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Mein Weg aus dem Fegefeuer

Missbrauch - Leid in der Dunkelheit

von Brenda Leb (Autor:in) Brigitte Kaindl (Autor:in)
540 Seiten

Zusammenfassung

Dies ist der erschütternde Bericht einer Frau, die als Jugendliche jahrelang vom eigenen Vater sexuell missbraucht und unter Drohungen zum Schweigen gebracht wurde. Für das gläubige Mädchen war diese Zeit das Fegefeuer auf Erden und selbst die Flucht aus ihrem Elternhaus konnte sie daraus nicht befreien. Die Dämonen des Missbrauchs verfolgten und beherrschten sie weiter in zwei unglücklichen Ehen. Ihre neurotischen Störungen, Panikattacken, ihr unverarbeiteter Ekel und Hass trieben sie eines Tages an den Rand des Abgrunds. Als sie nur mehr Selbstmord als Ausweg sah, erkannte sie, dass sie es ihren Kindern schuldig war, weiterzuleben, weiterzukämpfen. Am tiefsten Punkt ihres Lebens angekommen, nahm sie daher den Kampf um ihre seelische Gesundheit aktiv in die Hand. Brenda Leb schaffte das schier Unmögliche, bekämpfte verzweifelt ihre Dämonen, wandelte negative Energie in positive und tauchte ein in das warme Licht des Glücks. Wie neugeboren erkannte sie, dass Leid getarntes Glück sein kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Widmung

Dieses Buch widme ich meiner Schwester Angela.

Es ist so schön, zu wissen, dass man nie allein ist.

Angi, ich habe dich lieb.

Vorwort

Wie dieses Buch entstand

Ich bin ein Opfer von sexueller Gewalt. Als 20-Jährige schrieb ich mir erstmals die Wut und Verzweiflung über den erlebten und vor aller Welt verschwiegenen sexuellen Missbrauch meiner Jugend von der Seele. Wie unter Zwang tippte ich in den 80-er Jahren auf meiner kleinen Kofferschreibmaschine die schrecklichen Jugend-Erlebnisse, die mein Leben prägten, nieder. Ich tat dies ohne Hintergedanken, ohne für mich erkennbaren Grund.

Wahrscheinlich habe ich damals gehofft, dass mir das Schreiben hilft, meine schreckliche Vergangenheit zu bewältigen. Es war ein wichtiger Impuls, doch geholfen hat es mir damals (noch) nicht. Die von mir geschriebenen, losen Zettel verschwanden daher bald wieder achtlos in einer geheimen Schublade, weil ich in den kommenden Jahren immer tiefer von einem Unglück in das nächste geschlittert bin.

Wie alle Opfer von Gewalt war ich Gefangene meiner Ängste und meines innewohnenden Ekels. Die unangebrachten, aber existenten Schuldgefühle hemmten meine Entfaltung. Hass, Wut und Misstrauen beherrschten jahrelang mein Denken und Handeln, bis ich eines Tages suizidgefährdet am Rande des Abgrunds stand.

Als mich die Dämonen des Missbrauchs Jahre später verlassen hatten, erkannte ich den Unterschied zwischen ‘Überleben’ und ‘Leben’. Dass es Liebe, Glück und dieses für mich unbeschreibliche Gefühl, angstfrei leben zu können, auch für mich gab, erschien mir so ungewohnt, schön und neu, dass ich diese herrliche Zeit jahrelang einfach nur unbeschwert genoss.

‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ des Missbrauchs war steinig. Rückwirkend gesehen, aber auch sehr lehrreich.

Mehr als 20 Jahre nach deren Entstehung fand ich die vergilbten Zettel zufällig wieder in der Schublade. Mit der vagen Idee, aus diesen Zetteln mehr zu machen, beschloss ich damals, auch meinen weiteren Lebensweg aufzuschreiben.

Was daraus wurde, lesen Sie soeben.

Meine Erfahrungen schrieb ich vordergründig für Opfer von sexueller Gewalt, die an ihrer Vergangenheit verzweifeln. Als Ratgeber, Trostspender und als Hand, die ich symbolisch reiche. Ich möchte signalisieren: "Du bist nicht allein. Kämpfe auch du um dein Glück. Schau, es geht!"

Mein heutiges Glück nicht als Selbstverständlichkeit zu nehmen, sondern es mit anderen zu teilen, wurde für mich zum Lebenswerk.

Durch meine Autobiographie (die ich erstmals von 2005 bis 2018 bei einem kleinen Verlag veröffentlicht hatte) und meine Homepage offenbare ich, wodurch meine Seele Frieden fand: Durch Toleranz und Verzeihen.

Damit will ich aber keinesfalls behaupten, dass das für jedes Missbrauchsopfer der richtige Weg ist. Es gibt viele verständliche Gründe, warum verzeihen einfach nicht möglich ist. 

Objektiv betrachtet wäre natürlich eine Anzeige der einzig zielführende Weg. Für jeden Nichtbetroffenen ist das sonnenklar.

Ich weiß jedoch aus eigener Erfahrung, dass viele ohnmächtige und verängstigte Opfer dazu einfach keinen Mut aufbringen können.

Außerdem, selbst wenn es den dafür nötigen Mut findet, wägt jedes Missbrauchsopfer die Folgen dieses Schrittes sorgsam ab. Unter Betrachtung meiner familiären Situation habe ich den konzilianten Weg gewählt, weil ich die belastenden Folgen einer Anzeige sicherlich nicht ausgehalten hätte. Glück und Friede kam in meine Seele tatsächlich erst, als ich den versöhnlichen Weg einschlug.

Ich weiß, dass es sehr viele Missbrauchsopfer gibt, denen ähnliches widerfuhr oder soeben gerade widerfährt. Erschüttert erkannte ich, dass Ähnliches in vielen Familien vorkommt.

Es gab kaum eine Frau, die, nachdem sie von meiner Vergangenheit erfuhr, nicht auch Details aus ihrem Leben erzählt hat. Manche waren direkt betroffen, andere erzählten von Betroffenen in der Familie oder im Freundeskreis.

Laut Statistik soll jedes vierte Mädchen Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch haben. Ich glaube, dass die Dunkelziffer vielleicht sogar noch höher ist.

Warum ich das glaube?

Auch ich war ein Dunkelziffer-Kind. Daher scheine ich in keiner Statistik auf. Niemand wusste, was sich hinter den geschlossenen Türen meiner nach außen so heil wirkenden Welt tatsächlich abspielte.

Niemand!

Und auch heute würde es wohl niemand glauben können.

Doch das ist nicht relevant und ein schmutziges Staubaufwirbeln wäre nach so vielen Jahrzehnten aus meiner Sicht niemandem dienlich und deshalb auch nicht nötig.

Aus diesem Grund schrieb ich mein Buch unter Pseudonym und habe alle Namen verändert, auch, um vorkommende Personen zu schützen.

Alles, was in diesem Buch beschrieben wird, ist wahr und entstammt meinen Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen. Lediglich wenige unwichtige Details musste ich in dichterischer Freiheit ausschmücken, weil meine Erinnerungen manchmal nicht bis in kleinste Einzelteilchen erhalten geblieben sind.

Kein Lektor hat dieses Buch korrigiert, weil ich wollte, dass jedes Wort von mir stammt. Wenn Sie demnach einen Fehler entdecken, lesen Sie bitte einfach weiter. Mir ist nämlich meine Botschaft wichtiger als Perfektion. Mit diesem Buch will ich in erster Linie (aber nicht ausschließlich) jedem Opfer von (sexueller) Gewalt helfen, mit der (Missbrauchs-) Vergangenheit fertig zu werden.

Aber auch für Therapeuten und Therapeutinnen ist dieses Buch, durch die tiefen Einblicke in die verängstigte Seele eines Missbrauchsopfers, als unterstützendes Sachbuch bedeutsam. Im Vergleich zu theoretischen Sachbüchern offenbart nämlich mein Bericht die kindliche Hilflosigkeit und deren schwerwiegende Folgen in emotionaler Weise.

Eine Psychologin, die sich hauptberuflich für Missbrauchsopfer einsetzt, wies darauf hin, dass durch mein Buch die oft unverständlich wirkende Handlungsunfähigkeit eines Missbrauchsopfers erst verständlich wird.

Vor allem aber will ich jedem verzagten Menschen Hoffnung schenken, weil man an meiner Geschichte erkennt, dass man auch mit einer sehr schrecklichen Vergangenheit glücklich werden kann.

Prolog

Ich sitze vor dem PC auf meiner sommerlichen Terrasse und höre das fröhliche Plätschern des Wasserstrahls, welcher vom Springbrunnen auf die glitzernde Wasserfläche meines marmorfarbenen Steinbrunnens fällt. Die lila Rosen sind voll erblüht und verströmen einen süßen, betörenden Duft. Das bewusste Inhalieren dieses lieblichen Umfeldes zaubert auf mein Gesicht ein glückliches Lächeln.

Dieses heutige Glück scheint aufgrund meiner Lebensgeschichte eigentlich unfassbar, denn ich erlebte körperliche und seelische Gewalt, an der Frauen in den meisten Fällen zerbrechen. Ich wurde geschändet in einem Alter, in dem ich noch keine Frau war und ging durch alle Tiefen seelischen Leids, weil ich zum Schweigen gezwungen wurde und aufgrund dessen keine Hilfe erhoffen durfte.

Ich begann zu hassen und wollte meinen Peiniger töten. Dadurch war ich auf dem besten Wege, meine Seele zu vergiften. Mein Leben schien direkt in den Abgrund zu steuern.

Doch ich wurde glücklich und es scheint unglaublich, dass mein Missbrauch schon so viele Jahrzehnte zurückliegt, weil meine Erinnerungen noch so wach sind. Mir ist daher klar, dass ich diese furchtbare Zeit niemals vergessen werde. Es ist aber ein Segen für meine Seele, dass ich mich mit dieser peinvollen Realität auseinandersetzen kann, ohne daran zu verzweifeln. Ich verdränge meine Vergangenheit nicht und erzeuge damit keine seelische Blockade in mir, wie es viele Missbrauchsopfer aus Selbstschutz und Scham glauben, tun zu müssen.

Ich stehe dazu, dass meine Vergangenheit in all ihrer Grausamkeit stattgefunden hat und heile die Wunden meiner Seele selbst, indem ich meine schrecklichen Erlebnisse durch schöne Sinneseindrücke ersetze.

Wie in meiner Therapie erlernt, befülle ich meine Seele täglich durch bewusstes Wahrnehmen von schönen Bildern, angenehmen Klängen und Düften sowie intensiven Empfindungen. Einfache, kleine Dinge, wie das Betrachten einer aufgeblühten Rose oder das bewusste Hören von berauschender Musik, die jeden Menschen jeden Tag umgeben, lasse ich nicht an mir vorbeiplätschern, sondern sauge sie dankbar auf und speichere sie in meinem Inneren.

Ich habe gelernt, meine negative, ehemals selbstzerstörende Energie in positive, konstruktive, umzuwandeln.

Ich fühle mich, weil ich trotz meiner Vergangenheit einen Weg zum Glücklich-Sein fand, dazu berufen, mit der Dokumentation meiner Leidensgeschichte, Missbrauchsopfern zu helfen. Damit will ich denen, die wie ich misshandelt, entwürdigt und vergewaltigt wurden, vor Augen führen, dass das Leben trotzdem schön werden kann. Ich will Hoffnung schenken, weil ich weiß, dass viele Missbrauchsopfer über ihr Leid nicht sprechen können oder dürfen. Daher möchte ich ihnen einfach das Gefühl vermitteln, nicht allein zu sein mit diesem Schmerz.

Mein Buch soll weder anklagen noch verurteilen. Ich will einfach nur helfen.

Seit der erstmaligen Veröffentlichung meiner Lebensgeschichte hatte ich über meine Homepage unerwartet viel Kontakt mit anderen Missbrauchsopfern.

Das war neu für mich, weil ich bisher, außer meiner Schwester, keine Schicksalsgefährtinnen kannte und daher nicht wusste, wie es anderen Betroffenen bei der Bewältigung geht. Bedrückt musste ich erkennen, dass alle an der gleichen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit leiden, unter der auch ich litt.

Mein Wunsch ist daher, jedem Missbrauchsopfer mit meiner Lebensgeschichte Hoffnung zu machen, damit sie an Ihre seelische Gesundung glauben. Ich beschreibe in meinem Buch die gleiche Hilflosigkeit und Verzagtheit, die jedes Missbrauchsopfer befällt.

Doch man liest auch, wie ich glücklich wurde. Ich glaube daher, dass es jeder schaffen kann, wenn man nur daran glaubt und nie die Hoffnung aufgibt.

Immerhin hätte ich von mir auch nie gedacht, dass ich mich so verändern kann – und doch geschah es!

Dabei hatte ich, bevor ich andere Betroffene kennen gelernt hatte, immer gedacht, meine Jugend wäre die schlimmste gewesen, die einem jungen Menschen passieren kann. Doch bei all dem Unglück, das mich getroffen hat, besaß ich, wie ich heute erkenne, das Glück, mich an alles Schreckliche noch genau erinnern zu können. Ich war schon fast eine Jugendliche, als es begann. Daher konnte ich mein Leid in Worte fassen und deshalb auch verarbeiten.

Viele Opfer jedoch, die ich kennengelernt habe, wurden in so frühkindlichem Alter missbraucht, dass ihnen jede Erinnerung an das Geschehene fehlt. Diese Betroffenen werden meist aus heiterem Himmel, oft erst in der Mitte ihres Lebens von schrecklichen Depressionen und Selbstmordgedanken niedergedrückt und wissen nicht einmal, warum!

Menschen mit diesem Schicksal spüren den gleichen körperlichen Schmerz, die Scham und Ohnmacht, die von ihnen als kleines Kind Besitz ergriffen hat, denn der erlebte Schrecken bleibt in der Seele gespeichert. Diese latente Anwesenheit lähmender Angstgefühle legt das Unterbewusste regelrecht in Fesseln. Der Geist kann aber aufgrund fehlender bildhafter Erinnerungen diese angstmachenden Gefühle nicht zuordnen. Die schrecklichen Geschehnisse der Kindheit können somit nicht aufgearbeitet werden.

Wer solch ein Schicksal erlitt, ist angewiesen auf Träume, die blitzartig auftauchen und zutreffend gedeutet werden müssen, um den latenten Missbrauch erkennbar zu machen.

Zudem sind Missbrauchsopfer auf verständnisvolle Mitmenschen noch mehr angewiesen als Menschen ohne Missbrauchserfahrung. Doch leider sind bei einer überraschend einsetzenden Depression Partner und persönliches Umfeld der Betroffenen meist überfordert und reagieren verständnislos.

Damit beginnt sich ein Teufelskreis für diese Opfer zu drehen. Sie werden von ihrer Umwelt nicht verstanden, spüren unerklärbare, vernichtende Gefühle, die aus der verletzten Kinderseele hochkommen und sinken oft, von zunehmenden Selbstzweifeln begleitet, immer tiefer in eine suizidale Ausweglosigkeit.

Ich hoffe daher, dass meine Leidensgeschichte auch Betroffenen, die bisher keine bewussten Erinnerungen haben, hilft, vergrabene Erinnerungen ins Bewusstsein zu rücken. Immerhin schreibe ich in meinem Buch auf, was mir geschah. Und ich schreibe detailliert und schonungslos offen. Vielleicht helfen meine Schilderungen sogenannte Erinnerungsblitze zu erzeugen, damit das Erlebte erkannt und (in einer Therapie) bewältigt werden kann.

Es gleicht zwar kein Missbrauch dem anderen, doch ich weiß inzwischen, aufmerksam geworden durch ein Buch von Ellen Rachut (Folgen sexueller Gewalt verstehen lernen, helfen lernen), dass Missbrauchs-Täter immer die gleiche Strategie anwenden, um ihre Opfer einzuschüchtern: Das Opfer wird vom Täter durch Ausspielung autoritärer Macht bewusst in eine hoffnungslose Isolation gebracht. Durch heimtückische Manipulation wird vom Täter meist sogar noch die Schuldfrage umgekehrt und das Opfer fühlt sich mitschuldig.

In so einem Fall kann sich der Täter ziemlich sicher sein, dass sein Opfer, manchmal sogar bis an sein Lebensende, aus Scham und Schuld nicht über den Missbrauch sprechen kann. Doch dessen ungeachtet ist die massive Machtausübung, mit welcher die abhängigen Opfer von ihren überlegenen Tätern in eine aussichtslose Ohnmacht gebracht werden, bei jedem Missbrauch gleich.

Dieser massive Machtmissbrauch wird, zusätzlich zu den begleitenden körperlichen Schmerzen, von jedem Täter erbarmungslos auf jedes Opfer ausgeübt, und zwar egal in welchem Alter und in welcher Weise der Missbrauch geschah oder geschieht.

Wie ich trotz meiner schrecklichen Vergangenheit glücklich wurde, wie ich es schaffte, meine negative Energie in positive umzuwandeln und wieso ich mich heute stark fühle, beschreibe ich in diesem Buch.

Um meine Geschichte aus heutiger Sicht zu beleuchten und um manche Geschehnisse direkt zu analysieren, lasse ich zu bestimmten Stellen im Buch in kursiver Schrift meine heutigen Überlegungen, Erklärungen und/oder daraus gewonnene Erfahrungen einfließen.

Ich dachte stets, dass man ein traumatisches Erlebnis, wie ich es hatte, nur mit einer Psychotherapie verarbeiten kann. Anders konnte ich es mir nicht vorstellen.

Doch meine Schwester Angela hat mich zu einer neuen Erkenntnis gebracht. Die Einblicke in die Seele einer Frau mit anderem Charakter, offenbarte mir eine viel offenere Sichtweise. Mir wurde klar, dass man sich auch dann zu einem reifen und glücklichen Menschen entwickeln kann, wenn man nicht den gleichen Weg geht, den ich gegangen bin.

Voll Verwunderung und Hochachtung erkannte ich, dass Angi, wie ich Angela nenne, in den vergangenen Jahren eine Entwicklung durchgemacht hat, die ich nicht für möglich gehalten hätte.

Es ist daher wichtig, bereits im Prolog zu erwähnen: Was mir geholfen hat, muss nicht für jeden genauso hilfreich sein. Der von mir eingeschlagene Weg zur Heilung meiner Seele hat mir geholfen und kann sicherlich denjenigen helfen, die, wie ich, übersensibel und nachgiebig sind. Wer grenzenlosem Leidensdruck ausgesetzt ist und sich selbst nicht helfen kann, wird meinen Weg der Bewältigung nachvollziehen können und sich in Therapie begeben – was ein guter und wertvoller Ansatz ist! Es gibt nämlich nur wenige Menschen, die eine so starke Persönlichkeit besitzen, dass sie mit einer qualvollen Vergangenheit ohne professionelle Hilfe fertig werden.

Eine erfahrene Psychologin der Wiener Hilfsorganisation ‘Die Möwe’ (https://www.die-moewe.at) wies darauf hin, dass der Hinweis auf die heilende Kraft einer Therapie in meinem Buch keinesfalls fehlen sollte.

Nachdem ich soeben eine Hilfsorganisation erwähnte, möchte ich Missbrauchsopfer dazu ermutigen, sich aktiv Hilfe zu suchen.

Auch, oder gerade deshalb, weil ich nicht den Mut fand, mich jemandem anzuvertrauen.

Warum gerade ich dazu ermuntere, wo ich es doch selbst nicht getan habe? Weil der Zugang zu Hilfe in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich leichter geworden ist.

Heute haben bereits Schulkinder ein Handy oder Internet-Zugang. In den 70-er Jahren hatte nicht einmal jeder Haushalt ein Festnetz-Telefon.

Zudem werden Kinder heutzutage in Mitteleuropa (normalerweise) nicht mehr zu Marionetten erzogen. Man legt inzwischen, sowohl im Elternhaus als auch in der Schule, das Augenmerk darauf, die Persönlichkeit eines Kindes zu fördern und dessen Rechte zu achten.

In meiner Jugend hatten Kinder zu schweigen, wenn Erwachsene reden. Die ‘Brut’ sollte folgsam sein und ausgeprägte Persönlichkeiten wurden gezüchtigt, wenn sie sich Autoritäten nicht willenlos unterwarfen.

Als ich in den 70-er Jahren zum Missbrauchsopfer wurde, war die Prügelstrafe noch ein legitimes Erziehungsmittel und für Kindesmissbrauch gab es lächerlich geringe Strafen, falls einer ‘frechen Göre’, die ihren Vater ‘anschwärzt’, die Behörden überhaupt geglaubt hätten!

Diese Zeiten sind im mitteleuropäischen Raum gottlob Vergangenheit.

Die Prügelstrafe ist seit den 80-er-Jahren verboten und es gibt inzwischen nicht nur sensible Lehrer und Lehrerinnen sowie speziell geschulte Polizeibeamte, sondern auch viele Hilfsorganisationen, an die sich Opfer von Gewalt wenden können.

‘Die Möwe’ ist eine bekannte Hilfsorganisation, die seit 1989 in Wien tätig ist. Um Mut zu machen habe ich daher einige Auszüge aus deren Webseite hier eingefügt:

die möwe bietet Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen kostenlos konkrete Unterstützung und professionelle Hilfe bei körperlichen, seelischen und sexuellen Gewalterfahrungen. Das zentrale Anliegen ist der Schutz von Kindern vor Gewalt und ihren Folgen. Wir handeln aus einer Haltung der Zuversicht und aus der Überzeugung, dass positive Veränderung möglich ist. 

Auf Grundlage der Kinderrechtskonvention und des § 138 ABGB handeln wir parteilich auf Seite der Kinder und Jugendlichen und berücksichtigen ihre körperliche, psychische und soziale Gesundheit. Entscheidungen und Empfehlungen werden auf Basis einer nachhaltigen Sicherung des Kindeswohles getroffen. 

Vertrauen ist die Basis jeder helfenden Beziehung. Alle Inhalte, die uns im Rahmen der klientenzentrierten Kinderschutzarbeit mitgeteilt werden, unterliegen den gesetzlichen Bestimmungen der Berufsgesetze, des Datenschutzes und der Sorgfaltspflicht. 

Hätte es diese oder ähnliche Hilfsorganisationen (davon gibt es in Mitteleuropa inzwischen viele) in meiner Jugend bereits gegeben, wahrscheinlich hätte ich mich hilfesuchend hingewandt. Verzweifelt genug war ich jedenfalls.

Daher will ich im Prolog noch einmal ganz intensiv dazu ermutigen, sich Hilfe zu holen, auch, weil ich eines erkannt habe: Menschen, die sich an Kindern vergreifen, sind im Grunde feige.

Sie bringen nicht den Mut auf, sich ihre psychische Störung behandeln zu lassen. Sie gehen den Weg des geringsten Widerstandes und leben ihren Trieb einfach aus.

An Kleineren. Schwächeren.

Zu einer gesunden Beziehung mit gleichberechtigten Partnern nicht fähig, wird nach unten getreten.

Auf wehrlose Kinder.

Wer dieses Buch aber gerade liest, ist kein ganz kleines, total wehrloses Kind mehr.

Egal ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener: Das Missbrauchsopfer, das diese Zeilen soeben liest, will etwas an seiner bedrückenden Lebenssituation verändern.

Und das ist der erste und wichtigste Schritt in die richtige Richtung.

Daher mein Appell: Holt euch Hilfe!

Wartet nicht darauf, dass sich der Täter ändert.

Das wird nicht geschehen. Je länger sich ein Opfer unterdrücken lässt, desto massiver wird die Macht, die der Täter ausübt.

Ein Pädophiler wird sich nicht von selbst ändern!

Darauf zu warten, hat keinen Sinn.

Immerhin: Wollte er sich tatsächlich ändern, hätte er eine Therapie begonnen, bevor er sich an Kindern vergriff.

Daher kann nur das Opfer selbst etwas bewirken.

Indem es aktiv wird!

Nur wer sich hilfesuchend an Lehrer, Polizisten, Hilfsorganisationen oder sonstige Vertrauenspersonen wendet, dessen Schrecken wird ein Ende haben.

Anderenfalls bleibt es ein Schrecken ohne Ende.

Letzter Appell: Nehmt bitte auch keine Rücksicht auf wegschauende, untätige Mütter. Es ist nicht die Aufgabe eines Missbrauchsopfers, die Mutter zu schützen.

Umgekehrt sollte es sein!

Eine Mutter sollte ihr Kind beschützen und wenn sie es, aus welchen Gründen auch immer, nicht tut, dann holt euch den Schutz und die nötige Hilfe von außen und opfert euch nicht für eine untätige Mutter auf!

Die Mitarbeiter einer Hilfsorganisation sind geschult und außerordentlich rücksichtsvoll. Sie wissen um die Angst eines Opfers und auch, wie Triebtäter ticken.

Daher können und werden sie helfen!

Also: Mut!

Mir hat als Kind das letzte Quäntchen Mut gefehlt. Doch ich hatte nicht so ein Buch in Händen, ich wusste nicht, was ich heute weiß und ich war auch Jahre danach noch nicht stark genug, um mir selbst zu helfen.

Ich brauchte Hilfe.

Therapeutische Hilfe.

Das habe ich gottlob erkannt und mich in therapeutische Behandlung begeben.

Von zentraler Bedeutung ist daher, den Unterschied zwischen gespielter und echter Stärke zu erkennen, denn sehr oft überspielen Betroffene, die professionelle Hilfe bräuchten, mit einem demonstrativ starken Auftreten eine ausgeprägte Neurose.

Meist erst, wenn psychosomatische Krankheiten auftreten, sind Leidtragende bereit, sich hinter die Fassade blicken zu lassen.

Viele Frauen beugen sich gesellschaftlichen Konventionen. Allein die Tatsache, als Frau geboren zu werden, bedeutet oft auch noch heute, dass das sogenannte schwache Geschlecht doppelte Belastung tragen muss. Besonders hart trifft das alleinerziehende Mütter, wie ich eine war.

Frauen können sich ‘Schwäche zeigen‛ daher gar nicht leisten. Also wird Stärke demonstriert. Schwäche zuzugeben käme einem Versagen gleich (dies gilt jedoch sowohl für Frauen als auch für Männer). Daher meiden viele Betroffene den Weg zum Therapeuten. Vor allem, wenn sie allein Kinder großziehen müssen, Angst vor dem Verlust des gesellschaftlichen Ansehens oder noch größere Sorge haben, ihre Kinder zu verlieren.

Dabei kann oft nur der Therapeut wirklich helfen.

Auch ich ging seinerzeit heimlich zur Therapie und nur wenige gute Freundinnen wussten davon. Ich hoffe daher, dass ich mit meinem Buch unangebrachte Skrupel vor einer Therapie aus dem Weg räumen kann.

Wer allerdings, wie meine Schwester, eine willensstarke Persönlichkeit besitzt, wird sich mit Angelas Weg der Bewältigung identifizieren können. Angela spielt nicht die Starke, sie ist stark.

Die Aussagen meiner Schwester werde ich in diesem Buch deutlich erkennbar einfließen lassen (kursiv, beginnend mit „ANGI“) um klarzumachen, wie unterschiedlich Opfer von Gewalt mit ihrer Vergangenheit umgehen – und – trotzdem glücklich werden können.

Auch meine Schwester steht heute mit beiden Beinen im Leben. Wir gingen unterschiedliche Wege, doch wir haben beide das gleiche Ziel erreicht: Wir wurden glücklich!

Kindheit

Kapitel 4.1

Wie durch dichten Nebel blickend sehe ich in meiner Erinnerung die kleine Wohnung, in der ich gemeinsam mit meiner jüngeren Schwester Angela und meinen Eltern meine ersten acht Lebensjahre verbrachte.

Die Wohnung hatte kalte, feuchte Wände und bestand aus einem Zimmer und einer Küche. Kaltwasser und WC befanden sich am Gang. Für meine damals erst 16-jährige Mutter muss das Leben mit zwei Kleinkindern in dieser kleinen Wohnung unvorstellbar hart gewesen sein.

Meine Großmutter mütterlicherseits wurde im Krieg während eines Heimaturlaubes meines Großvaters schwanger. Opa musste zurück nach Russland und kam in Stalingrad in jahrelange Kriegsgefangenschaft.

Aus Briefen meiner Großmutter erfuhr er, dass meine Mutter Gerlinde kurz vor Kriegsende geboren wurde. Opa war einer der wenigen Soldaten, die die Kriegsgefangenschaft in Stalingrad überlebten und kam total entkräftet aus Russland zurück, als meine Mutter bereits im Schulalter war.

Die Nachkriegsjahre verbrachten meine Mutter und ihre Eltern in Wien, wie die meisten Menschen jener Zeit, in Armut und finanzieller Not.

Mutter war vierzehn Jahre alt, als sie Kaspar, meinen damals 22-jährigen Vater kennen lernte.

Mein Vater wuchs mit zwei Brüdern auf dem Land, ebenfalls in ärmlichen Verhältnissen, auf. Als er 16 Jahre alt war, starb seine Mutter nach langer Leidenszeit an ihrer schweren Krebserkrankung.

Sein älterer Bruder Herbert war damals 20 und Wilhelm, der Kleinste, erst zwölf Jahre alt.

Eine glückliche Kindheit hatte Vater nicht und ich weiß nicht, ob der jahrelange und qualvolle Tod seiner Mutter das einzige, negativ prägende Erlebnis seiner Kindheit war. Ich weiß lediglich, dass mein Großvater ein äußerst brutaler Vater gewesen sein soll.

Vater zog, kaum, dass er die Lehre in seinem Heimatort beendet hatte, nach Wien und fand Arbeit in seinem erlernten Handwerk. Hier bezog er die kleine Wohnung, in der später seine vierköpfige Familie Platz finden musste.

Meine Mutter lernte er kennen, als er die Wohnung meiner Großeltern renovierte. Er verliebte sich in die damals Vierzehnjährige und mit fünfzehn Jahren wurde meine Mutter schwanger. Obwohl zu jener Zeit noch illegal, dachte jeder anfänglich daran, dieses ‘Problem’ durch Abtreibung zu lösen.

Doch ich kam zur Welt, weil mein Vater mit der Geburt eines Sohnes rechnete. Ich sollte ‘Hermann’ heißen und enttäuschte Vater durch die unverzeihbare Tatsache, dass ich ein Mädchen war.

Nachdem über Mädchennamen nicht einmal nachgedacht worden war, bekam ich den Namen von Vaters damaliger Lieblingssängerin Brenda Lee.

Als Monate später meine Schwester unterwegs war, wurde nicht mehr an Abtreibung gedacht, da ich nicht als Einzelkind aufwachsen sollte und Vater noch immer auf einen Sohn hoffte. Angela kam 19 Monate nach mir zur Welt und ich glaube, mein Vater hat es nie überwunden, keinen Sohn zu haben.

Vielleicht wurden wir als ‘Strafe’, weil wir keine Buben waren, mit einer Strenge bei der Kindererziehung bedacht, die einer Dressur glich. Vielleicht war es aber lediglich der selbst erlebte Erziehungsstil, den Vater weitergab. Vater glaubte, wie viele Vertreter seiner Generation, dass eine ‘anständige Tracht Prügel’ das beste Erziehungsmittel sei.

Ziemlich sicher waren es aber auch fehlende Nerven, die Vater so oft ausrasten ließen. Er arbeitete hart, um Geld für eine größere Wohnung zu verdienen. Daher wollte er abends, wenn er müde und gereizt von der Arbeit heimkam, nicht von Baby-Gebrüll belästigt werden.

Mutter trachtete daher stets, uns Mädchen so ruhig wie möglich zu halten, damit Vater seine schlechte Laune nicht an uns ausließ. Dabei hatte sie es selbst nicht leicht. Ich kann mir im Zeitalter der Waschmaschine gar nicht vorstellen, was es heißt, in einer Wohnung ohne fließendem Wasser die Wäsche mit der Hand zu waschen, zu wringen und täglich einen Kessel voll Kochwäsche und Windeln am Herd auszukochen.

Mutter leistete diese Schwerarbeit mit 16 Jahren, also in einem Alter, wo junge Mädchen üblicherweise das Leben genießen.

Das Leben genießen konnte Mutter nie. Während ihre Altersgenossinnen tanzen gingen, lernte sie das Leben von der härtesten Seite kennen. Das Wasser musste sie in Kübeln vom kalten Gang in die Wohnung schleppen und am Herd erwärmen, bevor sie es zum Kochen, Reinigen oder Wäschewaschen gebrauchen konnte. Jedes Geschirrabwaschwasser musste ebenfalls in Eimern wieder zum WC am Gang befördert werden.

Zusätzlich hatte die Parterre-Wohnung pilzbefallene Wände und einen kalten Fußboden, weil von unten die Kellerkälte in die Wohnung drang.

Schon damals litt Mutter an einer unheilbaren, entzündlichen Krankheit, bei der sich die Wirbelsäule versteift. Dieses schmerzhafte Leiden kommt in Schüben und Mutter konnte und kann sich in einer Akutphase kaum bewegen. Ihre ersten, heftigen Krankheitsschübe hatte sie in jener Zeit, als Angela und ich noch Babys waren.

Als Angela und ich aus dem Gitterbettalter herausgewachsen waren, mussten wir uns aus Platzmangel ein Bett teilen. Sehr vage kann ich mich erinnern, dass wir oft das Bett der Eltern, welches im selben Raum wie das Kinderbett stand, quietschen hörten.

Wenn wir fragten: „Was quietscht denn da?“, keuchte Vater: “Mama und Papa spielen, seid leise und schlaft gefälligst weiter!“ Heute weiß ich, dass wir das Liebesleben unserer Eltern dadurch massiv gestört haben.

Aber in der Ehe meiner Eltern muss es auch andere, gröbere Probleme gegeben haben. Ich glaube mich zu erinnern, dass Vater oft nächtelang nicht nach Hause kam und Mutter sich wohl nur denken konnte, wo er diese Nächte verbrachte. Sicherlich irgendwo, wo es nicht nach eingeweichten Windeln roch, keine Wäsche zum Trocknen herumhing oder Kinder beim Geschlechtsverkehr fragten: „Was quietscht denn da?“

Vielleicht kann ich mich deshalb nicht erinnern, jemals von Mutter geküsst oder geherzt worden zu sein. Wie sollte Mutter für mich, ihr Kind, zärtliche Liebe empfinden? Wie sollte sie mich lieben oder über mich freuen? Ich war doch, allein dadurch, dass ich so unerwartet und unerwünscht in ihr Leben trat, die eigentliche Ursache ihres Unglücks.

Unbewusst dürfte sich diese Tatsache auf ihr Verhalten mir, bzw. uns Kindern, gegenüber, ausgewirkt haben.

Wenn ich heute versuche, mir das damalige Leben meiner Mutter vorzustellen, mit all ihrer Härte und Aussichtslosigkeit, kann ich vieles besser verstehen. Vor allem begreife ich heute die mögliche Ursache ihrer Gefühlskälte. Die fehlende Zärtlichkeit ließ in mir aber eine unstillbare Sehnsucht nach Mutterliebe entstehen, die mich mein Leben lang verfolgte.

