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Projekt Todlicht

Thriller

von Ilona Bulazel (Autor:in)
260 Seiten
Reihe: Berens-Marchand-Thriller, Band 2

Zusammenfassung

»Fünf … vier … drei … Ich will nicht sterben!« Der Countdown läuft. Die Welt sieht sich einer nie da gewesenen Bedrohung gegenüber. Ein alter Pass aus dem Dritten Reich taucht bei einer Online-Auktion auf, kurz darauf wird in Südkorea ein junger Mann brutal gefoltert und ermordet. In anderen Teilen der Welt verschwinden namhafte Wissenschaftler spurlos oder sterben unter mysteriösen Umständen. Als es dann in Nordkorea zu geheimnisvollen Explosionen apokalyptischen Ausmaßes kommt, ist das Team um Leon Marchand in höchster Alarmbereitschaft. Alles deutet auf eine Verbindung zu einem 1945 verschollenen deutschen U-Boot mit unbekannter Fracht hin. Eine andere Spur führt in die Wüste Nordafrikas. Die Jagd nach Antworten fordert weitere Opfer. Was verbirgt sich hinter »Projekt Todlicht«? Und welche Rolle spielt dabei die verführerische CIA-Agentin Catherine Smith, die Marchand schlaflose Nächte bereitet? Bleibt am Ende genug Zeit, um eine schreckliche Katastrophe zu verhindern? (Seitenzahl der Taschenbuchausgabe: 300 Seiten)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

 

400.000 v. Chr.: Der Speer ist vielleicht nicht die erste von Menschen benutzte Waffe, aber sicherlich eine der ersten, die speziell für den Kampf und das Töten hergestellt wurde. Selbst heute benutzen noch viele Menschen den Speer zur Jagd und zur Verteidigung.

 

* * *

 

Hiroto hob abwehrend die Hände. Der Versuch, um Gnade zu betteln, scheiterte – die Kugel drang in seine Stirn ein. Das Geschoss prallte am Knochen ab und schrammte unter der Kopfhaut entlang. Keine Sekunde später trat das Projektil seitlich wieder aus und zerfetzte dabei die Ohrmuschel. Er sank auf die Knie.

Neben ihm rief jemand: »Nicht! Er ist doch keine Gefahr. Er …«

Ein Magazin wurde leer geschossen, damit verstummte auch der, der eben noch gerufen hatte.

Hiroto rutschte währendessen auf den Boden. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Das war also der Tod, sein Tod. Warmes Blut lief ihm über das Gesicht. Warum konnte er noch denken? Warum hörte er noch das bedrohliche Rauschen des Meeres und das Kreischen der Seevögel? Diese Fragen beschäftigten ihn mehr als die Angst vor dem Unbekannten, das noch vor ihm lag.

 

Neben ihm knirschte der Kies. Instinktiv hielt er die Augen geschlossen. Eine Stiefelspitze stieß ihm grob in die Seite, aber das nahm er nicht mehr wahr. Seine Gedanken wurden träge. Ein paar Erinnerungen traten zaghaft in Hirotos Bewusstsein. Vor ihm stand plötzlich die Mutter und winkte ihm zu, so wie sie es früher oft getan hatte, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Alles glich einem schönen Traum. Ganz weit entfernt erklang ein dumpfes Geräusch, ein weiterer Schuss, dann verflüchtigten sich auch die letzten Traumbilder und um ihn herum war nur noch Dunkelheit.

 

Nordkorea – 1. Mai, Gegenwart

 

Die monotone Stimme zählte rückwärts, dann erfolgte die automatische Zündung. Eine grelle Lichtsäule schoss nach oben und schien irgendwo in der Atmosphäre zu verschwinden. Die Explosion verlief vollkommen unkontrolliert. Es war, als hätte man den Startschuss zur Apokalypse gegeben.

