, waren eine Straßenleuchte, die zwischen den Büschen hervorstand, und ein Streusalzbehälter. Die Nacht war hereingebrochen und unscheinbare Dinge verwandelten sich plötzlich in Gestalten und Monster.

Meiners schnaufte, blickte aber noch einmal zu der Stelle hinüber. Jetzt hatte nichts davon mehr Ähnlichkeit mit einem Mann. Wie hatte er sich nur so täuschen können?

»Ich bin wohl einfach überarbeitet«, antwortete er sich selbst, musterte die Stelle ein letztes Mal und machte sich dann weiter auf den Weg.

Die Temperatur sank rapide. Meiners vergrub die Hände wieder in den Taschen. Neben ihm raschelte etwas.

Er wirbelte herum.

In der Hecke hielt sich ein Tier auf – ein Vogel oder Eichhörnchen.

»Ganz schön schreckhaft heute, Doktor Meiners«, sagte er und grinste. Er ging weiter, wieder raschelte es aus der Hecke. Dieses Mal schenkte Meiners dem Geräusch keine Beachtung. Da raschelte es erneut. Dieses Mal so laut, als wäre etwas Schweres in die Hecke gesprungen. So schwer wie (ein Mann) ein großer Hund, ein Schäferhund oder Münsterländer.

Meiners fuhr zusammen und wartete nicht, um herauszufinden, was sich in der Hecke aufhielt. Schnellen Schrittes eilte er weiter. Er sah sich nicht um, sondern bog in die nächste Straße ein, auf der eine letzte Biegung folgen würde, ehe er sein Haus erreichte. Für heute hatte er genug erlebt.

Lange Schemen hatten sich zu einem gewaltigen Schatten vereinigt, der die Stadt unter sich begrub. Die Straßenbeleuchtung schenkte Meiners Trost, während er durch die Straßen eilte wie ein verängstigtes Kind.

 

* * *

 

In der Nacht fiel es Meiners schwer, Schlaf zu finden. Immer wieder drifteten seine Gedanken entweder zu Eddie, zu Sarah und den Jungs oder zu dem Unheimlichen Mann.

Das Mondlicht ergoss sich ins Schlafzimmer. Es erhellte nur einen schmalen Teil des Raums. Der Rest lag in völliger Dunkelheit.

Meiners verharrte in gespannter Erwartung. Immer wieder rechnete er damit, einen Schatten am Fenster zu sehen, einen Mann mit Hut, oder Finger, die an der Scheibe kratzten. Einmal vermutete er, einen Schemen am Ende des Zimmers vorbeihuschen zu sehen. Je länger er auf die besagte Stelle starrte, schienen sich weitere Bewegungen dazuzugesellen.

»Jetzt verlier nicht den Verstand, alter Junge«, sagte er zu sich selbst.

Warum ging ihm Eddies Fall unter die Haut? Wahnvorstellungen waren kein Neuland für ihn und Gerede über unsichtbare Männer schon gar nicht. In all den Jahren hatte nicht eine Halluzination eines Patienten ihn heimgesucht. Warum also ängstigte ihn ausgerechnet dieser Wahn? Ein Cowboy.

Schuld, hörte er eine Stimme in seinem Kopf sagen. Es war seine Stimme, sachlich und professionell. Der Psychiater in ihm.

Meiners blickte zum Fenster und sah die Baumkronen im Wind tanzen.

Aber natürlich, dachte er. Es wäre doch möglich, dass diese Kreatur die größte Schuld verkörpert. Vielleicht hält Eddie sich unbewusst am Verschwinden seines Vaters für schuldig. Er hält sich dafür verantwortlich, was die extreme Sorge um seine Mutter erklären würde. Deswegen ist der Unheimliche Mann eine männliche Person, vermutlich mit ähnlicher Statur wie der Vater, den Eddie von dem Foto kennt. Das Gesicht verborgen, weil er sich nicht erinnern kann. Fotos geben eine Momentaufnahme preis, nie das volle Spektrum.

Er nickte und schloss die Augen. Die größte Schuld. Ich habe ihn gesehen, weil mein Unterbewusstsein diese Schlüsse bereits gezogen hatte. Ich war bloß zu abgelenkt, um sie bewusst zu ziehen. Ich kenne Eddies größte Schuld und fühlte mich dadurch an meine erinnert. Bei Eddie manifestiert sich sein Vater und bei mir, meine aggressive Seite. Ich habe im Grunde mich selbst am Spielplatz gesehen.

Und die Hecke?, flüsterte eine andere Stimme, die aus dem hintersten Teil seines Verstandes heraufgespült worden war.

Das war nichts. Ein Hund, nichts weiter.

Meiners wartete, lauschte. Der Wind heulte, in der Ecke knackte es.

Er drehte sich auf die Seite, ohne die Augen zu öffnen. Er wollte nicht wissen, was das Knacken verursacht hatte. Für heute hatte Meiners genug gesehen. Und dann, ganz langsam, streckte der Schlaf die Finger nach ihm aus, zog ihn mit sich und er glitt davon in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 6 – Heimliche Gespräche

 

Ich hatte einige Sitzungen mit Doktor Wassili. Im Grunde liefen sie immer gleich ab: Er fragte mich nach meinen Erscheinungen – ›Epiphanien‹ nannte er sie – und ich erzählte ihm davon.

Als ich zehn war, habe ich einmal das Wort ›Epiphanie‹ nachgeschlagen und mich gefragt, warum der Psychiater ausgerechnet diesen Begriff verwendete. Wollte er sich über mich lustig machen? Ich hasste es, wenn er den Unheimlichen Mann so bezeichnete. Epiphanien gingen meist mit etwas Göttlichem einher, mit schönen Dingen, nicht mit dämonischen.

Während all dieser Sitzungen blieb eine gewisse Distanz zwischen uns. Wie eine Mauer, kalt und undurchsichtig. Obwohl er alles von mir wusste, waren wir Fremde. Ich ließ ihn nie ganz an mich heran und Wassili dachte gar nicht daran, etwas von sich preiszugeben. Manchmal fragte ich mich, ob Doktor Wassili Kinder nicht mochte oder ob er nur mich nicht ausstehen konnte. Dabei gab ich mir die größte Mühe, seine Fragen zu beantworten, nahm brav die Medikamente, die er mir verschrieb. Pillen gegen Wahnvorstellungen und um mich zu beruhigen. Einmal verordnete er mir sogar Antidepressiva.

Nichts, was er versuchte, half. Doch wie immer, wollte ich Ma nicht enttäuschen, also schwindelte ich. Erzählte ihr, es ginge mir viel besser. Behauptete sogar, Doktor Wassili und ich würden uns prima verstehen. Ich behielt alles für mich, die Geräusche in der Nacht, zu denen sich mittlerweile flüsternde Stimmen gesellt hatten. Es gelang mir besser, meinen Harndrang zu kontrollieren. Trotz der Angst, machte ich seltener ins Bett und irgendwann hörte es auf.

Mit zwölf Jahren erzählte ich Doktor Wassili, ich würde den Unheimlichen Mann nicht mehr sehen. Er wäre verschwunden. Der Psychiater blieb skeptisch.

Da Mas Wunsch, einen normalen Sohn zu haben, stärker war, als ihre Zweifel, gelang es mir, sie zu überreden, fortan nicht mehr zu Doktor Wassili in die Praxis zu müssen.

Ihm gefiel die Idee nicht, doch Ma setzte sich durch. Sie sagte ihm, wir wollen es eine Weile ohne Arzt und Medikamente probieren. Es waren andere Zeiten damals. Geisteskrankheiten waren in den 70ern bei Weitem nicht so gut erforscht wie in der heutigen Zeit.

Ich war überglücklich, nicht mehr auf dem übergroßen Sofa Platz nehmen zu müssen, auf dem meine Füße hilflos in der Luft baumelten. Vor allem war ich froh, nicht länger den Drang zu verspüren, den verdammten Kugelschreiber von Wassili aus dem Fenster zu schmeißen, weil mich sein Kratzen an die Geräusche der Nacht erinnerte.

Endlich sollte wieder alles normal werden.

Natürlich wurde es das nicht. Ich würde auch nicht behaupten, es wurde schlimmer. Der Unheimliche Mann besuchte mich weiterhin in den Nächten. Die Albträume vom Ertrinken blieben und hin und wieder sah ich die Gestalt auch am Tage auf der anderen Straßenseite, beim Spielplatz oder in finsteren Ecken stehen.

Was neu war, war das Wispern.

Es begann schon während meiner Therapie. Anfangs verstand ich kein einziges Wort. Nachts lag ich wie erstarrt da, weinte, zitterte und lauschte angespannt.

Mit der Zeit kamen Bruchstücke durch, Namen, vereinzelte Wörter.