Die Enge der Wohnung und die tristen Verhältnisse wären sicherlich jedem über den Kopf gewachsen. Mutter muss zu jener Zeit total überfordert und unglücklich gewesen sein. Doch sie beklagte sich nie, zeigte weder negative noch positive Gefühle. Sie blieb bei uns Kindern, zwar unnahbar, doch zuverlässig und pflichtbewusst. Täglich wurden wir zur selben Zeit gebadet und die Wohnung hielt sie genauso sauber wie unsere Kleidung, die sie aus Sparsamkeit durch Stricken oder Nähen teilweise selbst herstellte.

Trotzdem sah Mutter immer hübsch und adrett aus. Wenn ich heute Fotos von ihr aus jener Zeit sehe, erkenne ich eine schlanke, wunderschöne Frau, der man die Härte dieses Lebens nicht ansah. In meiner Schulzeit war Mutter nicht nur die jüngste aller Mütter, meist war sie auch die attraktivste. Ich war als Kind daher immer stolz, eine so schöne Mutter zu besitzen.

Doch wie gerne hätte ich gespürt, dass auch sie stolz auf mich ist, dass sie froh ist, dass sie mich hat. Doch die Stärke, die sie ihr Leben meistern ließ, verhärtete sie offenbar. Sie war unfähig, ihren Kindern Zärtlichkeit zu schenken. Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich gespürt habe, ein ungewolltes Kind zu sein. Doch von Mutter geliebt, fühlte ich mich nicht.

Hätte ich nicht die Liebe meiner mütterlichen Großeltern, insbesondere die Liebe meiner Oma, gehabt, wäre ich ohne Nestwärme aufgewachsen. Oma liebte mich abgöttisch - und ich sie. Bis zum Schulalter war ich fast jedes Wochenende bei meinen Großeltern und diese Zeit ist in meiner Erinnerung als die schönste meiner Kindheit tief verankert.

Ich weiß heute, dass ich nur deshalb liebesfähig werden konnte, weil mir Großmutters Liebe die Basis dafür schaffte. Ich bin sehr dankbar, so eine Oma gehabt zu haben.

Die Liebe meiner Oma projizierte sich allerdings stark auf mich. Für meine Schwester, die sehr wild war, empfand Oma offenbar weniger Zuneigung. Dies mutmaßte ich deshalb, weil lange Zeit nur ich jedes Wochenende bei meinen Großeltern verbringen durfte. Oma machte keine Anstalten, auch Angela mitzunehmen. Bis Mutter dieser Ungerechtigkeit ein Ende bereitete.

Ich erinnere mich an das letzte Wochenende, an dem meine Großeltern wieder nur mich abholen wollten, denn an jenem Tag sprach Mutter ein Machtwort: „Entweder ihr nehmt beide, also auch Angela, mit zu euch, oder Brenda bleibt auch da!“

Meine Großeltern waren offenbar auf diese Situation nicht vorbereitet und fuhren ohne mich wieder heim. Ich kann noch heute den damals so heftig empfundenen Schmerz fühlen. Meine Großeltern fuhren weg und Mutter ging mit Angela und mir stattdessen in den Schlossgarten von Belvedere spazieren. Wie sehr hasste ich diese endlos lang empfundenen Spaziergänge ohne Aussicht auf einen Spielplatz.

Wenn ich heute die Entfernung von der damaligen Wohnung zum Schloss Belvedere betrachte, kann ich nicht verstehen, warum mir dieser kurze Fußweg so lange vorgekommen ist. Doch Kinderfüße sind klein und nachdem Mutter niemals spaßig war, blieben Belvedere-Ausflüge eine Riesenqual für uns. Ganz besonders dieser, wo ich mich doch so sehr auf Oma gefreut hatte.

Am kommenden Wochenende wurden Angela und ich von Oma abgeholt und seither verbrachten wir beide unsere Wochenenden bei den Großeltern. Angela durfte zwar jetzt auch zu Oma, doch ich fühlte mich von Oma trotzdem mehr geliebt.

ANGI: Dazu erwähnte Angi, dass sie keine Ungerechtigkeit empfunden hatte. Auch sie fühlte sich von Oma geliebt. Angis Erinnerungen an Oma offenbarten eine fröhliche, lebenslustige Frau. In meinen Erinnerungen war Oma zärtlich und liebevoll. Angi berichtete von Streichen, mit der Oma sie neckte, die ich nicht für möglich gehalten hätte, denn übermäßig humorvoll empfand ich Oma nicht. Ich erwähne dies, weil ich immer dachte, Angela litt darunter, von Oma weniger Zärtlichkeit bekommen zu haben. Doch Fakt ist, dass Angi sich bei Oma genauso wohl gefühlt hat, wie ich. Angi kann sich an Omas Fröhlichkeit, ich mich an ihre Zärtlichkeit erinnern. Wir beide bekamen von Oma das, was für uns wichtig war und erinnern uns demnach auch nur daran. Die Härte, die ich an Angela wahrnahm, war ihr angeborener Charakter. Angi war von Geburt an widerstandsfähig und was ich stets als Härte empfand, war in Wirklichkeit eine Fähigkeit, die mir fehlte: Durchsetzungskraft.

Wir Schwestern waren grundverschieden.

Ich war ruhig, mimosenhaft sensibel und nachgiebig wie ein Gummiband. Dieses Wesen brachte mir in der Familie Sympathien, weil ich kaum Ärger machte.

Angi hingegen war lebhaft, stark und unnachgiebig wie ein Stahlträger. Ihre überschäumende Dynamik trieb sie ständig zu neuem Unfug. Dadurch hatte sie wesentlich mehr Probleme mit unseren Eltern als ich. Die brutale Strenge, mit der Vater ihren Charakter zu brechen versuchte, war Ursache, warum Angela zu lügen begann.

Meine Artigkeit sehe ich jedoch nicht als Verdienst. Ich gliederte mich durch meine Nachgiebigkeit lediglich schneller in jede Gemeinschaft ein und war dadurch leichter zu lenken. Obwohl: Man könnte passender sagen - ich war leicht manipulierbar.

Trotzdem wurde auch ich für kleine Vergehen so heftig verprügelt, dass ich jedes Mal vor Angst in die Hosen machte. Einmal fasste ich eine Teekanne so ungeschickt an, dass sie zu Boden fiel und zerbrach. Daraufhin musste ich, nach der obligatorischen Tracht Prügel, auf Ketten knien und gleichzeitig eine Besenstange hochhalten. Dabei war ich doch nur tollpatschig gewesen.

Angela hingegen stellte ständig irgendetwas an und durch die regelmäßigen Prügel und Strafen, die sie dafür erntete, verschloss sie sich immer mehr. Sie log in der Schulzeit aus Angst vor Strafe und wurde so verhaltensgestört, dass meine Eltern ihr ohnmächtig damit drohten, sie in ein Kinderheim zu stecken - was sie aber gottlob nicht taten.

Meine Schwester versuchte ich aber erst als Erwachsene zu verstehen. In meiner Kindheit habe ich sie manchmal regelrecht gehasst, weil ich unter ihren Lügen und Ihrer kindlichen Falschheit schwer zu leiden hatte.

An eine Episode erinnere ich mich, als wäre sie gestern geschehen. Angi und ich hatten mit Plastilin, einer bunten Knetmasse, gespielt. Natürlich wussten wir, wo wir es nicht hin kleben durften. Angela ritt aber wieder einmal der Teufel und sie verklebte mit der weich gekneteten Masse feinsäuberlich das Türschloss unserer Wohnung.

Abends, als die Tat aufflog, fragte Vater: „Wer von euch beiden war das?“

Angela: „Ich nicht!“

Ich stritt es natürlich auch ab.

„Gut“, sagte Vater. „Wenn es keiner von euch beiden war, dann kriegt ihr beide eine Tracht Prügel! Vielleicht fällt euch dann ein, wer es gewesen ist.“

Gesagt, getan. Wir wurden beide verprügelt und nochmals befragt. Doch Angela stritt wieder alles ab. Sie bewies sich als wahre ‘Steherin‛. Selbst nach mehreren Prügel-Durchgängen blieb sie dabei, dass sie es nicht war!

Diesen Druck hielt ich nicht länger aus. Außerdem erkannte ich, dass Angi niemals ihre Schuld zugeben würde. Ich wünschte mir aber nur noch, dass diese ewigen Prügel endlich aufhörten, deshalb ‘gestand’ ich nach dem Motto: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Der Schrecken war heftig, denn Vaters Wut war nicht zu bremsen. Die Prügel, die ich bekam, waren die Schlimmsten meiner ohnehin nicht rosigen Kindheit. Er schlug mit dem Kochlöffel so lange auf mein Hinterteil, dass meine Rückenansicht in einem Zoo sicher nicht von der eines Pavians zu unterscheiden gewesen wäre.

Besonders hart wurde ich deshalb bestraft, weil ich ohne Gefühlsregung meine ‘unschuldige‛ Schwester verprügeln ließ, ehe ich zugab, dass ich das Plastilin ins Türschloss geklebt hatte. Obwohl ich vor Schmerzen und Angst kaum mehr Kräfte hatte, musste ich, nachdem Vater endlich von mir abgelassen hatte, auf dem Holzboden knien und als Zusatz-Tortur die Hände auf den Kopf legen. Um mich weiter zu demütigen, begann er mit Angi vor meinen Augen zu spielen.

Die beiden lachten, scherzten und Vater sagte zu Angi: „Wenn du jetzt zu deiner Schwester siehst, weißt du, dass Lügen kurze Beine haben, vergiss das nie!“ Angela genoss es sichtlich, einmal als ‛Brave‘ im Mittelpunkt zu stehen und schien überhaupt keine Gewissensbisse zu haben. Doch meine Wut auf sie, die steckte tief.

Sie hatte jedoch nicht oft in unserer Kindheit die Möglichkeit, als die ‘Bravere‛ von uns beiden zu wirken. Wie sehr muss sie daher dieses Gefühl genossen haben, auch wenn es ihr nicht zustand. Im Laufe unserer weiteren Kindheit bekam sie kaum mehr die Möglichkeit, ihre Schuld auf mich abzuwälzen. Meine Eltern kannten uns beide und wussten aus Erfahrung bald genau, wer für Streiche verantwortlich war.

In der Schule wurden die Problemchen mit Angi zu Riesenproblemen. Sie ließ Mitteilungshefte verschwinden, wenn sie negative Nachrichten beinhalteten, schmiss ihr Hausarbeitsheft in den Mistkübel, wenn sie die Aufgaben nicht gemacht hatte und verdächtigte sogar ihre Lehrerin, das Heft verloren zu haben.

Einmal log sie Mutter vor: „Du brauchst nicht zum Elternsprechabend in die Schule kommen; die Frau Lehrerin ist krank. Aber es gibt sowieso nichts zu bereden, denn ich bin ganz brav in der Schule!“ Mutter glaubte es auch noch! Bis die ‛kranke‘ Lehrerin bei Mutter anrief und fragte, warum sie nicht zum Elternsprechabend gekommen war. Es hätte so vieles zu besprechen gegeben. Am Telefon erfuhr Mutter dann alles, was Angi verheimlichen wollte – und wieder wurde Angi gezüchtigt. Doch bei Angi brachten die Prügel, im Gegensatz zu mir, genau das Gegenteil dessen, was meine Eltern erreichen wollten.

Wurde ich verprügelt, versprach ich alles, was von mir erwartet wurde und versuchte tatsächlich, keine Fehler mehr zu machen. Dabei stellte ich absichtlich sowieso nie etwas an. Wenn ich gestraft wurde, für Folgen einer ungeschickten Handlung. Die Züchtigungen meiner Eltern waren demnach bei mir sehr erfolgreich: Ich wurde immer folgsamer und formbarer und - wie ich heute weiß - willenloser. Meine Eltern empfanden das als angenehm.

Ich musste daher als Erwachsene einen langen Weg gehen, um selbstbewusst zu werden.

Angi hingegen war nicht zu zähmen. Sie stellte immer Dummheiten an, log, wenn sie den Mund aufmachte und je härter meine Eltern sie anfassten, desto schwieriger wurde sie. Musste Angela knien, versprach sie nicht, künftig brav zu sein. Nein! Stur und wortlos kniete sie ihre Strafe ab.

Dabei muss ich erwähnen, dass sie eine bessere körperliche Konstitution hatte als ich. Langes Knien mit den Händen am Kopf oder oftmals einen Besen nach oben haltend, war für mich eine körperliche Qual, die ich kaum aushielt. Angi dagegen hatte kräftige Muskeln und war viel robuster und sportlicher als ich. Dadurch hatte sie mehr Durchhaltevermögen und ließ sich nichts anmerken. Das ärgerte meinen Vater maßlos und genau das bezweckte Angi.

ANGI: Als Erwachsene erzählte sie mir, dass auch sie oft nicht mehr konnte, aber sie wollte Vater keine Genugtuung geben und hätte sich eher auf die Zunge gebissen, bevor sie sich entschuldigt oder Besserung gelobt hätte. Kürzlich erzählte mir Angi, dass Vater sie einmal zwingen wollte, die ganze Nacht zu knien. Angi kniete stur ihre Strafe ab, bis sie umfiel und auf dem Boden einschlief. Ihr war es egal, denn, wie sie lachend fortfuhr: „Vater hat sowieso nicht gemerkt, dass ich am Boden geschlafen habe, denn er war ja auch schon eingeschlafen.“

Aus heutiger Sicht muss ich gestehen, dass ich sie für diese Haltung bewundere. Vater wollte sie durch Schläge zum Einlenken bringen, doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Sie konnte Schmerzen unterdrücken und hart sein, eine Charakterstärke, zu der ich nie fähig gewesen wäre. Durch diese zur Schau getragene Gleichgültigkeit, mit der sie gegen Vaters brutale Erziehung protestierte, machte sie seine Unfähigkeit und Hilflosigkeit sichtbar. Diese Machtlosigkeit hat ihn maßlos geärgert und durch seinen Ärger fand Angi für die erlittenen Qualen Genugtuung.

So sehr ich Angi heute bewundere, zu jener Zeit war ich oft wütend auf sie, weil sie bei jeder Gelegenheit versuchte, mich für ihre Streiche verantwortlich zu machen. Wir spielten zwar häufig miteinander, doch viel öfter stritten wir.

Mit den Jahren begann ich allerdings Angelas Geschick und Tatendrang zu nutzen und ließ mir von ihr niedere Hilfsdienste erledigen. Für Lob tat sie einfach alles. Nachdem ich das erkannt hatte, lobte ich sie für jede Arbeit, die mir zuwider war, wenn sie diese für mich erledigen würde. Sie wuselte dann wie eine Biene umher und erledigte voll Stolz die Arbeiten, die mir nicht so leicht von der Hand gingen.

Die Symbiose stimmte: Angi fand Anerkennung und ich war lästige Arbeiten los.

Wenn ich an unser Zuhause denke, fröstle ich. Ich erinnere mich nämlich an permanente Kälte, die durch den Boden aus dem Keller hochkroch und Zugluft, die durch undichte Türen vom Gang in die Wohnung zog und unzählige Ameisen, die das frostige WC bevölkerten.

Unangenehm war zudem, dass ich mit Angi in einem Bett schlafen musste. Bei ihrem unruhigen Schlaf bedeutete das einen ewigen Kampf um die Bettdecke, sodass mir auch in der Nacht oft kalt war.

Angenehme Erinnerungen an diese Zeit fallen mir einfach nicht ein. Angi und ich mussten immer ruhig sein, sonst flogen die Ohrfeigen tief. Ein häufiger Auslöser für Schläge waren Angelas und meine Essgewohnheiten.

Wir waren schlechte Esser.

Fleisch bekamen wir kaum runter, überhaupt, wenn wir ein Fetträndchen erblickten. Hilfesuchend blickten wir dann immer, ob unser Kater mit sehnsuchtsgeweiteten Augen unter dem Tisch hockte und Mutter gerade mal aufstehen musste. Weil sie aber meist mit uns am Tisch saß, blieb die Sehnsucht unseres Katers oft ungestillt und Angi und ich mussten schlucken.

Gulaschfleisch löste bei mir regelmäßig einen Würgreflex aus. Entfuhr mir dieses unappetitliche, würgende Geräusch, mit dem ein Fleischstück aus dem Schlund in die Mundhöhle, oder gar auf den Teller zurück katapultiert wurde, gab es zusätzlich zum eigenen Ekel, einen Schlag auf den Hinterkopf. Und die nächste Mahlzeit des Tages wurde auch gleich gestrichen.

Unsere Eltern waren offenbar hilflos, weil wir so heikel waren. Ohne Gezeter aßen wir eigentlich nur Brot, Extrawurst, Obst und Beilagen. Fleisch, Gemüse, Salate, nicht einmal Schinken, konnten wir ohne Ekel essen!

Einmal kaute ich ein Stück Räucherspeck während einer einstündigen Autofahrt. Nachdem mein Brot schon aufgegessen war, konnte ich das letzte Stück Speck vor der Abfahrt einfach nicht mehr schlucken. Meine Eltern wollten aber schon mit dem Auto abfahren und reagierten stets gereizt, wenn ihre Pläne gestört wurden. Um deren Unmut nicht zu schüren, versteckte ich das geile Stück Fett in meinen Wangentaschen. Während der Autofahrt versuchte ich verzweifelt, das Stück zu schlucken. Doch ich schaffte es nicht. Als die Autofahrt vorbei war, suchte ich unbemerkt ein Gebüsch und spuckte meinen durchgekauten ‛Schatz‘ heimlich aus.

Aus heutiger Sicht ist mir klar, wie schwer Angi und ich zu ernähren waren. Mutter war und ist eine ausgezeichnete Köchin und wollte uns ausgewogen ernähren, doch wir verweigerten fast alles. Sie muss verzweifelt gewesen sein, dass es bei uns daheim ständig Querelen bei Tisch gab. Noch vor kurzem habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ich dachte, Angi und ich waren als Kinder einfach nur extrem heikel.

Nach dem Lesen der Autobiographie eines anderen Missbrauchsopfers erkannte ich aber, dass es womöglich einen Zusammenhang zwischen essen-können und Liebe-empfangen gibt. Auch die Missbrauchs-Autorin war ein ungeliebtes Kind wie Angi und ich und konnte nicht essen. Mir fiel zudem auf, dass ich bei meiner Großmutter sehr wohl gegessen habe und sie kochte nicht nur Speisen, die mir schmeckten. Ich erinnere mich, dass ich bei Oma prinzipiell immer gerne aß – sogar Fleisch und Gemüse!

Dazu passt auch die Tatsache, dass mein Mann in seiner Kindheit alles gegessen hat. Er hatte eine liebevolle Kindheit. Auch bin ich nicht heikel geblieben. Heute esse ich gerne und alles – empfange aber auch sehr viel Liebe. Diese Tatsachen zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen essen-können und Liebe-empfangen geben muss!

Liebe habe ich in meinem Elternhaus nicht empfangen. Jedenfalls keine spürbare. Die ständige Vorsicht, um nur ja nicht in eine schlagende Hand zu laufen, ließ in mir nur Angst keimen. Lediglich ein kleines Mädchen, mit der ich manchmal im Hof spielte, erhellt meine Erinnerung. Doch wenn ich nach dem Spielen wieder vor der Wohnungstür stand und anläutete, ließ mich schon der Klang der Türglocke wieder frösteln, weil ich wusste, nun musste ich wieder in diese beklemmende Wohnung.

Richtig geborgen und geliebt fühlte ich mich nur an den Wochenenden, wenn ich bei meinen Großeltern sein durfte. Omas Zärtlichkeit und Opas Fröhlichkeit waren für mich die seelische Glückstankstelle meiner Kindheit. Hier war ich unbeschwert und glücklich.

In einem Untermietzimmer bei Oma lebte auch der ältere Bruder meines Vaters, Onkel Herbert. Jeden Samstagvormittag, wenn Oma ein Mittagessen vorbereitete, ging Onkel Herbert mit Angi und mir in die Innenstadt. Er lud uns dann stets in eine Tom & Jerry-Kinovorstellung ein, was unsere Kinderherzen höherschlagen ließ.

Mit ihm spielten wir bei Oma die wildesten und lautesten Spiele. Niemand schimpfte oder schlug zu, wenn wir zu laut wurden. Nur bei Onkel Herbert konnten wir ausgelassen sein und durften toben. Für Angi war dieser Zustand das reinste Paradies und sie klebte förmlich an Onkel Herbert.

Er war auch der Einzige, der mich nicht Angela vorzog. Wahrscheinlich schnitt es ihm ins Herz, wenn er ansehen musste, wie Angi aufgrund ihrer Wildheit benachteiligt wurde. Er versuchte, dieses Manko auszugleichen und die liebevollsten Spitznamen, die Angi als Kind erhielt, bekam sie von Onkel Herbert.

Somit erhielt jeder, was er brauchte: Angi hatte Onkel Herbert, mit dem sie toben konnte, ich hatte Oma, die mir Zärtlichkeit schenkte.

Je schöner diese Wochenenden wurden, desto schrecklicher wurde es im Laufe der Zeit, wenn am Sonntagabend unsere Eltern kamen, um uns abzuholen. Ich weinte regelmäßig. Mit meinem verzweifelten Aufschrei: „Oma bei´m“ („ich will bei Oma bleiben“ im Kinder-bla-bla) wurde ich oft von Onkel Herbert geneckt, indem er mich mit einer Grimasse nachäffte.

Damit versuchte er meinen Kummer ins Lächerliche zu ziehen, wollte erreichen, dass ich lache und gleichzeitig aufhöre zu weinen, denn meine Eltern fanden mein Geplärr nicht zum Lachen.

Je älter ich wurde, desto hemmungsloser wurde aber das ‘Theater’, das ich aufführte. Bald konnte ich Oma überhaupt nicht mehr verlassen, ohne hemmungslos zu schluchzen. Das machte meine Eltern so zornig, dass ich wegen meiner Heulerei geschlagen wurde.

Ich bemühte mich daher, nicht zu weinen, versuchte an schöne Sachen zu denken, drehte die Augen nach oben bis sie schmerzten und sagte dabei „Ebba, Ebba.“ Aus irgendeinem Grund glaubte ich, dieses Wort würde mich am Weinen hindern. Manchmal funktionierte es. Doch meist war ich meinen Gefühlen - und Vaters Schlägen - hilflos ausgeliefert.

Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass meine Großeltern und Onkel Herbert nicht mit den Erziehungsmethoden meines Vaters einverstanden waren. Doch im Vergleich zu meiner Großmutter redete Onkel Herbert seinem Bruder nicht ins Gewissen, wenn wir vor seinen Augen geschlagen wurden oder knien mussten.

Oma konnte aber einmal nicht mehr zusehen. Als sie zu Besuch war und wir vor ihren Augen brutal verprügelt wurden, wollte sie uns schützen, indem sie flehte: „Sei doch bitte nicht so grob!“

Diese Einmischung ließ Vater aber nicht zu. Kurzerhand warf er Oma mit den Worten: “Ich erziehe meine Kinder selber!“ aus der Wohnung.

Nachdem Onkel Herbert das hohe Aggressionspotential seines Bruders kannte, vermied er es, ihn zu reizen, wenn Vater bereits am Ausrasten war. Er wusste, damit hätte er uns nicht geholfen.

An eine Anzeige wegen Kindesmisshandlung dachte in den 60-er-Jahren niemand, denn Schläge waren damals noch ein legitimes Erziehungsmittel.

Die wenigen schönen Erinnerungen an die Zeit in der kleinen Wohnung waren Vaters Spiele mit uns. Er war zwar während der Woche meist übelgelaunt, doch manchmal spielte er mit uns.

Meist saßen wir auf seinem Schoß und er begann ein Bild zu zeichnen. Wir mussten raten, was das Gezeichnete werden würde und wer es als erster erriet, hatte gewonnen. Dieses Spiel liebte ich, weil Vater ein talentierter Zeichner war.

Vor Lachen gebogen haben wir uns auch, wenn er uns kitzelte. Diese Erinnerungen sind die einzigen schönen Momente meiner Kindheit, wenn ich an Vater denke.

Ich kann mich nicht erinnern, dass Mutter je mit uns gespielt hat, außer Rummy in unserer Teenager-Zeit.

Doch als wir noch kleine Kinder waren, hatte sie keinen Draht zu uns. Sie ging nicht arbeiten und kümmerte sich den ganzen Tag um den Haushalt und um uns, doch ihre Fürsorge habe ich als gut organisiert, aber steril in Erinnerung.

Sie ging mit uns bei Schönwetter täglich in den Park, dort durften wir spielen, während Mutter auf einer Parkbank sitzend gemeinsam mit anderen Müttern einen Pullover nach dem anderen für uns strickte.

Am Abend gingen wir heim, wurden blitzsauber gewaschen, in das blitzsaubere Nachthemd gesteckt und schliefen im blitzsauberen Bett.

Auch kann ich mich nicht erinnern, dass Mutter mir je einen Gute-Nacht-Kuss gab, ein Einschlaf-Lied sang oder eine Einschlaf-Geschichte erzählte.

Das bedeutet aber nicht, dass sie uns nicht geliebt hat. Ich weiß, dass sie liebesfähig ist, aber sie kann es leider nicht zeigen.

Jedenfalls nicht ihren Kindern. Zu Tieren entwickelt sie eine so zärtliche Liebe, dass Angi und ich uns oft wünschten, mit Fell geboren worden zu sein. Wenn Mutter voll Stolz aus ihrer Geldbörse Fotos ihrer Katzen kramte und voll Liebe erzählte, wie unerzogen diese doch seien, spürten wir eifersüchtige Stiche, denn von uns beiden hatte sie kein Bild im Portemonnaie – dabei waren wir wesentlich folgsamer als ihre Katzen. Mutter muss offenbar schon als junger Mensch von Menschen so tief enttäuscht worden sein, dass sie nur Tieren Zärtlichkeit schenken kann.

Mutter ist sensibel, wirkt aber kühl. Sie schluckt Kränkungen, beschwert sich nie und diese Kränkungen kommen als Krankheiten zum Ausbruch.

Sie hatte meine geliebte, einfühlsame Oma als Mutter, doch Mutter öffnete sich offenbar niemandem, weder ihrer Mutter noch einer Freundin.

Ich kann mich nicht erinnern, sie je mit einer Freundin intensiv plaudern oder scherzen gesehen zu haben und das habe ich sicherlich nicht nur vergessen. Sie vergräbt ihre Probleme in ihrem Innersten, war stets ein Muster an Pflichtgefühl und Ordnung halten und hat leider nie gelernt, an sich selbst zu denken.

Kapitel 4.2

Bevor ich eingeschult wurde, habe ich mich vor der Schule gefürchtet. Daher war ich überrascht, wie angenehm der Schulalltag und liebenswert meine Lehrerin war. Diese Erfahrung war neu für mich. Ich dachte nämlich, alle erziehenden Autoritäten, wie Eltern oder Lehrer, sind streng und diktatorisch. Ich kannte ja nur diesen autoritären Erziehungsstil.

Außerdem haben mich meine Eltern mit ihren Erzählungen aus deren Schulzeit abgeschreckt: Vater wurde in seiner Schulzeit mit Rohrstäbchen gezüchtigt, Mutter bekam vom Lehrer die Ohren langgezogen, wenn sie vorlaut war. Daher hatte ich mich auf eine harte Zeit eingestellt. Dass uns die Lehrerin Wissen mit Einfühlungsvermögen beibrachte und Kinder antiautoritär disziplinierte, wenn jemand unartig war, empfand ich als neue, aber äußerst angenehme Erfahrung.

Besonders erfreulich fand ich an meinem neuen Lebensabschnitt, dass ich nun den halben Tag mit Gleichaltrigen verbrachte. Nachdem ich den Kindergarten nicht besucht hatte, genoss ich die Gesellschaft von Freundinnen. Daher war die Schulzeit für mich ein Segen, denn nun hatte ich auch während der Woche schöne Stunden und musste nicht mehr die ganze Woche auf das Wochenende bei Oma warten, um Freude empfinden zu können.

Den Religionsunterricht liebte ich besonders. Die Vorstellung von Gott als Schöpfer der Erde und des Teufels als Hüter der Hölle waren für mich so prägend, dass ich einen tiefen Glauben entwickelte. Ich fürchtete mich vor dem Teufel so sehr, dass ich mich hütete, Sünden zu begehen und wollte aus reinstem Herzen versuchen, ein guter Mensch zu werden.

Allerdings erlebte ich auch das peinlichste Erlebnis meiner Schulzeit in einer Religionsstunde. Wie bereits erwähnt, war mein Respekt vor den Lehrern so groß, dass ich nie gewagt hätte, während des Unterrichts unaufgefordert einen Ton von mir zu geben. Trotz der Tatsache, dass die Lehrerin liebenswürdig war, blieb mein eingeprügelter Respekt grenzenlos.

In jener Religionsstunde hätte ich aber besser doch einen Ton von mir geben sollen, nämlich die simple Bitte auszusprechen, auf die Toilette gehen zu dürfen. Doch meine Angst davor, getadelt zu werden, wenn ich unaufgefordert einen Pieps mache, war größer als meine Angst, in die Hose zu machen. Ich litt Höllenqualen und plötzlich konnten meine Schließmuskeln dem Überdruck der gefüllten Blase nicht mehr standhalten: Während ich in die Hose machte, heulte ich vor Entsetzten und Scham auf.

Das Aufsehen, das ich durch mein Missgeschick erzeugte, war weit größer, als wenn ich gefragt hätte, ob ich auf die Toilette gehen darf. Die Lehrerin war verständnisvoll und schickte die anderen Kinder auf den Gang.

Meine Mutter wurde angerufen, die mich mit frischer Wäsche abholte und die Putzfrau wischte das Malheur auf. Ich habe mich fürchterlich geschämt und erwartete nun auch noch eine Strafe von Mutter. Doch überraschenderweise hat sie damals nicht einmal geschimpft. Sie muss erkannt haben, wie peinlich die Situation für mich ohnehin schon war.

Als ich acht Jahre alt wurde, fanden meine Eltern eine größere Wohnung am Wiener Stadtrand, was für mich einen Schulwechsel bedeutete. Der Abschied von meinen Schulfreundinnen war schmerzlich für mich.

Es war das erste Mal, dass ich mich von Menschen trennen musste, die ich liebgewonnen hatte und einen Lebensabschnitt unwiederbringlich als beendet ansehen musste.

Nach dem letzten Schultag, vor der Schule, als meine Oma mich schon im Empfang genommen hatte, hielt mich meine damalige beste Freundin am Arm fest und sagte: „Ich bin so traurig, dich nie wieder zu sehen und wünsche dir viel Glück!“ Da begann ich zu weinen und dieser Abschiedsschmerz sollte sich meiner künftig bei jedem Abschied, welcher Art auch immer, bemächtigen.

Ich kann auch heute den Gedanken eines endgültigen Abschiedes kaum ertragen und es fällt mir schwer, mich an den Gedanken zu gewöhnen, eine bestimmte Umgebung oder bestimmte Menschen, mit denen ich einen Teil meines Lebens gegangen bin, nicht mehr zu sehen. Ich fange in solchen Situationen stets zu weinen an, was mir als erwachsener Mensch viel schlechter ansteht, als damals, als Kind. Tränen sind leider mein großer Malus aus der Kindheit geblieben. Ich muss bei jeder Gelegenheit weinen, sei es aus Freude oder Zorn, vor Rührung oder Schmerz. Wenn ich eine tiefe Rührung spüre, steigen mir die Tränen wie von selbst in die Augen und ich finde keinen Weg, sie zurückzuhalten. Jeder 100 %-ige Trick (angeblich hilft festes Popo-Zusammenzwicken) funktioniert bei mir nicht. Wenn die Tränen aufsteigen, dann fließen sie auch schon und ich habe keine Chance, es zu verhindern. Nicht erst einmal habe ich mich dafür geschämt, vor allem, wenn es vor wildfremden Menschen oder in unmöglichen Situationen passiert. Schon als Kind nannten mich meine Eltern deshalb Heulsuse. Offensichtlich werde ich diesen Kosenamen mein Leben lang tragen müssen – mit zunehmendem Alter jedoch immer gelassener. Ich habe erkannt, dass man sich für sein Wesen nicht schämen sollte und außerdem sowieso hinnehmen muss, was nicht zu ändern ist.

In der neuen Wohnung hatten wir viel Platz. Wir besaßen ein Wohnzimmer, das größer war als die gesamte frühere Wohnung, ein großes, zentrales Vorzimmer, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer, das ich mit Angi teilte, und sogar Bad und WC. Im Kinderzimmer standen Stockbetten und jedes Kind hatte einen Schreibtisch, was für uns reiner Luxus war.

Die Wochenenden bei Oma wurden zu jener Zeit automatisch eingestellt. Doch da wir unser eigenes Zimmer so beeindruckend fanden und sich zu jenem Zeitpunkt sowieso fast alles in unserem Leben verändert hatte, nahmen wir auch diese Veränderung ohne große Aufregung hin – wohl auch, weil uns Oma stattdessen jeden Freitag besuchte.

In der neuen Schule fühlte ich mich am ersten Schultag unbehaglich. Alle Schulkinder kannten sich vom Vorjahr und als ’die Neue‘ wurde ich intensiv gemustert. Nachdem ich sehr scheu war, saß ich schüchtern auf dem einzig freien Platz und fühlte mich ausgeschlossen und einsam.

Hätten mich nicht einige Mädchen angesprochen, säße ich vielleicht heute noch in der Schulbank in der letzten Reihe und würde nicht wagen, den Kopf zu heben. Das erste Mädchen, das mich ansprach, war Christa, ein sanftmütiges Mädchen mit dicken, blonden Zöpfen, die mich in die Klassengemeinschaft eingliederte.

Schon nach wenigen Wochen war ich integriert und fühlte mich so wohl wie in meiner vorherigen Schule. Christa und mich verband bald eine tiefe Freundschaft, die bis zum Ende unserer, ebenfalls gemeinsam verbrachten, Hauptschulzeit dauern sollte.

So schüchtern ich gegenüber Fremden war, so aufgedreht und gesprächig war ich, wenn ich von der Schule heimkehrte. Meine Eltern schüttelten regelmäßig den Kopf, wenn ich, noch bevor ich die Schuhe ausgezogen hatte, losplapperte und ihnen alle Erlebnisse, die mich im Laufe des Tages beeindruckt hatten, aufdrängte.

Am besten gefiel mir an meiner neuen Schule, dass Mädchen und Buben gemeinsam in der Klasse saßen. Zuvor ging ich in eine reine Mädchenschule, doch in einer gemischten Klasse zu sitzen, schien mir viel interessanter.

Aufgefallen sind mir zwei Buben, die den gleichen Schulweg hatten wie ich. Martin und Günter hatten ein schlechtes Elternhaus, was man an ihrem flegelhaften Benehmen feststellen konnte.