Die Erde riss auf und ein Krater, so tief, als würde er direkt in die Hölle führen, verschlang Teile der Forschungsstation. Der infernalische Lärm der einstürzenden Gebäude konnte jedoch nicht die grauenvollen Schreie der Sterbenden übertönen. Die Menschen flehten um Erlösung und riefen nach dem Tod, als ihre Haut schmolz, bis nur noch die rohen Knochen zurückblieben. Ein hässliches Zischen und Dampfen begleitete dieses furchtbare Schauspiel. Es klang wie sich auflösendes Eis, das in heißes, brodelndes Fett gekippt wurde. Einigen der Opfer platzten die Lungen. Anderen schoss das Blut unaufhaltsam aus Mund, Nase und Ohren, so als hätten ihre Körper keine Gerinnungsstoffe mehr. Obwohl die Qual nur wenige Sekunden dauerte, war sie von einer so grausamen Intensität, dass sich die Sterbenden den sofortigen Tod herbeisehnten.

Und doch waren die, die so umkamen, die Glücklicheren. Denn wer den Test aus einiger Entfernung verfolgt hatte, musste beim Sterben Geduld haben. Deren leidvolles Stöhnen würde nicht so schnell verstummen.

Das medizinische Personal, das zwanzig Minuten später das Testgelände erreichte, stand hilflos zwischen den Verletzten. Unfähig, Herr des Chaos zu werden, wirkten die Männer und Frauen in ihren weißen Schutzanzügen wie Bühnendarsteller, die ihren Einsatz verpasst hatten.

Der Begriff »Bild des Grauens« wurde der Situation nicht einmal im Ansatz gerecht. Für die meisten der Betroffenen würde es keine Rettung geben. Ihre Herzen schlugen noch und auch ihre Gehirne arbeiteten weiter, sorgten unbarmherzig dafür, dass der Schmerz zu spüren war – aber ihren verstümmelten Leibern konnte niemand mehr helfen. Knochen waren mehrfach gebrochen, Rippen bohrten sich durch den Brustkorb und standen wie Stacheln nach außen. Bei manchen quollen die Augäpfel aus den Höhlen und baumelten an dünnen Gewebefäden. Auch für den Mann, dessen Oberschenkel fast bis zur Brust nach oben gerammt worden waren, konnten die Ärzte nichts mehr tun.

Nur die Menschen in den weiter entfernten Schutzräumen waren unversehrt geblieben. Aber von denen war kein Mitleid zu erwarten. Dieser Fehlschlag bedeutete, dass einer die Verantwortung übernehmen musste. Alleine darauf konzentrierten sich diese Männer und Frauen jetzt.

 

Kiel, Anfang 1945

 

Es war eine kalte Nacht. Irgendwo in einiger Entfernung trommelte das Dauerfeuer einer Flugabwehrkanone durch die Dunkelheit. Kapitänleutnant Siegfried Röhmer zog die Schultern zusammen. Der dicke Rollkragenpullover unter der schweren schwarzen Lederjacke ließ ihn die feuchte Kälte leicht ertragen. Als guter Soldat hätte er sich sowieso niemals darüber beklagt; weder über eisige Temperaturen noch über sinnlose Befehle. Und dieser Einsatz war ein Selbstmordkommando.

»Herr Kapitänleutnant?«, erklang hinter ihm die Stimme von Egon Stasse, dem Offizier des MSD, dem Marine Sonderdienst Ausland. »Wir wären dann so weit.«

Röhmer nickte kurz. Sein Gesichtsausdruck war hart und unergründlich. Tiefe Falten ließen ihn wesentlich älter als vierzig erscheinen. Manche nannten ihn einen alten Seebären, andere einen unberechenbaren Draufgänger. In Wirklichkeit war der Kapitänleutnant nichts mehr von alldem. Er war kriegsmüde und erschöpft. Zu viele hatte er in den letzten Jahren in den Tod geführt. Die Alliierten waren bereits im letzten Juni in der Normandie gelandet und die Russen marschierten nach Berlin – wie lange würde das Sterben noch weitergehen?