Das Wispern nahm zu. Irgendwann hörte ich es auch am Tage. Ein weiterer Grund, weshalb ich nicht mehr zu Doktor Wassili wollte. Der Unheimliche Mann flüsterte mir Dinge zu, während der Psychiater mich therapierte. Gemeine Dinge. Schreckliche Dinge. Dinge über Tod und Verwesung.

Auch wenn Kristina uns besuchte, fing er an, auf mich einzureden.

Ich hatte Angst, dass ihr und Doktor Wassili etwas passieren könnte. Der Unheimliche Mann versuchte, mich gegen sie aufzubringen. Sie täten mir nicht gut, sie sollten fernbleiben. Er drohte, sie zu verletzen.

Und da begriff ich zum ersten Mal, dass keiner mehr sicher war. Dass sich jeder, der sich in meiner Nähe aufhielt, in Gefahr befand.

Der Unheimliche Mann würde niemanden an mich heranlassen. Er wollte mich für sich allein. Und er würde jeden vernichten, der sich dem widersetzte.

 

* * *

 

»Sie denken also, das Wesen hat es auf alle Menschen abgesehen, die Ihnen etwas bedeuten?«

Eddie überlegte. »So einfach ist das nicht, Doktor. Wassili war mir nie wichtig, wir haben uns ja nicht einmal besonders gut verstanden. Aber er hat mir helfen wollen. Trotz der fehlenden Sympathie füreinander, wollte er mir im Grunde nur helfen. Wäre es ihm gelungen, hätte der Unheimliche Mann sich ein neues Spielzeug suchen müssen.

Kristina hat meiner Mutter nahe gestanden. Ihr etwas anzutun, hätte Ma verletzt und das hätte wiederum dazu geführt, dass sich meine Sorge um sie verschlimmert.

Ich denke, er ist nicht wählerisch. Befindet sich jemand in meiner Nähe, muss diese Person dafür büßen. Ich darf keine Bindungen eingehen. Niemals. Nie! Verstehen Sie? Deswegen sind auch Sie in Gefahr, Doktor.«

Meiners ignorierte die letzte Bemerkung. »Ich gehe recht in der Annahme, dass Sie in Ihrer Kindheit wenige Freunde hatten, oder?«

»Ich hatte gar keine. Vor den Erscheinungen schon, ich war sogar ziemlich beliebt in meiner Klasse. Aber nachdem ich angefangen habe den … ihn zu sehen, habe ich mich immer mehr zurückgezogen. Ich bin ein Sonderling geworden.« Ein dünnes Lächeln huschte über Eddies Lippen. »Spätestens als das Wispern angefangen hat, habe ich mich vollständig isoliert, weil ich niemanden in Gefahr bringen wollte. Ich habe Privatunterricht bekommen seit ich neun war und selbst als ich Doktor Wassili nicht mehr aufgesucht habe, haben wir das beibehalten. Aus mir ist nie etwas geworden. Ich habe weder einen Schulabschluss noch einen Beruf. Dabei hatte ich mir als Junge geschworen, meiner Mutter unter die Arme zu greifen, sobald ich alt genug für Arbeit wäre. Tja nun … sehen Sie, wohin mich das gebracht hat? Ich werde von einem Dämon verfolgt, meine Mutter ist tot, von ihm ermordet, und ich sitze im Gefängnis.« Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Traurig, nicht? Ich bin zu nichts nutze. Eine Enttäuschung für meine Familie und in den Augen aller ein Mörder. Entschuldigung, ein Serienmörder.« Er schnaufte.

Familie. Er hatte nicht Mutter gesagt, sondern Familie. Er gab sich die Schuld am Verschwinden seines Vaters, da war Meiners sich sicher.

Er schrieb seine Notizen zu Ende, dann fragte er frei heraus: »Glauben Sie, Ihr Vater hat die Familie Ihretwegen verlassen?«

Eddie schien nicht überrascht. Er blickte auf seine Schuhe und knibbelte am Daumennagel der rechten Hand herum. »Es hat eine andere Frau gegeben, das hat Ma immer gesagt«, sagte er schließlich, dann erwiderte er Meiners’ Blick. »Aber es würde mich nicht wundern, wäre es doch meine Schuld.«

Zum ersten Mal verspürte Meiners so etwas wie Mitleid mit Eddie, der wie ein Häufchen Elend auf dem Boden hockte, die Beine angezogen wie ein Kind, die Augen feucht und blutunterlaufen.

»Ich glaube nicht, dass es Ihre Schuld war.« Er biss sich auf die Zunge. Es stand ihm nicht zu, solche Aussagen zu treffen. Was hatte ihn da nur wieder geritten?

»Warum nicht?«, fragte Eddie. »Alles ist meine Schuld. Diese Menschen sind gestorben, weil sie in irgendeiner Verbindung zu mir gestanden haben. Ich bin verflucht, Dok. Der Traum sagt es mir doch immer wieder: Sieh, was du getan hast, Eddie. Was auch immer ich getan habe, muss etwas so Schreckliches gewesen sein, dass es die Aufmerksamkeit eines Monsters auf sich gezogen hat. Und nun verfolgt es mich. Es ist immer da, selbst wenn ich es nicht sehe. Es flüstert mir nachts Dinge zu, die … Ich bin verflucht. Und ich bin schuldig.«

Meiners lehnte sich nach vorne und drückte die Stopp-Taste des Kassettenrekorders.

»Seien Sie vorsichtig mit Ihren Aussagen, Eddie. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Ich möchte Ihre Unschuld beweisen. Geben Sie mir die Chance, genau das zu tun.«

Eddies linker Mundwinkel hob sich ein Stückchen. Durch dieses schiefe Lächeln wirkte es, als wäre sein Gesicht in zwei Hälften geteilt. Die eine grinste, die andere zog einen Schmollmund. »Meine Unschuld?«

Meiners antwortete nicht, packte den Rekorder ein und stand auf. »Für heute haben wir uns genug unterhalten. Bei der nächsten Sitzung sollten wir über die Opfer sprechen, sind Sie damit einverstanden? Oder gibt es noch etwas, dass Sie sich vorher von der Seele reden möchten?«

Eddie schüttelte den Kopf. Er wirkte kraftlos und dünn.

Am Ausgang der Zelle hielt Meiners inne und drehte sich noch einmal um. »Ich habe Angst vor der Digitalisierung.«

Eddie blickte auf. Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Meiners fuhr fort. »Ich besitze weder ein Smartphone noch einen Computer. In der Einrichtung bleibt mir nichts anderes übrig, als mit diesen Maschinen zu arbeiten, aber privat halte ich mich davon fern. Als Kind habe ich einen Film gesehen, in dem sich Roboter gegen die Menschen gewandt und die Weltherrschaft an sich gerissen haben. An den Namen des Films erinnere ich mich nicht mehr, aber einige Szenen sehe ich heute noch so klar vor mir wie damals, als ich vor dem Fernseher gesessen habe. Das hat mir so große Angst gemacht, dass ich mir die Nägel blutig gekaut habe.

Wir leben in einer Welt voller Maschinen, voller Computer. Bald schon werden die Menschen so von ihnen abhängig sein, dass der Verstand schrumpft und wir uns von ihnen beherrschen lassen. Das hat schon angefangen. Deswegen meide ich die Digitalisierung. Sie macht mir Angst. Also nutze ich Notizbücher und analoge Geräte wie den Rekorder. Mein Telefon ist schnurgebunden und mit Wählscheibe. Manchmal denke ich, ich wurde in der falschen Zeit geboren. 2006 ist zu digital für meinen Geschmack, ich hätte lieber in den 30ern oder 50ern die Blüte meiner Jahre erlebt.«

»Warum erzählen Sie mir das, Dok?« Eddie lächelte, dieses Mal wirkte sein Gesicht komplett und er sah ein klein wenig gesünder aus.

»Quid pro quo. Sie erzählen mir Ihre Lebensgeschichte, da ist es nur recht und billig, wenn Sie auch etwas über mich erfahren. Ich möchte, dass Sie mir vertrauen. Vertrauen Sie mir, damit ich Ihnen helfen kann.«

Eine kurze Pause entstand.

»Halten Sie mich für verrückt, Doktor?« Die Frage wirkte aufrichtig, beinahe flehend.

»Sie mögen vielleicht keinen Schulabschluss haben, Eddie, aber Sie sind durchaus intelligent. Aus Ihnen kann noch etwas werden.«

Nachdrücklicher: »Halten Sie mich für verrückt?«

Meiners senkte den Blick, überlegte, ehe er Eddie fest in die Augen sah. »Ich glaube, Ihnen sind schreckliche Dinge widerfahren und Ihr Verstand hat nach einer Lösung gesucht, um sich selbst zu schützen.«

Eddie lehnte sich gegen die Wand.