Doch ich erkannte das nicht sofort und anfangs bestaunte ich deren derbe Art, wie sie schimpften, auf die Straße spuckten oder sich über ältere Leute lustig machten. Sie brachten mich mit ihrer primitiven Art sogar zum Lachen. Zudem verwendeten sie Worte, die ich noch nie gehört hatte. Wenn ich naiv nach deren Bedeutung fragte, lachten die beiden idiotisch und gaben keine Antwort.

Wahrscheinlich hatten sie die ordinären Schimpfwörter von ihren Eltern oder Geschwistern (Martin hatte neun, Günter vier Geschwister) gehört und plapperten sie nach, ohne zu wissen, wovon sie sprachen. Mir konnten sie damit allerdings imponieren und das machte ihnen sichtlich Spaß.

Eines Tages, als wir vor meinem Haustor alberten, tuschelten Martin und Günter miteinander.

Martin flüsterte Günter etwas ins Ohr und rief plötzlich laut: „Na, tu´s doch, geh´ schon!“, und schubste Günter zu mir, der mir dadurch ein kurzes Busserl auf die Wange drückte. Günter wurde genauso rot, wie ich und vor Scham verschwand ich wie ein Wirbelwind im Haustor.

Auch das erzählte ich aufgeregt meinen Eltern, doch sie maßen meinem Erlebnis keine Bedeutung bei. Ich hatte allerdings an jenem Tag das erste, sonderbar aufregende Herzklopfen meines Lebens gespürt, so bedeutungslos und unschuldig diese Begebenheit auch war. Dieses Erlebnis sollte sich aber nie mehr wiederholen können, denn schon bald hatte ich die beiden als ‘doof‛ abgeurteilt. Ich sonderte mich von ihnen ab und ging künftig allein oder mit Christa nach Hause.

Für Gerhard, unseren Klassenschönsten, begann ich, wie fast alle Mädchen unserer Klasse, zu schwärmen. Doch dieser nahm keine Notiz von mir. Das Angenehme an dieser harmlosen Schulschwärmerei war, dass ich nicht unglücklich war, als ich von meinem Schwarm nicht beachtet wurde. Dafür schien mir das andere Geschlecht mit meinen neun Lebensjahren noch zu bedeutungslos.

Als fast Zehnjährige erhielt ich aber auch die heftigsten Prügel, an die ich mich als Volksschülerin erinnern kann. Es war Adventzeit und in den Kellerräumen der Volksschule war eine Bücherausstellung, die ich nachmittags mit meiner Schwester besuchen durfte. Eiserne Regel war für uns stets, dass wir vor Beginn der Dunkelheit daheim sein mussten.

In der Bücherausstellung fragte mich Christa: “Möchtest du mit deiner Schwester anschließend in die Pfarre zum Seelsorgeunterricht kommen? Es dauert nur eine Stunde.“ Wir wollten.

Leider wurde es in dieser Stunde dunkel und wir wagten nicht, mitten im Unterricht zu gehen. Beim abschließenden ‘Vaterunser’ betete ich besonders inbrünstig, bat Gott flehentlich um Hilfe für die zu erwartende Strafe daheim. Wir liefen wie gehetzt heim, in der Hoffnung, dass Vater vielleicht noch nicht da war. Doch meine Gebete wurden nicht erhört.

Vater rollte gerade Winterreifen über den Gehsteig zu seinem Auto, als er uns im Laufschritt näherkommen sah. Vor allen Leuten auf der Straße zügelte er jedoch seinen sichtbaren Ärger.

Noch.

Was uns bevorstand, konnten wir jedoch an seinen zornig funkelnden Augen erkennen. Bevor ich erklären konnte, warum wir uns verspätet hatten, drohte er: „Na wartet nur! Geht inzwischen rauf, ich komme gleich!“

Und die Art, wie er das sagte, ließ uns erschaudern.

Mit schlotternden Knien liefen wir in die Wohnung. Dort verzog ich mich vor Angst sofort auf die Toilette und wagte mich nicht raus. Wenig später hörte ich, in meinem nur vorübergehend sicheren Versteck, wie Vater sich über Angela hermachte. Es war ein unbeschreiblich schreckliches Gefühl, als ich Vaters brutale Schläge auf Angelas Körper samt Angis Wehgeschrei hörte und wusste: Die nächste bin ich.

Als der Kochlöffel an Angelas Hinterteil zu Bruch gegangen war und meine kleine Schwester zum Knien ins Kinderzimmer geschickt wurde, brüllte Vater: "Brenda, komm raus da, aber sofort! Ich warne dich, lasse mich kein zweites Mal rufen!"

Kaum öffnete ich angstschlotternd die WC-Tür, zog Vater mich schon am Arm raus und schlug so lange mit dem nächsten Kochlöffel auf mich ein, bis auch dieser zerbrach und ich vor Angst und Schmerz in die Hose machte.

Warum wir uns verspätet hatten, wollte er erst wissen, als wir auf unseren schillernden Sitzflächen nicht mehr sitzen konnten.

Fegefeuer auf Erden

Kapitel 5.1

Meine Kindheit endete für mich in der Hauptschulzeit. Bereits als Elfjährige durfte ich kein Kind mehr sein. Meine Kindheit wurde mir auf grausame Weise genommen, vom selben Menschen, der mir meine Kindheit als einen Zustand absoluter Unterwerfung und Hilflosigkeit, voll Schreck und Angst in Erinnerung beließ.

Gerade diese Ohnmacht einem Tyrannen gegenüber scheint die Vorbereitung auf die Qualen meiner Jugendzeit zu sein, denn ohne die unermessliche Furcht vor diesem Menschen, wäre vielleicht denkbar gewesen, dass ich mich einem anderen Menschen, vielleicht meiner Großmutter, anvertraut hätte und so meinem Schicksal entgangen wäre.

Aber seit wir in der neuen Wohnung wohnten, verbrachten Angi und ich die Wochenenden nicht mehr bei Oma, wodurch ich nicht mehr regelmäßig eine Vertrauensperson um mich hatte.

Somit war ich ihm durch jahrelang eingeprügelten Gehorsam schutzlos ausgeliefert: Meinem Vater.

Die Hauptschule war wieder eine reine Mädchenschule. Zu Schulbeginn war ich noch schüchtern und kleinlaut, doch schon bald wurde aus mir ein fröhlicher und temperamentvoller, manchmal vorlauter Teenager. Frech war ich jedoch nie, da ich meine Grenzen, teils aus Feingefühl, teils aus anerzogenem Gehorsam Erwachsenen gegenüber, kannte.

In die Schule ging ich gerne, weil ich beliebt war und die Zeit mit meinen Freundinnen genoss. Doch das Lernen interessierte mich nicht wirklich. Gott sei Dank war ich intelligent und lernte leicht, wodurch meine Faulheit nicht ins Gewicht fiel. Sehr gut war ich lediglich in den Fächern, die mich wirklich interessierten: Musik, Biologie, Turnen und Handarbeiten, später Stenografie und, als ich erstmals der Lehrerin zuhörte, auch Geschichte. Für die Haupt- und für mich uninteressanteren Lern-Gegenstände paukte ich hingegen erst in allerletzter Sekunde, um positive Schularbeiten schreiben zu können; diese Rechnung ging gottlob immer auf.

Unser Klassenvorstand, Frau Hofer, mochte mich. Immer wenn ich vorlaut war, schaute ich sie mit gespielter Unschuldsmiene an und lächelnd tadelte sie mich liebevoll mit den Worten: „Mein kleines Brendalein.“

Ich mochte sie auch, denn sie war gerecht und ließ uns auch mal toben.

Ein temperamentvolles Mädchen, Gertrude Deinbach, faszinierte mich. Sie war humorvoll und schlagfertig, hatte ein hübsches Gesicht mit lustigen Sommersprossen und rotblonde, lange Haare. Ich verehrte sie regelrecht, weil sie das Selbstbewusstsein hatte, das mir fehlte und war überglücklich, dass ich ihre beste Freundin wurde.

Zwei Jahre lang saßen wir nebeneinander und waren unzertrennlich. Ihre Heiterkeit wirkte auf mich so ansteckend, dass ich ihre sprudelnde Art nachzuahmen begann.

Auch in meinem weiteren Leben waren es die humorvollen, herzlichen Menschen, die mich faszinierten und ich eignete mir von jedem ein Stück ihrer Persönlichkeit an, ohne zu bemerken, dass ich ihr Verhalten kopierte. Mein Humor ist zwar angeboren, doch gewisse Aussprüche, Gesten und Eigenarten begann ich automatisch zu imitieren, wenn mir diese Merkmale an einem Menschen gefielen.

Wenn ich demnach Gott für ein Geschenk genauso dankbar bin, wie für die Liebe meiner Oma, dann, dass er mich mit so viel Humor beschenkt hat und ich die Gabe besitze, über (fast) alles lachen zu können.

Gertrude faszinierte mich so sehr, dass ich ihre kecken Sprüche und Redewendungen aufsog und verwendete, als wären sie meine eigenen. Mit dieser Art zu sprechen wirkte ich bald genauso fröhlich und selbstsicher wie Gertrude. Mit einem Unterschied: Gertrude war selbstbewusst und gab den Ton in unserer Freundschaft an. Ich sah zu ihr auf und war erfreut über die grenzenlose Gnade ihre ’beste Freundin‘ sein zu dürfen.

(Zur Erklärung für männliche Leser: Eine beste Freundin zu haben ist in diesem Alter in der Mädchenwelt eine absolute Notwendigkeit! Man wäre mit einem fünf Zentimeter kürzeren Bein und einem Glasauge noch immer wesentlich besser dran als ohne beste Freundin!)

Kapitel 5.2

Zu Beginn der Hauptschule war ich für mein Alter noch sehr naiv.

In der zweiten Klasse, ich war elf Jahre alt, fragte die Religionslehrerin: „Wisst ihr, woher die Babys kommen?“ Das hat damals niemand gewusst.

Ich bekam als Kind die Geschichte vom Storch aufgetischt und habe mir darüber hinaus keine weiteren Gedanken gemacht. Doch als die Lehrerin fragte, wurde ich neugierig und freute mich auf die kommende Religionsstunde, in der wir aufgeklärt werden sollten.

Die Lehrerin erklärte, wie die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane heißen und dass der Samen aus dem Penis in die Scheide kommt, womit das Ei der Frau befruchtet wird, aus dem sich dann ein Baby entwickelt.

Ich verstand das überhaupt nicht. Erstens hatte ich keine Ahnung, dass ein Mädchen unten ein Loch hat, und zweitens konnte ich mit dem Wort ‛Scheide‘ nichts anfangen und stellte mir diese wie eine ‘Scheibe‛ (Assoziation: Klingt ähnlich) vor, denn dieses Wort kannte ich. Mit dieser Verunsicherung war der Aufklärungsunterricht in der Schule beendet und wurde erst in der vierten Klasse in Biologie weiterbehandelt.

Ich machte mir jedoch keine Gedanken mehr über dieses Thema, denn wenn ich als Kind etwas nicht verstand, strich ich dieses Thema gleich wieder aus meinen Gedanken. Außerdem war mir damals egal, wie Babys entstehen. Hätte ich es verstanden, wäre es schön gewesen, doch so machte es mir auch nichts aus.

Trotzdem erzählte ich von dieser Religionsstunde daheim. Was gäbe ich heute dafür, wenn ich nur Mutter davon erzählt hätte. Ob ich meinem Schicksal entgangen wäre? Doch ich erzählte es beiden. Mutter sagte nichts und vor ihr auch Vater nicht.

Als wir eines Tages einen Waldspaziergang machten, fragte Vater jedoch: „Hast du das mit dem Babykriegen verstanden?“

„Ja, der Penis muss zur Scheide kommen!“ Obwohl ich keine Ahnung hatte, was das bedeutete, wollte ich mit Vater darüber nicht reden und tat daher, als wäre für mich alles klar.

Doch Vater fragte weiter: „Weißt du auch, was eine Vergewaltigung ist?“

Das wusste ich genauso wenig, doch ich glaubte es zu wissen und konterte: „Klar, das ist, wenn ein Mann zu einer Frau böse ist und sie schlägt.“ Da beendete er das Gespräch, weil er nun wusste, dass ich von sexuellen Dingen überhaupt keine Ahnung hatte.

Eines Tages, wir waren allein im Wohnzimmer, fragte er: „Hast du schon einmal einen Penis gesehen?“ Ich schüttelte verlegen den Kopf und wollte in mein Zimmer gehen. Da griff er nach meiner Hand und führte sie in seine Trainingshose. Ich wurde rot, wollte davonlaufen, doch er hielt mich fest und zwang mich, hinzusehen.

Abscheu erfasste mich, hatte ich doch in meiner gesamten Kindheit keinen nackten Erwachsenen gesehen. Ich war prüder als prüde erzogen worden und hatte bis dahin nicht einmal meine Mutter nackt, oder auch nur halbnackt, gesehen. Wenn sie sich von mir in der Badewanne den Rücken waschen ließ, umschlang sie mit aufgestellten Beinen Ihre Knie und klemmte dabei Ihren Busen wie in einem Schraubstock ein, damit trotz neugieriger Verrenkungen und verstohlener Blicke, Mutters Brust für mich stets ein gut verstecktes Geheimnis blieb.

Und nun steckte Vater meine Hand in seine Hose. Mir ekelte furchtbar und obwohl ich nicht wusste, dass hier eine ganz schlimme Sache begann, spürte ich instinktiv, dass dies hier nicht sein darf. Plötzlich war sein Glied groß und hart und er fragte: „Hast du gewusst, dass der Penis einmal groß und einmal klein sein kann?“ Ich schüttelte erschrocken den Kopf und wollte nur weg von ihm.

Doch Vater versuchte mir die Angst zu nehmen und stellte seine Handlung als Spiel dar: „Das ist doch lustig, oder?“ Ich fand es aber überhaupt nicht lustig und fragte: „Darf ich bitte gehen?“

Er ließ mich gehen.

Eine Woche später ging er mit mir spazieren.

Auf einem einsamen Waldweg rasteten wir uns auf einer Holzbank aus. Da griff er zwischen meine Beine, schob seine Hand in mein Höschen und erklärte: „Bei einem Liebespaar kommt der Penis da hinein.“

Erschrocken bat ich ihn: „Bitte, höre damit auf, ich schäme mich!“

„Es ist aber wichtig, dass ich dir das zeige. Du sollst später Bescheid wissen, damit dir kein Mann Leid antun kann. Es ist nur zu deinem Besten und um dich zu beschützen“, erklärte er fürsorglich.

Ich glaubte ihm, doch am Heimweg bat ich trotzdem: „Bitte, greife mich dort nicht mehr an.“

Er versprach es.

Zwei Wochen vor Weihnachten fuhr Vater mit mir in ein Kaufhaus, weil ich für Mutter ein Weihnachtsgeschenk kaufen wollte. Auf der Heimfahrt fuhr er einen Umweg in eine dunkle, menschenleere Seitengasse. Vor einem Turm brachte er das Auto zum Halten.

„Warum bleibst du hier stehen?“, wunderte ich mich.

„Ich habe am Turm eine Eule gesehen“, lautete seine Erklärung. Ich schaute hoch, konnte jedoch nichts erkennen. Er tat, als suche er die Eule mit den Augen, griff dabei aber wieder zwischen meine Beine in mein Höschen. Diesmal versuchte er mit einem Finger in meine Scheide zu gelangen, was mir zur Scham auch noch Schmerzen bescherte.

“Bitte, hör auf, das tut weh“, wimmerte ich.

„Nur fünf Minuten, dann fahren wir weiter“, versuchte er mich zu beruhigen. Danach blickte ich ständig zur Auto-Uhr und wartete verzweifelt darauf, dass die fünf Minuten endlich vorbeigingen.

Da wurde er zornig und verhüllte die Uhr mit einem Putzlappen.

Als eine Fußgängerin in die Nähe des Autos schlenderte, hoffte ich verzweifelt, er würde nun aufhören. Doch er platzierte stattdessen einen Pullover über meinen Schoß und tat so, als sähe er nach hinten.

Die Fußgängerin ging ahnungslos vorüber.

Vor Schmerz und Angst begann ich zu weinen. Da ließ er von mir ab und fuhr mit mir heim.

Nach diesem Erlebnis hatte ich nur mehr Angst vor ihm.

Ich fürchtete mich schrecklich davor, dass er mich abermals betastet und diese Furcht war nicht unbegründet.

Hatte ich seinem Versprechen, mich in Ruhe zu lassen, nach seinen ersten Annäherungsversuchen noch geglaubt, wusste ich inzwischen, dass ich seinen Versprechungen nicht glauben konnte.

Mein Wesen veränderte sich. Ich wurde verängstigt, wenn ich daheim war und fühlte mich nur mehr in der Schule sicher. Obwohl mich Vater zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht bedroht hatte, traute ich mich schon damals nicht, irgendjemanden etwas zu erzählen.

Ich schämte mich einfach zu sehr.

Am liebsten wäre ich nach der Schule gar nicht mehr nach Hause gegangen, denn ich hatte unheimliche Angst davor, mit Vater allein zu sein.

Nicht unbegründet.

Er lauerte mir förmlich auf. Kaum war Mutter einkaufen oder in der Arbeit, kam er schon zu mir und betastete mich.

Eines Tages setzte er mich auf den Kühlschrank, schob meine Unterhose runter und versuchte mit seinem Penis in mich einzudringen. Es tat furchtbar weh, viel mehr als mit seinem Finger bisher.

Ich wimmerte vor Schmerz und Angst, doch er machte sich so lange an mir zu schaffen, bis er sich plötzlich wegwandte, sein Glied über die Waschmuschel hielt und mir ein unangenehmer Geruch in die Nase stach.

Geschockt blieb ich auf dem Kühlschrank sitzen und hatte keine Ahnung, was hier soeben geschehen war.

Damals war ich noch nicht einmal aufgeklärt genug, um zu wissen, dass er beim erfolglosen Versuch in meine viel zu enge und jungfräuliche Scheide einzudringen, einen Samenerguss bekam und sein, für mich überaus übelriechendes, Ejakulat nun in das Waschbecken quoll.

Danach drehte er den Wasserhahn auf und ich konnte nicht sehen, was er tat. Mir liefen währenddessen unaufhörlich die Tränen über die Wangen und ich wagte nicht, mich zu bewegen oder auch nur ein Wort zu sagen.

Ich war vor Schock, Schmerz und Angst bewegungsunfähig und zitterte wie Espenlaub.

Als er sich wieder zu mir wandte und sah, in welch schrecklicher Verfassung ich war, nahm er mich in den Arm und tröstete mich.

„Glaube mir, das alles ist nur zu deinem Besten. Ich will dir nicht weh tun. Und genau deshalb mache ich das ja: Damit es dir nicht weh tut. Viele Männer tun das mit Gewalt und dann tut es wirklich weh. Ich hingegen bereite dich sachte auf die Liebe vor.“

„Aber es hat mir sehr weh getan. Bitte, mache das nie wieder. Bitte, Papa, bitte ...!“, wimmerte ich verzweifelt.

„Komm, geh schlafen“, wich er aus „und sage nur ja niemandem ein Sterbenswörtchen. Hast du mich verstanden?“, schickte er zugleich eine Drohung hinterher.

„Dann versprich mir bitte, dass du das nie wieder tust. Es hat so weh getan“, bettelte ich abermals.

Da wurde er wütend.

„Ich habe dir doch gesagt, dass das nur zu deinem Besten ist! Ich werde dich sanft entjungfern, damit du dieses Erlebnis nicht mit einem brutalen Mann teilen musst. Ich weiß, das verstehst du nicht, doch es ist nun einmal wichtig, dass du niemandem ein Wort sagst!“

Ich schwieg.

„Hast du mich verstanden?“, drängte er.

„Ja schon“, antwortete ich danach kleinlaut. „Aber, wenn es nur zu meinem Besten ist – warum darf es dann niemand wissen?“, wunderte ich mich über diesen Widerspruch in seiner Erklärung.

„Weil es bei uns in Österreich nicht üblich ist. In Japan machen das alle Väter mit ihren Töchtern. Deshalb ist so wichtig, dass du niemandem etwas erzählst, weil ich hier in Österreich vielleicht dafür ins Gefängnis käme.“

Ich nickte und wusste nicht, ob ich diese Japan-Geschichte glauben sollte oder nicht.

Da hob er mich vom Kühlschrank und schickte mich ins Bett.

Schlafen konnte ich in jener Nacht nicht viel. Zitternd und weinend lag ich im Bett und hatte Angst.

Unbeschreibliche Angst.

Aber auch Vater schien nicht viel geschlafen zu haben. Ihn beschäftigte stattdessen wohl die Sorge, wie er mich zum Schweigen bringen könnte. Er hat meine Verzweiflung am Vortag gefühlt und musste befürchten, dass ich mich in meiner Not jemandem anvertraue.

Er handelte daher rasch und am nächsten Morgen zog er mich zu sich ins Schlafzimmer, noch bevor ich in die Schule gehen konnte.

Als er meine erschrockenen Augen sah, nahm er mir meine Angst, indem er den liebevollen Papa mimte.

„Du wünschst dir doch eine Melodica – stimmt das?“

Ich nickte. Schon seit Jahren wünschte ich mir sehnlichst dieses Musikinstrument.

„Wenn du niemandem von unserem Geheimnis erzählst, dann schenke ich dir zu Weihnachten eine. Was hältst du davon?“

Ich sah ihn mit großen Augen an, da redete er weiter.

„Und ich verspreche dir: Wenn du keine Jungfrau mehr bist, dann lasse ich dich in Ruhe. Das verspreche ich dir wirklich hoch und heilig.“

Dabei hob er seine Finger zum Schwur und in mir überschlugen sich die Gedanken.

Er wollte nur mein Bestes. Ein Musikinstrument zu erlernen war damals mein größter Traum gewesen und nachdem es sowieso bald vorbei sein würde ...

Ich nickte und ging zur Schule.

Und schwieg.

Wie schon die ganze Zeit.

Viel zu sehr schämte ich mich ab dem Moment, als Vater mich zum ersten Mal angefasst hatte. Und viel zu groß war meine Angst vor Vater. Wahrscheinlich hätte ich sowieso nie den Mut gefunden, mich jemandem anzuvertrauen. Nun bekam ich für dieses Schweigen sogar meine so heiß geliebte und sehnlichst gewünschte Melodica.

Zu Weihnachten bekam ich dieses Musikinstrument, doch glücklich konnte ich mit diesem Geschenk nicht werden, denn dieses Instrument war für mich mit Blut bezahlt.

Vater lauerte mir bei jeder Gelegenheit auf. Und ich konnte nichts daran ändern. Ich fühlte mich wie Goethes Faust, der sich mit dem Teufel eingelassen hat und entwickelte Schuldgefühle, redete mir ein, selbst schuld an meinem Unglück zu sein: Hätte ich mir die Melodica nicht so sehr gewünscht, müsste ich nicht so einen hohen Preis dafür bezahlen.

Dabei war die Melodica doch nur Mittel zum Zweck gewesen. Er hat sich doch nur mein (weiteres) Schweigen damit ‘erpresst’. Abgelassen hätte er sowieso nie von mir.

Ich war verzweifelt. Nachdem Vater mich während des Tages nicht oft genug allein aufspüren konnte, weckte er mich fast jede Nacht. Er setzte mich, verschlafen und vor Kälte zitternd, auf den Kühlschrank und versuchte in mich einzudringen.

Mit roher Gewalt stieß er nicht durch und ich weiß nicht, ob er damit die Entjungferung hinauszögern, eine starke und verräterische Blutung verhindern, oder wirklich einfach nur meinen Schmerz erträglich halten wollte.

Doch es tat auch so höllisch weh und ich sah keinen Ausweg, dieser qualvollen Situation zu entfliehen. Verzagt wartete ich einfach auf ein Ende dieser Qual. Ich hoffte, dass er es bald ‘geschafft‛ hatte.

Nach Weihnachten merkte er, dass ich immer deprimierter wurde und befürchtete wohl, dass ich mich, trotz meines Schweige-Versprechens, jemandem in meiner Not anvertrauen könnte.

Also begann er zu drohen: „Ich warne dich, wenn du nur ein Sterbenswörtchen zu irgendjemandem sagst, dann bringe ich dich um. Wenn du glaubst, du kannst zur Polizei gehen und ich komme wegen dir ins Gefängnis, dann fürchte dich vor dem Tag, an dem ich rauskomme. Ich finde dich, so gut kannst du dich nirgends verstecken. Und glaube mir: Meine Rache wirst du dann nicht überleben!“

Vor Angst schlotternd, erkannte ich, Hilfe von außen zu erflehen, war für mich keine Option. Seine Gewaltausbrüche kannte ich bereits und daher war mir klar: Seine Drohung war ernstgemeint!

Er würde mich umbringen!

Daran bestand für mich kein Zweifel.

Ihm schutzlos ausgeliefert hoffte ich daher, dass Mutter uns einmal erwischen würde. Doch das geschah nie.

Oder aber sie hatte eine Ahnung, wollte es jedoch nicht wahrhaben und verschloss Augen und Ohren.

In der ersten Zeit war er noch vorsichtig und holte mich vortrefflich in der Nacht. Doch die Angst, jede Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden, setzte sich so tief in meinem Unterbewusstsein fest, dass ich eines nachts, als er mich wieder holen wollte, wild gestikulierend im Schlaf mit den Händen an der Wand herumfuhr.

„Nein, nein, nein!“, rief ich zitternd. Irritiert ergriff er meine Hand, um mich zu beruhigen und weckte mich dieses Mal nicht auf. Da beruhigte ich mich und schlief weiter. Von diesem Erlebnis erzählte er mir am nächsten Tag, ich selbst hatte keine Erinnerung daran. Seither ließ er mich in der Nacht schlafen, aber sicher nicht aus Sorge um meine seelische Verfassung, sondern aus Angst, dass ich bei einem weiteren hysterischen Anfall meine Schwester, die im Stockbett über mir schlief, hätte wecken können.

Ab nun lauerte er während des Tages auf mehr Gelegenheiten. Oft war Mutter gar nicht außer Haus, nur in einem anderen Zimmer und er missbrauchte mich.

„Warum tust du das mit mir? Es tut so weh!“, fragte ich oft gequält und flehte: "Bitte höre doch auf damit!"

„Das habe ich dir doch schon erklärt: Das muss ich tun, damit du nicht zum Freiwild für böse Männer wirst. Ich habe dir doch erzählt, dass die Japaner ihre Töchter so auf die Liebe vorbereiten. Und die Japaner wissen, was richtig und gut ist. Nur bei uns in Österreich weiß man das nicht“, war stets seine Rechtfertigung.

Er wolle also nur eine Frau aus mir machen, weil alle Männer so schlecht sind (!).

Wenn ich keine Jungfrau mehr war, würde er mich in Ruhe lassen. Das war der einzige Satz, den ich an seiner Rechtfertigung verstand und die für mich interessant war.

Ich hoffte daher so innig, bald entjungfert zu sein.

Im Juni, kurz nach meinem zwölften Geburtstag, war es endlich so weit. Dass ich mein kostbarstes Gut, meine Jungfräulichkeit, einen Schatz, den eine Frau nur einmal im Leben verschenken kann, auf so furchtbare Weise verloren hatte, war mir damals gar nicht bewusst gewesen. Im Gegenteil: Naiv und gutgläubig freute ich mich sogar, weil sich jetzt meine Hoffnungen erfüllen sollten: Dass Vater mich in Ruhe lässt. Er hatte es ja versprochen!

Natürlich hat er sein Versprechen nicht gehalten!

Ich habe danach nie wieder diese kindliche Gutgläubigkeit erlangt. Zu tief sitzen Vaters gebrochene Versprechen in mir. Viele bezeichnen mich als einen extrem misstrauischen Menschen. Doch ich empfinde mein Misstrauen nicht als extrem. Für mich ist es logisch, aufzupassen und auf das Schlimmste gefasst zu sein, ich schütze mich dadurch vor wiederholten Enttäuschungen.

Vater hatte wieder eine gute Erklärung, warum er weitermachen musste: „Jetzt machen wir so lange weiter, bis es dir guttut. Erst dann kann ich zufrieden sein, denn dann bist du gut vorbereitet auf die Männerwelt!“

„Aber du hast doch versprochen, dass …“, wollte ich die Einhaltung seines Versprechens einfordern. Als ich aber seine zornigen Augen sah, schluckte ich die restlichen Worte samt Enttäuschung hinunter. Mir war klar, er hätte mich geschlagen und trotzdem nicht aufgehört. Stattdessen nahm ich mir vor, eine Weile zu warten und nach einer gewissen Zeit zu sagen, es täte mir gut.

Das erledigte ich nach einem Monat.

Doch damit schloss sich der Teufelskreis für mich, aus dem ich nun nicht mehr entfliehen konnte.

Denn als ich fragte: „Hörst du jetzt endlich damit auf? Jetzt tut es mir gut und du hast versprochen, damit aufzuhören, wenn das so ist“, fragte er lauernd: „Wenn es dir wirklich guttut, warum willst du dann damit aufhören? Oder lügst du mich an? Gnade dir Gott, wenn du jetzt auch noch wie Angela zu lügen beginnst!“

Ich war gefangen. Er hatte mich so fest in seiner Hand, dass ich unmöglich ohne fremde Hilfe aus dieser Misere rauskommen konnte. Doch ich wusste nicht, wer mir hätte helfen können. Ich durfte mich ja niemandem anvertrauen.

Verzweifelt zog ich in Betracht einfach wegzulaufen. Doch wohin hätte ich mit zwölf Jahren laufen können? Und zu wem? Vater hatte mir gedroht, er würde mich überall finden und das glaubte ich ihm.

Ich erinnere mich an einen schrecklichen Gedanken, den ich eines Tages andachte, als er mit mir in der Küche saß, kurz nachdem er sich an mir abreagiert hatte. Ich sah damals in sein gewalttätiges Gesicht, das mir an jenem Tag wie die Fratze des Teufels erschien und dachte: „Wenn ich jetzt ein scharfes Küchenmesser nehme und zusteche, habe ich für immer meine Ruhe, dann kann er mir nichts mehr tun!“

Doch zugleich erschauderte ich, wie ich so einen schrecklichen Gedanken überhaupt denken konnte.

In meiner Ausweglosigkeit dachte ich in jener schrecklichen Zeit immer öfter an Selbstmord: Ihn umzubringen, das schaffte ich nicht, weglaufen konnte ich nicht, mich jemanden anvertrauen durfte ich nicht. Und dass er aufhörte, das wusste ich: Das tat er nicht.

Also blieb nur Suizid.

Doch ich hatte auch vor Selbstmord Angst und mein Lebenswille überwog stets. Außerdem hatte ich die Hoffnung, dass es irgendwann vorbei sein würde. Irgendwann, irgendwie musste es mir gelingen, auszubrechen.

Kapitel 5.3

In der kommenden Zeit begann Vater die Beziehung zu mir auf eine emotionale Ebene zu bringen.

„Ich liebe dich. Das alles mache ich nur aus Liebe zu dir, keinesfalls aus sexuellen Gründen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du mich auch so sehr liebst, wie ich dich. Deine Mutter hat mich nie verstanden. Nur mit dir bin ich glücklich. Ist es denn bei einer so großen Liebe nicht egal, dass wir Vater und Tochter sind?“

Das redete er mir so lange und so intensiv ein, dass ich es bald wirklich glaubte.

Um den letzten Satz verstehen zu können: Ich war damals 12 Jahre alt. Ein Kind!

Ich begann tatsächlich zu glauben, dass er mich brauchte. Er verlangte, dass ich ihn küsste wie einen Liebhaber. Beim Fernsehen musste ich mich in seine Arme schmiegen und ihm immer wieder versprechen, ihn nie anzulügen.

Mit irren Sätzen wie: "Wenn du mich belügen würdest, an diesem Verrat würde ich zerbrechen", legte er demonstrativ sogar die Verantwortung für sein Lebensglück in meine Kinderhände. Und obwohl es mir doch total egal sein konnte, woran er zerbrach, wusste er gleichzeitig, dass ich solche Wahrheiten nie in den Mund nehmen, nicht einmal andenken würde!

Dafür war ich viel zu eingeschüchtert und auch viel zu wirkungsvoll manipuliert. Obwohl es mich ekelte, ihn zu küssen, spielte ich trotzdem devot die liebende Lolita, verbarg meine Abscheu so gut es ging.

Damals wusste ich nicht, wozu Menschen in sexueller Gier und kranken Hirn fähig sind, deshalb verzieh ich ihm sogar die Schmerzen, die er mir zugefügt hatte. Ich wünschte mir so sehr einen guten Vater, dass ich begann, ihn trotz allem zu mögen.

Seine Motive schienen mir, nach erfolgreicher Gehirnwäsche, bald tatsächlich edel. Da ich nach meiner Entjungferung keine heftigen Schmerzen mehr hatte, nahm ich auch den täglichen Sex gelassener hin.

„Ich verstehe dich und liebe dich!“, wollte er hören, also hörte er es - wie von einer verständnisvollen Geliebten. Wunschgemäß kuschelte ich mich in seine Arme, empfand dabei jedoch die körperliche Nähe als widernatürlich.

Nach einer Erziehung ohne Zuneigung, plötzlich Zärtlichkeit von einem Elternteil zu erhalten, war eine außerordentlich fremdartige Empfindung. Dass der Preis für diese Zärtlichkeit so hoch war, konnte ich aber nicht beeinflussen. Daher wurde ich gelassener in jener Zeit.

So seltsam mein damaliges Verhalten erscheint, deutet diese Reaktion nicht auf den Verlust meiner geistigen Fähigkeiten hin. Im Gegenteil: Wenn Flucht unmöglich ist, muss sich ein Opfer mit einer Extremsituation einfach arrangieren und ich ließ daher eine positive, emotionale Beziehung zu meinem Peiniger zu, weil es meine einzige Chance war, seelisch zu überleben. Ich entwickelte das sogenannte Stockholm-Syndrom, ein psychologisches Phänomen, eine Schutzmaßnahme, welche es einer Geisel oder einem Missbrauchsopfer ermöglicht, den Verlust der Freiheit überhaupt auszuhalten.

Ich war Vaters Geisel und meine Rechte und Freiheiten wurden in den kommenden Jahren immer weiter reduziert.

Im ersten Sommer während Vaters Geiselhaft durfte ich noch fortgehen. Dieses Privileg wurde bald aus ’moralischen‘ Gründen gestrichen.

Doch bevor meine gesamte Freiheit beschnitten wurde, durfte ich als 12-Jährige nach Erledigung der Hausübung noch ab und zu im benachbarten Gemeindebau Christa besuchen. Wir turnten im Hof und spielten Fangen oder Verstecken.

Bald jedoch interessierten mich die Jungen vor dem Fußballplatz mehr als die Spiele mit Christa.