»Ihr Passagier sollte jeden Moment eintreffen.«

Auch diese Aussage nahm Röhmer kommentarlos zur Kenntnis. Er erinnerte sich an den Tag, als er den Befehl erhalten hatte:

 

»Streng geheim, mein lieber Röhmer! Sie verstehen?«, erklärte ihm Stasse mit einem jovialen Schulterklopfen. Dann teilte man ihm die Einzelheiten mit.

»Mein U-Boot soll als ›Milchkuh‹, als Frachter dienen?«, brüllte er wütend, ohne Rücksicht auf den ebenfalls anwesenden Offizier der Waffen-SS. »Sie verlangen, dass ich mit minimaler Besatzung und Bewaffnung irgendwelche Maschinenteile, oder weiß der Teufel was, nach Japan bringe? Einfacher können wir es dem Feind wohl kaum machen. Das ist doch Selbstmord!«

Während des ganzen Gespräches wandte ihnen der SS-Offizier den Rücken zu. Jetzt räusperte er sich geräuschvoll, starrte jedoch weiterhin aus dem Fenster. Ganz langsam begann er, seinen Kopf nach links und rechts zu bewegen, so als würde er sich vor dem Sport aufwärmen. Anschließend zog der Mann die Schultern hoch und wippte auf den Zehenspitzen. Er schien vollkommen entspannt. Plötzlich, mit einem Ruck, drehte er sich um und Röhmer sah in das entstellte Gesicht eines Dreißigjährigen.

Der SS-Offizier trat nun mit ausladenden Schritten vor den U-Boot-Kommandanten. Ein bösartiges Flüstern drang aus seinem Mund: »Sehen Sie mich an, Kapitänleutnant. Diese Narben trage ich mit Stolz. Sie sind das Zeichen meiner Treue gegenüber dem Führer und meinem Vaterland. Nur wenn wir bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen, werden wir siegreich sein. Was können Waffen schon bewirken, wenn der Wille fehlt, sie zu führen?«

Jetzt baute sich der Mann direkt vor Röhmer auf und streckte ihm, unangenehm nah, das fratzenartige Gesicht entgegen.

Die in verschiedenen Rosatönen schimmernde verbrannte Haut wirkte wie speckiges Pergamentpapier. Röhmer sah den Irrsinn in den Augen seines Gegenübers, als dieser weitersprach.

»Sagen Sie mir, Kapitänleutnant, fehlt Ihnen der Wille?« Die Worte kamen freundlich aus dem Mund des SS-Offiziers, aber die Drohung war überdeutlich herauszuhören.

Röhmer spannte alle Muskeln an, als er mit eisiger Stimme erwiderte: »Ich habe Männer verloren, gute Männer. Mein Sohn fiel bei Stalingrad, meine Frau starb bei einem der ersten Bombenangriffe. Für all diese Menschen wäre ich nur zu gerne gestorben.« Nun machte der Kapitänleutnant einen Schritt nach vorne und der SS-Offizier wich reflexartig zurück. »Stellen Sie nie wieder meine Bereitschaft, Opfer zu bringen, infrage. Ich …«

»Ich denke, wir sind uns einig. Nicht wahr, mein lieber Röhmer?«, hatte sich Egon Stasse schnell beschwichtigend eingemischt, bevor der Streit der beiden Männer noch hätte eskalieren können.

 

Röhmer verdrängte die Erinnerung und den damit verbundenen Zorn und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Er sah zu seiner Besatzung. Sie hatten ihm Buben geschickt, keine erwachsenen Männer. Er würde wieder einmal Kinder befehligen.