»Manchmal zerbricht der Verstand in kleine Stücke und formiert sich neu, lässt einen zweiten Verstand entstehen und noch einen, ohne, dass sich der Betroffene dessen bewusst ist. Und manchmal erfindet er eine Person, die Aufgaben für ihn übernimmt.«

»Ich verstehe«, sagte Eddie. Er mied es, Meiners anzusehen.

»Ruhen Sie sich aus. Wir sehen uns morgen.« Meiners deutete einem Wächter an, ihn hinauszulassen.

»Dok«, sagte Eddie und er drehte sich erneut zu ihm um.

»Passen Sie auf sich auf.«

Meiners nickte und ließ Eddie in seiner Zelle allein.

Kapitel 7 – Ermordet

 

Kurz nach meinem 15. Geburtstag traf ich Ma weinend in der Küche an.

Seit einer Weile besuchte uns der Privatlehrer nicht mehr, da ich mich weigerte, zu lernen und mit dem Kopf ständig in den Wolken schwebte. Glücklicherweise gab es in Grubingen schon damals unzählige seltsame Vorfälle, die wichtiger waren, als ein trotziges Kind, weshalb uns das Jugendamt erspart geblieben war. Die Pubertät hatte aus mir einen faulen Nichtsnutz gemacht, der seine Mutter belastete, statt ihr unter die Arme zu greifen. Und da mir das klar war, wurde ich immer unzufriedener und wütender.

Ich schlief bis mittags, manchmal sogar bis in den Nachmittag hinein, erledigte im Haushalt nur das Nötigste. Ma hatte weiterhin ihre zwei Jobs. Sie bat mich nicht, mir Arbeit zu suchen, aber gelegentlich betrachtete sie mich mit diesem vorwurfsvollen Blick, der sagte: »Du bist eine Enttäuschung für mich.«

An jenem Tag lief ich die Stufen runter und wunderte mich, keine Geräusche aus der Küche zu hören. Normalerweise machte Ma sich nach ihrer ersten Schicht einen Kaffee und las Zeitung. Weder die Kaffeemaschine summte noch raschelte Papier.

Ich betrat die Küche, sah sie an der Spüle stehen und brummte etwas, dass eine Begrüßung darstellen sollte. Sie reagierte nicht, was mich wenig kümmerte. Stattdessen begab ich mich zum Küchenschrank, holte Brot und Nutella® heraus und ging dann weiter zum Kühlschrank, um mir den Orangensaft zu nehmen. Ich grunzte entnervt, als ich bemerkte, dass der Saft so gut wie leer war. Er reichte nicht einmal für ein Viertelglas. Das war meine Schuld gewesen, ich hatte die fast leere Packung zurück in den Kühlschrank gestellt und hatte keine neue geholt. Trotzdem richtete sich mein Zorn gegen Ma, schließlich hätte sie genauso gut einkaufen gehen können. Ich war ein echter Mistkerl.

»Der Saft ist alle«, sagte ich in einem aggressiven Ton, trank den letzten Rest direkt aus der Verpackung und warf sie in den Müll.

Ma reagierte noch immer nicht. Langsam wurde ich stutzig. Da merkte ich, wie sie die Nase hochzog. Sie stand mir mit dem Rücken zugewandt, ihr Körper wurde durch das einfallende Sonnenlicht golden umrahmt. Ihre Gestalt selbst wirkte düster und seltsam zerbrechlich.

Ich ging zu ihr, noch immer wütend, und stellte mich mit verschränkten Armen neben sie. Aus irgendeinem Grund ignorierte sie mich und das passte mir gar nicht. Ich war derjenige, der wütend war. Auf sie, auf mich, auf alles.

»Was habe ich jetzt schon wieder verbrochen?«, fragte ich und mit einem Mal, fiel jede Wut von mir ab und die alte Sorge kehrte mit voller Wucht zurück. Ma weinte. Ich ließ die Arme sinken und trat einen weiteren Schritt auf sie zu.

Stumme Tränen rannen Mas Wange herab. Ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich verkniffen, der bebte und deren Winkel sich nach unten neigten. Ihr Gesicht war blass, nur vereinzelte rote Flecken stachen hervor.

Ich streckte die Hand aus. Sie schwebte kurz unbeholfen über Mas Schulter, dann ließ ich sie wieder sinken. Ich fühlte mich völlig hilflos.

»Ma?«, fragte ich vorsichtig.

Sie schien mich nicht einmal zu bemerken.

»Ma?« Dieses Mal lauter.

Sie fuhr zusammen, sah mich an und rieb sich dann mit den Fingerspitzen über Augen und Gesicht. Sie hatte es immer gehasst, in meiner Gegenwart zu weinen. Wenn es doch mal passierte, etwa, weil eine unerwartete Rechnung ins Haus geflattert kam oder ihre zwei Jobs ihr jede Kraft aus dem Körper saugten, wischte sie sich sofort die Tränen aus dem Gesicht. Mit schnellen, nervösen Bewegungen, so als hätte sie etwas Schreckliches getan, das auf der Stelle beseitigt werden musste. Sie war die Starke. Eine Mutter, die ihr Kind beschützte. Für Tränen gab es dort keinen Platz.

»Ma, was ist denn?«, fragte ich dieses Mal mit sanfter Stimme.

Sie öffnete den Mund, ihre Unterlippe bebte und sie schloss ihn wieder. Sie wich meinem Blick aus, drehte sich weg.

»Red mit mir«, sagte ich und wollte sie stützen, doch Ma schüttelte mich ab. Mit kleinen, wackligen Schritten bewegte sie sich auf den Küchentisch zu, um sich zu setzen. Einen Augenblick fürchtete ich, dass sie den Stuhl verfehlen würde oder schon vorher zusammenbrach, doch nichts dergleichen geschah. Mit einer fließenden Bewegung nahm sie Platz und vergrub das Gesicht in den Händen.

Ich setzte mich neben sie. Wartete geduldig. Kein Laut entwich ihrer Kehle. Kein Schluchzen, kein Wort, nur ab und an zog sie die Nase hoch. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hob sie den Kopf und ließ die Hände sinken. Auch wenn sie mich nicht direkt ansah, sondern auf ihre Finger starrte, entging mir nicht, wie gerötet und aufgequollen ihre Augen waren. Es brach mir das Herz.

»Kristina«, sagte sie schließlich mit belegter Stimme.

Ich wartete eine Weile, dann: »Was ist mit ihr, Ma?«

Wieder kullerte eine Träne ihre noch feuchte Wange hinunter. Ich streckte mich zur Arbeitsplatte, riss ein Tuch von der Küchenrolle und reichte es ihr. Sie nahm es ohne ein Wort, um hineinzuschnaufen. Dann knüllte sie es zusammen und hielt es fest mit beiden Händen umschlossen.

»Ist was passiert?«, fragte ich. »Ist sie verletzt?«

»Kristina ist … O Eddie, Kristina ist tot.« Auf der Stelle brach sie erneut in Tränen aus und dieses Mal schluchzte sie. Nie zuvor hatte ich Ma so aufgelöst erlebt. Ich saß mit taubem Körper neben ihr und wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich sie in den Arm nehmen? War es besser, sie in Ruhe zu lassen? War es okay, dass ich sie hier weinen sah? Vielleicht wollte sie lieber allein sein? Meine Gedanken kreisten, bis mir schwindelig wurde.

Ma nahm mir die Entscheidung ab, indem sie sich mir zudrehte und die Arme ausstreckte. Ohne zu zögern, erwiderte ich die Umarmung. Ich hielt sie fest wie damals, wenn ich mir als kleiner Junge die Knie aufgeschlagen oder den Kopf gestoßen hatte. Nur, dass ich dieses Mal derjenige war, der sie tröstete.

»Psst«, sagte ich. »Es wird alles gut.« Was für ein Schwachsinn. Warum sagte man so was? Ich kam mir blöd vor und hielt den Mund. Und so ließ ich sie an meiner Brust weinen, spürte ihren zerbrechlichen Körper zittern, lauschte ihrem leisen Schnaufen. Mein Herz zersprang in immer kleinere Teile. Nicht aus Trauer um Kristina. Sie war mir in diesem Moment vollkommen egal. Ich hatte nicht einmal begriffen, was mir eben mitgeteilt worden war. Im Augenblick zählte nur Ma. Und da erinnerte ich mich an mein altes Versprechen, sie zu beschützen und ihr zu helfen, so gut ich konnte. Ich hatte es gebrochen. Ich hatte Ma enttäuscht, war nie für sie da, ließ sie schuften, während ich faul in meinem Zimmer lag. Nie zuvor war mir aufgefallen, wie zerbrechlich sie war. Fast wie ein Kind. Sie sollte nicht mehr leiden, nie mehr.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Ma löste sich aus der Umarmung und wieder rieb sie sich mit diesem schuldigen Gesichtsausdruck über Augen und Wangen. Sie ging zur Tür und ließ mich alleine in der Küche zurück. Ich war wie erstarrt. Mein Körper fühlte sich nicht wie mein eigener an, unkontrollierbar, fremd. Ich kam mir vor wie ein Gefangener. Was war nur aus mir geworden?