Willi, der Bruder eines Schulkollegen aus der Volksschule, fragte: „Willst du zum Fußballplatz mitkommen?“ Er war zwei Jahre älter als ich und hatte dunkle, lockige Haare und braune Augen, die mich mit einem warmherzigen Blick ansahen. Weil mir Willi sympathisch war, ging ich mit.

Die halbstarken Teenager, die sich vor dem Fußballplatz herumtrieben, gaben sich mächtig cool. Sie rauchten, schmusten und hatten einen derben Umgangston. Als ich in deren Kreis aufgenommen wurde, fühlte ich mich, allein durch diese Zugehörigkeit, gleich wesentlich erwachsener. Stundenlang saßen wir auf der Bank vor dem Fußballplatz und alberten harmlos herum.

Willi hielt sich ständig in meiner Nähe auf und machte keinen Hehl daraus, dass er an mir Gefallen fand. Ich empfand ihn als gutaussehend, obwohl er ziemlich klein war.

Zudem war er ängstlich, wenn er zum Raufen aufgefordert wurde. Aufgrund dessen wurde er leider sehr oft verprügelt und mir tat er deshalb wirklich leid. In meinen Augen war er nämlich nicht feige, sondern klüger als die anderen, weil ich Raufereien ebenso verabscheute wie er. Bald träumte ich Tag und Nacht von Willi und wünschte mir, dass er mein erster Freund werden würde.

Vielleicht wäre er tatsächlich meine erste Liebe geworden, doch ich erzählte in meiner naiven Begeisterung Vater von meinen zarten Gefühlen, die ich für Willi entwickelt hatte. Vorerst tat er verständnisvoll. Doch in weiterer Folge begann er mir nachzuspionieren.

Vater hockte oft heimlich hinter einem Gebüsch, beobachtete mich und kam plötzlich hinter dem Strauch auf mich zu und zwang mich, nach Hause zu kommen.

Ich war jedes Mal erschrocken und zerknirscht. Bald getraute ich mich nicht mehr ungezwungen zu sein, da ich nie wusste, hinter welchem Gebüsch Vater mich womöglich schon wieder beobachtete.

Dabei tat ich (noch) überhaupt nichts Schlimmes. Willi hatte mich weder geküsst noch berührt. Doch mein Vater wollte einschreiten, bevor derartiges passieren konnte.

Eines Tages holte er mich wieder von Willi fort und fuhr mit mir in den Wald. Ich weinte während der Autofahrt unaufhörlich.

„Warum heulst du denn?“, herrschte er mich an.

„Ich wollte lieber bei Willi bleiben.“

Da wurde er zornig und schrie: “Du gehst nie wieder zu diesem Gesindel!“

„Bitte, tu mir das nicht an!“, flehte ich verzweifelt.

Doch er blieb hart: „Glaube mir, das ist das Beste für dich!“

So sehr ich ihn damals dafür gehasst habe, in diesem einen Punkt hatte er recht. Die Burschen und Mädchen, mit denen ich dort gealbert hatte, sind fast ausnahmslos auf die schiefe Bahn geraten. Vater reagierte nach diesem Gespräch sein sexuelles Verlangen an mir ab und die Sache war für ihn erledigt.

Seit jenem Tag durfte ich nie wieder mit Freundinnen, Angela, oder ganz allein irgendwo hingehen. Ich wurde von meiner Umwelt total isoliert und sogar überprüft, ob ich nach der Schule pünktlich nach Hause kam.

Da Vater zu jener Zeit nur bis zu Mittag arbeitete, konnte er meine Pünktlichkeit selbst überprüfen. Und er kontrollierte ganz genau!

Ich bekam Schweißausbrüche, wenn die Straßenbahn nicht pünktlich kam, ich mich nicht mehr in den überfüllten Wagon hinein quetschen konnte und auf die nächste Bim warten musste. Kam ich nur zehn Minuten zu spät nach Hause, machte Vater mir Szenen und verdächtigte mich, ich hätte mich herumgetrieben. Oft schlug er mich, weil ich in seinen Augen eine geile Hure war, die nur das Eine im Sinn hatte.

Dass tatsächlich nur die Straßenbahn eine Verspätung hatte - diese Erklärung glaubte er nie.

Mit zwölf Jahren war ich die Gefangene meines Vaters, die kein Leben mehr mit Gleichaltrigen haben durfte.

Nachdem er mir alle Aktivitäten nach dem Schulunterricht verboten hatte, verlor ich den vertiefenden Kontakt zu meinen Freundinnen. Ich wurde zur Außenseiterin und hatte nur mehr eine Daseinsberechtigung: Die Befriedigung der sexuellen Gelüste meines Vaters.

Die Isolation von meinen Freundinnen traf mich hart, außerdem litt ich unter Liebeskummer wegen Willi. Doch das wagte ich Vater nicht zu sagen, weil er immer so in Rage geraten war, wenn ich ihm von Willi erzählt hatte.

Mit der Zeit begann ich zu schwindeln, dass ich Willi schon vergessen hätte. Ich tat, als hätte ich von einem Tag auf den anderen eingesehen, dass er Recht hatte, indem er mich einsperrte. Gleichaltrige wären nichts für mich, denn ich bräuchte einen richtigen Mann: Meinen Vater natürlich.

Ich, die bis dato grundehrlich im Innersten war, sah damals ein, dass ich mir mit Ehrlichkeit nur Schläge und zusätzlichen Ärger eingehandelt hätte. Außerdem war ich inzwischen schon so sehr zum Lügen verurteilt, dass ich bald nur mehr log.

Lügen musste.

Ich log Vater an und sagte alles, was er von mir forderte, weil ich ansonsten geschlagen und bedroht wurde.

Ich log meine Freundinnen an, wollten sie eine Erklärung, warum ich nicht am Nachmittag mit Ihnen weggehen konnte.

Ich log Mutter und Großmutter an, wenn mir Fragen gestellt wurden, warum ich nie fortging.

Jeden Menschen in meiner Umgebung musste ich anlügen und ich log eigentlich nur mehr und lachte immer weniger.

Mein neuer Lebensabschnitt begann sich auf meine Figur auszuwirken. Bis dahin war ich ein dünnes, eigentlich sogar mageres Mädchen gewesen. Nachdem ich nicht mehr fortgehen durfte, konnte ich auch keine Bewegung mehr machen. Außer dem Turnunterricht in der Schule, bewegte ich mich sportlich überhaupt nicht mehr.

Durch meinen Kummer begann ich Schokolade in mich zu stopfen. Bis mir meine figurbewusste Mutter die Schokolade rationierte. Mehr als zwei Rippen pro Tag durfte ich nicht mehr futtern. Obwohl ich es damals anders sah, bin ich heute heilfroh, dass sie mehr auf meine Figur achtete als ich es getan hätte. Eigentlich kann ich es ihr verdanken, dass ich nicht dick wurde.

Doch Rundungen bekam ich trotzdem. Aber dort, wo sie sein sollten: Mein Busen wurde rund und ich bekam breitere Hüften, trotzdem blieb meine Taille schmal.

Meine einsetzende Weiblichkeit ins Licht bringend, trug ich bevorzugt kurze, aufreizende Röcke, wie sie in den 70-ern große Mode waren und finde es heute seltsam, dass Vater mir erlaubte, solch aufreizende Kleidung zu tragen. Vater wusste wohl, dass andere Männer nur gucken konnten.

Freilassen würde er mich sowieso nie.

Genau das war aber meine große Hoffnung und die Triebfeder hinter meinem Kleidungsstil: Ich ertrug mein tristes Leben nur durch den Gedanken, bald erwachsen zu werden und einen Burschen zu finden, der mich durch seine Liebe aus meinem Gefängnis befreit.

Mit meiner Kleidung signalisierte ich diese Absicht mehr als eindeutig.

Jeden Sonntagvormittag, wenn Mutter kochte, musste ich mich in Vaters Bett legen. Mutter schien sich scheinbar nie zu fragen, warum ihre Zwölfjährige plötzlich so viel Zeit im Bett des Vaters verbrachte.

Was sie sich wirklich dachte, weiß ich natürlich nicht.

Doch sie sollte denken, Vater und ich lesen im Bett. Um ihre Gedanken in diese Richtung zu lenken, musste ich mich seitlich abwinkeln und unter der Bettdecke befriedigte Vater seinen Sexualtrieb von hinten an mir.

Kam Mutter doch mal ins elterliche Schlafzimmer, hatten wir beide ein Buch in Händen. Er blieb zwar bewegungslos, doch trotzdem völlig unbeeindruckt, in mir, während Mutter im gleichen Raum war und sich beispielsweise Wäschestücke aus dem Kleiderkasten holte. Vater starrte dabei lediglich besonders vertieft in sein Buch.

Heute glaube ich, Mutter schöpfte sicher Verdacht, doch wusste sie wohl nicht, wie sie mir hätte helfen können. Sie war nicht nur wirtschaftlich von Vater abhängig, sondern selbst Opfer seiner Aggressionen und Launen. Es kann nämlich gar nicht sein, dass Mutter nichts geahnt hat. Sie wollte aber wahrscheinlich keine Dinge sehen, die sie sich aufgrund ihrer anständigen Weltanschauung gar nicht vorstellen konnte – auch, weil sie dann handeln hätte müssen. Nachdem sie dazu nicht fähig war, schloss sie wohl aus Angst und Ohnmacht die Augen und Ohren.

Wenn Vater mich während des Tages nicht allein aufspüren konnte, spielte er den ‛Lichttest‘. Dann stand er nach dem Zubettgehen noch einmal auf und drehte in der Diele vor unserem Kinderzimmer das Licht auf und ab. Wenn ich den Lichtschalter hörte, musste ich aufstehen und Vater zu Willen sein.

Ob ich müde war, kümmerte ihn nicht. Ich musste mich sogar davor hüten, einzuschlafen. Wenn er den Lichttest machte und ich kam nicht, was mir durch Einschlafen einmal passierte, hatte das Nichterscheinen schlimmere Folgen durch die nachträglichen schlagkräftigen Erziehungsmaßnahmen, als alles über mich ergehen zu lassen. Meist ging er nach dem Lichttest mit mir ins Badezimmer, ich musste mich bücken und er reagierte sich von hinten ab.

Wesentlich lieber hatte er allerdings die Missionarsstellung. Nachdem wir aber nur in unserem Vorzimmer einen weichen Teppich hatten, war er manchmal so leichtsinnig und legte sich in unserem zentral gelegenen Vorzimmer auf mich und reagierte seinen Trieb an mir ab.

Ich hatte jedenfalls schreckliche Angst, dass Mutter oder Angela aufs Klosett mussten, während wir vor der WC-Tür lagen. Er muss vor Gier kopflos gewesen sein, daran nicht zu denken.

Wahrscheinlich war er sich aber einfach nur sicher, dass sowieso niemand etwas gegen ihn unternommen hätte. Nachdem er als Tyrann bedingungslosen Gehorsam erhielt, Unterwürfigkeit einforderte und Widerstandslosigkeit gewohnt war, wog er sich in Sicherheit. Er wusste wohl, dass niemand es wagen würde, sich ihm zu widersetzen. Vielleicht war er sich tatsächlich absolut sicher, dass niemand es wagen würde, ihn anzuzeigen.

Selbst wenn er bei seinem Treiben erwischt worden wäre.

Am unerträglichsten fand ich Vaters Aktivitäten, wenn er mit mir und Mutter auf der riesigen Schaumstoffpritsche vor dem Fernseher lag. Eine große Decke deckte das Treiben zu und ich lag an jenen Fernsehabenden zwischen meinen Eltern, seitlich abgewinkelt, vor Vater.

Sogar neben meiner Mutter benutzte er mich von hinten.

Beim gemeinsamen Fernsehen!

Er bewegte sich zwar kaum, doch es muss für Mutter erkennbar, spürbar, hörbar gewesen sein. Sie muss es einfach gemerkt haben.

Doch sie schwieg.

Ein halbes Jahr nach meinem zwölften Geburtstag bekam ich meine erste Menstruation. Seitdem gab es fünf Tage im Monat, an denen ich meine Ruhe hatte. Doch ab jenem Zeitpunkt kam die Angst vor einer Schwangerschaft dazu.

Die Pille konnte ich nicht nehmen, also passte Vater auf.

Allerdings sind Angi und ich durch die gleiche Empfängnisverhütung entstanden. Wie durch ein gnädiges Wunder wurde ich jedoch in all den Jahren nicht schwanger.

Kapitel 5.4

Mit dreizehn Jahren durfte ich auf Schulschikurs fahren und konnte mein Glück nicht fassen. Mutter hatte sofort, als sie vom Schikurs erfahren hat, zugestimmt und die Anmeldung unterschrieben. Wahrscheinlich wollte sich Vater durch eine nachträgliche Ablehnung nicht verdächtig machen, daher ging es ab nach Tirol.

Dort war es wunderschön. Wir waren in einem Jugendheim untergebracht und schliefen zu viert in einem Zimmer.

Eine ganze Woche ohne Vater, nur mit gleichaltrigen Freundinnen zu verbringen, war ohne Übertreibung die schönste Woche meiner Jugend. Ich genoss nicht nur das Schifahren und den herrlichen Schnee. Am meisten beglückte mich das Getratsche mit meinen Freundinnen.

Zum ersten Mal seit Jahren hatte ich wieder das Gefühl ‛normal‘ zu sein. Vor allem die Abende genoss ich unbeschreiblich. Es war für mich so ungewohnt und befreiend, weil ich mich im Zimmer mit meinen Freundinnen so sicher fühlte. Hier gab es keinen Lichttest und ich konnte einschlafen, ohne Angst, bestraft zu werden, weil ich den täglichen Missbrauch verschlief.

Am eindrucksvollsten war für mich unser täglicher Spaziergang zum Gasthof, wo wir das Abendessen erhielten. Es war schon dunkel, doch der Schnee, der wie sanfte Polster auf den Hausdächern und Straßen lag, ließ die Nacht nicht so dunkel erscheinen, wenn wir schnatternd zum Gasthof gingen.

Ich war wie verzaubert von einer Straßenlaterne, um deren sanften Lichterschein lieblich und verspielt Schneeflocken tanzten. Im Lichte dieser Laterne und gefesselt von der Lieblichkeit dieses kleinen Ortes mit seinen romantischen Holzhäuschen bekam ich ein Gefühl der Stärke, Zuversicht und Hoffnung. Hier schien alles so rein, anständig und einfach zu sein.

Wie gerne wäre ich hiergeblieben und nicht mehr nach Hause gefahren. Im Lichte dieser Laterne schwor ich mir, auch durch den räumlichen und zeitlichen Abstand mutig geworden, dass ich mich künftig nicht mehr benutzen lassen würde.

Zwar konnte ich Vater nicht sagen, wie sehr mir vor Sex ekelte. Diese erpresste Lüge glaubte ich aufrecht halten zu müssen, aber ich fand durch die Distanz einen neuen Ausweg: Ich würde sagen: „Ich möchte Mutter nicht mehr betrügen. Ich habe moralische Bedenken und will anständig sein.“

Diese Ausrede war gar keine Ausrede, denn in der heilen Welt, die ich hier im Schikurs erlebte, schien es mir tatsächlich ungeheuerlich, was ich meiner Mutter antat – obwohl ich doch gar nichts dafürkonnte.

Doch das ist das Fatale am Kindesmissbrauch: Die misshandelten Kinder übernehmen die Schuld – so auch ich.

Hier im Lichte dieser Laterne schwor ich, dass ich alles unternehmen würde, um aus diesem Verhältnis mit Vater auszubrechen.

Ich wollte wieder ein normales Leben wie meine Freundinnen führen. Ich wollte mit ihnen wieder außerhalb der Schulzeit zusammen sein.

Ich wollte eine normale Jugendzeit haben.

Ich wollte.

Ich wollte.

Ich wollte es so sehr.

Doch von diesem Schikurs blieb für mich nur eine Erinnerung, wie schön das Leben hätte sein können, hätte ich nicht diesen Vater.

Alle Versuche, vor ihm zu fliehen, wurden nach meiner Rückkehr im Keim erstickt. Mir blieb nur die Erinnerung an meine Laterne, die mich zwar stark machte für einen Kampf gegen Vater. Stark für einen Kampf gegen die Schweinereien, die ich täglich machen musste und die meine Seele vergifteten.

Doch wie der Schein der Laterne in meiner Erinnerung verblasste, verschwand auch meine Stärke wieder, als ich zurück war in meiner grauenhaften Realität.

Dabei nahm ich mir so fest vor, mich nicht mehr unterkriegen zu lassen, war bereit, Beschimpfungen und Schläge hinzunehmen, nur um wieder ein normales Leben führen zu können.

„Als ich während des Skikurses mit den anderen Mädchen zusammen war, ist mir klargeworden, dass ich eigentlich noch genauso kindlich bin wie die anderen Mädchen und doch nehme ich meiner Mutter den Mann weg. Das will ich nicht. Ich habe Mutter so gerne, ich will sie nicht betrügen, ich will aufhören!“, begann ich meinen Kampf sachlich und so ruhig wie möglich.

„Du betrügst Mutter nicht, denn sie mag Sex nicht besonders gerne. Außerdem liebe ich dich und brauche dich und du hast gesagt, du liebst mich auch und dir gefällt das, was wir machen. Also vergiss diese komischen Gedanken.“

Doch ich gab mich nicht geschlagen und log ihm die notwendige Lüge vor: „Ja, ich liebe dich und mir gefällt der Sex auch, doch trotzdem will ich anständig werden und damit aufhören.“

„Jeder Mensch ist nur auf das Eine aus, du genauso wie ich, also ziere dich nicht so, von wegen Anständigkeit. Du willst wahrscheinlich nur mit anderen Burschen vögeln“, ignorierte er meinen Wunsch.

Ich erschrak über seine plötzlich aufwallende Wut und verlor mein Konzept, jammerte nur noch: „Nein, das stimmt nicht. Ich will mit niemandem vögeln. Ich will nur meine Ruhe!“

Falsche Wortwahl. Etwas zu direkt und viel zu undiplomatisch.

Prompt ließen ihn diese Worte die Kontrolle verlieren und er begann zu brüllen: „Gib es doch zu, du verdammte Hure: Wahrscheinlich hast du am Schikurs schon einen anderen Schwanz gehabt und jetzt spielst du auf einmal die Anständige. Du Schlampe, du gottverdammtes Miststück, ich bringe dich um!“

Er geriet so sehr in Rage, dass er mir eine schallende Ohrfeige verpasste.

Als ich darauf nicht reagierte, nur still weinte, wurde er immer zorniger. Er lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab, sein Kopf war krebsrot geworden und er schrie plötzlich wie ein Verrückter: „Zieh dich an! Wir fahren in den Wald. Ich bringe mich um, aber zuvor noch dich, du verfluchte, schwanzgeile Nutte!“

Zitternd vor Angst zog ich daher meinen Wunsch zurück.

Ich spürte, dass er nicht mehr Herr seiner Sinne war und wusste, er würde mich töten, wenn ich mich nicht seinem Willen beugte.

So oft ich auch an Selbstmord gedacht hatte in den vergangenen Jahren, als er mir an jenem Tag mit dem Tod gedroht hatte, wollte ich leben.

Nach diesem Gespräch hatte ich keine Kraft mehr, um weiterzukämpfen. So viel Kraft konnte mir nicht einmal die Laterne geben und der Traum von einer normalen, anständigen und sündenfreien Jugend schien für mich für immer ausgeträumt.

In die Kirche durfte ich sowieso nicht mehr gehen. Nachdem er meinen Gottesglauben ohnehin nie verstanden hatte, hätte er auch hinter einem Kirchgang vermutet, dass ich mich herumtreibe.

Da er selbst nicht an Gott glaubte, war für ihn zudem jeder gläubige Mensch ein Spinner. Über meinen Glauben redete ich daher gar nicht mit ihm. In jener Zeit betete ich aber viel, und das, obwohl ich das Gefühl hatte, schlecht zu sein.

Ich wusste zwar, dass ich an meiner Situation absolut unschuldig war, doch die katholische Kirche lehrt, dass man als Jungfrau in die Ehe gehen müsse, außerehelicher Sex Sünde sei und ich war daher schon als Kind eine Sünderin.

Dieser Zwiespalt belastete mich in den kommenden Jahren und ich begann mir in jener Zeit meine eigene Meinung über Gott zu machen, weil ich ohne meinen Glauben diese Zeit nicht überstanden hätte. Nur wenn ich betete, fand ich in jener Zeit Trost. Ich konnte mich Gott im Gebet anvertrauen und wenn ich ihn um Hilfe bat, war ich zuversichtlich, dass er mich irgendwann von dieser Qual erlösen würde.

Hätte ich mir nicht meine eigene Meinung über Gott gemacht, sondern die strengen Regeln der katholischen Kirche geachtet, hätte ich mich als Sünderin nicht berechtigt gefühlt, bei Gott Hilfe zu erflehen.

Ich war mir sicher, und diese Meinung habe ich noch immer, dass das, was Gott von uns Menschen erwartet, nicht unbedingt genau das Gleiche ist, wie das, was uns die (katholische) Kirche vorschreibt. Die Kirche wird von Menschen ‘gemacht’, die Regeln für die Allgemeinheit aufstellen, ungeachtet der Lebenssituationen, in denen sich einzelne Menschen befinden. Ich weiß heute, dass es wichtig ist, dass strenge Regeln aufgestellt werden, damit Menschen eine Richtung gegeben wird und diese Richtung ist absolut korrekt und mit Sicherheit von Gott gewollt. Ich glaube aber seit damals auch, dass Gott – im Gegensatz zur Lehre der katholischen Kirche, von der ich mich seinerzeit als unkeusche Sünderin verstoßen glaubte – Gebote für jeden einzelnen Menschen, also auch für mich, aufstellt. Und diese Regeln sind ganz einfach: Versuche immer den rechten Weg zu gehen, tu Gutes und glaube an mich! Festgehalten in den zehn Geboten. Hier steht auch nichts vom Verbot von außerehelichem Sex - wie ihn die katholische Kirche global verbietet. Mit dieser, meiner eigenen Meinung über Gott, die sich nicht mit den strengen Vorschriften der katholischen Kirche deckte, konnte ich viele Jahre gut leben. Trotzdem begann ich mir, verunsichert durch kritische Äußerungen ungläubiger Menschen, mit zunehmender Reife Gedanken zu machen, ob Menschen den Glauben bloß als Trost in schweren Stunden benutzen. Als Rettungsanker, um sich nie allein und verlassen zu fühlen.

Wie ich.

Ich fragte mich, ob die Behauptung Ungläubiger, wonach Gott nur eine Erfindung von klugen Menschen ist, vielleicht zutrifft. Kluge und manipulative Menschen, die die Ängste und Nöte des Volkes erkannten und sich als Kirche im Gegenzug für seelischen Beistand finanziell an leichtgläubigen Menschen bereichern. Der Reichtum der Kirche scheint diese Theorie zu untermauern. Erst als ich mich tiefer mit diesem Thema befasste und mit gläubigen Menschen über meine Zweifel sprechen konnte, erkannte ich, dass es Gott gibt und mein Glaube ist heute stärker als je zu vor. Für mich gibt es keinen Beweis für seine Existenz und doch fühle und spüre ich, dass er um mich ist. Die Wunder der Natur, wenn aus dem Nichts Leben entsteht, das Rätsel des Weltalls, die Perfektion unserer Körper, unsere Fähigkeit zu denken, zu fühlen und zu lieben, all dies kann nicht zufällig und von allein entstanden sein.

Jeder Mensch glaubt daran, dass es irgendetwas geben muss, das diese Wunder, wie die Sterne, Erde, Pflanzen, Tiere und Menschen in ihrer Perfektion geschaffen hat. Warum kann dieses Etwas dann nicht Gott sein? Ungläubige sagen dazu: „Ist möglich, aber nicht bewiesen.“ Das stimmt aus sachlicher Sicht. Aber jeder Mensch hat ein Gewissen und dieses Gewissen ist für mich der Beweis, dass es Gott gibt. Wenn ich Unrechtes tue, fühle ich mich schlecht, wenn ich Gutes tue, fühle ich mich wohl, weil ich empfinde, in Gottes Sinn gehandelt zu haben.

Meine persönliche Philosophie ist, dass sich Gott in uns in einem Gefühl offenbart, und dieses Gefühl ist unser Gewissen. Kein Tier hat ein Gewissen, und daher kann auch kein Tier zwischen Gut und Böse unterscheiden. Ein Haustier beispielsweise wirkt zwar manchmal so, als hätte es ein schlechtes Gewissen, wenn es Verbotenes tut. Doch ein schlechtes Gewissen hat eine Hauskatze sicherlich nicht, wenn sie sich Wurst vom Tisch klaut. Sie hat lediglich Angst vor Strafe, wenn sie erwischt wird. Daher unterscheidet eine Hauskatze auch nicht zwischen ‛Gut und Böse’, sondern lediglich zwischen ‘Strafe‛ und ‘Nicht-Strafe‘, also ‘erwischt-werden‘ oder ‘nicht-erwischt-werden‛.

Diese Wahl, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, hat Gott nur Menschen gegeben und wir sollen davon Gebrauch machen. Wer schon einmal bewusst dieses Gefühl der tiefen Freude empfunden hat, das man nur hat, wenn man jemandem Gutes tut und wer im Gegensatz dazu, dieses unangenehme Gefühl empfindet, das man hat, wenn man sich im Kleinen an einem anderen abreagiert, weiß, was ich meine. Ich erwähne bewusst kleine Bosheiten, denn ich hörte schon von Ungläubigen als ich diese, meine, Sichtweise von mir gab: „Na ja, das hat nichts mit schlechten Gewissen zu tun: Wenn man Böses tut, hat man Angst vor Strafe!“ (wie die Hauskatze). Dem kann ich nur entgegnen: Wenn ich von jemandem gerempelt werde und ich remple zurück, habe ich keine Angst vor Strafe, aber ich habe ein schlechtes Gewissen. Gott näher fühle ich mich, wenn ich nicht zurückremple und das ist für mich der Beweis seiner Existenz. Es geht um das Gefühl, das mich Gottes Nähe spüren lässt - mein Gewissen. Seit ich das für mich erkannt habe, weiß ich, dass Gott mich damals nicht als Sünderin sah, obwohl ich es für die römisch-katholische Kirche war. Ich glaube eher, dass ich vorzeitig durch das Fegefeuer geschickt wurde, vielleicht um intensiver über Gott nachzudenken und um ihn tatsächlich zu erkennen – was ich auch getan habe.

Für mich blieb nach dem Schikurs alles beim Alten, mit dem Unterschied, dass ich ab dieser Zeit wusste, wie schön das Leben hätte sein können. Ich war eine Woche lang unbeschwert und glücklich gewesen. Nun war ich wieder zurück in meiner grausamen Realität.

In jener Zeit entfernte sich auch Gertrude von mir, was mir besonders wehtat. Sie war mir in jener Zeit der liebste Mensch gewesen. Ich konnte ihr zwar nicht mein Unglück anvertrauen, doch in ihrer Nähe fühlte ich mich glücklich. Sie war so herzerfrischend fröhlich und das wirkte auf mich so ansteckend.

Einmal plapperten die Mädchen auf dem Heimweg von der Schule, wie schön ’das erste Mal‘ wohl sein müsse. Jede, auch Gertrude, schwärmte mit träumenden Augen, wie sie es sich vorstellte.

Ich schwieg.

Eine tolle Lügengeschichte erfinden wollte ich nicht und die Wahrheit erzählen konnte ich nicht.

Als sich die Runde auflöste und ich zur Straßenbahn-Haltestelle gehen wollte, drehte sich Gertrude zu mir und meinte lässig, um den anderen zu imponieren: „Du brauchst gar nicht mehr mit uns nach Hause gehen, denn du verstehst sowieso nicht, wovon wir reden. Du bist ja noch ein Kind!“

Die anderen lachten und stimmten zu, denn Gertrude hatte immer Recht. Mir aber schossen Tränen in die Augen, weil mich meine beste Freundin vor allen anderen so beleidigt hatte.

Zudem fühlte ich mich ausgestoßen, denn scheinbar zählte ich nicht als vollwertiger Mensch, weil ich nicht mitreden konnte und meine Freizeit nicht mit ihnen verbringen durfte. Dadurch wurde ich als Kind abgestempelt, denn nur Kinder müssen Tag und Nacht bei Mama und Papa sein.

Wie gerne hätte ich Gertrude erzählt, wie ‘schön’ das erste Mal für mich gewesen ist, wie weh es eigentlich getan hatte und dadurch klargemacht, dass ich die Einzige in dieser Runde war, die sicher kein Kind mehr gewesen ist.

Ich hätte ihnen Dinge erzählen können, die Gertrudes kindlich-träumerische Fantasien verblassen, nahezu verschwinden hätten lassen. Doch ich konnte niemandem mein Geheimnis anvertrauen.

Ich musste mich beleidigen lassen und schweigen.

Bei einem Schulausflug ging mir Gertrude so offensichtlich aus dem Weg, dass ich Mühe hatte, in ihre Nähe zu kommen.

"Warum ignorierst du mich denn so?“, fragte ich zerknirscht, als ich sie endlich erreicht hatte.

„Hau ab! Du gehst mir mit deiner Affenliebe schon lange auf die Nerven!“ antwortete sie kaltschnäuzig, drehte sich lachend weg und lief zu den anderen Mädchen.

Mir zog sich das Herz schmerzhaft zusammen. Aber schlagartig erkannte ich in diesem Moment ihren Charakter. Ich begriff, wie verwöhnt und gefühllos sie war und beschloss, mich von ihr nicht mehr als Fußabtreter benutzen zu lassen.

Für Gertrude war alles Show. Zu echten Gefühlen war sie offenbar (noch) nicht fähig. Das bestätigte auch Christa, die zu mir kam und mich tröstete. „Gertrude will doch immer nur im Mittelpunkt stehen.“

So richtig Christa damit auch lag, mir tat es unvorstellbar weh, die Freundschaft zu Gertrude als beendet sehen zu müssen. Sie war zu meiner Glückstankstelle in meinem so glücklosen Leben geworden.

Das letzte bisschen Lachen und Scherzen, das letzte bisschen Sorglosigkeit und einfach nur Jung-Mädchen-Sein verschwand aus meinem Leben.

Christa war eine wertvolle, extrem gefühlvolle Freundin, aber auch sehr ernst. Um mich von meinem Elend im Elternhaus ablenken zu können, lechzte ich aber nach sprudelnder Lebensfreude und Ausgelassenheit.

Dieses unbeschwerte Blödeln hatte ich nur in Gertrudes Nähe gefunden. Durch den Verlust dieser Freundschaft sackte ich daher noch weiter in tiefe Trostlosigkeit ab.

Im Laufe des letzten Schuljahres freundeten Gertrude und ich uns zwar wieder an, doch ich blieb distanziert. Sie sollte keine Gelegenheit mehr erhalten, mich ein weiteres Mal zu demütigen.

Wir waren nur mehr Freundinnen.

Ich hatte keine beste Freundin mehr.

Zu jener Zeit hatte ich nichts mehr, das mich glücklich machen konnte, außer Musik. Sie lenkte mich ab, in ihre Traumwelt flüchtete ich mich, wenn ich von einer anderen, besseren Welt träumen wollte.

Ich hörte stundenlang Platten und nahm mit meinem Kassettenrecorder die neuesten Hits auf, um sie ununterbrochen abzuspielen.

Auch sang ich gerne. Oft legte ich Platten auf und sang mit dem Interpreten im Duett. Diese Lieder nahm ich mit dem Mikrophon auf meinem Kassetten-Recorder auf und zwar so oft, bis die Aufnahme in meinen Augen perfekt war.

Wenn nur ein einziger Ton nicht wohlklingend genug war, probierte ich es wieder und wieder, so als wäre ich in einem Tonstudio und müsste eine Platte aufnehmen (was zu jener Zeit mein größter Wunsch war).

Oder ich bemühte mich, ein Musikstück auf der Melodica einzustudieren.

Musik wurde der Zufluchtsort meiner Seele. Ich besaß musikalisches Talent, eine sanft klingende Stimme und einen Stimmumfang von drei Oktaven. Wenn ich sang oder Melodica spielte, vergaß ich meinen Kummer für kurze Zeit.

Neben der Musik, schaltete aber auch der Schulsport in mir Glückshormone frei. Eines Tages erlernten wir in der Turnstunde die Sitzwelle und ich liebte es, wie ein Kreisel um die Reckstange zu wirbeln.

Daher überredete ich Christa: "Gehen wir nach dem Unterricht noch kurz zum Spielplatz neben unserer Schule? Da gibt es eine Reckstange. Ich würde die Sitzwelle so gerne üben und noch einmal so richtig herumwirbeln."

"Ok, aber ich schau dir nur zu", stimmte Christa, die sich für Sport nicht so wirklich erwärmen konnte, zu.

Die Reckstange war ziemlich hoch und eine riesige Wasserlache hatte sich vom letzten Regen darunter gesammelt. Doch ich sprang los und mit Schwung zog ich mich auf die Stange, kam auf derselben zum Sitzen.

Als ich mich schon für die Sitzwelle nach hinten fallen lassen wollte, wurde mir bewusst, dass ich nach einigen Drehungen einen eleganten Abgang noch nicht im Blut hatte.

Bisher landete ich im Turnunterricht stets mit einem ungraziösen Plumps auf dem Popo - segensreicherweise auf einer gepolsterten Turnmatte. Dieselbe lag natürlich nicht unter dieser Reckstange - stattdessen diese verhängnisvolle Wasserpfütze.

Dumme Sache.

Egal, ob erstmals elegant auf den Beinen oder wenig elegant am Popo: Ins Wasser wäre ich demnach auf jeden Fall geklatscht.

Ich saß also ratlos auf der Reckstange und hatte keine Ahnung, wie ich nach der Sitzwelle landen konnte, ohne nass zu werden.

"Na, was ist jetzt, wirbelst du nun herum oder bleibst du oben?", lachte Christa und auch ich fand mich lächerlich, denn eigentlich hätte ich das Problem sofort erkennen, und erst gar nicht raufklettern sollen.

Plötzlich erinnerte mich Christa: „Du, es ist schon ziemlich spät und wenn du nicht oben übernachten möchtest, solltest du dich entscheiden, ob du die Sitzwelle noch probierst oder dich runter schwingst!“

Schlagartig wurde mir heiß und kalt, denn ich hatte die Zeit total vergessen. Ich wusste, dass Vater daheim war. Die Lust auf die Sitzwelle verging mir auf der Stelle. Heftig stieß ich mich ab, hüpfte so weit wie möglich und versuchte nicht im Wasser zu landen, was mir gelang.

Bei der Heimfahrt beschwor ich Christa: "Solltest du gefragt werden, sage bitte, dass wir in der Schule nachsitzen mussten, weil wir getratscht haben."

"Ja gut", versprach sie, "aber was ist denn so schlimm, wenn du eine viertel Stunde auf einem Spielplatz verbringst? Das ist doch weniger arg als Nachsitzen, weil wir getratscht haben."