Sein leitender Ingenieur und guter Freund Fritz Hallster sah ihn erwartungsvoll an. Mechanisch gab er daraufhin die Kommandos und die Männer gingen an Bord. Ihm war untersagt worden, die Besatzung über das Ziel und den Zweck ihrer Fahrt zu unterrichten. Er selbst wusste nur das Nötigste.

»Geheime Reichssache!«, war die Standardantwort des MSD gewesen, wenn er nach Details gefragt hatte.

Unter den Bögen des U-Boot-Bunkers fühlte er sich heute mehr denn je an einen Kanalisationstunnel erinnert und Stasse war eine der heimischen Ratten. Dieser Gedanke ließ für einen kurzen Moment ein boshaftes Lächeln auf Röhmers Gesicht erscheinen. Dann wurde er sofort wieder ernst und dachte an die geheimnisvolle Fracht, die in großen Kisten überall auf dem U-Boot verteilt worden war. Selbst einige der Minenschächte waren zu Frachträumen umfunktioniert worden.

»Ah, da ist er ja. Pünktlich auf die Minute!«, seufzte Stasse nun selbstzufrieden neben Röhmer.

Das Klackern von Absätzen war zuerst zu hören, dann lösten sich zwei Gestalten aus der Dunkelheit.

Röhmer war nicht besonders begeistert, auch noch einen zivilen Passagier an Bord zu haben, darum trat er dem Mann mit wenig Freundlichkeit entgegen. Noch schlimmer war jedoch, dass dieser in Begleitung kam. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse hatte der Kapitänleutnant den zweiten Mann sofort erkannt. Dieses verunstaltete Gesicht, das mit Brandnarben übersät war, konnte man unmöglich vergessen. Es handelte sich um den SS-Offizier, der damals auch in Stasses Büro gewesen war.

Mit einem triumphierenden Lächeln begrüßte der nun die Anwesenden: »Wie es aussieht, ist alles zur Zufriedenheit des Führers vorbereitet.« Der Mann behandelte Röhmer, als wäre der Luft. Stattdessen wandte er sich ausschließlich an Egon Stasse. »Das ist Professor Friedrich Maynfeld«, sagte er beinahe andächtig. »Der Führer erwartet, dass man den Professor mit der größtmöglichen Ehrerbietung behandelt. Ich hoffe, wir verstehen uns.«

»Selbstverständlich!«, antwortete Stasse kriecherisch, während Röhmer den Befehl mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken bestätigte.

Stasse übernahm es schließlich, die Männer vorzustellen.

Abschätzend betrachtete Friedrich Maynfeld den U-Boot-Kommandanten Röhmer, der ihn an sein Ziel bringen sollte. Schließlich streckte er seine Hand aus. »Sehr erfreut, Herr Kapitänleutnant. Ich hoffe, Sie und Ihre Männer sind sich der Wichtigkeit unserer Mission bewusst.«

Röhmer empfand sofort eine Antipathie gegenüber dem Fremden. Sein Instinkt sagte ihm, dass dieser Professor ein kaltblütiges Aas war. Dafür reichte ein Blick in die gefühllosen Augen des Mannes.

Maynfeld entsprach nicht gerade dem Bild eines typischen Gelehrten dieses akademischen Grades. Das lag vor allem an seinem Alter. Der Wissenschaftler war vermutlich noch keine fünfunddreißig. Nein, ein zerstreuter Professor war Maynfeld wohl kaum.

Der Kerl ist berechnend, dachte Röhmer nicht ohne Sorge.

»Verehrter Professor, ich darf Ihnen im Namen des Führers die besten Wünsche für ein erfolgreiches Gelingen aussprechen?« Der SS-Offizier räusperte sich und fuhr dann feierlich fort: »Ich möchte noch anfügen, dass ich Sie um diese Mission beneide.«

Bei seiner kleinen Ansprache ließ er Röhmer allerdings bewusst unerwähnt.