Stimmen rissen mich aus meiner Starre. Zwei Männer hatten das Haus betreten. Im Wohnzimmer warteten Polizisten. Einer von ihnen war ein schlanker, hochgewachsener Kerl, der zweite breitschultrig mit Schnurrbart. Sie sprachen mit Ma und als der schlaksige Typ mich erblickte, wandte er sich mir zu.

»Du musst Eddie sein.« Er streckte mir die Hand hin. Zögerlich ergriff ich sie. »Mein Name ist Kommissar Penning, das ist mein Kollege Oberkommissar Flügge.«

Ich blickte Flügge an, um auch ihm die Hand zu reichen, der reagierte aber nicht. Mir waren die Dienstgrade der Polizei nicht bekannt, doch ›Kommissar‹ klang beunruhigend.

»Wir möchten dir und deiner Mutter gerne ein paar Fragen stellen. Sie hat eingewilligt, euch getrennt voneinander befragen zu dürfen.«

»Wieso? Worum geht es?« Ich sah zu Ma. »Ma, was ist hier los?«

Ehe sie antworten konnte, ergriff bereits Penning wieder das Wort. »Keine Sorge, es sind nur ein paar Routinefragen. Du hast sicher davon gehört, dass Kristina Eiing verstorben ist.«

Ich nickte.

»Niemand wird festgenommen, versprochen. Wir möchten nur ein bisschen mehr erfahren. Alles klar?«

Wieder nickte ich, obwohl ich vor Aufregung kein Wort verstanden hatte.

»Wir möchten dich bitten, in deinem Zimmer zu warten, während wir deine Mutter befragen. Wir kommen danach zu dir.«

Ich schaute erneut zu Ma rüber, sie lächelte mir müde zu, also kam ich der Bitte nach.

Im Zimmer saß ich auf der Bettkante, rieb die verschwitzten Handflächen aneinander und lauschte gebannt, in der Hoffnung, zu verstehen, was die Polizisten mit Ma besprachen. Nicht einmal gedämpfte Stimmen drangen zu mir herein. Es war so still, dass ich glaubte, meinen Herzschlag zu hören.

Die Stille machte mich nur noch nervöser, denn auf Stille folgten meistens Geräusche wie Kratzen oder Schnaufen. Kurz betrachtete ich meine Stereoanlage, hielt es allerdings für eine schlechte Idee, Musik einzuschalten. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich schuldig und wollte keine weitere Aufmerksamkeit auf mich lenken. Vor einigen Jahren hatten wir eine Projektwoche in der Schule gehabt. Jeder Schüler hatte ein Referat über sein Lieblingstier halten sollen, wir hatten sogar welche mitbringen dürfen. Eine Schülerin brachte ihren Kanarienvogel mit, den sie uns stolz präsentierte. In der Pause schlich ich mich ins Klassenzimmer, öffnete das Fenster und ließ den Vogel aus dem Käfig. Nach kurzem Zögern war er hinausgeflogen. Das hatte ich weniger aus Gutmütigkeit für das Tier getan, sondern aus der Motivation heraus, dem Mädchen wehzutun. Das war mir gelungen. Sie hatte so stark geweint, dass sie nach Hause geschickt worden war und zwei weitere Tage lang gefehlt hatte. Damals hatte ich mich gefühlt wie jetzt. Schuldig. Nur, dass es einen wirklichen Grund dafür gegeben hatte. Ich verstand nicht, warum es mir in diesem Augenblick genauso ging.

Es klopfte an der Tür und die Polizisten traten ein.

»Hallo, Eddie«, sagte Kommissar Penning.

Der Oberkommissar schwieg weiterhin. Sein Notizblock schien interessanter zu sein als ich.

»Haben wir was angestellt?«, fragte ich und Penning lächelte.

Er drehte sich zu Flügge um, der kurz nickte, dann wandte der Kommissar sich wieder mir zu. »Ich möchte ehrlich zu dir sein, Eddie. Wir gehen stark davon aus, dass Frau Eiing ermordet wurde.«

Ich hielt den Atem an. »Wie?«

Schweigen.

»Wissen Sie schon, wer es war?«

»Noch nicht.«

»Aber wann ist das passiert? Ist jemand eingebrochen?«

Penning antwortete nicht.

»Moment«, sagte ich, »Sie glauben doch nicht etwa, meine Ma oder ich könnten etwas damit zu tun gehabt haben?«

Wieder lächelte Penning. Es war ein ehrliches, aufmunterndes Lächeln. »Wie gesagt, wir stellen nur ein paar Routinefragen. Das müssen wir, um den wahren Mörder zu finden. Ihr beide hattet viel Kontakt zu der … zu Frau Eiing.«

Kurz sah ich vor mir, wie der Vogel in dem Käfig damals zögerte, ehe er ihn verließ, um davonzufliegen. »Meine Ma hat nichts getan! Und ich ebenso wenig!« Die Worte sprudelten einfach so aus mir heraus. Ich saß aufrecht auf meinem Bett, mein Gesicht glühte.

»Eddie!« Penning hob beschwichtigend die Hände. »Niemand sagt so etwas. Wir unterstellen nicht, wir prüfen. Okay?«

Ich entspannte mich ein wenig und nickte.

»Wie war dein Verhältnis zu Kristina Eiing, Eddie?«

»Ich habe nicht viel mit ihr zu tun gehabt. Ma ist … Ma war mit ihr befreundet. Sie waren beste Freunde. Kristina ist oft zu Besuch gekommen.«

Penning verschränkte die Finger ineinander, sein hünenhafter Kollege machte sich Notizen. Mein Blick ruhte auf seinem Kugelschreiber, der über den kleinen Block von links nach rechts flitzte, kurz in der Luft schwebte, um dann erneut links anzusetzen. Das Geräusch, das er beim Schreiben machte, bannte mich. Es erschien mir unnatürlich laut. Ein Kratzen, das sich vertraut anhörte. Ich hasste es.

»Mochtest du sie?«, fragte Penning.

»Nicht sehr«, antwortete ich, ohne den Blick vom Kugelschreiber zu nehmen.

Der Kommissar tat einen Schritt nach rechts und versperrte mir damit die Sicht auf den Stift. Ich schüttelte den Kopf und rieb mir die Augen.

»Alles okay, Eddie?«

»Ja, ich bin nur müde. Und mir gefällt das hier nicht, um ehrlich zu sein.« Der alte Trotz stieg in mir auf, den ich in letzter Zeit dauernd verspürte und den ich Ma pausenlos fühlen ließ. »Sind wir jetzt fertig?«

»Wieso mochtest du Kristina nicht, Eddie.«

»Weil sie eine beschissene Freundin war und Ma nicht gutgetan hat.« Obwohl ich den Kugelschreiber nicht mehr sehen konnte, hörte ich sein Kratzen deutlich. Es schien aus einer anderen Stelle meines Zimmers zu kommen. Von unter dem Bett.

»Das heißt?«

»Immer ist es nur um sie gegangen. Nie hat sie Ma gefragt, wie es ihr geht oder ob sie etwas für sie tun kann. Dauernd hat Kristina diese abartig engen Klamotten getragen, aus denen ihr fast die Möpse herausgefallen wären, und sie hat sich sogar absichtlich vorgebeugt, wenn ich mich in ihrer Nähe befunden habe. Sie hat sich an jeden Mann rangeschmissen, selbst an kleine Jungen.«

»Hat sie dich mal angefasst?«

»Was?« Ich verzog das Gesicht. »Gott, nein! Sie hat nur … rumgewackelt. Sonst nichts.« Die Aggression war zurückgekehrt. Im Laufe der Zeit war sie eine Art Schutzmechanismus geworden, wenn die Angst zu groß wurde. Und als der Schrank mit Schnurrbart zum ersten Mal das Wort erhob, war mir, als fiele ich in ein tiefes Loch. »Wolltest du ihr etwas antun, Eddie?«

Ich erinnerte mich an die Aussage, dass Kristina ermordet worden war. Angst beschlich mich, zerstörte all meine Stärke und Ignoranz, sodass ich mit einem Mal kleinlaut wurde. »Nein. Ich … ich habe nichts gemacht. Sie müssen mir glauben.« Flehend suchte ich den Blick von Kommissar Penning. Er erwiderte ihn, doch mir war es nicht möglich, zu erkennen, ob er mir glaubte oder nicht.