Sie hatte Recht, doch erklären konnte ich ihr meine Angst nicht. Ich befürchtete einfach, dass Vater mir nie glauben würde, dass ich nur spielen war. In seinen Augen war ich eine Hure, die nur auf Männerfang aus war und jedes Zugspätkommen war ein Beweis, wie verdorben ich war.

"Mein Vater ist halt wirklich sehr streng", erklärte ich ausweichend. Christa nahm diese Antwort kopfschüttelnd hin und verabschiedete sich.

Daheim angekommen, empfing mich Vater schon mit einer finsteren Miene.

„Wo warst du so lange? Mit wem hast du dich denn herumgetrieben?“, fragte er lauernd.

„Ich musste mit Christa in der Schule nachsitzen, weil wir beide im Unterricht getratscht haben.“

„Ach so? Nachgesessen bist du? Mit wem? Gib mir die Telefonnummer des Mädchens, ich rufe sie an.“

Ich gab ihm die Nummer von Christa und er griff tatsächlich zum Telefon, wählte die Nummer von Christa. Da verlor ich die Nerven, weil ich Angst hatte, Christa würde umfallen.

Ich gab daher zu, dass ich mit Christa auf dem Spielplatz war und deshalb gelogen hatte, weil ich befürchtete, dass er mir nicht glauben würde. Doch die wahre Spielplatzversion glaubte er mir genauso wenig – wie von mir erwartet.

"Herumgetrieben hast du dich, du Schlampe!"

"Nein, wirklich, Papa, glaub mir! Ich war nur am Spielplatz, weil ich die Sitzwelle üben wollte!"

"Lüg mich nicht an, du Luder! Na, warte! Dir werde ich geben!"

Weil er nicht wusste, wie er mich so hart wie möglich bestrafen konnte, fragte er: „Was ist dein liebster Gegenstand in der Wohnung?“

„Mein Kassettenrecorder“, antwortete ich blöderweise ehrlich.

Er verlangte: „Bring ihn mir!“

Kaum hatte er das Gerät in Händen, schlug er mit dem Recorder so lange auf meinen Rücken, bis dieser total zertrümmert war.

Ich weiß nicht mehr, was damals mehr schmerzte: Mein Rücken, oder der Anblick meines geliebten Kassettenrecorders, von dem sich die Tasten teilweise verabschiedet hatten, das Kassettenfach verbogen war und ich das Innenleben des Gerätes auf der Mistschaufel in den Müll tragen musste. Ich heulte Rotz und Wasser, als ich meinen geliebten Recorder in den Mistkübel kippte.

Doch Vaters Zorn war noch immer nicht verraucht und er verlangte auch noch die Melodica, weil er wusste, wie sehr ich auch dieses Musikinstrument liebte. Die Melodica schlug er nur einmal auf meinen Rücken, wobei das Mundstück zerbrach, aber ansonsten blieb die Melodica heil. Ich konnte sie später notdürftig kleben.

Dieses Instrument habe ich noch heute und wenn ich das zerbrochene Mundstück ansehe, spüre ich noch heute die Verzweiflung, die damals in mir aufstieg.

Mein Kummer hat ihn damals überhaupt nicht berührt, denn er war überzeugt, richtig gehandelt zu haben ... Dass ich wirklich nur auf einem Spielplatz war, hat er mir nie geglaubt.

Kapitel 5.5

Während des letzten Schuljahres verliebte ich mich in einen Burschen, der den gleichen Schulweg hatte wie ich. Er war schon in der Straßenbahn, in die ich zustieg und wenn ich ihn einmal nicht sah, war ich enttäuscht.

Ich wusste absolut nichts von ihm – weder seinen Namen noch seine Adresse. Ich verliebte mich in das, was ich sah: Er war hübsch, blond, hatte verträumte Augen und trug eine blaue Jacke mit weißem Kragen. Wenn ich einstieg, lächelte er mir schüchtern zu und ich lächelte zurück. Dann wandte ich mich ab, weil ich spürte, wie ich errötete und blickte wenig später heimlich zu ihm. Meist begegneten sich unsere Blicke dann, weil auch er mich mit den Augen suchte.

Er fuhr, wie ich, ohne Begleitung in der Straßenbahn, doch er fand trotzdem nicht den Mut mich anzusprechen. Dabei spürte ich, dass er es gerne wollte.

Ich hingegen dachte auch nicht daran, den ersten Schritt zu wagen. Meine Schüchternheit bremste mich genauso wie die Tatsache, dass mir Vater sowieso keinen Freund erlauben würde.

Doch dann begann ich zu überlegen, wie ich eines Tages überhaupt von Vater wegkommen sollte. Es war doch nur möglich, wenn ich einen Freund fand. Dann müsste er mich gehen lassen, war meine Überzeugung.

Außerdem war ich inzwischen bald vierzehn Jahre alt. ‘Wie lange würde ich wohl noch Vaters Gefangene sein?’

Nachdem die einzige Antwort darauf ‘Ewig, wenn ich nichts unternehme’ lauten konnte, begann ich zu grübeln, wie ich dieses ‘Ewig’ in einen absehbaren, möglichst rasch endenden Zeitrahmen umwandeln konnte.

Klar war: Ich musste etwas unternehmen.

Von allein würde sich nichts ändern, denn die Situation war für Vater dermaßen befriedigend und angenehm, dass er keinen Grund hatte, etwas zu ändern.

Meine Gedanken schlugen förmlich Purzelbäume: Vater verlangte stets, dass ich ehrlich sein sollte. Abgesehen davon, dass ich trotzdem ständig log, was an Vaters manuellen Nachjustierungen lag, wenn ich ihn mit einer Wahrheit, die ihm nicht schmeckte, konfrontierte: Was sprach dagegen, wenn ich ihm einen Beweis meiner Ehrlichkeit lieferte?

Warum sollte ich ihm nicht sagen, dass ich mich verliebt hatte?

Ja! Warum eigentlich wirklich nicht?

Junge Mädchen verlieben sich nun einmal in junge Burschen und umgekehrt. Das ist das Natürlichste auf der Welt und ich brauchte mich dafür doch nicht zu schämen.

Vater würde das verstehen. Immerhin war er doch auch einmal jung.

Bei diesem Gedanken bekam ich wieder Hoffnung, dass ich, wenn ich nur genug Courage hätte, vielleicht bald frei sein könnte.

Außerdem: Damit hätte ich gleich drei Fliegen auf einem Schlag: Erstens wäre ich doch wieder, (zumindest einmal) ehrlich, zweitens würde der verhasste Sex mit Vater aufhören und drittens wollte ich diesen Jungen mit den sanften Augen unbedingt näher kennenlernen. Ich sehnte mich so sehr danach, einen lieben Freund zu haben.

Nach langem Überlegen fasste ich Mut.

„Ich habe mich in einen hübschen Burschen verliebt. Wir sehen einander immer nur in der Straßenbahn und er hat mich noch nicht angesprochen, denn er dürfte sehr schüchtern sein. Doch ich würde diesen Jungen gerne kennen lernen. Bitte, lasse mich gehen“, bat ich Vater.

„Das ist doch kindisch, in einen Burschen verliebt zu sein, den du gar nicht kennst!“, konterte er.

„Ich weiß, das klingt für dich komisch, aber wenn er mich ansieht, dann krampft sich mein Magen zusammen und ich spüre, dass mein Herz bis zum Hals klopft. Bitte, gib mir die Chance ihn kennenzulernen und lasse mich gehen.“

Für mich überraschend, willigte er ein. Ohne Schläge, ohne Drohungen.

Heute weiß ich, dass er wohl total überrumpelt war von meiner unglaublich naiven Offenheit. Er musste sich wohl erst sammeln und sich eine neue Strategie zulegen.

In meiner kindlichen Vertrauensseligkeit fühlte ich mich allerdings wie befreit, als ich am nächsten Tag aufwachte. Ich schöpfte Hoffnung, jetzt ein neues Leben beginnen zu können, träumte davon, Händchen haltend mit diesem Burschen spazieren zu gehen.

Mit offenen Augen träumte ich vom ersten scheuen Kuss, überlegte, wie es sich wohl anfühlte, von diesem lieben Burschen, der so sanft wirkte, geküsst zu werden. Ich freute mich darauf, mit ihm die Liebe zu entdecken.

Die erste Liebe.

Trotz der furchtbaren Dinge, die ich auf sexuellem Gebiet erlebt hatte, waren meine Träume so romantisch. Für mich war Liebe etwas anderes als der schmutzige Sex, den ich mit Vater praktizieren musste. Wenn ich von der Liebe träumte, dann hatte sie nichts mit dem gemein, was ich mit Vater tat. Das, was ich mir erträumte, war schön, rein und unschuldig.

Am nächsten Tag sah ich meinen Schwarm wieder in der Straßenbahn. Doch obwohl ich jetzt für ihn frei war, hatte sich nichts daran geändert, dass er mich nicht ansprach!

Warum sollte er es gerade an jenem Tag tun? Nur weil ich so sehr darauf wartete? Dass er es genau an diesem Tag tun würde, war höchst unwahrscheinlich.

Und es passierte auch nicht.

Ich überlegte schon, dass doch auch ich zu reden beginnen könnte. Nachdem er so schüchtern war, wäre er wahrscheinlich sogar froh darüber gewesen.

Doch was sollte ich sagen?

Sollte ich ihn fragen, wie spät es sei, wo ich doch eine Uhr trug? Mir fiel einfach nichts ein, was unauffällig und doch passend gewesen wäre. Außerdem spürte ich schon bei dem Gedanken, ihn anzusprechen, dass auch ich viel zu schüchtern war. Es blieb also bei verliebten, schüchternen Blicken und ich weiß bis heute nicht, wie der junge Mann hieß.

An diesem Abend, Angi und Mutter waren bereits im Bett, lauerte Vater mir wieder auf.

„Na, wie ist es denn mit dem Blaujäckchen gelaufen?“, fragte er neugierig.

Ich wollte aber nicht darüber reden. Zudem war ich müde, wollte schlafen gehen und meinte daher lapidar: „Gar nichts ist gelaufen.“

Doch Vater wollte debattieren und befahl mir, mich zu ihm auf die Liege im Wohnzimmer zu setzen.

Dann begann er mit seiner Gehirnwäsche, verlegte sich jedoch vorerst auf gutes Zureden.

„Die ganze Sache bringt doch nichts. Gib dich doch nicht mit Buben ab, sondern warte, bis einmal ein richtiger Mann kommt.“

Ich wollte jedoch meine neu gewonnene Freiheit auf keinen Fall aufgeben und meinte: „Nein, ich will keinen Mann, denn ich bin ja selbst noch ein Mädchen. Ich will diesen Burschen kennenlernen.“

Da ließ er seine Maske fallen und begann seine Zähne zu zeigen.

„Ok, du willst es ja nicht anders. Wenn du schon selbst keine Vernunft hast, dann verbiete ich dir hiermit, irgendwelche Bemühungen zu unternehmen, dich mit diesem Burschen zu treffen.“

Dagegen wehrte ich mich.

Selbst wenn ich mit diesem Burschen nicht zusammenkommen konnte, wollte ich mir wenigstens den Sex mit Vater ersparen. Diese Chance musste ich nutzen und daher wurde auch ich lauter und bot ihm erstmals die Stirn.

„Aber du hast mir gestern versprochen, dass du mich frei gibst, damit ich mich mit diesem Burschen treffen darf. Und seine Versprechen muss man halten!“

Dabei sah ich ihm selbstbewusst in die Augen, stand auf und wollte das Zimmer verlassen.

Da geriet er in Rage, weil er seine Felle davonschwimmen sah.

Standfestigkeit war er von mir nicht gewohnt und ich erkannte an seinen zornigen Augen, dass er nicht gewillt war, die plötzlich eintretende Änderung meines ansonsten so leicht zu biegenden Verhaltens, hinzunehmen.

Ich hingegen war so fest wie noch nie zuvor entschlossen, meine Freiheit zurückzufordern. Diesmal war ich sogar bereit, dafür zu sterben, sollte er mich wieder bedrohen.

Er indessen war keinesfalls bereit, mich loszulassen. Er packte mich am Handgelenk und drückte mich brutal auf die Pritsche, sodass ich wieder neben ihm zum Sitzen kam.

„So nicht, junge Dame. In diesem Ton sprichst du nicht mit mir“, tobte er.

„Aber ich habe dich doch nur daran erinnert, dass du dein Versprechen halten musst. Du hast mir gestern doch versprochen, ...“

Weiter kam ich nicht.

Eine heftige Ohrfeige hinderte mich am Weitersprechen und ich verstummte augenblicklich.

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Du hast mir gar nicht zu sagen, was ich tun muss! Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Du hast mir zu gehorchen und wenn ich dir sage, dass du diesen kleinen Onanierer vergessen sollst, dann tust du es. Haben wir uns verstanden?“, tobte er, während er mich rüttelte, als wolle er seine abhandenkommende Autorität zusätzlich auch noch in mich reinschütteln.

Da bekam ich Angst, ließ es mir aber nicht anmerken.

Tapfer hob ich meine Stimme, die inzwischen nur mehr ein Stimmchen war: „Ja, ich habe dich verstanden. Trotzdem will ich diesen Burschen nicht vergessen. Ich habe mich in ihn verliebt“, wiederholte ich meinen Wunsch und versuchte meinen Ton dabei etwas unterwürfiger zu halten, um ihn nicht zum Äußersten zu reizen.

Ziemlich erfolglos allerdings.

Mein Widerstand war für ihn einfach nicht tolerierbar. Da konnte ich noch so leise hauchen.

Um seine Alleinherrschaft wieder zu festigen und um zu demonstrieren, wer die alleinige Macht über alle und jeden besaß, griff er zum nächsten, etwas erfolgversprechenderem Druckmittel.

Wie von mir erwartet, packte er wieder seine Morddrohungen aus.

„Du männergeile Hure willst doch nur in der Gegend herumvögeln“, brüllte er nun wie von Sinnen. „Aber das treibe ich dir aus. Wenn du nicht machst, was ich dir sage, dann bringe ich dich um, das schwöre ich dir, du verdammtes Dreckstück!“

Doch diesmal schrie ich ihm mit dem Mut der Verzweiflung entgegen: „Dann bring mich doch um! Das ist mir noch immer lieber, als so weiterzuleben!“

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, erstarrte ich.

Teils vor meiner Courage, die mich plötzlich selber erschreckte.

Doch noch mehr, weil ich die Veränderung im Gesicht meines Vaters wahrnahm. Seine Augen wurden dunkel, fast schwarz. Seine Gesichtszüge verzerrten sich. Die Adern in seinen Schläfen traten pumpend heraus und entsetzt erkannte ich: Ich war zu weit gegangen.

Jetzt bringt er mich um.

Er hat nicht nur gedroht.

Er meinte es tatsächlich ernst.

Sein Gesichtsausdruck, der schon den ganzen Abend über Brutalität und Entschlossenheit zeigte, bekam eine neue Facette. Die Facette des Irrsinns beraubte ihn seiner letzten Schranken und Grenzen.

Er sah in jenem Moment nicht mehr seine Tochter in mir.

Ich war nicht einmal mehr ein Mensch für ihn. Das letzte Stückchen Menschlichkeit hatte ich mit den ersten mutigen Worten meines Lebens in ihm abgetötet.

Jetzt war ich nur mehr ein wertloses Stück Dreck, das es gewagt hatte, sich ihm zu widersetzen. Ihm, einen Tyrannen, der Widerspruch nicht duldete. Und dieses Stück Dreck gehörte in seiner gestörten Wahrnehmung vernichtet. Ihn seiner patriarchalen Macht berauben zu wollen, hebelte seine letzten Skrupel aus.

Woher ich meinen Mut genommen hatte, wusste ich plötzlich nicht mehr. Am liebsten hätte ich meine kühnen Worte wieder zurückgespult, als sich Vaters irres Gesicht meinem bedrohlich näherte.

Doch es war zu spät und von den drei biologischen Verteidigungsstrategien, die uns der Instinkt in Notsituationen anbietet, entschied sich mein Körper für die einzig mögliche: Ich verfiel in eine Schockstarre, denn Flucht und Angriff waren keine Option.

Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich keine Chance mehr hatte. Er würde mich umbringen und regungslos wartete ich wie eine Maus auf den tödlichen Biss der Schlange.

Er packte mich mit beiden Händen am Hals und drückte zu. Hatte ich kurz zuvor gehofft, dass er sich doch noch rechtzeitig darauf besinnen würde, dass ich doch seine Tochter, sein Kind war, in dem Moment, wo er zudrückte, wusste ich, er hatte seine Beherrschung und seine Menschlichkeit total verloren.

Ich betete um ein Wunder, doch sein Griff wurde immer fester und während ich erfolglos versuchte, mich seinem harten Griff zu entwinden, glitt ich immer mehr in die Horizontale.

Als ich wehrlos auf der Liege lag, sah ich seine verzerrte Fratze über mir. Der Druck seiner Hände wurde trotz meiner Hilflosigkeit immer stärker und ich bekam keine Luft mehr. Als ich zu röcheln begann, wusste ich, dass es bald vorbei sein würde.

Außer, ich gebe nach.

An der Schwelle des Todes verließ mich daher mein so mühsam erworbener Mut genauso blitzartig wie meine Atemluft verschwunden war. Mit dem sicheren Tod vor Augen wollte ich nur eines:

Luft bekommen!

Atmen!

Leben!

Verzweifelt versuchte ich mich unter seinem Griff weg zu wälzen, doch er war zu stark. Ich würgte gurgelnde Laute hervor und war nicht einmal mehr in der Lage, ihm meine Resignation verbal mitzuteilen. Da klopfte ich im Überlebenskampf heftig mit der Hand auf die Liege, um ihm meine Kapitulation zu verstehen zu geben.

Er lockerte kurz seinen Griff und ich keuchte: „Ok, ich gebe auf!“

Daraufhin nahm er die Hände von meinem Hals und trat mich mit einem heftigen Fußtritt von der Liege.

Ich segelte an die zwei Meter weit durch den Raum und landete unsanft auf dem Fußboden.

Danach blieb ich wie betäubt am Boden liegen, schnappte nach Luft und versuchte wieder zu atmen.

Mir tat alles weh: Mein Kehlkopf schmerzte genauso wie mein Popo, auf den ich so unsanft geknallt war. Am meisten aber schmerzte meine Seele. Sie schrie gequält auf, weil ich wieder nachgegeben hatte, weil mein Wille zu leben, stärker war als meine Moral.

Mutter muss mein Röcheln gehört haben und das einzige Mal, während der Missbrauchszeit durch meinen Vater, ging die Tür zum Schlafzimmer auf und Mutter kam heraus.

Sie sah mich am Boden kauern, sagte kein Wort, ging wortlos aufs WC und legte sich genauso wortlos danach wieder ins Bett ...

Was muss sie wohl gefühlt haben?

Wahrscheinlich wollte sie nur wissen, ob ich noch lebe.

Ja, ich lebte noch.

Doch ich musste weiterhin täglich Vaters Triebe befriedigen und durfte von meiner Freiheit, Tugend oder einem Freund nur träumen.

Für mich hatte sich nichts geändert.

Der letzte Schultag war schlimm, denn mit diesem Tag verlor ich auf einmal alle meine Freundinnen. Auch wenn ich nie mit ihnen fortgehen durfte und daher keine tiefen Freundschaften pflegen konnte, so war ich doch während des Schultages in einer Gruppe Gleichaltriger gewesen und konnte lachen, scherzen, plaudern.

Mir wurde klar, dass von diesen vier Jahren, in denen für mich so viel geschehen war, nur mehr eine blasse Erinnerung an meine Freundinnen bleiben würde. Dieser Gedanke tat unvorstellbar weh, weil ich mich so verlassen fühlte ohne meine Schulkameradinnen.

Keine meiner Freundinnen würde die einjährige private Büroschule, die meine Eltern für mich ausgewählt hatten, besuchen und ich war mir sicher, nie wieder so liebe Freundinnen zu bekommen.

Ich heulte am letzten Schultag unentwegt. Auch unser Klassenvorstand, Frau Hofer, hatte feuchte Augen.

„Für mich ist es jedes Mal nach vier Jahren so, als verliere ich eigene Kinder“, erklärte sie bewegt.

Sie verabschiedete sich von jedem mit einem Händedruck und wünschte uns alles Gute. Als ich an der Reihe war, schluchzte ich so heftig, dass ich ihre Wünsche nicht einmal erwidern konnte. Dabei hat sie mir so viel bedeutet und jetzt konnte ich ihr nicht einmal Glück wünschen vor lauter Schluchzen.

Ihre Herzenswärme hatte ich all die Jahre gespürt. Wie sehr würde ich diese Frau vermissen. Ein Händedruck – und ich war allein.

Ich war das einzige Mädchen, das weinte.

Meine Freundinnen freuten sich auf die Ferien. Im Gegensatz zu mir konnten sie einander treffen, gemeinsam ins Freibad oder Kino gehen. Kichernd gingen die meisten nach Hause, Zeugnis abgeben und weiter ins Schwimmbad. Viele gingen auch im nächsten Schuljahr gemeinsam in dieselbe Schule, die meisten in die dreijährige Handelsschule.

Somit war deren Schulschluss nicht ein Abschied für immer.

Das war er nur für mich.

Ich blieb allein zurück, hatte freudlose Ferien vor mir und keine Aussicht, dass sich an meiner tristen Situation jemals etwas verbessern konnte. Mein Leben schien für mich immer aussichtsloser zu werden.

In den Sommerferien fuhren meine Eltern, Angi und ich nach Kroatien. Angi und ich hatten ein 2-Bett-Zimmer mit Verbindungstür zu meinen Eltern.

Unser Verhältnis zueinander hatte sich durch unser Älterwerden wesentlich verbessert. Wir stritten nicht mehr so viel und lachten uns stattdessen oft in den Schlaf.

Angi war noch sehr kindlich, doch genau das mochte ich an ihr, wohl, weil ich auch gerne noch so sorglos gewesen wäre. Es freute mich, dass sie ihre Kindheit ausleben durfte. Und ich war froh, dass ich jemanden in der Familie hatte, mit dem ich lachen konnte.

Vater ging bei jeder Gelegenheit mit mir ‘Schiffe ansehen‛, was bedeutete, dass ich ihm ins dichte Gebüsch hinter dem Felsstrand folgen musste. Zwischen Disteln und Lorbeer-Sträuchern reagierte er seinen Trieb an mir ab, da er im Hotel-Zimmer keine Gelegenheit dazu fand.

Bei diesen ‘Schiffs-Besichtigungs-Touren’ horchte er mich aus: „Na, freust du dich schon, bald wieder in eine gemischte Schulklasse zu gehen? Ich bin sicher, kaum bist du in der neuen Schule, hast du schon einen Freund und willst mich abschieben.“

Nach der Mädchenschule, die ich in den vergangenen vier Jahren besucht hatte, war diese Vorstellung wohl ein Albtraum für ihn.

Desillusioniert dachte ich damals: „Wenn das so leicht wäre! Wie oft habe ich es schon versucht und nicht geschafft.“

Vater wusste wohl genau: Wenn Liebe ins Spiel kommt, wird jeder Mensch zum Kämpfer und irgendwann würde ich tatsächlich lieber sterben wollen, als so weiterzuleben. Ich war hübsch geworden, wessen ich mir aber seinerzeit nicht bewusst war. Ich erkenne es erst heute an Fotos aus jener Zeit.

Ich selbst fand mich (Selbstwertgefühl – gleich null) stets reizlos und blass. Ich kann Gott nur danken, dass ich mit einem gefälligen Äußeren beschenkt wurde – und: Dass ich es nicht wusste. Denn niemand ist widerlicher als ein Mensch, der geschenkte Vorteile wie eine persönliche Leistung vor sich herträgt. Ein adrettes Aussehen, wenn es einem geschenkt wird, sollte immer als das gesehen werden, was es ist: Ein Geschenk, das noch dazu sehr vergänglich ist.

Damals allerdings zerstreute ich Vaters Bedenken, um meine Ruhe zu haben. Ich wünschte mir ja selbst nichts sehnlicher als von einem Prinzen aus meinem Gefängnis befreit zu werden. Doch ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass sich jemand in mich verlieben könnte.

Vater machte sich aber bereits konkrete Gedanken über die ‘Zeit danach‛ und befürchtete, dass ich eines Tages schlecht von ihm denken würde.

„Wirf mir bitte nie vor, dass ich nur aus sexuellen Motiven gehandelt habe. Sei bitte immer so fair und gestehe mir zu, dass ich alles nur aus Liebe tat“, beschwor er mich.

Ich versprach es. Was hätte ich sonst tun sollen? Ihm die Wahrheit sagen?

Erste Liebe

Kapitel 6.1

Am ersten Schultag in der Büroschule hatte ich viele Ängste.

Angst Nummer 1: Weil die Lehrkräfte Professoren waren, befürchtete ich eine außerordentliche Strenge.

Angst Nummer 2 und noch viel größer: Von meinen neuen Mitschülern nicht akzeptiert zu werden!

Angst Nummer 3: Gemischte Gefühle hatte ich zusätzlich bei dem Gedanken, in diesem Alter täglich mit Burschen auf engstem Raum zusammen zu sein.

Wie die meisten Ängste stellten sich jedoch alle innerhalb kürzester Zeit als unbegründet heraus. Die Lehrer waren locker und nett und ich war bald ein voll integriertes Mitglied einer ausgesprochen guten Klassengemeinschaft.

Mit Burschen in einer Klasse zu sein, war zwar tatsächlich anders. Aber keinesfalls beängstigend. Im Gegenteil. Es war sogar ziemlich unterhaltsam, denn kaum waren einige Schulwochen vergangen, gab es bereits das erste Liebespaar in der Klasse, samt dazugehörigem Klatsch.

Wir waren dreißig Schüler, davon zehn Burschen, die mir nach erster Prüfung alle nicht gefielen. Manche waren noch Kinder, andere schlicht unattraktiv, einige waren beides. Ich war enttäuscht, hatte ich doch gehofft, in meiner Klasse einen Prinzen zu finden, der mich aus meinem Gefängnis befreien sollte.

Ich saß in der zweiten Reihe und in der ersten Reihe vor mir zwei Jungen. Einer war klein mit Nickelbrille und noch in jeder Beziehung ein Kind. Hermann, der andere Bursche war hübsch, auch sehr klein und kindisch, allerdings auf eine niedliche Art.

Oft warf er absichtlich seinen Radiergummi auf den Boden, um sich beim Aufheben von unten meine Beine anzusehen. Er blieb immer so lange mit dem Kopf unten, bis ich losschimpfte. Dann lachte er, weil ich mich ärgerte und schmiss seinen Radiergummi nochmals runter, um weiter gucken zu können.

Ich gab es bald auf, mich zu ärgern, sondern zog es vor, da ich allein in einer Zweierbank saß, meine Beine auf die Bank zu legen und seitlich zu sitzen. So sah er nicht mehr unter meinen Rock, was ihm die Freude an diesem Spiel nahm.

Während Hermann bevorzugt auf meine Beine schielte, hatte Fredi aus der letzten Reihe offensichtlich mehr Interesse an meinem Po.

Das erfuhr ich auf ziemlich derbe Weise.

In der zweiten Schulwoche ging ich zum Kasten im hinteren Bereich des Klassenzimmers, um eine Schreibmaschine für den Unterricht zu holen. Als ich an Fredi vorbeiging, klatschte er mir einfach mit der Hand auf mein Hinterteil.

Er grinste dabei über das gesamte Gesicht und fand das so richtig spaßig.

Ich weniger.

Obwohl in den 70-ern Po-Grapschen noch nicht als sexueller Übergriff gewertet wurde, war ich schon damals nicht gewillt, mich betatschen zu lassen. Schon gar nicht von einem pickeligen 15-Jährigen, der sich deswegen auch noch mächtig gut vorkam.

Empört wollte ich diesem primitiven Halbstarken durch eine damenhafte Ohrfeige seine Grenzüberschreitung klarmachen. Doch scheinbar hatte er damit gerechnet und ich empfand es als zusätzliche Frechheit, dass dieser Mistkerl auch noch meine schwirrende Hand abfing.

Dadurch konnte ich nicht einmal meine angeknackste Ehre wiederherstellen.

„Lass mich los, du Widerling“, schimpfte ich und versuchte mich mit der zweiten Hand von ihm wegzudrücken. Da fasste er auch nach meiner zweiten Hand und hielt plötzlich meine beiden Arme in die Höhe.

Wie eine Wespe, die sich im Spinnennetz verfangen hatte, hing ich an seinen Händen und er lachte schallend. Da er saß und ich stand, war ich sogar in Gefahr, auf ihn zu fallen. Und er beabsichtigte das offensichtlich auch, denn er zog mich immer weiter zu sich hin.

Vor Wut entwickelte ich ungeahnte Kräfte und irgendwie schaffte ich es, mich von ihm wegzureißen.

"Du bist so ein primitiver Mistkerl", beschimpfte ich ihn, während er sich königlich über meinen Zorn amüsierte.

Er dachte wohl, dass mir diese Art der Annäherung gefällt, weil er bei anderen Mädchen damit offenbar Erfolg hatte.

Doch ich würdigte ihn seit diesem Vorfall keines Blickes. Ich fand es herabsetzend, gegrapscht zu werden und dadurch, dass er mir nicht einmal die Gelegenheit gab, meine Würde wiederherzustellen, war dieser Mensch für mich ab diesem Zeitpunkt unten durch.

Außerdem fand ich ihn hässlich. Sein Gesicht war übersät von Hautunreinheiten und die meisten der gelben Eitertüpfelchen umrandeten seine Augenlider, was ich besonders abstoßend fand. Er hatte eine zu lange Nase für meinen Geschmack und ein knochiges, hageres Gesicht. Das einzige Positive, das ich an ihm finden konnte, doch das erfasste ich erst nach einigen Wochen, war seine Figur. Er war über 1,80 cm groß, hatte breite Schultern und schmale Hüften.

Doch seine athletische Figur interessierte mich nach dieser negativen ersten Wahrnehmung überhaupt nicht. Er war für mich nach diesem Vorfall einfach nur ein hässlicher Angeber ohne Manieren.

Wobei mich, weit mehr als sein Äußeres, sein Charakter abstieß. Ich fühlte mich zu zurückhaltenden Menschen hingezogen.

Fredi hingegen war ein cholerischer Raufbold. Zurückhalten konnte er nichts. Weder Provokationen noch seine Fäuste.

Und doch wurde dieser ‛Mistkerl‘ meine erste Liebe und ich erkannte, dass nicht immer der erste Eindruck, den ein Mensch hinterlässt, oder die Art, wie sich ein Mensch gibt, etwas darüber aussagt, was er im Herzen hat. Meist überdecken Menschen mit einer übertriebenen Art Verletzungen, die ihnen in der Vergangenheit zugefügt wurden. Im Falle von Fredi greife ich vorweg, dass er das Verhalten, das er an den Tag legte, von seinem Vater erlernte und schon von Kindesbeinen an hörte: „Ein Körner (sein Familienname, der für besondere Kämpfer-Qualitäten zu stehen schien) ist der Stärkste! Man muss nicht gescheit sein, man muss nicht schnell sein, man muss nur stark sein!“ Dieser Satz wurde bei ihm zu Hause wohl statt der Gute-Nacht-Geschichte vor dem Einschlafen erzählt, denn sogar die beiden kleineren Brüder verhielten sich danach und gaben ständig: ’ein Körner ist der Stärkste‘ von sich. Seine eigene Stärke bewies der gute Herr Papa, indem er seine, mit den Jahren mollig gewordene Frau, Fredis Mutter, nach Herzenslust betrog und demütigte. Die drei Söhne wurden bei jeder Gelegenheit geschlagen, womit das Familienoberhaupt ebenfalls seine Stärke demonstrierte. Der mittlere der drei Brüder, Hansi, kann sich glücklich schätzen, dass er als kleiner Junge nicht nur stark, sondern auch schnell war: In Rage geraten, hatte sein Papa einmal ein Beil nach ihm geworfen. Nur durch Hansis rasches Niederwerfen blieb es dem Papa erspart, seine Stärke im Gefängnis unter Beweis zu stellen (mit Sicherheit hätte Hansi es nämlich nicht überlebt, wenn ihn das geworfene Beil mit voller Wucht getroffen hätte).

Ein weiteres seelisches Manko hatte Fredi durch die Tatsache, dass seine Eltern für ihre Kinder kaum Zeit hatten. Beide Elternteile waren selbständige Kaufleute und besaßen Läden in unterschiedlichen Bezirken. In der Wohnung trafen sich die Familienmitglieder nur gelegentlich zum gemeinsamen Essen. Die Mutter kochte vorwiegend Dosengerichte, weil sie von Montag bis Samstag ganztägig im Geschäft stand. Sie hatte ein gutes Herz, doch leider konnte sie sich gegen ihren Macho-Mann, wie meine Mutter, nicht zur Wehr setzen. In unseren beiden Familien wurde die gleiche Sprache gesprochen: Die Sprache der männlichen Gewalt.

Damals jedenfalls war mir klar, dass Fredi für mich kein Thema war. Ein Junge mit so einem miesen Charakter? Nie im Leben würde ich mit diesem Widerling auch nur ein Wort sprechen.

Die anderen Mädchen in der Klasse mochten ihn allerdings. Manche liefen ihm regelrecht nach. Für mich war das unverständlich.

Bald begann ich ihn daraufhin genauer anzusehen und erkannte, warum sie ihn vergötterten: Er wirkte schon wesentlich erwachsener als die Mitschüler und besaß, im Gegensatz zu den gleichaltrigen Burschen, bereits mit 15 Jahren eine männliche Ausstrahlung.

In Erinnerung blieb mir Uschi, das Mädchen, das schon in der ersten Schulwoche ein ‘Verhältnis’ mit Herbert, dem Klassengockel (blond gefärbte Fönfrisur, gekleidet in teure Designermode, einfach unwiderstehlich in seiner Oberflächlichkeit und Arroganz) hatte.

Sie warf sich nach Beendigung dieser Affäre jedem annehmbaren Burschen an den Hals. Zuerst klapperte sie in unserer Klasse alle verfügbaren Jungs ab. Weil die Auswahl an Burschen, denen kein Babyflaum mehr anhaftete, jedoch überschaubar war, ging sie bald zu den Nachbarklassen über.

Doch, bevor sie konvertieren musste, war noch Fredi an der Reihe, den sie mit ihrer charmanten (man könnte auch sagen: aufdringlichen) Art beglücken wollte.

Ihm ging sie mit ihrer billigen Art jedoch mächtig auf die Nerven, was er überdeutlich zeigte. Sie hingegen fand seine herablassende Art lustig. Sie herzte und lockte, während er boxte und schlug. Er schimpfte und demütigte sie aufs Gemeinste, doch sie lachte und herzte noch immer.