Stasse beeilte sich, ebenfalls etwas zu sagen. »Fürwahr, Sie sind ein echter Held des Vaterlandes!«

»Aber, aber, meine Herren. Ich tue nur meine Pflicht«, antwortete der Professor salbungsvoll, während der Kapitänleutnant ein Zähneknirschen unterdrückte.

»Deutschland wird für immer in Ihrer Schuld stehen!«, setzte der SS-Offizier nun noch nach.

Unter anderen Umständen hätte Röhmer diese Szene mit einem Kopfschütteln abgetan. Aber das, was er hier gerade hörte, verstärkte seine Besorgnis. Bisher hatte er nicht wirklich geglaubt, dass ein gelungener Transport von Kiel nach Japan kriegsentscheidend sein könnte. Eher war er davon ausgegangen, dass Egon Stasse und sein SS-Freund mit dieser ganzen Aktion die eigene Wichtigkeit herauskehren wollten. Aber so langsam kamen dem Kapitänleutnant Bedenken. Was, wenn diese Fahrt der U-9881 tatsächlich eine entscheidende Rolle für den Sieg spielen könnte? Deutschland lag bereits am Boden, davon war Röhmer überzeugt.

Den Ersten Weltkrieg hatte er als Kind erlebt. Er wusste genau, wie sich eine Niederlage anfühlte. Heute brauchte er sich nur umzuschauen, um zu wissen, dass das Ende nur noch eine Frage der Zeit war. Was also hatte er an Bord, das daran noch etwas ändern könnte? Viele geheimnisvolle Kisten und Behälter teilten mit ihm und seinen Männern den knappen Platz unter Deck. Und jetzt waren sie zu allem Übel das Begleitpersonal für diesen Wissenschaftler, vor dem selbst die Waffen-SS katzbuckelte. Röhmer wollte weder mit der Fracht noch mit diesem aufgezwungenen Passagier etwas zu tun haben.

Das frenetische »Heil Hitler« von Egon Stasse ließ den Kapitänleutnant zusammenfahren. Er murmelte genervt einen entsprechenden Abschiedsgruß. Etwas, das Professor Maynfeld mit großem Interesse registrierte.

Dann wandte sich der Wissenschaftler mit einer gönnerhaften Miene dem SS-Offizier zu, der daraufhin salutierte und in militärischer Manier die Hacken zusammenschlug.

 

Zentrale des FSB (russischer Geheimdienst) – 1. Mai, Gegenwart

 

Einem grellen Lichtblitz folgte eine weiße Wolke, die sich langsam auf dem großen Flachbildschirm ausbreitete. Die Sequenz lief abgehackt und verzerrt über den Monitor.

»Was zum Teufel war das?« Der Leiter der Abteilung Aufklärung Nordkorea hatte einen tiefen Bass. Als seine Stimme nun durch das moderne Konferenzzimmer dröhnte, verstummten die Anwesenden.

»Antworten!«, setzte der Mann gereizt nach.

Jetzt begann das Papiergeraschel, und endlich wagte einer der Analysten zu sprechen. »Wir wissen es nicht …«

Noch bevor sich die Stimme des Abteilungsleiters erneut erhob, fuhr sein Mitarbeiter fort: »Wir haben nur die Satellitenbilder. Es ist eindeutig eine Explosion.«

Der Vorgesetzte betrachtete erneut die Aufnahmen. »Haben wir schon eine Rückmeldung von den Nordkoreanern?«

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine hübsche Frau im schlichten grauen Kostüm stürmte ins Zimmer.