»Wir haben deine Mutter schon gebeten, in nächster Zeit nicht die Stadt zu verlassen. Alles nur Routine, wie gesagt. Sollten wir weitere Fragen haben, möchten wir euch erreichen können. Danke für deine Zeit, Eddie.« Penning streckte mir erneut die Hand entgegen. Ich betrachtete sie wie eine fremde Lebensform, dann ergriff ich sie langsam, um sie zu schütteln. Mein Körper fühlte sich taub an. Dieses Mal gab mir auch Schnurrbart die Hand und grunzte etwas zur Verabschiedung.

Ich sank auf das Bett zurück und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die beiden Polizisten waren nicht lange da gewesen, trotzdem hatte es sich wie Stunden angefühlt.

Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, wollte ich nach Ma sehen, doch sie wich mir aus und schnappte sich das Telefon. Ma meldete sich auf der Arbeit krank, um sich bald darauf ins Schlafzimmer zu verziehen. Ich setzte mich ins Wohnzimmer vor den Fernseher, hielt die Fernbedienung in der Hand und betrachtete den ausgeschalteten Bildschirm.

Kristina war tot.

Ermordet.

Die Polizisten wollten uns nichts Genaueres erzählen, also stellte ich mir alle möglichen Szenarien vor. War sie erstochen worden? Vergewaltigt? Erschossen? Erwürgt? Schwarze Handschuhe blitzten vor meinem inneren Auge auf.

Während ich auf den ausgeschalteten Bildschirm starrte, erinnerte ich mich an all die Male, in denen der Unheimliche Mann mir schreckliche Dinge zugeflüstert hatte. Er hatte Kristina nicht verachtet. Nicht auf die gleiche Weise wie ich. Für mich war sie bloß ein schlechter Umgang für Ma gewesen. Er aber hatte ihr etwas antun wollen.

Erneute Angst beschlich mich, die Fernbedienung fiel mir aus der Hand. Scheppernd landete sie auf dem Boden, ich nahm es kaum wahr. Die Umweltgeräusche – vorbeifahrende Autos, Kinder, die sich von der Schule auf dem Weg nach Hause befanden und sich lautstark unterhielten, ein bellender Hund – drangen gedämpft an meine Ohren. Mir war, als würde ich aus meinem Körper gleiten und irgendwo darüber oder daneben schweben. Nichts schien mehr seine Ordnung zu haben.

War der Unheimliche Mann am Ende nicht bloß eine Art Geist, der mir düstere Dinge ins Ohr flüsterte? Ich hatte nie an seiner Existenz gezweifelt, doch zum ersten Mal fragte ich mich, ob er zu schrecklicheren Dingen fähig war, als zu flüstern und mir mit den Geräuschen in der Nacht Angst zu machen.

Er war es, dachte ich mit kalter Gewissheit. Er hatte Kristina ermordet. Ich hatte etwas Bösartiges in meinen Verstand gelassen und nun nahm es langsam Gestalt an, manifestierte sich, traf eigene Entscheidungen.

Und es hatte begonnen, zu töten.

 

* * *

 

Es stellte sich heraus, dass Kristina mit ihrem eigenen Gürtel erdrosselt worden war.

Der Täter war geschickt und vorsichtig vorgegangen. DNA-Spuren waren nicht zu finden. Ma und ich wurden nicht lange verdächtigt.

Schnurrbart schien skeptisch mir gegenüber zu sein, so als wüsste er, dass ich etwas vor ihm verbarg. Doch ihm fehlten die Beweise und ich erzählte keiner Menschenseele, dass ich den Täter kannte.

Ich hatte schreckliche Angst. Nur weil ich zugelassen hatte, dass der Unheimliche Mann real geworden war, war Kristina jetzt tot. Es war meine Schuld und ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte.

Ma trauerte ein volles Jahr, ehe es ihr langsam besser ging. Sie hatte weiter abgenommen und die Ringe unter ihren Augen waren dunkler geworden. Sie konnte wieder lächeln, wenn sie auch nie herzhaft lachte.

Tatsächlich hatte ich Ma nie lachen hören, solange ich denken konnte.

Kristinas Tod sorgte dafür, dass ich den Unheimlichen Mann fortan ignorierte. Ich summte, wenn ich sein Wispern vernahm, schaute weg, wenn ich ihn aus dem Augenwinkel bemerkte, und lernte, mit den Geräuschen in der Nacht zu leben.

Und tatsächlich, die Erscheinungen ließen nach, sogar das nächtliche Kratzen verstummte. Endlich schien alles besser zu werden. Die Albträume blieben, doch der Unheimliche Mann verzog sich immer weiter in den Hintergrund. Es folgten Monate, in denen nichts geschah, und langsam fing ich an, ihn zu vergessen.

Dann kehrte er zurück.

An einem sonnigen Tag spazierte ich ziellos durch die Gegend. Ich hatte mich mit Ma gestritten und brauchte frische Luft. Die Decke fiel uns beiden langsam auf den Kopf. Seit Kristinas Tod war nichts mehr wie zuvor. Ma war verbitterter geworden. Ich hatte meinen Schwur, sie zu unterstützen, erneut gebrochen. Weiterhin war ich nutzlos und ohne Arbeit, schob alles auf meine Albträume. In Wahrheit war ich einfach faul.

Vor Doktor Wassilis Praxis hielt ich inne. Aus irgendwelchen Gründen zog mich etwas dorthin. Ich blieb eine Weile davor stehen und wartete, ohne zu wissen, worauf. Ich blickte nach oben, zu einem der Fenster, hinter dem sich sein Sprechzimmer befand – dann sah ich ihn.

Ich konnte den Unheimlichen Mann etwa bis zur Brust sehen, der Rest blieb durch die Mauern verborgen. Er rührte sich nicht. Den Hut hatte er wie zuvor tief ins Gesicht geschoben, dieses Mal war der Kragen seines Mantels hochgeklappt. Trotzdem war es mir möglich, ein Stück seines Kinns zu erkennen. Dank des einfallenden Sonnenlichts, zwar nur den Umriss, dennoch er jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Ich wollte gehen. Mich umdrehen und vergessen, was ich gesehen hatte, doch mein Körper gehorchte mir nicht. Statt zu verschwinden, lief ich auf die Praxis zu. Mein Herz klopfte wie verrückt und ich schrie innerlich auf. Was ging hier vor sich? Hatte der Unheimliche Mann die Macht, meinen Körper zu kontrollieren? War ich ihm schutzlos ausgeliefert? Würde er mich töten?

Während ich das Gebäude betrat, rasten meine Gedanken umher wie Formel-1-Wagen auf dem Nürburgring. Mir wurde schwummrig und mein Magen rebellierte. Gleichzeitig fühlte ich mich wie ein frisch geleerter Eisbecher, kalt und ohne Inhalt. Sollte ich mich übergeben müssen, würde ich nicht mehr als ein trockenes Würgen zustande bringen.

Ich übergab mich nicht. Lief einfach weiter. Stieg die Stufen hoch, die zu Doktor Wassilis Praxis führten. Ein kurzer Flur erwartete mich. Links eine Tür mit der Aufschrift ›Kundentoilette‹, rechts stand in großen Lettern: ›Dr. Stanislav Wassili, Psychiater, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie‹.

Mir war, als befände ich mich in einem Traum. Während ich die Hand nach der Klinke ausstreckte, die zu Doktor Wassilis Wartebereich führte, bewegte ich mich mit diesem seltsamen Gefühl, wie man es aus Träumen kannte: Die Hand vor meinen Augen schien nicht meine zu sein, meine Füße nicht einmal den Boden zu berühren. Mir war, als blickte ich durch eine Kamera, beobachtete mich dabei, wie ich Wassilis Praxis betrat. Und kurz glaubte ich, tatsächlich zu träumen. Das beruhigte ein wenig, denn ich wusste, dass ich jeden Moment aufwachen würde. Irgendetwas Schreckliches würde mich hinter der nächsten Tür erwarten. Das war in Ordnung, solange es dazu führen würde, dass ich mich einen Wimpernschlag später in meinem Bett wiederfände.

Ich lief am Empfangstresen vorbei, ohne mich zu wundern, dass er unbesetzt war – schließlich träumte ich. Kein Patient wartete im Wartebereich – warum auch?

Das Büro von Doktor Wassili schwebte zu mir oder ich zu ihm. Ich machte mich darauf gefasst, den Unheimlichen Mann anzutreffen, vielleicht auch, nach dem Öffnen der Tür in einen Abgrund zu stürzen, der direkt ins Meer führte. Denn endeten nicht all meine Träume so? Mit Lungen voller Wasser?

An einem der Stühle blieb ich hängen und stieß mir den Zeh. Fluchend hob ich den Fuß und schüttelte ihn, dann traf mich das kalte Entsetzen. Schmerzen? In einem Traum? Unmöglich!

Der Impuls, wegzurennen wuchs ins Unermessliche. Gleichzeitig fraß sich etwas anderes durch meinen Körper. Nagte an der Angst und versuchte, sie langsam zu verschlingen: Neugier.