So viel Blödheit verstand ich nicht: Wenn mich ein Bursche so behandeln würde, mich von sich stößt und sogar schlägt, hätte sich die Angelegenheit erledigt. Doch Uschi dürfte an dieser Behandlung Gefallen gefunden haben.

Ich kann diesen Spruch nicht hören, weil er von brutalen Männern als Ausrede genutzt wird, aber Uschi war für mich damals der lebende Beweis dafür, dass es tatsächlich Mädchen bzw. Frauen gibt, die Gefallen daran finden und es sogar herausfordern, geschlagen zu werden.

Damals habe ich über Uschis Dummheit missbilligend und abwertend den Kopf geschüttelt.

Erst heute ist mir klar, dass Uschi in ihrer Kindheit offenbar einiges erlebt hat, um solch ein Verhalten an den Tag zu legen. Wahrscheinlich war ihre Kindheit meiner gar nicht so unähnlich gewesen.

Ich sah diesem Treiben damals jedoch gleichgültig zu und wunderte mich über das Verhalten von Fredi genauso wie über das von Uschi. Mir war klar, dass ich mich nie so behandeln lassen würde – von niemandem!

Obwohl: Mit dieser Weltanschauung predigte ich Wasser und trank Wein, denn diese Klarstellung konnte ich bestenfalls für die Zukunft treffen, falls ich einmal wählen würde können. Doch genau für diese Zeit ‛danach ‘ – von der ich doch gar nicht wusste, wann und ob es sie je geben würde – stellte ich diese eiserne Regel auf: Ich würde mich niemals schlagen lassen!

Fredi veränderte sein Verhalten zu mir im Laufe der Zeit völlig. Er wurde höflich und zuvorkommend, zeigte eine charmante Seite, die ich ihm nie zugetraut hätte. Allerdings nur mir gegenüber wurde er nett. Zu anderen war er weiterhin rüpelhaft.

Ich erkannte damals, dass man stets bekommt, was man einfordert. Hätte ich mich, wie Uschi, mies behandeln lassen, hätte Fredi keinen Grund gehabt, sein Verhalten zu ändern. So aber musste er sich von einer anderen, netteren Seite zeigen, wenn er mit mir in Kontakt treten wollte.

Und er wollte.

Er wurde zu mir so nett, dass ich den Vorfall unserer ersten Begegnung bald vergaß. Beim Eintreten in einen Raum ließ er mir stets den Vortritt und hielt galant die Tür auf. Dieses Verhalten war außergewöhnlich, denn die meisten Burschen ließen einem Mädchen lässig die Tür auf die Nase knallen, um cool zu wirken.

Er bewachte auch die Annäherungsversuche anderer Burschen und die Jungen, die mich hofierten, hatten es schwer. Von den zehn Burschen in unserer Klasse sprachen sieben im Laufe des Schuljahres Einladungen aus. Kaum merkte Fredi Konkurrenz am Radar, griff er zur brutalen Selbstjustiz: Jeder Gegner wurde kurzerhand verprügelt.

Ein Bursche erweckte im Laufe des Schuljahres mein Interesse. Er war zwar nicht sonderlich attraktiv, doch sein ruhiges Wesen erinnerte mich an meinen Blaujäckchen-Schwarm aus der Hauptschulzeit.

Doch ich machte entweder keinen Eindruck auf ihn oder er war schüchtern. Letztlich war es für meinen geheimen Schwarm aber sowieso gesünder, dass er sich nicht für mich interessierte, denn er hätte nur riskiert von Fredi verprügelt zu werden.

Mir gefiel dieser Charakterzug an Fredi auch zu jenem Zeitpunkt nicht und doch fühlte ich mich geschmeichelt. Ich hatte einen Beschützer, der mich wie eine Prinzessin hofierte, auch wenn er leider bei allen anderen brutal und aggressiv war.

Heute weiß ich, dass man bei der Wahl seines künftigen Partners im Besonderen auch die Art beachten sollte, wie er sich anderen gegenüber verhält, denn, so wie er zu anderen ist, wird er irgendwann auch zum Partner sein. In der verliebten Phase einer Beziehung muss man sich ja förmlich auf die Wünsche des anderen einstellen, wenn man beachtet werden will. Doch wenn die Zeit der ersten Verliebtheit vorbei ist und der Alltag in das gemeinsame Leben kehrt, kann jeder Mensch nur so sein, wie er ist. Und: Ich untermauere mit einem treffenden Zitat: „Man kann den Menschen aus dem Ghetto holen, doch nicht das Ghetto aus dem Menschen!“

Für Fredi und mich begann eine kollegiale Zeit. Oft saßen wir mit anderen Schulkolleginnen und Kollegen in der Pause beisammen und führten interessante Gespräche über Gott und die Welt. In dieser Klasse hatte ich sehr gute Gesprächspartner gefunden, doch im Besonderen erkannte ich an Fredi, dass ich mich mit ihm gut unterhalten konnte.

In dieser Phase begann ich ihn genauer anzusehen. Zu diesem Zeitpunkt fiel mir auf, wie athletisch sein Körper gebaut war und ich beobachtete ihn, wenn er mit federnden Schritten von der hintersten Reihe nach vorne ging, wobei seine meist zu langen dunkelbraunen, viel zu feinen Haare um sein hageres Gesicht flatterten.

Ich sah auch im Laufe der Zeit die Hautunreinheiten, die mich anfangs an ihm so störten, nicht mehr so vordergründig. Im Gegenteil, wenn er mich mit seinen dunkelbraunen Augen ansah und dabei verschmitzt lächelte, fand ich ihn fast hübsch, ganz einfach dadurch, weil er mir sympathisch wurde.

Eines Tages, als wir in einer Gruppe zur Straßenbahnhaltestelle gingen, löste er sich von der Gruppe und ich ging mit ihm allein weiter, da wir gerade in ein Gespräch vertieft waren.

Da fragte er plötzlich: „Darf ich dich ins Kino einladen?“

Ich wurde rot, stammelte: „Nein, das geht nicht“, und flüchtete hastig zu den anderen.

Seine Frage hatte mir einen Stich gegeben, denn eine platonische Freundschaft hätte ich pflegen dürfen; eine andere nicht.

Ich belog mich damals ständig selbst: Einerseits wollte ich unbedingt einen Freund, da ich wusste, ohne Freund, der zu mir steht, komme ich aus meinem Gefängnis nie heraus. Doch: Ich durfte nie ausgehen. Daher redete ich mir ein, an einer Liebesbeziehung gar nicht interessiert zu sein. Da ohne Freund aber auch kein Ausbruch aus meinem Gefängnis möglich war, drehten sich meine Gedanken immer so lange im Kreis, bis ich, total verzweifelt, weiterhin nur auf ein Wunder wartete. Aus Selbstzweck redete ich mir demnach ein, nur an einer platonischen Beziehung interessiert zu sein (frei nach der Fabel: „Der Fuchs und die Trauben: Die Trauben, die der Fuchs nicht erreichen konnte, hätte er sowieso nicht fressen wollen, weil sie sicher sauer gewesen wären!“).

Nachdem ich also einvernehmlich mit mir geklärt hatte, dass ich keinesfalls mehr als eine platonische Freundschaft mit Fredi wollte und er zudem sowieso nicht mein Typ war, beschloss ich, ihn wieder zu meiden, damit er sich keine unnötigen Hoffnungen machte.

Fredi reagierte auf meine Zurückhaltung erwartungsgemäß und in der nächsten Zeit sah ich ihn öfter mit anderen Mädchen.

Aber das ging mir nicht nahe. Meine Gefühle für ihn waren damals tatsächlich nur freundschaftlich.

Kapitel 6.2

Unbekümmert erzählte ich seinerzeit Vater von Fredis Einladung und er reagierte total verstimmt.

Für ihn war klar, wie es weitergehen würde und er steigerte sich wieder in seine Lieblingsvorstellung von der geilen Brenda: „Natürlich willst du mit diesem Fredi ins Bett gehen, bist ja ganz scharf darauf, du erzählst doch nur mehr von diesem Fredi!“

Mir war bis dahin gar nicht aufgefallen, dass ich so viel von ihm erzählt hatte. Doch ich rechtfertigte mich, dass ich doch nicht von Fredi erzählen würde, wenn ich mich in ihn verliebt hätte und diese Verliebtheit verheimlichen wollte.

Trotzdem hielt ich mich nach diesen Streitgesprächen mit meinen Schilderungen über Fredi zurück, um Vater nicht unnötig zu erzürnen.

Damit begann jedoch eine heimliche Zeit des Denkens an Fredi und dadurch wurden diese Gedanken, weil notwendigerweise heimlich gedacht, tatsächlich und ganz langsam zu dem, was Vater vermutete. Durch die Verdächtigungen von Vater dachte ich nun auch in die von ihm angesprochene Richtung und begann Fredi mit anderen Augen zu sehen.

Ich beobachtete ihn, wenn er mit anderen Schülern redete oder durch die Klasse ging. Sein sportlicher Körper und sein Gang, der etwas Katzenhaftes hatte, faszinierten mich plötzlich. Ich musste ihn immer wieder ansehen und weil auch er mich mit den Augen suchte, trafen sich unsere Blicke oft.

Ich suchte wieder häufiger seine Nähe, wir verbrachten bald die meisten Pausen gemeinsam und ich fühlte mich wohl, wenn Fredi an meiner Seite war. Mir wurde klar, dass er mir gefehlt hatte. Er fühlte diese Veränderung in mir offensichtlich und war wieder bei jeder Gelegenheit in meiner Nähe.

Das Mädchen, mit dem ich ihn noch vor kurzem gesehen hatte, beachtete er nicht mehr. Er dürfte bemerkt haben, was in mir vorging und wollte mir zeigen, dass er sich für keine andere mehr interessierte. Und ich genoss es, vom begehrtesten Burschen unserer Klasse umworben zu werden, noch dazu wo er mir immer besser gefiel (die berühmte rosarote Brille).

Ab und zu lud er mich ein, mit ihm auszugehen, doch wenn ich ablehnte, regierte er nicht sauer, bedrängte mich nicht. Er spürte wohl, dass es einen anderen Grund für meine Absagen geben musste als den, dass ich ihn nicht mochte.

Er blieb höflich und wenn wir nicht beisammen waren, suchten wir einander mit den Augen. Zwischen uns entstand eine Spannung, dass ich das Gefühl hatte, es knistern zu spüren. Mir wurde immer siedend heiß, wenn er mir in die Augen sah und ein verräterisches Kribbeln im Bauch machte mir klar: Ich hatte mich in Fredi verliebt.

In jener Zeit ertrug ich Vaters täglichen Pflicht-Sex besonders schwer. In meinem Gedanken war ich nur bei Fredi und meine Träume waren so romantisch. Meine Liebe zu Fredi war so rein und zart und Vaters Perversität zerstörte die Traumwelt dieser unschuldigen Liebe.

„Dieser Fredi will dich nur fürs Bett. Die jungen Burschen haben doch gar nichts anderes im Kopf. Wahrscheinlich onaniert er ständig, wenn er an dich denkt“, analysierte Vater in jener Zeit oft ungefragt. Es schnitt mir ins Herz, wenn Vater so demütigend und ordinär über Fredi herzog.

Gleichzeitig wusste ich: Die Liebe, die Fredi und ich zueinander hatten, würde nie so schmutzig sein, wie das, was Vater mit mir tat. Unsere Liebe würde nie ausschließlich aus Sex bestehen.

Doch ich beherrschte mich, gab meine Gedanken nicht preis. Tapfer schluckte ich patzige Antworten runter, auch wenn ich glaubte, daran zu ersticken. Ich durfte mich keinesfalls verraten. Nicht einmal in Schutz nehmen durfte ich Fredi bei solch gemeinen Angriffen.

Um mich nicht zu verraten, stimmte ich Vater daher stets zu: „Wahrscheinlich hast du recht. Aber nachdem mir Fredi sowieso nichts bedeutet, ist es doch egal!“

Tatsächlich bedeutete mir Fredi aber immer mehr und ich freute mich täglich darauf, ihn zu sehen. Unsere Beziehung hatte eine starke seelische Bindung. Ohne Worte, nur mit den Augen sprachen wir aus, was wir nicht in Worte fassen durften ... was ich nicht in Worte fassen durfte.

Mussten wir in das gegenüber liegende Schulgebäude gehen und es regnete, gab ich ihm meinen Schirm und hakte mich bei ihm unter, damit ich nicht nass wurde. Das genoss ich unsagbar, denn auf die Weise konnte ich ihm nahe sein. Ohne Regen hätte ich nie gewagt, mich bei ihm einzuhängen. Doch so sah es unschuldig aus und wir freuten uns immer, wenn es regnete.

Ich wunderte mich, warum sich Fredi nach jeder Absage, die ich ihm schweren Herzens gab, nicht zurückzog. Er musste doch glauben, dass ich mit ihm spielte. Ich ließ ihn spüren, dass ich ihn mochte, ging aber nie mit ihm aus und die einzige Annäherung, die ich zuließ, war ein Einhaken in seinen Arm, wenn es regnete.

Konnte er spüren, dass ich unter schwerem Druck stand und deshalb nicht mit ihm ausgehen durfte? War unsere Bindung so stark, dass er mehr fühlte als ich aussprechen konnte?

Als ich eines Tages wieder eine Einladung von ihm ausschlug, hakte er allerdings nach.

„Warum gibst du mir immer einen Korb, wenn ich mit dir ausgehen möchte? Dein ‘Nein’ passt irgendwie nicht zu deinem Verhalten.“

„Bitte, frage nicht mehr, ob ich mit dir weggehen möchte. Ich darf nicht mit dir ausgehen und ich kann dir nicht sagen, warum nicht“, antwortete ich und mir schossen Tränen in die Augen.

„Aber, wenn du mit mir ausgehen willst, wer kann es dir verbieten? Deine Eltern? Ist es, weil sie mich nicht kennen? Wenn du willst, hole ich dich von daheim ab und bringe dich wieder pünktlich nach Hause. Oder ist es etwas Anderes? Bitte, sage es mir, vielleicht kann ich dir helfen.“

Seine ehrliche Fürsorge rührte mich. Doch viel mehr befürchtete ich, dass er mir helfen wollte, nachdem er folgerichtig meine Eltern verdächtigte, mich einzusperren. Was, wenn er mit Vater ein Gespräch suchte? Davor hatte ich wahnsinnige Angst. Vater würde grob, sehr grob werden.

Außerdem wusste ich, dass ich soeben zu viel gesagt hatte. Nie hätte ich durchklingen lassen dürfen, dass ich nicht weggehen durfte. Dadurch blieb im Raum, dass ich für Fredi sehr wohl etwas empfand und lediglich unter Druck von außen stand. Das könnte ihn zum Kämpfer machen.

Unter allen Umständen musste ich das verhindern.

Mit flehendem Blick bat ich daher resolut: „Bitte, mische dich bei meinen Eltern und mir nicht ein. Du kannst mir nicht helfen. Mir kann niemand helfen und ich hätte dir nie so viel sagen sollen, wie ich soeben gesagt habe. Bitte, frage nie mehr, ob ich mit dir ausgehen kann.“

Ich war aber bereits so sehr in Tränen aufgelöst, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Nachdem er dachte, vielleicht zu weit gegangen zu sein, entschuldigte er sich: “Verzeih, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Wenn du wirklich willst, dass ich dich nicht mehr einlade, dann werde ich es auch nicht mehr tun. Aber versprich mir, falls du irgendwann Hilfe brauchst, dass du dich an mich wendest. Ich bin immer für dich da, immer!“

Dabei hatte er seine Hand auf meine gelegt und blickte mir tief in die Augen, wie um zu beschwören, wie ernst es ihm war. So gerne hätte ich mich in diesem Augenblick in seine Arme geschmiegt und gebeten: „Bringe mich weg von meinem Vater, lass mich nie wieder zu ihm!“

Doch wir waren fünfzehn Jahre alt, viel zu jung, um ohne Eltern leben zu können. Deshalb musste ich vernünftig bleiben. Ich tätschelte kurz mit der anderen Hand seine, die noch immer auf meiner lag, um ihm dann beide Hände wegzuziehen, nickte mit dem Kopf und versprach: "Danke, ich werde es nicht vergessen."

Dann lief ich weg und versuchte auf der Toilette meine geröteten Augen mit kaltem Wasser zu spülen. Dieses Gespräch hatte in einer Pause stattgefunden und ich wollte nicht mehr flennen, wenn die nächste Unterrichtsstunde begann.

Doch meine Wangen brannten und ich fühlte mich während des gesamten weiteren Schultages wie betäubt, konnte am Unterricht nicht mehr aktiv teilnehmen.

Fredi hat mich seither nicht mehr bedrängt, sich aber auch nicht von mir abgewandt. Im Gegenteil: Seit er mich an den Händen berührt hatte, gaben wir uns täglich zur Begrüßung die Hand, wohl um nur irgendwie den anderen angreifen zu können.

Diese Berührung war der einzige körperliche Kontakt, den wir zueinander herstellen konnten. Uns beiden bedeutete dieser Händedruck viel, obwohl es auf andere Mitschüler komisch wirkte.

Dann kam der entscheidende, unvergessliche Schulausflug. Ich hatte mich so wahnsinnig darauf gefreut, einen ganzen Tag an Fredis Seite zu sein. In der Schule saß ich ganz vorne, er ganz hinten und wir sahen einander nur in den Pausen. Doch an diesem Donnerstag wich er nicht von meiner Seite.

Es war ein sonniger, warmer Tag im Mai und wir fuhren mit dem Bus zu der Seegrotte in der Hinterbrühl mit seinen mystischen Stollen. Dort war eine Bootsfahrt auf dem größten unterirdischen See Europas geplant. Fredi saß im Boot neben mir und musste ziemlich nah rücken, damit viele Schüler in das Boot passten. So nahe waren wir einander noch nie. Ich spürte seinen Schenkel an meinem und zitterte vor Aufregung.

Nach der Bootsfahrt fuhren wir nach Mayerling und auf der Lagerwiese vor dem Schloss hatten wir Zeit zur freien Verfügung.

Nachdem ich mit Freundinnen von der Toilette kam, suchte ich Fredi, der sich auf der Wiese niedergelassen hatte und auf einer Decke auf mich wartete.

Wir waren beide Nichtraucher, doch im Vergleich zu mir, hatte Fredi das Rauchen schon einmal probiert, wieder aufgehört und seither über jeden Raucher abfällig geredet. Dass ich nicht rauchte, gefiel ihm, da ich das einzige Mädchen in unserer Klasse war, das noch nicht davon probiert hatte. Als ich Fredi auf der Wiese fand und zu ihm lief, ritt mich der Teufel.

„Ich habe soeben geraucht!“, reizte ich ihn.

Verblüfft schaute er mich an und meinte: „Das glaube ich nicht.“

Doch ich blieb dabei: „Wirklich, ich habe geraucht. Es stört dich doch nicht, oder?“

Ungläubig blinzelte er und antwortete schroff: „Natürlich würde es mich stören, das Zeug ist nichts für dich!“

Doch dann dürfte er mein Lachen richtig gedeutet haben, und stieg auf mein Spiel ein.

„Okay“, lachte er. „Beweise mir, dass du geraucht hast, ich glaube dir nämlich kein Wort. Hauche mich an!“

Er richtete sich mehr auf und deutete mit der Hand, dass ich zu ihm kommen sollte. Ich kniete mich neben ihn, während ich lachend weiterredete: „Ich habe geraucht, ich habe geraucht.“

Als ich näherkam, wurde seine Miene ernst und er flüsterte: „Dann hauch mich doch an!“ Gespannt wartete er, dass ich nahe genug kam, um ihn anzuhauchen und ich näherte mich immer mehr.

Plötzlich war aus dem Spiel Ernst geworden und es war nicht mehr die Frage, ob ich ihn anhauche, sondern ob wir einander küssen würden. Auch ich lachte nicht mehr und spürte mein Herz bis zum Hals klopfen. Wir sahen einander tief in die Augen und waren uns so nahe, dass ich bereits seinen Atem spürte. Ich wusste, wenn ich mich jetzt noch ein bisschen vorbeuge, küsst er mich.

Doch plötzlich bekam ich Angst, sprang auf und schrie: „Du hast Recht, ich habe wirklich nicht geraucht!“

Blitzschnell drehte ich mich um und lief wie gehetzt die Wiese hinunter, damit er nicht sehen konnte, wie ich zu weinen begann.

Als ich außerhalb seiner Sichtweite war, kauerte ich mich hinter einen Busch und begann hemmungslos zu schluchzen. Ich hatte mir so sehr gewünscht, dass wir einander geküsst hätten und doch befürchtete ich, dass ich dann verloren gewesen wäre.

Doch verloren war ich auch so. Ich wusste plötzlich, dass ich ohne ihn nicht mehr leben wollte, doch wie konnte ich für ihn frei werden? Ich wusste, Vater würde mich nie gehen lassen.

Oh, wie ich Vater in diesem Augenblick hasste!

Eva, eine liebe Schul-Freundin hat mich scheinbar beobachtet und wollte mir helfen.

"Was hast du denn?", fragte sie mitfühlend und legte ihren Arm um meine Schulter.

„Das kann ich dir nicht sagen. Bitte lasse mich allein“, schluchzte ich und Eva respektierte meinen Wunsch.

Ich kehrte erst wieder zum Autobus zurück, als ich mitbekam, dass alle Schüler zur Heimfahrt einstiegen.

Wie bei der Hinfahrt, setzte ich mich wieder auf meinen Platz in der letzten Reihe und blickte regungslos aus dem Fenster, als sich Fredi, ebenfalls wie bei der Hinfahrt, neben mich setzte.

Lange Zeit sprachen wir nichts.

Er war befangen und ich wagte nicht, meinen Blick vom Fenster wegzuwenden, hielt mein zusammengeknülltes Taschentuch vor die Nase und wischte mir von Zeit zu Zeit die runterlaufenden Tränen ab.

Ich zitterte am ganzen Körper und in mir loderte es. Um mich zu beruhigen, legte Fredi nach einer gewissen Zeit sanft seine Hand auf mein Knie, lehnte seinen Kopf auf die vordere Sitzlehne und deutete mir, weil ich ihn durch seine zarte Berührung erschrocken ansah, dass ich mich auch vorbeugen sollte, um mit ihm reden zu können. Ich lehnte mich vor.

„Was hast du denn?“, flüsterte er.

Doch ich schüttelte nur den Kopf, wiederholte ununterbrochen: „Ich kann es dir nicht sagen, ich kann es nicht, ...“

Doch er gab nicht nach, zu erschüttert war er über meinen Zustand.

„Ist es wegen deiner Eltern?“ Irgendwie schien er zu spüren, woher meine Angst kam.

Ich presste mühsam hervor: „Es ist mein Vater, er lässt mich nicht gehen, er wird mich nie gehen lassen.“

„Aber das gibt es ja nicht, du bist doch nicht sein Eigentum!“, verstand er nicht so recht.

„Doch er sieht es so und ich habe keine Chance von ihm wegzukommen. Ich habe es schon oft versucht“, erwähnte ich eigentlich zu viel.

„Aber warum lässt er dich nicht gehen? Was hat er denn davon?“

„Das kann ich dir nicht sagen“, begann ich von neuem so hemmungslos zu schluchzen, dass sich das Mädchen vor uns umdrehte.

"Sei nicht so neugierig, drehe dich wieder um!", schnauzte ich sie ungerechtfertigt schnippisch an. Aber ich schämte mich und wollte nicht beim Heulen beobachtet werden. Aufhören konnte ich jedoch auch nicht. Meine Tränen flossen beständiger als der berühmt, berüchtigte Salzburger Schnürlregen.

Fredi sagte nichts mehr und wartete darauf, dass ich mich wieder beruhigte.

Doch in mir überschlugen sich die Gedanken. Der sanfte Druck seiner Hand auf meinem Knie bewirkte, dass ich mir immer sehnlicher wünschte, nur mehr Fredi zu gehören. Ich dachte ständig an die spannungsgeladene Situation auf der Wiese, als wir einander beinahe geküsst hätten.

Ich wusste plötzlich, dass ich um ihn kämpfen musste. Ich konnte ihn nicht kampflos aufgeben. Ich wollte und konnte meine Gefühle nicht mehr länger verbergen. Fredi wartete geduldig darauf, dass ich wieder etwas sage.

Nach einer Weile versuchte ich ein Lächeln: „Ich werde heute mit Vater reden. Ich werde ihn fragen, ob er mich mit dir gehen lässt und sage dir morgen Bescheid.“ Es war das erste Mal, dass ich offen aussprach, was er schon seit langem spürte: Dass ich mit ihm ausgehen wollte.

Plötzlich fühlte ich mich stark für einen Kampf gegen Vater, wusste ich doch, dass ich jetzt nicht mehr allein war.

Doch der Gedanke an meine vergangenen Ausbruchsversuche ließ mich gleich wieder verzweifeln. Ich wusste, dass mich stundenlange, nervenaufreibende und gewalttätige Debatten, vielleicht sogar wieder ein Mordversuch, erwarteten.

Ich musste damit rechnen.

Und ich rechnete damit, versuchte mich auf das Schlimmste einzustellen.

Würde es dieses Mal ‘nur’ beim Mord-Versuch bleiben? Oder drückte Vater beim nächsten cholerischen Anfall gleich so kräftig zu, dass die Sauerstoffzufuhr in meinem Gehirn unterbrochen wird, bevor ...

Ja ... bevor was eigentlich geschehen konnte?

Bevor ich wieder kapitulierte?

Bevor mir jemand half? Mutter vielleicht dieses Mal?

Beides konnte ich vergessen.

Ich wollte nicht kapitulieren – sonst bräuchte ich doch gar nicht um meine Freiheit kämpfen.

Und Hilfe konnte ich von niemandem erwarten. Am wenigsten von meiner schwachen, untätigen Mutter, die mir noch nie geholfen hatte.

Damals, als Vater mich fast erwürgt hat, hörte sie mein Röcheln mit Sicherheit durch die angrenzende Türe, weshalb sie aus dem Schlafzimmer kam. Sie sah mich damals gekrümmt am Boden liegen. Röchelnd, um Atem kämpfend, in Tränen aufgelöst.

Sie hätte mir damals helfen MÜSSEN.

Jedem Kätzchen hätte sie geholfen, hätte es liebevoll aufgepäppelt, vielleicht sogar ins Krankenhaus gebracht, voll Sorge um die Würgemale am Hals oder sonstiger gesundheitlicher Schäden.

Mich ließ sie liegen.

Mich fragte sie nicht einmal, wie es mir ging oder was hier soeben los gewesen war!

Weil sie es wusste?

Die Antwort kann nur lauten: Ja!

Immerhin: Wäre sie tatsächlich ahnungslos gewesen, dann hätte sie doch gefragt, was sich hier soeben abgespielt hatte!

Ihr leibliches Kind, ihre 13-jährige Tochter lag röchelnd am Boden!

Welche Mutter schaut da weg?

Meine!

Daher war mir klar, dass Mutter ganz genau wusste, was zwischen Vater und mir lief und auch, wie brutal ich zu alldem gezwungen wurde.

Doch sie ging damals einfach nur aufs WC, sagte kein Wort und ließ mich wieder allein mit diesem Monster.

Sie half ihrer eigenen Tochter nicht einmal, als sie von ihrem Ehemann beinahe umgebracht worden wäre. Sie überließ mich einfach meinem Schicksal.

Und wartete auf das nächste Mal?

Sicherlich nicht bewusst.

Und doch tat sie es – durch ihr Nichtstun und Wegschauen.

Ich nahm Mutter immer in Schutz, wenn Außenstehende ihr Verhalten kritisierten. Vor allem Mütter, die ohne mit der Wimper zu zucken, für ihre Kinder ihr Leben riskieren würden, also ganz normale Mütter, können das Verhalten meiner Mutter einfach nicht tolerieren.

Und obwohl ich die Haltung jeder wirklich guten Mutter mehr verstehe als die Handlungsweise meiner eigenen, finde ich trotzdem entschuldigende Worte für sie.

Warum ich sie in Schutz nehme?

Weil ich wusste und weiß, dass sie selbst unvorstellbare Angst vor Vater gehabt haben muss und sie diese Angst mit Sicherheit lähmte.

Auch wenn sie genau diese Tatsache im Nachhinein seltsamerweise aufs Schärfste bestreitet!

„Wie sehr hast du unter Vaters Aggressionen eigentlich leiden müssen? Dein Leben mit ihm muss doch die Hölle gewesen sein“, fragte ich Mutter in einer Zeit, wo sie vor Vater keine Angst mehr haben musste. Mutter war weit über 70, als ich ihr diese Frage stellte und Vater stellte tatsächlich keine Gefahr mehr dar. Für niemandem. Sie konnte demnach offen und angstfrei antworten.

Doch völlig überraschend bestritt sie alles. „Wie kommst du darauf? Euer Vater hat mir nie etwas getan. Er hat mich nie geschlagen und ich weiß gar nicht, warum du das glaubst. Angst? Ich hatte doch keine Angst vor ihm! Es war alles in Ordnung bei uns.“

Aus psychologischer Sicht ist das Verhalten meiner Mutter nur mit einem ausgeprägten Verdrängungs-Mechanismus zu erklären. Eine Strategie, die sie sich einst zulegte, um die Zeit mit Vater überhaupt aushalten zu können und der sie treu blieb, um sich im Nachhinein vor Schuldgefühlen schützen zu können.

Mutters verzerrte Wahrnehmung präsentierte ihr eine heile Welt, die es nie gab: „Alles war in Ordnung. Ich habe nie etwas Negatives erlebt oder mitbekommen.“

Praktisch.

Dadurch wird ihre Tochter auch niemals berechtigt fragen können: Warum hast du mir nicht geholfen?

Dadurch wird aber auch das eigene Gewissen niemals fragen: Warum hast du deinem Kind nicht geholfen?

Weil eben alles in Ordnung war! Deshalb!

Ich toleriere daher ihre aus Selbstschutz aufgebaute Verdrängungs-Strategie und hakte damals nicht weiter nach. Sie soll mit ihren verbogenen Erinnerungen an ihre angeblich so heil gewesene Welt ihren Lebensabend genießen (... so sie das kann ...).

Auch deshalb, weil es für mich noch ungeheuerlicher wäre, wenn sie recht hätte.

Immerhin: Wenn sie tatsächlich vor Vater keine Angst gehabt hat und nie von ihm unterdrückt wurde, dann bliebe als Grund für Ihre unterlassene Hilfestellung und passive Tatenlosigkeit doch nur die unglaubliche Tatsache, dass ich ihr total egal gewesen bin. Oder sie vielleicht sogar froh darüber war, selbst nicht mehr Vaters sexuellem Trieb ausgesetzt zu sein.

Und auch wenn ich als Kind oft unter diesem Gefühl litt: Dass ich ihr wirklich so gleichgültig war, das will und kann ich noch viel weniger glauben.

Meine Angst vor der Debatte mit Vater war auch deshalb so enorm, weil er mit den Jahren immer brutaler und unmenschlicher geworden war. Ich erkannte die steigende Tendenz: Jeder Wutausbruch war in den Auswirkungen folgenschwerer und gewalttätiger geworden als der zuvor erlebte.

Zuerst waren da ‘nur’ Schläge, mit denen ich gefügig gemacht und domestiziert wurde.

Dann zerstörte er ‘nur’ die Gegenstände, die mich glücklich machten, wie meinen Cassetten-Recorder und meine Melodica.

Dann folgten Mord-Drohungen.

Dann ein Mordversuch, den ich gottlob überlebt hatte.

Meine mathematischen Fähigkeiten reichten aus, um das nächste ‘Dann‘ zu erahnen.

Wenn ich daher an die kommenden Stunden dachte, stieg pure Verzweiflung und Todesangst in mir auf. Ich fühlte, nein, ich wusste, dass es schier unmöglich war, was ich vorhatte.

Unmöglich und glatter Selbstmord!

Er würde mich nicht freigeben, er würde mich umbringen.

Dieses Mal vielleicht wirklich!

Bei der Heimfahrt stiegen immer wieder die Bilder in mir hoch, als ich seinerzeit wegen meiner Straßenbahn-Liebelei frei sein wollte und mutig dachte, eher sterben zu wollen, als so weiterzuleben. Spätestens als Vater seine Hände um meinen Hals gelegt und zugedrückt hatte, tötete er damals meinen letzten Widerstand ab.

Und doch: Jetzt war ich wieder bereit, mein Leben zu riskieren! Ich spürte den Druck von Vaters Händen noch immer auf meinen Hals, so stark war die Erinnerung in mir abgespeichert. Doch ich wollte und konnte doch nicht aus Angst um mein Leben ewig seine Sklavin bleiben!

Mit dem Mut der Verzweiflung erkannte ich: Dies war die Chance, auf die ich im Grunde meines Herzens doch immer gewartet hatte. Nun hatte ich Hilfe und einen Rückhalt.

Zwar nicht während des Gespräches mit Vater. Das musste ich allein schaffen. Aber mental war ich nicht allein. Fredis Worte kräftigten mich nachhaltig.

Ich streckte daher meinen Rücken durch und war bereit zu kämpfen. Vielleicht würde es ja diesmal nicht so schlimm werden...

Fredi wartete mit mir auf die Straßenbahn und stärkte mich zum Abschied: „Ich denke an dich, vergiss das nicht. Ich bin immer für dich da.“ Dann drückte er meine Hand und wartete, bis ich in den Wagon einstieg. Wir winkten einander zu, solange wir noch Blickkontakt hatten.

Dann war er aus meinem Blickfeld verschwunden und ich rutschte auf den Straßenbahn-Sitz.

Solange er bei mir war, fühlte ich mich stärker, doch plötzlich wurde ich wieder ängstlich.

Ich klammerte mich an Fredis letzte Worte: „Ich denke an dich.“

Während der Fahrt betete ich inständig zu Gott und hoffte, Gottes Hilfe und Fredis Worte würden mir in den kommenden Stunden helfen. Mit flauem Gefühl ging ich in die Höhle des Löwen.

Vater war gut aufgelegt, als ich nach Hause kam und fragte: "Na, wie war der Ausflug?"

"Schön", hielt ich meine Schilderung bewusst kurz und ging ins Kinderzimmer.

Nach dem Abendessen half ich mit Angi unserer Mutter beim Geschirrabwasch. Als Angela im Kinderzimmer war, um ihre Schulaufgaben zu machen und Mutter vor dem Fernseher saß, streckte ich den Rücken und ging zu Vater ins Schlafzimmer.

"Ich habe mich heute in Fredi verliebt", verkündigte ich, während ich mich auf den Bettrand setzte "Es ist ganz plötzlich geschehen", schoss ich noch nach, damit Vater nicht argwöhnisch wurde.