Ohne eine Aufforderung abzuwarten, sprudelte es aus ihr heraus: »Es war ein Unfall!« Dann schnappte sie geräuschvoll nach Luft und sprach weiter: »Eine Chemiefabrik ist in die Luft geflogen, keine Toten, nur ein paar Leichtverletzte.«

»Das glauben die doch selbst nicht«, blaffte ihr Vorgesetzter ungehalten. »Was ist das für eine Chemiefabrik, bei der Radioaktivität austritt?«

»Das ist ja das Verwirrende«, schaltete sich der Analyst wieder ein. »Die Messungen bestätigen zwar den Austritt von Strahlung, aber die Menge ist zu gering für die üblichen Atombombentests. Die seismischen Auswertungen und die Satellitenbilder lassen allerdings darauf schließen, dass hier eine Detonation provoziert wurde und es sich nicht um einen harmlosen Fabrikunfall handelt.«

»Die Strahlung ist also zu schwach für eine Atombombe, aber eine Bombe könnte es trotzdem sein?«

Der scharfe Ton des Vorgesetzten ließ den Mitarbeiter zusammenzucken. Hilflos hob der die Hände. »Wir können es nicht zuordnen, vielleicht kann man auf diplomatischem Weg mehr erfahren. Immerhin sind unsere Nationen miteinander befreundet.«

Der Abteilungsleiter winkte müde ab. Sollte er sich die Mühe machen und dem jungen Mann erklären, dass es auch zwischen befreundeten Nationen Geheimnisse gab? Schließlich stellte der FSB seine Aktivitäten nicht einfach ein, bloß weil gerade mal Friede, Freude, Eierkuchen mit einem anderen Land herrschte. Er versagte sich jedoch den Kommentar. Sollten die Herren ganz oben entscheiden, wie es weitergehen würde.

 

1945, einige Wochen nach dem Auslaufen des U-Boots Nr. 9881

 

»Das Boot ist aufgetankt, Herr Kaleu!«, teilte Fritz Hallster Röhmer mit. Sie hatten eines der Versorgungsschiffe erreicht und den notwendigen Diesel bekommen.

»Gut, dann Kurs halten!«

»Jawoll, Herr Kaleu!«

Damit war der leitende Ingenieur eigentlich entlassen. Aber Hallster machte keine Anstalten, sich aus der Kabine des Kommandanten zu entfernen.

Röhmer, der gerade die Seekarten studierte, blickte auf. Hallsters bekümmerter Gesichtsausdruck entging ihm nicht. Seit Jahren fuhren sie gemeinsam zur See und waren mehr als nur Kameraden.

»Was gibt es, Fritz?«, fragte Röhmer daher und wechselte zum vertraulichen »Du«.

»Ich mache mir Sorgen.«

»Und weswegen?« Röhmer legte die Karten beiseite und bat Hallster, in der engen Kabine Platz zu nehmen.

»Diese Fahrt … unser Gast … das gefällt mir nicht. Wir haben den Funk der Amis abgehört. Sie sagen, der Krieg sei für Deutschland verloren.«

»So, sagen die das?« Röhmer wusste, auf was sein Freund hinauswollte und seufzte. »Du zweifelst an unseren Befehlen?«

»Verstehe mich nicht falsch, Siegfried. Du weißt, dass ich dir überall hin folgen werde.«

Röhmer winkte ab und lehnte sich nach hinten zu seiner Koje. Unter der Matratze zog er eine Flasche hervor. Gemächlich löste er den bröseligen Korken und nahm einen großen Schluck des durchsichtigen Inhalts. Dann reichte er das scharfe Getränk an Fritz Hallster mit den Worten weiter: »Ich habe nie an dir gezweifelt, mein Freund. Also, was genau beunruhigt dich, außer der Tatsache, dass wir vermutlich bald in dieser Blechbüchse sterben werden?«