Was erwartete mich hinter der Tür? Würde der Unheimliche Mann mir endlich sein Gesicht offenbaren? Würde ich mich nach all der Zeit mit ihm unterhalten können? Ihn fragen, weshalb er mich heimsuchte? Weshalb er mich verdammt noch mal nicht endlich in Frieden ließ?

Ehe ich mich versah, berührte ich bereits die Türklinke. Sie fühlte sich entsetzlich kalt unter meinen schwitzenden Fingern an. Ich wartete ein paar Sekunden, um zu überprüfen, ob ich mich doch übergeben müsste oder einer Ohnmacht nahe wäre. Als nichts passierte, stieß ich die Tür auf.

Meine Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft. Hektisch huschte mein Blick hin und her, versuchte, alles aufzunehmen, was der Raum zu bieten hatte. Ich erkannte dasselbe alte Sprechzimmer von damals. Die hässlichen weißen Wände, das große Sofa, Doktor Wassilis Stuhl.

Aber wo war der Psychiater?

Ich schaute nach links und sah ihn an seinem Schreibtisch sitzen. Er hatte mir den Rücken zugewandt und sah aus dem Fenster. Es war dasselbe, an dem der Unheimliche Mann vorhin gestanden hatte. Eiskalte Finger legten sich auf meinen Rücken und fuhren ihn entlang. Die Kälte drang durch meine Haut, umfasste mein Rückgrat und verursachte mir beinahe physische Schmerzen.

Ein freudloses Lächeln legte sich auf meine Lippen. Ich kannte solche Szenen zu Genüge aus Krimis, Thrillern und Horrorfilmen. Ich würde zum Doktor gehen, ihn an der Schulter berühren. Der Stuhl würde sich wie von Geisterhand umdrehen. Was ich dann zu sehen bekäme, wäre das aufgequollene Gesicht einer Leiche. Einer erdrosselten Leiche, bei der die Zunge geschwollen und trocken wie ein alter Schwamm auf dem Kinn klebte. Möglicherweise würden sich auch tiefe Kratzer, von unmenschlichen Krallen verursacht, durch sein Gesicht ziehen, das in Fetzen herunterhing. Irgendeine Abscheulichkeit erwartete mich. Es war doch immer dasselbe …

Trotzdem ging ich zu ihm.

»Doktor Wassili?«, sagte ich leise. Ich schlich zu ihm hinüber, fragte mich, wieso ich versuchte, leise zu sein. Ich wollte schließlich bemerkt werden. »Doktor, ich bin es. Eddie.«

Jetzt stand ich hinter ihm und holte mühsam Luft. Meine Kehle schien auf die halbe Größe geschrumpft zu sein, fast als würde ich in diesem Augenblick selbst erdrosselt werden. Mit zittrigen Fingern streckte ich die Hand aus, um dem Psychiater auf die Schulter zu tippen.

Nichts.

Kein Stuhl, der sich auf wundersame Weise drehte, keine Reaktion, die von einem lebenden Menschen zu erwarten war.

Er ist tot. O Gott, steh mir bei, er ist tot, dachte ich und berührte mit den Händen meine Brust.

Vielleicht schläft er nur.

Was für ein lächerlicher Gedanke. Trotzdem sprach ich Doktor Wassili erneut an, dieses Mal lauter. Und als wieder keine Reaktion folgte, schrie ich seinen Namen.

Nichts.

Ich schnaufte, als hätte ich einen Marathon hinter mir. So stand ich eine Weile da, unschlüssig, was ich als Nächstes tun sollte. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und lief um Wassili herum, um ihn anzusehen.

Erschrocken wich ich zurück, verzog den Mund zu einem Schrei, nur um ihn direkt wieder zuzuklappen.

Was ich sah, übertraf jede Vorstellung. Doktor Wassili saß zurückgelehnt in seinem Stuhl. Den Mund weit geöffnet und schmerzverzerrt. Die Augen schockgeweitet, und aus einem von ihnen ragte ein Kugelschreiber hervor. Der Kugelschreiber. Aus dem Glaskörper lief eine gallertartige Flüssigkeit und die vermischte sich mit Blut. Ich wartete darauf, dass Doktor Wassili ruckartig den Blick auf mich richtete, sodass der Stift der Bewegung folgte und er auf mich deutete. Wassili würde den Mund zu einem abscheulichen Grinsen verziehen und sagen: »Sieh, was du getan hast, Eddie!« Mit einer Stimme so kreischend wie Kreide auf einer Schiefertafel.

Ich weiß nicht, wie lange ich gegen das Fenster gepresst dastand und die Luft anhielt. Es gelang mir nicht, den Blick von dem Kugelschreiber zu nehmen. Ab und an schien er sich tatsächlich zu bewegen, doch sobald ich blinzelte, bemerkte ich, dass meine Augen mir bloß einen Streich gespielt hatten.

Doktor Wassili war tot.

Ermordet.

Jemand hatte ihn mit dem Gegenstand ermordet, der mir während unserer Sitzungen, fast den Verstand geraubt hätte. Gott, wie hatte ich das Kratzen des Stiftes auf dem Papier gehasst. Jetzt steckte er in einem Auge. In seinem Auge! Endlich gelang es mir, mich abzuwenden, ich presste die Hände gegen den Bauch, lehnte mich vor und wollte mich übergeben. Stattdessen brachte ich – wie erwartet – nur ein trockenes Würgen zustande. In dieser Position verharrte ich eine Weile, wartete, bis sich mein Magen beruhigt hatte.

Da nahm ich eine huschende Bewegung wahr. Mit einem Ruck stand ich wieder aufrecht. Das Blut sackte in meine Beine, ich taumelte, hielt mich am Fensterrahmen fest. Für zwei, drei Sekunden sah ich nichts als Schwärze und dann entdeckte ich ihn. Der Unheimliche Mann verharrte neben Doktor Wassilis Sessel, auf dem dieser immer während unserer Sitzungen gesessen hatte.

Dieses Mal blieb ich ruhig, beinahe gelassen. »Du hast ihn ermordet«, presste ich hervor.

Der Unheimliche Mann reagierte nicht. Er stand da wie ein Cowboy aus einem alten Western. Einen Finger am Abzug, bereit abzudrücken.

Eine gefühlte Ewigkeit standen wir uns einfach gegenüber. Ich behielt ihn im Auge. Wie immer, hielt er sein Gesicht vor mir verborgen. Dennoch spürte ich sein Starren wie den Biss einer Spinne.

»Was willst du von mir? Wieso lässt du mich nicht endlich in Ruhe. Verschwinde!«

Langsam fasste ich in meine linke Hosentasche und holte mein Handy hervor. Ich entsperrte den Bildschirm, öffnete die Kamera. Vielleicht würde es mir gelingen, das Wesen auf Bild zu bannen. Gab es nicht sogar Mythen darüber, das Kameras Seelen einsperren konnten? In China oder Japan oder sonst wo? Oder waren das Spiegel? Ich wusste es nicht und es war mir egal. Ich würde von der Kreatur ein Foto schießen, komme was wolle. Gelänge es mir dadurch, sie zudem zu bannen – umso besser. Vor Nervosität verfehlte ich den Auslöser und schloss die App stattdessen. Ich fluchte, bemühte mich, den Unheimlichen Mann weiter zu taxieren, da ich fürchtete, er würde verschwinden, sobald ich wegsähe. Erneut öffnete ich die App.

»Es macht dir doch nichts aus, wenn ich ein Foto von dir schieße, oder?«, scherzte ich mit zittriger Stimme. »Scheiß drauf.« Ich hielt das Handy hoch und schaffte es auf Anhieb, ein Bild zu machen. Dann drückte ich noch zwei weitere Male auf den Auslöser für den Fall, dass nichts zu sehen war, und steckte das Handy zurück in die Hosentasche. Da fiel mir Doktor Wassili ein, und ich zog es erneut hervor. Dieses Mal wagte ich es, wegzusehen und setzte den Notruf ab.

Als ich wieder zum Unheimlichen Mann sah, war er verschwunden.

Doktor Wassili schien mich ebenfalls mit dem einen verbliebenen, trüben Auge anzustarren. Am liebsten hätte ich mir ein Handtuch geschnappt und es ihm über den Kopf geworfen. Kurz überlegte ich, mein Hemd zu verwenden, hatte jedoch Angst, dadurch den Tatort zu beschmutzen, und entschied mich dagegen. Bis der Notarzt eintraf, ließ ich die Blicke meines toten, ehemaligen Psychiaters über mich ergehen.

 

* * *

 

Natürlich hielt man zunächst mich für den Mörder. Ich war als Einziger am Tatort gewesen. Seltsamerweise wunderte sich niemand, weshalb weder Patienten noch die Empfangsdame zugegen waren. Aber so ist das Leben in Grubingen nun mal, hier wird über Vieles hinweggesehen. Schuld sind all die unerklärlichen Dinge, die unsere Stadt heimsuchen. Denke an einen Dämon und schon ist er da.