“Was ist denn passiert, dass du dich so plötzlich verliebt hast? Hast du mit diesem Fredi gevögelt?“

Ich zuckte bei diesen vulgären Worten zusammen, weil sie Zeichen steigender Gereiztheit waren, antwortete aber in ruhigem Ton: „Nein, es ist überhaupt nichts passiert, nicht einmal ein Kuss, doch wir waren fast den ganzen Tag beisammen und ich habe heute gespürt, dass er mir nicht gleichgültig ist. Ich möchte gerne seine Freundin sein.“

„Und wegen so einem Onanierer soll ich dich einfach ziehen lassen? Der hängt dir bestenfalls ein Kind an und verschwindet. Dann hätte ich ja alles, was ich mir für dich vorgenommen habe, umsonst getan. Nein, daraus wird nichts!“

Ich weinte: „Aber wer sagt denn, dass wir gleich gemeinsam ins Bett gehen? Ich will doch nur seine Freundin sein, an mehr denke ich doch gar nicht.“

„Du heuchelst, dass mir schlecht wird, bist doch ganz scharf auf einen neuen Schwanz! Und was wird aus mir? Ich soll wohl bleiben, wo der Pfeffer wächst!“, brüllte er.

“Du kannst ja nicht von mir verlangen, wenn ich einen Freund habe, dass ich dann noch weiterhin mit dir schlafe.“

Diese Antwort brachte ihn in Rage. Er schlug mir plötzlich so heftig ins Gesicht, dass ich dachte, die Englein singen zu hören.

Doch ich blieb trotz dieser Ohrfeige mit Tränen in den Augen und stumm weiter neben ihm sitzen und wagte nicht aufzusehen, um ihn nicht noch mehr zu reizen.

Um den brennenden Schmerz zu kühlen, hielt ich meine heiße Wange und wartete darauf, dass es jetzt noch schlimmer kommen würde, ob er mich wieder mit dem Umbringen bedrohen oder würgen würde.

Doch es blieb bei dieser Ohrfeige.

Allerdings war er wie von Sinnen in seinem Bestreben, mich von Fredi abzubringen. Ich blieb jedoch bei meinem Wunsch, Fredis Freundin zu werden, brachte diesen Wunsch durch die aufgeheizte Stimmung aber nur mehr kleinlaut und so demütig wie möglich zum Ausdruck.

So ging es stundenlang und immer, wenn ich aufgeben wollte, musste ich an Fredis Hand auf meinem Knie denken und an seine Worte: „Ich denke an dich.“

Während dieser Debatte hatte ich sicherlich einen Liter Tränenflüssigkeit vergossen, doch offenbar verfehlte meine Ausdauer ihre Wirkung nicht.

Irgendwann ließ Vater mich gehen und sagte: "Probiere es mit diesem Buben. Du wirst schon sehen, was dabei rauskommt!"

Ich war glücklich und konnte gar nicht erwarten, es Fredi am nächsten Tag zu erzählen.

Er wartete bereits bei der Straßenbahnhaltestelle auf mich. Leider war er nicht allein und vor den beiden Schulkolleginnen, die den gleichen Schulweg hatten, wollte ich ihm die gute Nachricht nicht sagen.

In der Straßenbahn saßen wir uns gegenüber und er fragte mich mit den Augen, wobei er nicht meinen Blick losließ, um zu erfahren, ob die Aussprache mit Vater gut oder schlecht verlaufen sei. Ich lächelte und nickte mit dem Kopf. Nachdem er glücklich zurück lächelte, wusste ich, dass er verstanden hatte.

Es war wie verhext. Wir waren den ganzen Schulweg nicht allein. Ständig redeten uns die beiden Mädchen an, sodass wir uns nicht absetzen konnten, um miteinander sprechen zu können.

Auf dem Weg in unsere Schulklasse, die im fünften Stock lag, wurde Fredi beim Stiegen steigen immer langsamer und ich blieb neben ihm. Gott sei Dank gingen die beiden Mädchen in ihrem flotten Tempo weiter, sodass wir im dritten Stock endlich allein waren.

Fredi zog mich an der Hand zu sich, lehnte sich an das Gangfenster und versuchte mich zu küssen. Und obwohl ich davon immer geträumt hatte, war ich auf einmal wie versteinert. Ich konnte den Kuss nicht zulassen.

In dem Moment, als ich seinen Mund nur so zart wie einen Schmetterlingsflügel auf meinen Lippen spürte, wandte ich mich panisch ab.

Unbegreiflich diese Reaktion.

Fühlte ich mich überrumpelt?

Schon möglich. Fredi hat mich so rasch zu sich gezogen, versuchte mich so hektisch zu küssen und das fünf Minuten vor Schulbeginn, die nächsten Schüler bereits im unteren Stockwerk lärmend, dass ich mit Sicherheit nur erschrocken war.

Nachdem ich mich abgewandt hatte, gingen wir schweigend in unsere Klasse.

In meinem Kopf schwirrte es und ich verstand mich selbst nicht. Ich wusste doch, wie man küsst. Vater zwang mich doch dazu und auch wenn mir davor schrecklich ekelte, ich musste es ständig tun.

Doch kaum will mich der küssen, von dem ich ständig träumte, konnte ich es nicht geschehen lassen?

Was war los mit mir?

Ich konnte mich einfach nicht verstehen.

Während der Unterrichtszeit konnte ich an nichts Anderes denken, als daran, warum ich so erschrocken war, als Fredi versucht hatte, mich zu küssen.

An diesem Tag vermied ich es auch, ihn in den Pausen zu sehen oder Blickkontakt aufzunehmen, weil ich mich zutiefst schämte.

Nach dem Schulunterricht gingen wir gemeinsam zur Straßenbahnhaltestelle und auf dem Weg dorthin nahm er meine Hand.

Nein, Korrektur: Er wollte sie nehmen, denn nicht einmal das konnte ich geschehen lassen.

Gleichzeitig war mir mein Verhalten furchtbar peinlich. Ich hatte Fredi wirklich lieb, aber so auf die Schnelle im Stiegenhaus der erste Kuss und am Heimweg das erste Händchenhalten, das war mir wohl zu unromantisch.

Dafür hätte ich die richtige Stimmung gebraucht. Nachdem es diese aber nicht gab, war ich in ständiger Abwehrhaltung und hasste mich auch noch dafür.

Als Fredi die Straßenbahn verließ, wollte er mir einen Abschiedskuss geben. Nachdem ich mich abermals abwandte, wurde ein kurzer, flüchtiger Wangenkuss daraus.

Daheim angekommen, fühlte ich mich wie betäubt. Ich wollte nur allein sein und nachdenken, warum ich so abweisend zu Fredi gewesen war.

Doch das dicke Ende dieses Tages kam erst durch Vaters bohrende Fragen: "Na, wie war es denn mit deinem Hosenscheisser?"

"Nichts war", wollte ich ausweichen.

"Was heißt: Nichts war! Was habt ihr nun gemacht? Habt ihr nun gevögelt oder nicht?"

"Nein, Papa. Es war wirklich überhaupt nichts!"

"Dann vergiss doch diese sinnlose Geschichte. Der Onanierer ist ja viel zu jung für dich."

"Papa, ich bin ja selber genauso jung und finde, wir passen daher sehr gut zusammen", wollte ich von Vaters Versuchen, mir Fredi auszureden, nichts wissen. Nur weil der Anfang nicht so gelaufen war, wie ich es mir erträumt hatte, so hatte sich doch an meinen Wünschen und Träumen nichts geändert.

Vater begann allerdings wieder, wie am Vortag, zu drohen und so ordinär zu schimpfen, dass ich diese Worte nicht wiederholen möchte.

Irgendwann wurde ich im Laufe des Abends einfach zu müde, um weiterzukämpfen.

Einerseits erkannte ich, dass Vater mich sowieso nie in Ruhe lassen würde. Selbst wenn ich an jenem Tag stark bleiben würde, am nächsten würde er mich doch wieder mit Drohungen und Schlägen weich kriegen.

Oder am übernächsten.

Oder am überübernächsten.

Andererseits war ich gerade an diesem Tag durch die seltsame Art, wie ich auf Fredis Annäherungsversuche reagiert hatte, so verunsichert, dass ich dachte, nicht mehr normal empfinden zu können.

Ich war plötzlich davon überzeugt, dass einiges mit mir nicht stimmte, dass die Störung, die ich durch Vaters Missbrauch erlitten hatte, nicht nur körperlicher Natur war, sondern die seelischen Schäden mich inzwischen empfindungslos gemacht hatten.

Das konnte ich Fredi nicht antun. Das hatte er sich nicht verdient. Er hat so lange auf mich gewartet, stand so fest hinter mir und ich wies ihn ab, kaum dass er sich mir näherte.

Deprimiert und kraftlos wartete ich daher nicht darauf, ob mich Vater wieder schlagen oder würgen würde; ich gab relativ rasch auf.

Ich konnte einfach nicht mehr kämpfen.

Anschließend ließ ich Vaters Pflichtsex über mich ergehen und war froh, ohne weitere Diskussionen in mein Zimmer gehen zu können.

Mit schwermütiger Musik weinte ich mich in den Schlaf.

Jetzt hatte ich nicht einmal mehr Hoffnung.

Meinen Traum, mit einem Prinzen den Absprung in ein normales Leben zu schaffen, hatte ich durch mein unverständliches Verhalten selbst zerstört. Ich sah keinen Ausweg und die letzten Gedanken, die ich vor dem Einschlafen hatte, waren, dass mein Leben nur mehr aus unendlicher Qual bestand.

Eine Qual, die scheinbar nie enden würde.

Ich überlegte, mir eine von Vaters Rasierklingen zu nehmen, mich in die Badewanne zu legen und die Pulsadern aufzuschneiden. Doch selbst dazu war ich in jenem Augenblick zu müde, zu niedergeschlagen und viel zu kraftlos.

Ich schlief mit Tränen-verklebten Augen ein und erwachte am nächsten Morgen doch wieder. Scheinbar stirbt man nicht allein durch den Wunsch, sterben zu wollen; sonst wäre ich in jener Nacht gestorben.

Am nächsten Tag stand ich wie ein seelenloser Roboter auf und ging wie immer in die Schule.

Fredi traf ich diesmal nicht in der Straßenbahn, was mir recht war. Doch er wartete auf mich vor der Klasse.

"Vergiss die Sache mit mir", erklärte ich kurz angebunden und ohne Angabe von Gründen. Dabei fühlte ich mich wie betäubt. Fredi sagte kein Wort, wirkte nur verwirrt und traurig.

Im Laufe der Zeit wurde mir allerdings klar, dass ich einen schweren Fehler begangen hatte.

Ich hätte weiterkämpfen müssen!

Immerhin hatte ich Fredi nach wie vor lieb, meine Sehnsucht war doch noch immer da.

Heftig und leidenschaftlich!

Wir hätten lediglich Zeit gebraucht.

Durch die negative sexuelle Erfahrung, die ich mit Vater gemacht hatte, war ich doch keineswegs erfahren in Liebesdingen.

Ich erkannte, dass Vaters Sex und echte Liebe, wie ich sie für Fredi empfand, völlig unterschiedliche Dinge waren.

Als für mich Gefühle im Spiel waren, war ich genauso unsicher wie jedes junge Mädchen.

In Sachen Liebe, nämlich echter Liebe, war ich unerfahren. Mein Verhalten war daher sicherlich normal und ich hatte mir eingeredet, eine Störung zu haben.

Trotzdem konnte ich das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen.

Der Schulschluss kam immer näher und Fredi und ich mussten uns mit dem Gedanken vertraut machen, einander bald Adieu sagen zu müssen.

In den letzten Schulwochen gab es oft Freistunden. Fredi hatte einen Kassettenrecorder mitgebracht und wir hörten Musik. Bei Paul Ankas: „I don´t like to sleep alone“, fraßen wir einander mit den Augen. Ich hatte das Gefühl, als hätte Paul Anka dieses Lied nur für uns gesungen. Noch heute muss ich an jene Stimmung denken, wenn ich dieses Lied höre. Es wurde für mich zum Ausdruck unserer unerfüllten Sehnsucht.

Der letzte Schultag war für mich der traurigste Tag meines bisherigen Lebens. Schon auf dem Weg zur Schule weinte ich. Fredi saß neben mir in der Straßenbahn, zog ein Päckchen aus der Tasche und überreichte es mir.

„Das habe ich für dich gekauft, als ewiges Andenken an mich“, sagte er und sah mir dabei tief in die Augen. Das Päckchen beinhaltete eine wunderschöne, filigran verarbeitete silberne Schmetterlings-Brosche. Ich hätte sie gerne angenommen.

"Danke, aber ich darf und kann dieses Geschenk leider nicht annehmen", lehnte ich die Annahme des Schmuckstückes jedoch ab, da mir klar wurde, dass ich die Brosche nirgends sicher genug vor Vater verstecken hätte können.

„Aber ich habe sie nur für dich gekauft“, wollte er das Geschenk nicht zurücknehmen.

„Ich weiß und die Brosche gefällt mir sehr. Sie ist wunderschön“, schwärmte ich, „aber ich kann sie wirklich nicht annehmen.“

Schweren Herzens und mit einem tiefen Seufzer steckte er das Päckchen daher wieder ein.

Auf dem Heimweg nach der Zeugnisverteilung saß ich abermals neben ihm in der Straßenbahn und weinte unaufhörlich.

Fredi konnte mit mir kein vernünftiges Wort sprechen, da ich einfach nicht zu flennen aufhörte.

Ich hätte mich so gerne in seine Arme geschmiegt, wollte ihn bitten: ‘Lasse mich nie wieder aus und bringe mich weg von Vater’. Doch das waren unmögliche Wünsche. Ich musste vernünftig bleiben.

Deshalb gab ich Fredi zum Abschied die Hand, ein letztes: „Servus“, und meine erste Liebe stieg aus, war weg.

Panisch überschlugen sich meine Hollywood-gefärbten Gedanken, während ich weiterfuhr: „Wenn ich jetzt aussteige, zu ihm zurücklaufe und wir uns in die Arme fallen?“

Und was dann?

Es ging ja nicht!

Es ging einfach nicht.

Ich blieb sitzen und fuhr nach Hause.

Die kommende Zeit war furchtbar. Niemand durfte wissen, wie ich mich fühlte, dabei fühlte ich mich so scheußlich. Für Fredi hatte ich mich jeden Tag hübsch gemacht. Doch jetzt? Ich wusch mir in den ersten beiden Ferienwochen nicht einmal mehr die Haare. Wozu auch?

Erst als mein Haar fettig wurde und die Kopfhaut zu jucken begann, überwand ich meine Lethargie und wusch mir die Haare doch wieder.

Als ich mich mit frisch gewaschenen und geföhnten Haaren im Spiegel betrachtete und das Mädchen, das mir entgegenblickte, einigermaßen annehmbar fand, kam ein bisschen Lebenswillen zurück.

„Du siehst wenigstens nicht schlecht aus. Irgendwann wirst du schon noch Glück im Leben haben. Irgendwann, irgendwie ...“ verkündete ich mit skeptischem Optimismus meinem Spiegelbild.

Kapitel 6.3

Nach den Ferien begann ich bei einer Handelsfirma als Stenotypistin zu arbeiten. In der Büroschule war Stenografie mein Lieblingsfach gewesen und auch Maschineschreiben machte mir Spaß. Weil ich in diesen Gegenständen die Klassenbeste war, dachte ich, die geborene Stenotypistin zu sein.

Die Ernüchterung folgte: Ich war zwar als Stenotypistin aufgenommen worden, beschäftigt wurde ich jedoch als billige Hilfskraft, die in der Herrenkollektionsabteilung handschriftlich Lieferscheine ausfüllte zum Versand von Anzügen in die verschiedenen Filialen dieser Handelskette.

Die dazugehörenden Herren-Anzüge waren in einem riesigen Lager von mir aus den endlosen Reihen rauszusuchen, wozu ich mit langen Stangen die Anzüge aus den hohen Lagerregalen heben, auf fahrbare Kleiderwägen hängen und meine ausgefüllten Lieferscheine dazu heften musste.

Mit einem Wort: Ich hatte einen reinen Hilfsarbeiter-Job. Die Kollegen waren allesamt schlecht gelaunt und der Arbeitsplatz war ein finsteres Keller-Loch ohne Sonnenlicht.

Ich verließ diese Firma nach einer Woche und begann noch im selben Monat beim Kreditschutzverband als Stenotypistin zu arbeiten.

Diesmal wurde wirklich eine Stenotypistin gesucht und hier musste ich erkennen: Ich war keine!

Nur weil ich in der Schule gut gewesen war, bedeutete das nicht, dass ich für das Berufsleben bereits genug Erfahrung und Kenntnisse besaß!

Doch das wusste ich bei der Einstellung noch nicht.

Mir wurde es aber bald klar.

Vor Nervosität bekam ich kaum ein fehlerfreies Blatt aus der Schreibmaschine. Korrekturtasten hatten die klappernden, mechanischen Schreibmaschinen in den 70-er Jahren nicht und von den heute auf jedem PC möglichen Korrekturmöglichkeiten, konnte man damals nur träumen.

Seinerzeit blieb jeder Tipp-Fehler ein nicht tolerierbarer Schandfleck und nachdem Fehlerlosigkeit in Anwalt-Briefen Voraussetzung gewesen wäre, war ich bald am Verzweifeln. Ich schrieb ein Dokument immer und immer wieder, jedes Mal nervöser und fehlerhafter werdend.

Wurde ich zum Diktat gerufen, wollte ich nicht eingestehen, wenn das Sprech-Tempo zu schnell war. Schweigend und panisch schmierte ich mein Stenogramm auf den Block – und – konnte natürlich meine Mitschrift danach teilweise nicht mehr lesen. Ein beispielloses Drama war das für mich!

Dabei war ich in der Schule doch die Beste gewesen!

Ich haderte mit mir und mein Selbstwertgefühl sank auf null.

Da hatte ich endlich in einem Bereich meines Lebens Selbstbewusstsein entwickelt und musste gleich erfahren, dass es gerade in diesem Bereich völlig unangebracht war.

Meine Chefin rief mich bald zu sich. Dass sie es gut meinte, erkannte ich sofort. Warmherzig bat sie mich, Platz zu nehmen, reichte mir ein Mineralwasser und sah mir in die Augen, als sie ihre erste Frage stellte.

„Warum beginnen Sie gleich nach der 9-jährigen Schulpflicht zu arbeiten und machen nicht, wie viele Jugendliche, eine kaufmännische Lehre?“

„Ich wollte mehr Geld verdienen als ein Lehrling. Außerdem war ich in der Schule die Beste in Stenographie und liebe das Maschine-Schreiben. Daher dachte ich, dass ich meinen Traumberuf sofort ausüben kann“, antwortete ich ehrlich.

„Sie werden sicherlich einmal gut werden. Doch derzeit erbringen sie keine brauchbaren Leistungen, was Sie sicherlich schon selbst bemerkt haben.“

Ich nickte und spürte ein verdächtiges Brennen in meinen Augen.

„Das sollen Sie jedoch nicht als persönliches Versagen sehen. Sie sind einfach noch viel zu jung und ich habe erkannt, dass Sie außerordentlich nervös sind. Daher rate ich Ihnen zu einer dreijährigen Ausbildung, um Wissen und Routine zu erlangen. Eines sollten Sie nämlich wissen: Selbst, wenn Sie eines Tages noch so gut, oder sogar besser als Ihre Kolleginnen werden, sie würden ohne anerkannte Ausbildung stets als Hilfskraft bezahlt werden. Das wäre doch schade. Beißen Sie daher in den sauren Apfel und gehen Sie Ihr Leben richtig an: Beginnen Sie eine fundierte kaufmännische Ausbildung!“

Nach zwei Wochen wurde ich von dieser Abteilung, wo ich freundliche Kolleginnen und eine nette Chefin hatte, in eine andere Abteilung versetzt, wo ich nicht mehr stenographierte, sondern nur mehr tippte.

In dieser Abteilung saß eine ältere Frau die mich schon bei der Begrüßung abfallend musterte und in deren Gegenwart es mich fröstelte. Scheinbar war mir mein Ruf als ’Super-Maschinschreib-Wunder‘ vorausgeeilt und die Kollegin hat sich gegen mein ‘hilfreiches’ Aufkreuzen nicht wehren können.

Aus heutiger Sicht wurde mir wahrscheinlich noch eine letzte Chance gegeben und diese Mitarbeiterin musste sie mir geben, ob sie wollte oder nicht. Nachdem sie ziemlich durchschaubar zweiteres bevorzugt hätte, behandelte sie mich auch wie einen Blindgänger, der selbst zum Tippen zu dumm war.

Bei meinen verzweifelten Versuchen, mein wahres Können zu zeigen, schüttelte sie jedes Mal verächtlich den Kopf, wenn ich ein missglücktes Blatt so unauffällig wie möglich aus der Maschine zog, um (möglichst heimlich) für einen neuerlichen Versuch ein neues Blatt einzuziehen.

Meine Leistungen ließen in dieser kalten Umgebung noch mehr nach, obwohl das kaum mehr möglich war.

Ich weiß gar nicht, ob ich jemals ein fehlerfreies A 4-Blatt aus der Maschine gezaubert hatte, und wenn, war das purer Zufall. Bald bekam ich die segensreiche Rechnung präsentiert: In der Probezeit wurde mir gekündigt (nachdem wahrscheinlich der Papierverbrauch Dimensionen erreichte, die mit dem Erfolg meiner Arbeit nicht mehr gegenzurechnen war).

Ich sehe und sah dies schon damals als Segen, weil ich mir inzwischen die guten Ratschläge der lieben Vorgesetzten zu Herzen genommen hatte und bereits ernsthaft überlegte, ob ich nicht doch eine Lehre beginnen sollte.

Nun stand ich ohne Job da und hatte noch einmal die Möglichkeit, zu wählen. In dieser Situation entschied ich, den Rat der netten Vorgesetzten in die Tat umzusetzen, falls es überhaupt noch eine freie kaufmännische Lehrstelle gäbe. Es war bereits Ende September und das Berufsschuljahr hatte Anfang September begonnen.

Vater ging mit mir zum Arbeitsamt und wir hatten Glück. Es gab tatsächlich noch eine Lehrstelle als Industriekaufmann bei einer großen Elektrofirma.

Diese Stelle war von einem Lehrmädchen belegt gewesen, das durch Arbeitsunwilligkeit und frechem Verhalten den Kollegen gegenüber, ihre Kündigung im Probemonat provoziert hatte.

Ich habe in meiner gesamten Berufslaufbahn nie wieder erlebt, dass sich ein Lehrling bereits im Probemonat so schlecht benommen hat, dass man sich zur Kündigung entschließen musste. Und ich kannte viele Lehrlinge. Hier muss Gott die Hand im Spiel gehabt haben, dass der einzige, aufsässige Lehrling, den ich kennen lernte (bzw. nicht mehr kennen lernte) mir den Weg für eine solide kaufmännische Ausbildung in einem hervorragenden Unternehmen freimachte – und das Ende September! Ich glaube, bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich bereits so viel Leid erlebt, dass Gott begann, mich auch mit ein wenig Glück zu verwöhnen und ganz langsam aus dem Fegefeuer wieder in das Leben führte.

Ich fing im Oktober in meiner ersten Abteilung, dem Lohnbüro, als Lehrling an. In dieser Abteilung saßen zwei ältere Herren, eine ältere Dame und zwei junge Frauen, allesamt nett. Sie erkannten, wie schüchtern ich war und behandelten mich entgegenkommend und rücksichtsvoll.

Hinter mir saß Silvia, ein sommersprossiges Lehrmädchen mit rotblonder Kurzhaarfrisur.

Sie war groß und burschikos, wirkte auf den ersten Blick etwas herb mit ihrer tiefen Stimme und befand sich schon im dritten Lehrjahr. Silvia wies mich in alle ‘wichtigen Nebensächlichkeiten’ des Arbeitslebens ein: Wo ist die Küche, die Kantine, wann und wie lange ist die Mittagspause. Zudem machte sie mich mit den anderen Lehrlingen bekannt und – sie wurde meine Freundin.

Es tat so gut, wieder jemanden zu haben, mit dem ich reden konnte.

Ich plauderte allerdings nur mit Silvia.

Mit den ’Erwachsenen‘ in der Abteilung getraute ich mich nicht zu reden. Zumindest nichts Privates. Aus Schüchternheit hob ich meine Stimme nur, wenn ich angesprochen wurde oder fachliche Fragen hatte.

Daher wurde in dieser Abteilung auch nichts Persönliches mit mir gesprochen.

Die junge Frau mir gegenüber, schaute mich stets fragend an und wunderte sich wohl, wie es ein so stilles Mädchen wie mich überhaupt geben konnte.

Wäre ich ein bisschen aus mir rausgegangen, meine Kollegen hätten sich sicherlich mit mir unterhalten.

Sie waren nicht arrogant.

Doch ich war einfach nicht zugänglich durch mein nicht existentes Selbstwertgefühl. Ich fühlte mich als Kind unter Erwachsenen und wäre nie auf den Gedanken gekommen, einen Erwachsenen anzusprechen.

Zu tief hatten sich die mir eingeprügelten Anweisungen meiner Eltern in mir verankert: „Wenn Erwachsene reden, haben Kinder zu schweigen.“

Außerdem wirkte der moralische Dämpfer, den ich vom Kreditschutzverband verpasst bekommen hatte, nämlich, dass ich auch arbeitsmäßig eigentlich nicht zu gebrauchen war, nach.

Ich konzentrierte mich enorm auf die mir gestellten Arbeiten und wollte nicht wieder eine Blamage erleben und als unnütz abgeschoben werden.

Daher war ich heilfroh, hier nicht mit der Schreibmaschine konfrontiert zu werden, und das, obwohl ich stets so gerne auf der Maschine geschrieben hatte!

Die Arbeiten, die ich hier erledigen sollte, waren typische Lehrlingsarbeiten, wie Zettel schlichten, Ablage, Abloch-Belege sortieren, Botendienste.

Doch diese Arbeiten beherrschte ich rasch und fehlerlos und mein Selbstwertgefühl stieg wieder etwas (wenigstens für Deppenarbeit war ich zu gebrauchen – also war ich doch nicht ganz nutzlos).

Als ich Silvia von meiner geplatzten ‘Stenotypisten-Karriere’ erzählte, meinte sie kopfschüttelnd: „Rom ist ja auch nicht an einem Tag erbaut worden, alles kostet seine Zeit. Du darfst nicht vergessen, dass du erst 15 Jahre alt bist und da wolltest du schon die perfekte Stenotypistin sein? So ein Blödsinn! Ich habe eine Idee: Wenn ich das nächste Mal eine Arbeit auf der Schreibmaschine erledigen muss, gebe ich sie dir, denn ich hasse das Tippen und du kannst es wieder probieren. Hier reißt dir keiner den Kopf ab, wenn du Fehler machst. Das ist nämlich der Vorteil, wenn man Lehrling ist, man lernt ja erst.“

Das erschien mir logisch. Und siehe da: Ohne Druck wurde ich tatsächlich eine gute Schreibkraft. Ich bremste meine Geschwindigkeit und erntete dafür Fehlerfreiheit; was letztlich viel wichtiger war.

Künftig übernahm ich daher alle Arbeiten freiwillig, die auf der Schreibmaschine zu erledigen waren und, was das Maschine-Schreiben betraf, gewann ich mein verlorenes Selbstwertgefühl wieder zurück.

Arbeitsmäßig war ich eine Biene und kaum lag Arbeit auf meinem Platz, wurde sie von mir auch schon erledigt.

Mir war keine Arbeit zu eintönig, ich rebellierte nicht wie andere Lehrlinge, die auch geistreichere Arbeiten forderten, ich arbeitete gerne und war nicht wählerisch, obwohl es auch mich freute, wenn ich anspruchsvollere Aufgaben erledigen durfte.

Dass ich mit den erwachsenen Kollegen kaum persönlichen Kontakt hatte, berührte mich nicht, denn erstens hatte ich Silvia zum Plaudern und zweitens war ich es gewohnt, von Erwachsenen nicht als vollwertig betrachtet zu werden.

Es war in diesem Unternehmen üblich, jedes halbe Jahr in eine andere Abteilung zu wechseln, damit die Lehrlinge Grundkenntnisse in den Aufgaben des Lohnbüros, Buchhaltung, Einkauf, Verkauf, Werbung und Arbeitsvorbereitung sammelten.

Nachdem meine Kollegen meine Arbeitsweise schätzten, blieb ich auf deren Bestreben anstatt eines halben Jahres, ein dreiviertel Jahr im Lohnbüro. Das war mir recht, weil ich mich dadurch nicht so schnell auf eine neue Abteilung und neue Kollegen einstellen musste.

In der Berufs-Schule wurde ich zur wissbegierigen Streberin. Ich verlagerte meine Energien in den Unterricht und füllte die Leere, die ich nach dem Verlust von Fredi spürte, bewusst mit Wissen. Zum ersten Mal erlebte ich, wie schön es ist, zu lernen. Ich interessierte mich für alles und sog Wissen gierig in mich auf.

Männliche Mitschüler interessierten mich nicht. Anders als in der Büroschule, hielt ich nicht mehr Ausschau nach einem Prinzen. Ich hatte meinen doch bereits gefunden und durch eigene Schuld wieder verloren. Mein Liebeskummer tat noch immer weh, ich weinte mich täglich in den Schlaf und vermisste Fredi schrecklich. Oft träumte ich, wie es hätte sein können.

Diese Träume und Musik waren meine einzigen Freuden geblieben.

Und Lernen wurde zu meinem Ersatz-Programm. Mein Wissensdurst blieb nicht ohne Erfolg und ich erlangte jedes Jahr ein Vorzugszeugnis. Am Ende der Lehrzeit verlieh mir der Stadtschulrat als einzige Schülerin der Klasse ein Diplom für ausgezeichnete Schulleistungen.

Was hätte ich alles erreichen können, wenn ich meine Wissbegierde schon in der früheren Schulzeit zielorientiert eingesetzt hätte! Doch damit stehe ich nicht allein da. Diese, zu späte Einsicht, teile ich mit vielen, denen ‘der Knopf erst zu spät aufgeht‛.

Aufgrund meiner Schulleistungen riet mir mein Klassenvorstand am Ende der Berufsschule: "Brenda, Sie sollten die Matura in Abendkursen nachholen. Sie haben das Potential und es wäre schade, diese Chance nicht zu nutzen." Dieser Gedanke faszinierte mich und ich strebte es an, doch ich will nicht vorgreifen.

Anders als in der Büroschule kam eine gute Klassengemeinschaft in der Berufsschule nicht zustande, weil wir nur einen ganzen und einen halben Schultag in der Woche Schulunterricht hatten.

Lediglich mit Gerda, die neben mir saß, freundete ich mich an. Dieses zarte, dunkelhaarige Mädchen nahm alles auf die leichte Schulter, hatte eine schnoddrige Art und naschte den ganzen Tag Gummibärli.

Mit ihr verband mich noch lange nach der Schulzeit eine intensive Freundschaft.

Nachdem mein neues Leben reibungslos lief, ich neue Freunde, Kollegen und Lebensinhalte hatte, wuchs doch mit der Zeit meine Unruhe: Wie sollte mein Leben weitergehen? Würde ich noch als 30-Jährige - oder gar mein ganzes Leben lang - Vater zu Willen sein müssen? Meine Unruhe wuchs im gleichen Ausmaß wie meine Sehnsucht nach Fredi.

Ich hatte ihn in den Ferien einmal kurz gesehen, als ich mit dem Mistkübel in unseren Hof ging, um den Müll zu entsorgen. Gerade in dem Moment, als ich zur Haustüre hinaussah, ging Fredi zufällig vorbei und sah zur Türe rein, sodass sich unsere Blicke trafen. Ich war wie elektrisiert.

Wie konnte es so einen Zufall geben, dass Fredi genau in diesem Augenblick hier vorbeiging und auch hereinsah? Noch dazu, wo er gar nicht in der Nähe wohnte!

... dass er den ganzen Tag vor der Haustür auf und ab ging, immer reinguckend, ob ich zufällig komme, nur, um mich zu sehen, so eine unwürdige und lächerliche Aktion schloss ich definitiv aus ... (wissen tu ich es aber nicht)

Es muss Schicksal gewesen sein, dachte ich damals und glaube es noch heute. Gerade in dem Augenblick, wo ich schon aus Selbstschutz begann, ihn halbwegs zu vergessen, sah ich ihn durch einen so unwahrscheinlichen Zufall, der von Sekundenbruchteilen entschieden wurde, wieder. Er kam in den Hausflur und begrüßte mich mit einem Handschlag.

„Servus! Wie geht es dir?“

„Danke, gut! Und dir?“

"Auch gut! Danke der Nachfrage!"

Ein Blick. Ein Händedruck. Befangenheit. Und weg war er.

Und mit ihm meine mühsam erkämpfte Selbstbeherrschung. Die Wunde war wieder aufgerissen und blutete heftiger als je zuvor.

Alles in mir war wieder in Aufruhr.

Mir war klar, dass es so einen Zufall nicht geben konnte. Ich fühlte, das war ein Wink des Schicksals und ich musste daraus Konsequenzen ziehen. Ich sollte ihn nicht vergessen, er war mir bestimmt.

Diese Gedanken quälten mich noch einige Monate, bis ich endlich den Mut aufbrachte, mich gegen mein Schicksal erneut aufzubäumen.

Zu jenem Zeitpunkt ging ich jeden Mittwochabend in den Gitarre-Unterricht. Angi und ich hatten nämlich zu Weihnachten eine Gitarre bekommen und ich wollte das Gitarre-Spiel von der Pieke auf erlernen.

Akkorde klopfen konnte ich bald, doch ich wollte mehr können. Ich erlernte bei einer pensionierten Musik-Lehrerin das Spiel vom Blatt und bald spielte ich die ersten, leichten Flamencos.

Ursprünglich war auch Angi in die erste Gitarre-Unterrichtsstunde mitgegangen, weil sie das Instrument ebenfalls spielen wollte.

Doch als sie vernahm, dass man von ihr erwartete, nach Noten zu spielen, was bedeutete, dass sie Noten lernen müsste, zog sie es vor, schon ab der zweiten Gitarre-Stunde durch Abwesenheit zu glänzen.

Sie lehnte die Gitarre als Staubfänger in eine Ecke und beendete ihre musikalische Entwicklung noch bevor sie begann.

Notenlernen? Igitt!

Ich allerdings war begeistert. Endlich konnte ich ein Musikinstrument wirklich erlernen, nicht nur selbst einstudierte Melodien nachspielen, wie ich es mit der Melodica getan hatte.

Klavier spielen zu lernen, war zwar stets mein größter Traum gewesen. Doch für dieses Instrument fehlte der Platz ebenso wie Geld.

Gitarre spielen, war für mich aber kein fauler Kompromiss. Ich ging schon einige Monate begeistert in den Unterricht, liebte den Saiten-Klang der entstehenden Harmonien und spielte dieses Instrument leidenschaftlich gerne.

Dadurch, dass Angela vom Gitarre Unterricht abgesprungen war, wurde mir bewusst, dass der Mittwochabend die einzige Freizeit war, die ich hatte. Diese Freizeit nützte ich, um Fredi eines Tages anzurufen. Treffender: Ich versuchte es mit klopfendem Herzen, doch er war nicht daheim.