Hallster verzog das Gesicht und schüttelte sich, als der hochprozentige Schnaps seine Kehle herunterlief. Röhmer hatte ihre Situation perfekt zusammengefasst. Sie waren nun schon seit einigen Wochen unterwegs. Die Nordostpassage hatten sie nicht nehmen können. Seit sich Hitler mit Genosse Stalin im Krieg befand, war dieser Weg nach Japan keine Alternative mehr, zumal die Witterungsverhältnisse mehr als ungünstig gewesen wären. Die Afrika-Route war ihre einzige Möglichkeit und fast genauso gefährlich – die alliierten Kriegsschiffe hatten sich längst in Position gebracht. Bisher war das Glück auf ihrer Seite gewesen und man hatte U-9881 noch nicht versenkt. Allerdings war ihnen das nur durch das sehr vorsichtige Manövrieren gelungen. Die ständigen Tauchfahrten machten sie langsam. Die Vorräte an Bord wurden knapp und die hygienischen Bedingungen waren alles andere als vorbildlich. Die Versorgungsschiffe waren kaum in der Lage, sie ausreichend mit Nachschub zu beliefern. Die Wenigsten kamen überhaupt noch an den feindlichen Flottenverbänden vorbei.

Die meisten Männer an Bord trugen mittlerweile Bärte. Die Luft hing voller menschlicher Ausdünstungen und die Enge setzte einem jeden Tag mehr zu. Niemand beklagte sich – aber das war auch nicht nötig, denn die Gesichter der jungen Matrosen, die ihre kindliche Zartheit längst verloren hatten, sprachen für sich.

Röhmer sah unverwandt zu dem leitenden Ingenieur, der sich endlich von seinen Gedanken losriss und dem Kaleu eine Antwort gab. »Die ständige Todesangst, das ist eine Sache. Was mir Bauchweh bereitet, ist unser Gast und seine Fracht. Was ist hier los?«

Röhmer nahm erneut einen Schluck aus der Flasche. Zuerst dachte Hallster, er würde keine Antwort bekommen, aber dann begann sein Gegenüber, doch noch zu sprechen. »Sagen dir die Worte ›Geheime Reichssache!‹ irgendetwas?« Noch bevor Hallster auf die Frage reagieren konnte, fuhr Röhmer fort: »Eigentlich weiß ich nicht mehr als du oder der Rest der Mannschaft. Der ganze Kram, der in unseren Minenschächten sitzt, soll zusammen mit diesem Wissenschaftler, Friedrich Maynfeld, kriegsentscheidend sein. Was auch immer das heißt!«

»Pah! So wie ich das sehe, ist der Krieg doch längst entschieden. Wir werden verlieren.«

Röhmer gab einen kehligen Laut von sich. »Sei vorsichtig, mein Freund, sonst stellen sie dich noch vor ein Kriegsgericht.«

Fritz Hallster war wütend. »Dort werde ich wohl nicht mehr lebend ankommen«, sagte er aufgebracht. »Wir werden alle draufgehen, wegen irgendwelchem Schrott, mit dem die Japaner genauso wenig anfangen können wie wir. Und dann dieser Professor. Hast du seine Augen gesehen? Der Typ ist unheimlich. Schleicht durch die Gänge wie ein Gespenst. Plötzlich taucht er irgendwo auf und redet geschwollen daher. Der schwitzt noch nicht einmal, ein richtiger Lackaffe.«

Röhmer lachte bitter. Er teilte Hallsters Einschätzung. Friedrich Maynfeld war ein gefährlicher Zeitgenosse, obwohl er sich während der Fahrt nichts hatte zuschulden kommen lassen.

»Traust du dem Mann?«

»Nein«, gab Röhmer unumwunden zu. »Ich vermeide es, ihm den Rücken zuzudrehen, ich …«

Der Kapitänleutnant wurde von einem lauten Rufen unterbrochen.

 

Vereinigte Staaten, CIA/Abteilung Nordkorea – 1. Mai, Gegenwart

 

Catherine Smith hatte den Job als stellvertretende Sektionschefin für Nordkorea seit zwei Jahren. Der Weg dorthin war nicht einfach gewesen, aber Catherine hatte skrupellos und mit harten Bandagen gekämpft.