Ich wurde von Kriminalkommissar Penning vernommen, der Ma und mich kurz nach Kristinas Ermordung zuhause aufgesucht hatte, und musste erneut meine Unschuld beteuern. Auch Kriminaloberkommissar Flügge, der Schrank mit Schnurrbart, war anwesend. Er stand mit verschränkten Armen in der Ecke und beäugte mich mit Missfallen.

Natürlich erinnerten sie sich an Kristinas Ermordung und dass ich damals schon einmal kurz verdächtigt worden war.

Nun war eine zweite Person in meinem näheren Umfeld tot aufgefunden worden. Wer würde unter diesen Umständen nicht misstrauisch werden? Selbst wenn meine Sitzungen mit Doktor Wassili Jahre zurücklagen, wir hatten uns gekannt und in diesem Fall hatte ich die Leiche sogar gefunden.

Das Verhör zog sich zäh wie Kuchenteig. Penning blieb freundlich, aber bestimmt, und genau diese Mischung machte mich nervös. Er erinnerte mich an den Skorpion aus der Fabel, der einem Frosch anbot, ihn über das Wasser zu tragen, ohne ihn zu stechen. Und wir wissen alle, wie diese Geschichte ausgegangen ist.

»Was haben Sie bei Doktor Wassili zu suchen gehabt, Eddie? Er ist doch nicht mehr Ihr Psychiater.«

»Ich weiß nicht. Ich … ich denke, ich war nur neugierig.«

»Neugierig?«

Ich schluckte. »Ja, na ja, ich bin zufällig an seiner Praxis vorbeigekommen und wollte wissen, ob sich etwas verändert hat oder ob alles so geblieben war, wie ich es in Erinnerung hatte.« Kurz sah ich den Unheimlichen Mann vor mir, wie er am Fenster gestanden hatte, und rutschte auf meinem Stuhl hin und her, damit keiner bemerkte, dass ich erschauerte.

»Und was ist dann passiert?«

»Ich ging rein, fand die Praxis leer vor, betrat Doktor Wassilis Sprechzimmer und fand ihn.«

»Betreten Sie häufiger fremde Geschäftszimmer, ohne sich vorher anzukündigen?«

»Nein, ich …«

»Er war also schon tot, als Sie eingetroffen sind?«

Es störte mich, dass er den Satz in eine Frage verpackte. »Ja.«

»Und dann riefen Sie die den Notruf.«

Das war keine Frage. Versuchte er, mich zu ärgern? »Ja. Ich meine, nein. Ich bin erst zu ihm hin, weil er mir den Rücken zugewandt hatte. Ich sprach ihn an, erhielt keine Reaktion, also ging ich rüber. Da dachte ich mir schon, dass etwas nicht stimmte.«

»Was veranlasste Sie dazu, dass zu glauben?«

»Nun, er reagierte nicht.« Er versuchte eindeutig, mich auf die Palme zu bringen.

»Haben Sie sonst etwas gesehen? Eine Person vielleicht? Etwas Verdächtiges?«

Ich öffnete den Mund und schloss ihn direkt wieder. Was sollte ich tun? Die Polizei glaubte mir jetzt schon nicht, was würde passieren, wenn ich ihnen von meinem persönlichen schwarzen Mann erzählte? Dann fiel es mir ein.

»Ich habe ihn fotografiert!«, rief ich und kramte nach meinem Handy.

»Wen haben Sie fotografiert?«

»Den Mörder! Warten Sie.«

»Sie wissen also, wer der Mörder ist und haben nichts gesagt?«

»Ich wusste nicht … ich wusste nicht, ob Sie mir glauben würden.«

Penning hob die Augenbrauen. »Erklären Sie das genauer.«

»Ich wusste nicht, ob Sie mich für verrückt halten würden.« Statt meine Begründung näher auszuführen, öffnete ich die Galerie des Handys. Ich sog zischend Luft ein, als ich das erste Foto sah. Es war gestochen scharf.

»Er verfolgt mich schon seit ich klein bin«, sagte ich, ohne vom Handy aufzusehen.

»Wer?«

»Der Unheimliche Mann.«

Der Polizist sagte nichts mehr und die plötzliche Stille riss mich aus meiner Starre. Ich blickte auf, bemerkte seinen skeptischen Blick. Also schob ich ihm das Handy rüber.

»Sehen Sie?«

Er betrachtete das Foto eine Weile.

»Ich habe noch zwei weitere geschossen. Sehen Sie sich die Bilder an.«

Das tat er. Penning scrollte nach rechts und wieder nach links, die Augenbrauen angestrengt zusammengezogen. Auch die anderen Fotos zeigten die Kreatur deutlich.

»Das ist er«, sagte ich nach einer Weile, weil ich langsam ungeduldig wurde – und nervös. »Der Unheimliche Mann.«

»Das ist ein Stuhl«, sagte der Polizist.

»Was?«

»Da ist nur ein alter Stuhl. Kein Mann. Ich weiß nicht, was Sie da glauben, zu sehen.«

»Aber …«, ich konnte es kaum fassen, »da ist er doch! Sehen Sie hin! Da ist er doch!«

»Nun beruhigen Sie sich aber, Herr Quinn.«

»Er ist doch genau da!«, kreischte ich. Der Raum schien sich plötzlich zu drehen und ich schnappte nach Luft. Es war, als kämen die Wände näher, als wollten sie mich erdrücken, meine Brust zog sich zusammen, ich konnte nicht atmen. Aus weiter Ferne hörte ich den Polizisten auf mich einreden, aber so sehr ich mich auch anstrengte, ich verstand kein Wort.

 

* * *

 

Ich musste mir einen neuen Psychiater suchen. Nach kurzer Untersuchung in einer Nervenheilanstalt entließ man mich wieder, da ich nicht mehr von den Erscheinungen sprach. Darin hatte ich ja inzwischen Übung.

Ma schien weniger überzeugt. Sie zwang mich, auf die Suche nach einem neuen Psychiater zu gehen. Ich versprach ihr, regelmäßig hinzugehen, tat es jedoch nicht. Zu groß war die Angst, dass auch diese Person einen grausamen Tod durch die Hand des Unheimlichen Mannes erleiden würde.

Die Zeiten, zu denen meine Therapie stattfinden sollte, verbrachte ich im Stadtpark oder am Kanal.

Ich sah meinen Verfolger wieder häufiger. Häufiger als jemals zuvor. In der Nacht kehrten die Geräusche zurück. Am Tag sah ich den Unheimlichen Mann in irgendwelchen Ecken stehen und warten. Er sprach auch weiterhin nicht mit mir, wenn man das Wispern nicht mitzählte. Flüsterte er mir Dinge zu, verstand ich, wie früher, nur Bruchstücke davon.

Meiner Mutter verheimlichte ich nicht länger, dass ich ihn sah. Ich brauchte jemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte. Ma hatte eine Menge durchgemacht. Das hatte sie verändert. Zu meinem Bedauern wich sie mir jedes Mal aus, wenn ich mit dem Thema anfing.

Ich lebte in ständiger Angst. Mied andere Menschen, so gut ich konnte. Dieses Mal gelang es mir nicht, den Unheimlichen Mann zu ignorieren. Dauernd erwartete ich, auf eine Leiche zu stoßen oder zu sehen, wie er auf sein nächstes Opfer zeigte.

Ich fand auch weiterhin keine Arbeit. Lebte wie ein Penner und ließ mich von meiner Mutter aushalten. Unser Verhältnis wurde immer angespannter. Zum einen, weil sie ihre Enttäuschung nicht länger verbergen konnte, zum anderen, weil ich sie von mir stieß, um sie nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Manchmal glaubte ich, dass sie mich hasste.

Sicher dachte sie das Gleiche von mir.

Dabei versuchte ich bloß, sie zu beschützen. Doch zu welchem Preis …

Kapitel 8 – Familie

 

Meiners kaute am Nagel seines Daumens, während er seine Aufzeichnungen durchging. Eddie tat ihm leid, das konnte er nicht leugnen, doch für ihn war es eindeutig, dass es den Unheimlichen Mann nicht gab. Er war eine Art Alter Ego, erschaffen, um die Last, ein Mörder zu sein, nicht selbst tragen zu müssen. Dennoch glaubte Eddie fest an seine Existenz. Vielleicht konnte es Meiners tatsächlich gelingen, seine Schuldunfähigkeit vor Gericht zu beweisen.

Das würde nicht leicht werden. Schuldunfähigkeit wurde nur selten anerkannt, selbst wenn das Beweismaterial erdrückend war und noch so gut vor Gericht dargelegt wurde. Er musste sich eine gute Strategie überlegen.