"Darf ich etwas ausrichten?", fragte seine Mutter, die meinen Anruf entgegengenommen hatte. Sie hatte eine jugendliche Stimme und meinte lachend: "Fredi wird immer böse, wenn ich nicht ausrichte, wer angerufen hat."

"Danke, aber ich rufe wieder an", beendete ich rasch das Telefonat ohne Namen und Telefonnummer zu hinterlassen.

Womöglich hätte Fredi zurückgerufen! Wäre Vater am Telefon gewesen, dann … An die Konsequenzen wollte ich gar nicht denken.

Abermals hatte ich Zeit, um nachzudenken. Unschlüssig und beunruhigt über meine Courage überlegte ich: „Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass ich ihn nicht erreicht hatte. Vielleicht soll ich es bleiben lassen. Noch habe ich die Wahl.“

Diesen Gedanken wälzte ich eine Woche, bis ich mich entschloss, mein Vorhaben doch durchzuführen. Ich rief wieder an. Und ich erreichte ihn!

"Ich freue mich so sehr, dass du anrufst. Als mir meine Mutter vergangene Woche gesagt hat, dass eine junge Dame, die aber keine Nachricht hinterlassen wollte, für mich angerufen hat, habe ich schon geahnt, oder viel mehr gehofft, dass du es warst und du dich wieder meldest."

"Ja, das war ich. Aber ich konnte keine Nachricht hinterlassen. Ich hoffe deine Mutter war deshalb nicht böse."

"Nein, meine Mutter nicht. Aber ich war ganz unruhig. Egal, jetzt bist du ja am Apparat. Wie geht es dir denn? Ist etwas passiert? Brauchst du Hilfe?"

"Nein, danke. Es geht mir gut. Ich würde mich nur gerne mit dir treffen. Ich habe zwar nur mittwochs kurz vor meinem Gitarre-Unterricht Zeit. Aber ich werde versuchen, zehn Minuten früher wegzufahren, somit hätten wir Zeit, um miteinander zu sprechen.“

"Das wäre toll. Ja, so machen wir es!"

Dieses Telefongespräch führten wir kurz vor Weihnachten und unser Treffen war für den ersten Mittwoch im neuen Jahr, vereinbart. Ich fühlte mich nach dem Gespräch wie auf Wolken, hätte singen und tanzen können vor Freude und träumte fortan auch Tag und Nacht von unserem Treffen. Ich malte mir in den buntesten Träumen unser Wiedersehen aus und konnte es kaum erwarten.

Mittwoch, 7.1.1976: Fredi wartete schon zum vereinbarten Zeitpunkt bei der Station, als ich aus der Straßenbahn ausstieg.

Wir gaben uns zur Begrüßung die Hand und gingen gemeinsam zum Haus der Musik-Lehrerin. Dabei unterhielten wir uns über unsere Arbeitsplätze und Fredi erzählte von seiner Mutter, die sich von einer schweren Unterleibsoperation erholen musste.

Ich konnte mitfühlen, denn meine Mutter hatte sich ebenfalls erst vor kurzem einer Totaloperation unterziehen müssen.

Wir erkannten, dass unsere Mütter scheinbar vieles gemeinsam hatten - nicht nur gleiche Krankheiten, sondern auch aggressive und dominante Männer.

Oder waren die Krankheiten unserer Mütter gar nicht zufällig die gleichen?

Gab es womöglich einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Lebenssituation??

Heute bin ich sicher: Ja! Die Krankheiten meiner Mutter sind sicherlich Vaters ’Verdienst‘. Sie durchlitt ihre unausgesprochenen seelischen Qualen durch körperliche Krankheiten noch einmal, weil sie schluckt und schluckt - und – davon krank wird.

„Warum wolltest du früher nicht mit mir fortgehen und tust es jetzt heimlich?“, brannte Fredi eine Frage auf der Zunge.

„Weil es mein Vater nicht erlaubt“, erklärte ich kurz und wenig aufschlussreich.

Inzwischen waren wir beim Haus meiner Gitarre-Lehrerin angelangt und Fredi begleitete mich in den Hausflur. Wir gingen um die Ecke, wohinter sich der Stiegen Aufgang befand. Dort lehnte er sich an ein Gangfenster und zog mich ganz sacht zu sich. Diesmal ließ ich es geschehen.

Er küsste mich sanft auf die Lippen und als er merkte, dass ich mich nicht wehrte, sondern enger an ihn schmiegte, öffnete er meine Lippen mit den seinen zu einem leidenschaftlichen Zungenkuss.

Ich fühlte, wie ich schwerelos zu werden schien und nahm, wie durch einen Nebel wahr, dass er seine Hände unter meinen geöffneten Mantel schob, um meinen Körper zu spüren.

Dabei drückte er mich so fest an sich, dass wir beinahe eins wurden. Ich fühlte seine Finger auf meiner Haut, spürte, wie sich seine Hände unter meine Bluse schoben, er mit seinen Händen über meinen Rücken strich, mich immer wieder küssend.

Ich ließ es geschehen, mehr noch, ich drückte mich ihm entgegen und fand nichts Unanständiges dabei, wie, und dass er mich berührte. Deutlich spürte ich seine Erregung und empfand selbst eine niemals vorher empfundene körperliche Erregtheit.

Seine Lippen auf meinen, seine Hände auf meiner Haut, zärtlich und doch leidenschaftlich, nichts schien mir in diesem Augenblick anstößig. Wir hatten so lange darauf warten müssen, einander zu berühren, zu küssen und ließen dieser Leidenschaft freien Lauf.

All unsere Sehnsüchte, die aufgestauten Gefühle, die wir monatelang verbergen mussten, entluden sich hier, in diesem kalten Stiegenhaus, kurz vor Beginn der Gitarre Stunde. Falls jemand diese Szene beobachtet hätte, wir hätten es nicht bemerkt, so sehr waren wir der Realität entrückt.

Erst die knarrende Tür, die sich im zweiten Stock öffnete, weil die Klavierschülerin, die vor mir Unterricht hatte, die Musiklehrerin verließ, brachte uns in die Wirklichkeit zurück. Wir fuhren auseinander.

Dann drückte er mich ein letztes Mal an sich, hielt dabei meinen Kopf an seine Brust.

Ich spürte seinen Herzschlag, als er mich flüsternd beschwor: „Sprich doch bitte mit deinem Vater. Du wirst sehen, alles wird gut. Ich bin für dich da, vergiss das nicht!“ Er strich dabei leicht über mein Haar und verabschiedete sich mit einem kurzen Kuss, weil die Schritte der Klavierschülerin klappernd näherkamen und er mich nicht kompromittieren wollte.

Sehr aufnahmebereit war ich in der kommenden halben Stunde des Unterrichts nicht. Auch den Heimweg verbrachte ich in Halbtrance. Nach der Gitarre-Stunde ließ Vater mich meist in Ruhe, so auch an diesem Tag.

Diese Ruhe genoss ich, denn ich träumte mich in den Schlaf, diesmal nicht mit erfundenen Bildern. Ich träumte von Fredis Küssen, die so real waren, dass ich beim Einschlafen seine Lippen noch auf meinem Mund spürte und seine suchenden Hände noch immer auf meiner Haut fühlte.

Auch die kommenden Tage verbrachte ich wie im Trance. Noch nie in meinem bisherigen Leben hatte ich so aufwühlende Gefühle erlebt, noch nie ein so intensives Glücksgefühl erleben dürfen.

Ich war unbeschreiblich glücklich und unglücklich zugleich: Wir hatten uns für den kommenden Mittwoch verabredet und ich konnte es nicht erwarten, ihn wieder zu sehen. Den ganzen Tag träumte ich von ihm.

Als ich aus der Straßenbahn ausstieg und sah, dass er schon auf mich wartete, flog ich förmlich in seine Arme. Wir küssten uns innig und machten uns engumschlungen auf den Weg zu meiner Gitarre-Stunde.

„Ich bin vergangene Woche ins Kaffeehaus gegangen und wollte dich nach deinem Unterricht überraschen. Als ich eine Stunde später vor dem Haustor stand, kamst du aber leider nicht. Wie lange dauert denn dein Unterricht?“, wollte Fredi wissen.

"Das ist aber schade", ärgerte ich mich. "Meine Gitarre-Stunde dauert nur eine halbe Stunde. Als du mich hier abholen wolltest, war ich schon längst auf dem Heimweg. Wäre das schön gewesen, wenn wir gemeinsam nach Hause fahren hätten können! Und du musstest auch noch unnötig in der Kälte herumstehen. Das tut mir jetzt aber total leid!“

"Ärgere dich nicht! Ich bin ja nicht erfroren", beruhigte mich Fredi. "Machen wir es uns halt gleich dieses Mal richtig aus. Ich hole dich nach einer halben Stunde ab", vereinbarten wir somit diese für uns so wertvolle, zusätzliche gemeinsame Zeit.

Händchenhaltend gingen wir nach meinem Musikunterricht zur Straßenbahnhaltestelle, wo wir eng aneinandergeschmiegt in einem dunklen Haustor auf die Straßenbahn warteten.

Es war eisig kalt, doch wir spürten den Jänner-Frost nicht. Wir hatten sogar unsere Wintermäntel geöffnet und drückten unsere Körper aneinander.

Zwischen den Küssen legte ich meinen Kopf an seine Brust und konnte sein Herz schlagen hören. Ich fühlte mich unwahrscheinlich geborgen, einem geliebten Menschen so nahe zu sein und seine Wärme zu spüren.

Wir ließen zwei Straßenbahnen fahren, ohne einzusteigen, weil wir uns einfach nicht voneinander trennen konnten.

„Sprich doch mit deinem Vater, damit wir einmal richtig ausgehen können. Vielleicht am Wochenende ins Kino oder tanzen. Dass dich dein Vater mit fast 16 Jahren noch zu Hause einsperrt, das gibt es doch nicht“, bedrängte mich Fredi abermals.

Ich reagierte auf sein Unverständnis nicht, weil ich sehr wohl verstand, warum er es nicht verstand.

„Ich werde bald mit meinem Vater reden“, versprach ich stattdessen.

Dieses Gefühl der Geborgenheit, die prickelnde Spannung, wenn wir einander küssten und Fredis spürbare Erregung wirkten auf mich wie eine Droge. Ich wollte mehr, wollte mich öfter mit ihm treffen und vor allem: Ich wollte offiziell mit ihm ausgehen dürfen.

Dafür wollte ich nun kämpfen.

Dafür würde ich nun kämpfen.

Je mehr Fredi drängte, je größer meine Sehnsucht wurde, desto konkreter wurde mein Entschluss:

Dafür musste ich sogar kämpfen!

Schon allein deshalb, damit Vater mich sexuell endlich in Ruhe lässt, wenn er von meinem Freund weiß. Ich fühlte mich wie eine Betrügerin, wenn ich aus Fredis Armen in Vaters Bett stieg.

Die Vernunft sagte mir zwar, dass ich doch gar keine Wahl hatte, aber mein Herz schrie trotzdem: ‘Verrat’.

Meine Liebe zu Fredi war so rein, dass ich Vaters dreckigen Sex einfach nicht mehr ertragen konnte.

Zu jenem Zeitpunkt noch viel weniger als jemals zuvor.

Wenn ich allerdings an die gescheiterten Ausbuchsversuche der vergangenen Jahre dachte, wäre ich am liebsten mit Fredi einfach davongelaufen. Tatsächlich dachte ich in jener Zeit oft und auch sehr konkret ans Ausreißen.

Jetzt war ich doch nicht mehr allein.

Doch jedes Mal, wenn ich meine, bzw. unsere Flucht andachte und die Überlebenschancen ausrechnete, wurde mir klar, wie gering diese waren: Ich war noch nicht einmal 16 Jahre alt, besaß weder Geld noch Wohnung und befand mich im ersten Lehrjahr. Fredi verdiente als Lehrling sogar noch weniger als ich. Wir hätten uns niemals ein gemeinsames Heim leisten können.

Einmal lauschte ich einer Diskussion meiner Arbeitskollegen, die über ein Mädchen urteilten, das von zu Hause ausgerissen war.

„Typisch, diese Jugend, einfach von zu Hause auszureißen. Ich glaube, diese jungen Dinger wissen nicht, wie gut es ihnen geht. Ich würde so einer Aufreißerin ordentlich die Leviten lesen!“, meinte der Kollege, der neben mir saß, naserümpfend.

Wie viel hätte ich dazu sagen können über die vielen, verständlichen Gründe, die einen jungen Menschen von zu Hause vertreiben können; wie viel Leid Jugendliche ertragen müssen, die einfach abhauen.

Manche Jugendliche sind vielleicht wirklich nur abenteuerlustig, wenn sie ausreißen. Doch es gibt so viele Schicksale, die meinem gleichen. Und überall sieht die Welt von außen heil aus und niemand weiß, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt in so manch ‘intakter’ Familie.

Gerade die unglücklichsten Kinder wagen doch gar nicht, ihren Kummer irgendjemandem anzuvertrauen. Aktionen wie Ausreißen und Selbstmordversuche von Jugendlichen machen doch tiefste Ausweglosigkeit sichtbar. Wie kann ein Mensch, der keine Ahnung von den Hintergründen hat, einen verzweifelten Menschen verurteilen?

Man kann doch nicht alle Menschen, die sich zu einer Verzweiflungstat hinreißen lassen, in einen Topf werfen und diesen mit ’Blöd‘ beschriften. Nur, weil man selbst das Glück hat, ein privilegiertes Leben führen zu können, kann man doch nicht annehmen, dass es jedem so gut gehen muss.

Schön wäre es; und wünschenswert ebenso.

Doch Privilegien wie ein liebevolles Elternhaus, Gesundheit, einen gutbezahlten und sicheren Arbeitsplatz, eine glückliche Partnerschaft und ein sorgenfreies Leben sind und bleiben Privilegien. Für diese Bevorzugungen sollte man dankbar sein und nicht herablassend über weniger privilegierte urteilen. Diese empörten Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich meinen Kollegen so allwissend reden hörte.

Ich ärgerte mich über so viel Blasiertheit. Am liebsten hätte ich zu diskutieren begonnen, dass niemand über den anderen urteilen sollte, bevor er nicht in dessen Schuhen gestanden hat. Doch ich schwieg, wie ich es meine gesamte Kindheit lang getan hatte.

Vor einer Aussprache mit Vater hatte ich so furchtbare Angst, dass ich sie vier Wochen lang immer wieder hinausschob.

Doch am Donnerstag, nach dem vierten Mittwoch, an dem ich mich mit Fredi heimlich getroffen hatte, blieb ich, bevor ich die Wohnungstüre aufschloss, stehen, und warf eine Münze. Ich hatte schon den ganzen Tag versucht meine Mut-Reserven aufzufüllen. Nun entschied ich, die Münze entscheiden zu lassen.

Das Geldstück entschied: „Warte zu!“

Gleichzeitig tadelte ich mich: „Willst du wirklich ein Geldstück über deine Zukunft entscheiden lassen?“

Tief durchatmend entschied ich: “Nein! Ich beginne den Kampf sofort. Lieber lasse ich mich schlagen, bedrohen oder würgen. Selbst wenn er mich umbringt, ist mir das noch immer lieber als weiterhin täglich missbraucht zu werden und mich nun zusätzlich als Verräterin in meiner Liebe zu Fredi zu fühlen. Oder ich laufe doch einfach davon. Alles ist besser, als weiterhin unterdrückt zu werden.“

Fredis Liebe hatte mich endlich stark genug gemacht. Ich hatte Mut, zögerte nicht mehr.

Kurz entschlossen ging ich zu Vater.

„Ich habe Fredi zufällig auf dem Weg zum Gitarre-Unterricht getroffen und mich mit ihm unterhalten. Dabei wurde mir klar, dass ich ihn nach wie vor sehr gern habe und ich möchte seine Freundin werden. Deshalb mache ich mit dir Schluss, weil ich Fredi nicht betrügen will.“

So sachlich ratschte ich meine Entscheidung runter, so, als hätte wirklich ich diese Entscheidung zu treffen. Lediglich ‘Aus, Schluss, Basta’ habe ich nicht gesagt.

Als ich meinen Monolog beendet hatte, wartete ich auf Vaters Reaktion.

Eine Zeit lang blieb er total still.

Mit diesem Überraschungsangriff hatte er offenbar nicht gerechnet. Wahrscheinlich hatte ihn auch die direkte Art und unübliche Selbstsicherheit, die ich ausstrahlte, verunsichert. Doch schon bald begann es in seinem Gesicht verräterisch zu zucken und seine Augen wurden schwarz vor Zorn.

Jetzt nahm das Gespräch den von mir erwarteten Lauf.

„Und was ist mit mir? Mich kannst du betrügen, du männergeile Hure, ihn aber nicht?“, tobte er.

„Aber ich habe dich ja nicht betrogen. Fredi und ich haben uns erst einmal gesehen und miteinander gesprochen. Ich mache deshalb vorher Schluss mit dir, damit ich niemanden betrüge, dich nicht und auch anschließend Fredi nicht“, versuchte ich so ruhig und zielstrebig wie möglich, meine aufkeimende Angst zu verbergen.

Dieser Moment wäre für Vater eine Möglichkeit gewesen, als Mensch mit wenigstens einem halben Promille an ‘Moral’ aus der Sache auszusteigen – allerdings nur, wenn ihm die Tatsache, ‘ein guter Mensch’ zu sein, tatsächlich etwas bedeutet hätte ... angeblich hat er mich doch nur missbraucht, um mich, wie seine erfundenen japanischen Vorbild-Väter, auf die Männerwelt vorzubereiten.

Nun hätte er seine Mission als erfüllt betrachten können.

... Wenn es ihm tatsächlich nur um die Mission gegangen wäre.

Nachdem seine guten Vorsätze jedoch genauso erdichtet waren wie seine japanischen Vergewaltigungs-Riten, konnte er auch keine Mission beenden.

Und inzwischen war ihm auch völlig egal geworden, ob ich das Märchen von seinen guten Vorsätzen noch glaubte. Er hatte doch was er brauchte und das wollte und konnte er auf keinen Fall aufgeben.

Wo sollte er denn künftig seine sexuelle Gier befriedigen?

Die negative Perspektive dürfte für ihn so unvorstellbar gewesen sein, dass er in seiner Panik sein wahres Gesicht zeigte.

Doch wirklich überrascht hatte mich das nicht.

Die Mär vom ’guten Vater‘ glaubte ich spätestens nach seinem Mordversuch nicht einmal mehr ansatzweise. Seit damals war klar, dass nicht ICH für ihn wichtig war, sondern nur ein gewisser Teil von mir. Dass er mich lieber töten wollte, als auf die Nutzrechte dieses Körperteils zu verzichten, erklärte mehr als zuckersüße Worte.

Doch offiziell musste ich diese ursprünglich von ihm zur Schau gestellten guten Vorsätze als Argumentationsbasis benutzen. Eine andere Möglichkeit hatte ich nicht, ohne ihn noch mehr zu reizen.

Diese, für ihn so scheinheilige Sanftmut und Anständigkeit, brachte ihn allerdings nur noch mehr in Rage. Das war nicht seine Art zu sprechen, daher konnte er darauf nicht spiegelgleich reagieren.

„Jetzt, wo ein anderer Schwanz auftaucht, willst du mich auf einmal nicht mehr (Er tat tatsächlich so, als hätte ich ihn jemals gewollt) und servierst mich einfach ab. Was ist eigentlich mit mir?“, brachte er in seinen Worten, die für ihn schmerzliche Realität auf den Punkt.

Damit sprach er von der einzigen Realität, die für ihn wichtig war.

Er schrie immer lauter und ich begann vor Angst zu schlottern.

Mich ängstigte vor allem die Tatsache, dass er erstmals zugab, dass es ihm nur um seinen Verlust des täglichen Geschlechtsverkehrs ging. Dass er so offensichtlich seine Maske fallen ließ, war für mich ein Schock, da ich ab nun nicht mehr an seine guten Vorsätze appellieren konnte.

Ich konnte ihm doch schlecht ins Gesicht sagen, dass es mir egal war, wohin er seinen Schwanz steckte, von mir aus in ein Astloch, aber nicht mehr in mich. Nachdem er offensichtlich dabei war, den Verstand zu verlieren, wäre das unklug gewesen, abgesehen davon, dass mir zu so offenen Worten sowieso der Mut gefehlt hätte.

Ich blieb daher bei meiner Strategie, weil es die einzig zielführende zu sein schien und versuchte ihn zu besänftigen: „Ich habe dich ja weiterhin gerne. Ich will ja nur nicht mehr mit dir schlafen.“

Umgekehrt wäre es ihm aber lieber gewesen.

Meine Strategie war demnach nicht wirklich gut, wie ich befürchten musste.

Trotz seiner abgelegten Maske hoffte ich aus Naivität (oder war es bloßes Wunschdenken?) noch immer, dass er mich mochte und mir nicht wirklich schaden wollte. Immerhin war ich sein Kind und normalerweise liebt man seine Kinder.

Wie sehr er mich körperlich und seelisch verletzt hat und wie sehr ich in den vergangenen Jahren litt, hatte ich doch stets auf meine Schultern geladen.

Ich durfte mich doch nie beklagen.

Dadurch hatte ich nicht nur die Schmerzen der Vergewaltigung, die Qualen des Missbrauchs und des eigenen schlechten Gewissens zu erleiden. Nein, ich lud zusätzlich auch noch seine Schuld auf meine Schultern, weil ich ihn nie mit einem wirklich angebrachten schlechten Gewissen belastete. Dadurch trug ich schon als Kind die Verantwortung von uns beiden, während er mich bisher (und sein Wunsch wäre gewesen, es auch weiterhin tun zu können) ohne schlechtes Gewissen ’beglücken‘ durfte.

Ich weiß bis heute nicht, ob er mich bewusst, und als Teil eines brutalen Planes, als 12-Jährige zu der Lüge zwang, dass ich gerne mit ihm schlief. Bewusst, damit ich nie ungestraft den Wunsch äußern konnte, damit aufhören zu wollen.

Oder ob er so geisteskrank war, dass er jede Gewaltanwendung ausblendete (auch um sein Gewissen nicht über Gebühr zu belasten) und tatsächlich glaubte, wir liebten einander.

Ich musste ihm doch immer wieder versichern, wie schön und gut es war, was wir taten, wie sehr ich ihn liebte und dass es bei dieser Liebe doch völlig egal sei, ob wir Vater und Tochter seien. Wie oft hielt er mich in den vergangenen vier Jahren im Arm, hörte mit mir Musik und sprach davon, wie groß unsere Liebe sei, als glaubte er wirklich, wir wären ein Liebespaar. Kein Gedanke daran, dass er mich vergewaltigt hat, mich dazu zwang, die Liebende zu spielen und Liebesschwüre sowie Küsse von mir erpresste.

Ich weiß bis heute nicht, ob er extrem berechnend war oder geistesgestört.

Ich blieb bei dieser Aussprache dabei, mit dem Sex Schluss machen zu wollen und wiederholte monoton und emotionslos immer wieder das Gleiche, egal, wie er darauf reagierte.

Ob er schrie, jammerte, drohte oder fluchte. Sobald er Luft holte, begann ich wieder und wieder meinen Part runterzubeten. Es war meine einzige Strategie, die anscheinend aufgrund der fortgeschrittenen Stunde Wirkung zeigte.

Als er nach Stunden merkte, dass ich nicht davon abzubringen war, erklärte er sich einverstanden, mich einmal mit Fredi ausgehen zu lassen. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Ich hatte einen Sieg errungen!

Diese Stunden hatte ich nur durchgehalten, weil mich der Gedanke an Fredi so stark gemacht hatte. Vater muss seine Aussichtslosigkeit gespürt haben, angesichts der Tatsache, wie stark die Liebe einen Menschen macht.

Ich war selig, als er mir seine Bedingungen bekannt gab: „Dein Fredi darf mit dir am Samstag ausgehen, doch er muss dich von zu Hause abholen, damit ich mir den Kerl mal ansehe.“

Am nächsten Tag erzählte ich Fredi telefonisch von Vaters Bedingungen und er schien genauso glücklich zu sein wie ich.

Samstagnachmittag.

Fredi kam pünktlich.

Er überreichte Mutter Blumen und wirkte, trotz seiner Jugend, wie ein Kavalier.

Ich war stolz auf ihn.

So einen netten Burschen mit so formvollendeten Manieren konnte und würde mir Vater nicht ausreden können, dachte ich erleichtert.

Immerhin wusste ich, warum Vater Fredi so rasch kennen lernen wollte. Er wollte negative Seiten an ihm finden, um mir danach den Umgang mit ihm verbieten zu können.

Fredi bestand jedoch den Test mit Auszeichnung.

Mutter fragte herzlich: "Möchten Sie eine Bohnensuppe?"

"Nein, danke. Ich habe zu Mittag gegessen", lehnte Fredi höflich ab.

Vater spielte den netten und interessierten Vater.

Wir setzten uns zu fünft (Angi sah sich meinen Freund natürlich auch an) ins Wohnzimmer und plauderten wie eine ganz normale Familie, die höfliche Kennenlernen-Floskeln austauschte.

Fredi wurde nach seiner Lehre und seinem Elternhaus ausgefragt.

Nett und ausführlich beantwortete er alle Fragen, scherzte sogar und war überhaupt nicht befangen. Bei diesem Gespräch hatte er besitzergreifend seinen Arm um meine Schultern gelegt und ich fühlte mich wie im siebenten Himmel.

Dass es für mich so viel Glück geben durfte!

Ich konnte es nicht fassen.

Nach einer Stunde meinte Vater: „Ihr habt sicherlich noch etwas anderes vor, als mit den ‘Alten’ den Abend zu verbringen.“

Dieses Schlusswort nahmen wir dankbar an.

Wir wurden ins Vorzimmer begleitet und in die Freiheit entlassen.

Nein, eigentlich wurde ja nur ich in die Freiheit entlassen. Für Fredi war ja nur neu, dass er mit mir fortgehen durfte, für mich war neu, dass ich überhaupt fortgehen durfte!

Ich weiß nicht, ob man sich nur im Entferntesten meine Gefühle vorstellen kann, die ich in diesem Moment fühlte: Nach Jahren der Qualen und des sexuellen Terrors, eingeengt in meiner persönlichen Freiheit und eingesperrt in ein Gefängnis, das trotz meiner Versuche zu schildern, wie schlimm es war, wohl unbeschreiblich bleibt, endlich FREI ZU SEIN!

Ich schwebte förmlich mit Fredi aus unserer Wohnung in die Freiheit.

"Was willst du tun? Ins Kino gehen und danach vielleicht tanzen?", wollte Fredi seine Pläne mit meinen Wünschen absprechen.

"Egal, ich freue mich auf alles. Hauptsache mit dir raus ins Leben!"

Da ich bisher überhaupt noch nichts erlebt hatte, war ich gierig auf ALLES! Wir gingen also zuerst ins Kino und anschließend in ein Tanzlokal.

Da wir beide nicht tanzen konnten, saßen wir die meiste Zeit händchenhaltend dicht beieinander und schmusten.

Ich genoss es, die ausgelassene Stimmung und tolle Musik in dieser dröhnenden Lautstärke zum ersten Mal live erleben zu können.

Es war die Zeit des Saturday Night Fever und zu den Klängen der Bee Gees sah ich fasziniert den ’Möchte-Gern-Travolta´s‘ zu.

Wenn hingegen Balladen gespielt wurden, verließen wir unser Plätzchen. Auch ohne Tanzkenntnisse tanzten wir engumschlungen, was bedeutete, dass wir uns leicht im Takt wiegten und dabei hingebungsvoll küssten.

Ich erlebte in diesem Tanzlokal an jenem Abend die Erfüllung all meiner Träume.

Musik und Fredi.

Ich war im siebenten Himmel.

Leider konnten wir nicht lange bleiben.

"Um 22 Uhr muss Brenda daheim sein", lautete Vaters Order.

Daher brachen wir rechtzeitig auf, um nicht Vaters Ärger durch zu spätes Heimkommen auf uns zu laden. Wir gingen zu Fuß nach Hause, obwohl wir die Straßenbahn hätten nehmen können. Es war uns lieber, von den Blicken anderer unbehelligt und eng aneinandergeschmiegt, Arm in Arm zu gehen. Fredi brachte mich pünktlich bis zur Haustüre und ich schwebte förmlich auf einer Glückswolke, als ich die Wohnung aufschloss.

Von dieser Wolke wurde ich allerdings von Vater in den nächsten Sekunden völlig unerwartet wieder heruntergeholt. Er wartete bereits auf mich, als ich aufschloss und wollte in bittersäuerlichem Ton wissen: „Was habt ihr denn getrieben?“

"Wir waren im Kino und danach tanzen!", lieferte ich ihm eine kurze Überschrift und wollte meine Ruhe haben, um weiterträumen zu können.

Doch er war rasend vor Eifersucht und griff Fredi aufs Ordinärste an: „Der Hosenscheißer ist für dich noch viel zu jung. Außerdem wollen Burschen in diesem Alter nur das Eine! Wahrscheinlich onaniert er ständig, wenn er an dich denkt“ ... diese Gehässigkeiten waren noch die Feinsten, die ich hier wiedergebe.

Nachdem mein Vater offensichtlich immer von sich auf andere schloss, denke ich, dass er in seiner Jugend wohl ständig mit schwieligen Händen herumgelaufen sein muss, nachdem er bei jeder Gelegenheit, die für mich so uninteressante Weisheit vom ständig onanierenden Burschen loswerden wollte.

"Auch du bist schwanzgeil, du Hure! Wahrscheinlich habt ihr es getrieben wie die Karnickel und mir heuchelst du die Anständige vor", warf er nun auch mir vor.

"Nein, wir haben uns wirklich nur geküsst!", rechtfertigte ich mich empört. Doch er glaubte mir nicht, war er doch überzeugt, dass jeder Mensch nur ein Ziel verfolgt: Sex! Dass Liebe aus romantischen Gefühlen entstehen kann und nicht zielstrebig in sofortigen Sex mündet, war ihm fremd.

Aus diesem Grund fühlte er sich hintergangen und donnerte: „Jetzt, wo du einen anderen Schwanz haben willst, lässt du mich einfach im Stich. Wie es mir dabei geht, ist dir doch völlig egal.“

"Das stimmt nicht. Du bist mir nicht egal. Aber ich kann doch nicht weiterhin mit dir schlafen, jetzt wo ich mit Fredi liiert bin.“

Da bäumte er sich vor mir auf und schockierte mich.

"Wieso nicht?“

Seine Frage traf mich wie ein Hammer.

Ich antwortete entsetzt: „Weil ich Fredi liebe und ihn niemals betrügen würde!“

Wie konnte Vater nur diese Frage stellen?

Ich war sprachlos, hätte nie im Traum gedacht, dass Vater allen Ernstes auf diese Idee kommen würde.

Doch er meinte es bitter ernst.

Zynisch zischte er: „Fredi möchtest du nicht betrügen, mich glaubst du aber einfach zur Seite schieben zu können? Okay, wie du willst. Ich werde dir Schlampe zeigen, wer von uns beiden das Sagen hat: Wenn du mit mir nicht mehr schläfst, siehst du auch deinen Fredi nicht mehr, und glaube mir: Das meine ich ernst.“

In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Gerade noch war ich der glücklichste Mensch auf der Welt gewesen und nun sollte es weitergehen wie bisher, mit dem Unterschied, dass ich ab sofort eine echte Betrügerin sein sollte.

Ich sollte Fredi, nur, um ihn überhaupt treffen zu können, weiterhin mit Vater betrügen. Bei diesem Gedanken drehte sich mein Magen um. Ich verlegte mich aufs Betteln, versuchte Vater von meinen reinen Gefühlen Fredi gegenüber zu überzeugen.

"Bitte zwinge mich nicht, eine hinterhältige Betrügerin zu werden. Du hast doch immer gesagt, dass du mich liebst und alles nur getan hast, um mich zu beschützen. Aufgrund dieser Liebe zwinge mich bitte nicht, meine erste Liebe mit einem Betrug zu beschmutzen."

Doch Liebe und Moral waren Fremdwörter für ihn.

Er hatte nur seine, von ihm unkontrollierbare, körperliche Gier im Sinn. Dass ich den Sex mit ihm erstmals sogar als ‘schmutzig’ bezeichnet hatte, wirkte zudem auch nicht beruhigend, sondern machte ihn total rasend.

„Du willst deine Liebe nicht beschmutzen?“, zischte er ungehalten. „Ich glaube, du vergisst, wer von uns beiden am längeren Ast sitzt! Was du willst, das zählt nämlich nicht. Hast du mich verstanden?“ Er schüttelte mich an den Schultern und ich nickte voll Angst.

„Gut, dann werde ich dir jetzt sagen, wie das läuft.“

Was er mir nun anbot, ließ mich erschaudern, weil ich erkannte, dass er dieses Gespräch bereits im Detail geplant hatte.

„Ich erlaube dir, dass du dich Mittwoch und Samstag mit Fredi triffst, dafür kommst du Montag und Donnerstag in mein Bett. Wenn du damit nicht einverstanden bist, kannst du versichert sein, du siehst deinen Fredi nie wieder. Und glaube ja nicht, dass du mich hintergehen kannst. Gnade dir Gott, wenn ihr euch heimlich trefft oder auch nur miteinander telefoniert. Ich komme dahinter und das überlebst du nicht. Glaube mir!“

Ich glaubte ihm.

Mir fiel wie Schuppen von den Augen, wie naiv und blauäugig ich in den vergangenen Stunden gewesen war. Wie konnte ich annehmen, dass Vater mich einfach gehen ließe?

Es wäre doch folgewidrig und unwahrscheinlich gewesen!

Hatte ich an Wunder geglaubt? Nach all den Erfahrungen, die ich bisher gemacht hatte?

Als ich realisierte, dass diese Hoffnung, die überhaupt keinen Realitätsbezug hatte, nur von meinem illusorischen Wunschtraum genährt wurde, erkannte ich, dass ich überhaupt keine Wahl hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739446936
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Hoffnung Autobiografie Lebenshilfe Kindesmissbrauch Ratgeber Inzest Kindesmisshandlung Missbrauch Biografie sexueller Missbrauch

Autoren

  • Brenda Leb (Autor:in)

  • Brigitte Kaindl (Autor:in)

Brenda Leb (alias Brigitte Kaindl) wurde 1960 in Wien geboren. Niemand in der Familie und im Freundeskreis wusste von ihrer schrecklichen Kindheit und Jugend. Ihre Autobiografie "Mein Weg aus dem Fegefeuer" schrieb die Autorin daher unter Pseudonym, um vorkommende Personen zu schützen. Danach veröffentlichte sie humorvolle Unterhaltungsliteratur sowie fesselnde Romane mit sozialkritischem Hintergrund.
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Titel: Mein Weg aus dem Fegefeuer