»Können Sie sich vorstellen«, begann Eddie nach einer längeren Pause und riss Meiners so aus seinen Gedanken, »wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen? Mit einer Mutter, die vollkommen überfordert ist? Und diesen mächtigen Drang zu verspüren, sie mit allen Mitteln zu beschützen? Aber gleichzeitig hassen Sie sie dafür, dass sie nicht Sie beschützt?«

Vor Meiners’ innerem Auge blitzte ein Bild auf, auf dem er Hand in Hand mit seiner Mutter auf der Straße stand. Die Abblendlichter eines Wagens blendeten ihn. Er sah zu seiner Mutter auf, deren Gesicht strahlte wie das eines Kindes an Heiligabend.

Meiners antwortete nicht direkt, doch im Laufe der Sitzungen mit Eddie, hatte sich etwas zwischen ihnen entwickelt, eine Art gegenseitiger Respekt. Und ehe er sich versah, kamen die Worte auch schon aus seinem Mund gesprudelt. »Meine Mutter litt unter Schizophrenie.«

Eddie horchte auf.

»Jeder Mensch hat einen Grund für seine Entscheidungen. Die Kindheit ist besonders prägend und sie ist oft ausschlaggebend dafür, welchen Weg ein Mensch einschlägt. Man kann den hellen Pfad wählen, der beschwerlich ist, aber das Gewissen reinigt. Oder aber man wählt den dunklen Pfad, der einfacher ist, aber der die Seele vergiftet und die Menschen zu Mördern und Straftätern macht. Meine Erfahrungen haben mich zu der Entscheidung geführt, in die Köpfe der Menschen sehen zu wollen. Ich wollte meine Mutter verstehen, wenn ich ihr schon nicht helfen konnte. Der menschliche Verstand ist zerbrechlich, Eddie. Jeder erlebt im Laufe seines Lebens Augenblicke, in denen er fürchtet, den Verstand zu verlieren. Und hin und wieder passiert es tatsächlich.«

Meiners klappte das Notizbuch zu und legte die Handflächen darauf. Seine Brust verengte sich, doch er ließ sich nichts anmerken.

»Manchmal waren Mutters Schübe so stark, dass sie uns beide in Gefahr gebracht hat. Einmal war sie der festen Überzeugung, wir seien Geister und damit körperlos. Ich habe es in letzter Sekunde geschafft, uns von der Straße zu stoßen, auf die sie mich gezogen hat. Ein LKW näherte sich uns, hätte uns fast erwischt. Ein anders Mal hat sie geglaubt, unverwundbar zu sein. Eine Stimme hätte es ihr gesagt und sie hat ihr geglaubt. Also ist sie aus dem Fenster gesprungen. Da war ich 17. Meine Mutter ist mit dem Kopf voran auf dem Gehweg gelandet. Das Fenster war nicht sehr hoch, es war der erste Stock, dennoch landete sie so unglücklich, dass sie sich das Genick gebrochen hat und auf der Stelle tot war.«

»Mein Gott …«, sagte Eddie.

»Ich habe sie bis zu diesem Zeitpunkt gepflegt. Habe ihre Schübe ausgehalten und sie dazu gebracht, ihre Medikamente zu nehmen, wenn sie sie vergessen hat oder sich geweigert hat, sie zu schlucken. Mein Vater hatte uns verlassen, als ich gerade zehn geworden war. Er hatte es einfach nicht mehr ausgehalten mit einer Verrückten zusammenzuleben. Ein Schwächling war er und eine Enttäuschung, genau wie Ihr Vater.

Danach war ich der Mann im Haus und für alles verantwortlich. Es hat niemanden gekümmert, dass meine Mutter schizophren gewesen ist. Sie haben uns für seltsam gehalten, das war alles. Niemand hat etwas unternommen. Man ließ mich alleine mit einer Frau, die beinahe wöchentlich verucht hat, uns umzubringen.«

Ein Moment der Stille legte sich über sie. Wieder einmal wunderte Meiners sich, weshalb es ihm in Eddies Gegenwart so leicht fiel, offen zu sprechen.

»Wir haben viel gemeinsam«, sagte Eddie schließlich.

Sie nickten sich zu wie Soldaten, die einander ihren Respekt zollten. Dann packte Meiners seine Sachen zusammen und erhob sich.

»Verschieben wir den letzten Todesfall auf unsere nächste Sitzung.«

Eddie hatte wohl nicht das Bedürfnis, ihre Unterhaltung offiziell als beendet anzusehen. »Eltern wissen oft gar nicht, was sie ihren Kindern antun.« Er lächelte müde. »Ich frage mich, wieso das so ist? Ist das eine Form von Verdrängung? Oder Ignoranz? Eltern, die sich täglich streiten und meinen, ihre Kinder hörten es nicht. Eltern, die den Alkohol vor ihren Kindern verstecken und glauben, sie könnten ihren Suff ebenso verbergen. Das ist doch scheiße. Hätte ich Kinder, wäre ich nicht so ein Drecksack.«

Meiners senkte den Blick. Er musste an Ruben und Marcel denken und sein Herz zog sich zusammen. Das Hervorkramen der Erinnerungen an seine Mutter, hatten ihn aufgewühlt. Erinnerungen, die er sorgsam in einer Schublade verstaut und abgeschlossen hatte, sodass sein Verstand nicht ständig darauf zugriff. Ihm war nicht klar gewesen, wie schwer es war, die Lade ein weiteres Mal zu schließen. Zusätzlich noch an seine Söhne erinnert zu werden, raubte ihm den Atem. Er wollte weg von hier.

Eddie aber war nicht fertig. »Haben Sie Kinder, Doktor?«

Meiners nahm einen tiefen Atemzug und sprach so sachlich wie möglich. »Zwei Söhne.«

»Schön für Sie.« Eddie lächelte. »Ich glaube, Sie sind ein toller Vater.«

Seine Eingeweide verkrampften sich. »Wie kommen Sie darauf?«

»Sie hören zu. Sie machen sich Gedanken. Sie verurteilen nicht zu schnell. Sie sind freundlich und in Ihren Augen liegt Güte. Man sieht Ihnen an, dass Sie sich mit irgendetwas quälen, doch Sie schieben Ihre Sorgen in den Hintergrund, um sich die Probleme anderer anzuhören.«

»Das ist mein Job«, sagte Meiners knapp. Wut wallte in ihm auf.

»Das mag sein, Dok. Aber um solch einen Beruf auszuüben, gehört eine gewisse Charakterstärke und ich … ich wäre froh, wenn ich einen Vater wie Sie gehabt hätte. Vielleicht wäre dann alles anders gewesen.«

Eddie senkte den Blick und betrachtete seine Füße. Er wirkte beschämt und kurz meinte Meiners, Eddies früheres Ich zu erkennen, bevor er dem Unheimlichen Mann begegnet war. Einen liebenswerten und intelligenten Jungen, der das ganze Leben vor sich hatte. Hätte er einen Vater gehabt, der auf ihn aufgepasst hätte, der dafür gesorgt hätte, dass sich Geld im Haus befand und die Mutter nicht gezwungen gewesen wäre, zwei Jobs anzunehmen, um gerade so über die Runden zu kommen, wäre vielleicht tatsächlich alles besser gekommen. Plötzlich hasste Meiners Eddies Vater. Er hasste seine schizophrene, tote Mutter. Und er hasste sich selbst.

»Was sind das für Abschürfungen auf Ihren Händen?«, fragte Eddie und dem Hass, den Meiners verspürte, wich Scham.

Eddie musste erkannt haben, dass ihm die Frage unangenehm war. »Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Es war nur gerade so … Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und danke, dass Sie es mir erzählt haben. Das mit Ihrer Mutter, meine ich.«

Meiners nickte.

»Genießen Sie das Wochenende mit Ihren Söhnen. Ich würde ja sagen, grüßen Sie sie von mir, aber ich glaube, das käme irgendwie doof.« Er kicherte.

Meiners stand wie erstarrt da. Beinahe roboterhaft drehte er sich um und stakste zum Ausgang der Zelle. Der Wärter stand schon bereit, um ihn hinauszulassen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139013
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Regionalkrimi Deutschland übernatürlich Emsland Horror humorvoll Psychiatrie Grubingen Exzorismus paranormal Hölle Fantasy düster dark Humor

Autor

  • Nicole Siemer (Autor:in)

Nicole Siemer wurde 1991 in Papenburg (Emsland, Niedersachsen) geboren. Seit dem Abschluss ihres Belletristik Fernstudiums an der "Schule des Schreibens" 2017, widmet sie sich in erster Linie unheimlichen Geschichten mit philosophischen Anregungen. Nebenbei schreibt sie Kurzgeschichten, die sie auf ihrem Blog kostenlos zur Verfügung stellt.