Sie wusste, wie das »Spiel« funktionierte, war aber weit davon entfernt, sich immer an die Regeln zu halten. Sie hatte ihr eigenes Rezept, um ihr Ziel zu erreichen. Ihr Motto lautete: »Wenn man etwas nicht bekommt, dann will man es nicht genug!«

Was vor zwei Jahren noch gut für sie funktioniert hatte, brachte sie allerdings mittlerweile nicht mehr weiter. Als vor sechs Monaten die Stelle des Sektionschefs frei geworden war, hatte man sie übergangen. Stattdessen war ihr ein mäßig intelligenter Typ von außerhalb vor die Nase gesetzt worden.

Catherine war eine ausgesprochen attraktive Frau. Mit ihren dreiunddreißig Jahren zog sie die Männer gewöhnlich in ihren Bann. Das lag auch mit daran, dass sie sich nicht scheute, die eigenen körperlichen Vorzüge gewinnbringend einzusetzen, anstatt sich nur auf ihre geistigen Fähigkeiten zu verlassen. Das hübsche Gesicht und die üppige Oberweite hatten ihr zwar noch keine entscheidenden Türen geöffnet, aber diese zumindest ein paar Zentimeter aufgestoßen.

Auch das Dummchen zu spielen, fiel ihr bei Bedarf nicht schwer. Aber wer Catherine Smith kannte, der wusste, dass sie ein eiskaltes Miststück sein konnte, wenn es darauf ankam.

Die Meldung aus Nordkorea beunruhigte sie – aber das sagte sie nicht, sondern hörte sich nun den Statusbericht an.

»Es war eine Explosion, das steht fest«, sagte gerade Bob, ihr Chef, der links neben ihr saß.

»Und die Ursache?«, warf Catherine nüchtern in die Runde.

»Laut unseren Quellen ein Unfall in einer Chemiefabrik«, antwortete einer der Anwesenden.

»Ich wusste gar nicht, dass die in dieser Ecke Chemiefabriken haben«, sagte Bob nun flapsig und betrachtete die Karte Nordkoreas.

Die Explosion hatte in einer Gebirgsregion im Norden stattgefunden, abseits der größeren Städte.

»Wir wissen noch vieles nicht!«, antwortete ihm Catherine genervt und wandte sich an ein anderes Mitglied ihres Teams, »wie reagieren die Chinesen?«

»Die halten sich zurück, schlucken offiziell die Unfallversion.«

»Und weiß man etwas von den Russen?«, hakte nun Bob nach.

»Die Russen?«, antwortete ihm ein Mitarbeiter. »Die Russen stehen doch momentan auf ›Du und Du‹ mit den Nordkoreanern. Jede Wette, dass die genau wissen, was da passiert ist.«

 

* * *

 

Aber dieses Mal lag die CIA daneben. Der FSB war weit davon entfernt, auf dem Laufenden zu sein. Etwas, das so manchen mächtigen Mann in Russland nervös machte. Ein Atombombentest zu Propagandazwecken hätte die Gemüter sicherlich wesentlich weniger erregt. Aber dieses sture Leugnen jeglicher militärischer Aktionen und die fadenscheinige Chemiefabrik-Geschichte ließen die obersten Befehlshaber nicht mehr ruhig schlafen. Folglich gaben sie die Anweisung, die Angelegenheit genauer zu untersuchen.

Die Männer des russischen Geheimdienstes sahen die Order mit gemischten Gefühlen. Dieser Auftrag war besonders gefährlich. Die Nordkoreaner waren Spezialisten im Bewahren von Geheimnissen, und sollte man die Russen beim »Recherchieren« erwischen, dann würde sich das äußerst negativ auf die diplomatischen Beziehungen der beiden Staaten auswirken. Immerhin war man bisher nicht müde geworden, mit dem Russisch-nordkoreanischen-Schulterschluss zu werben.

 

1945, einige Wochen nach dem Auslaufen des U-Boots Nr. 9881

 

»Zerstörer voraus!«, hallte es durch das U-Boot.

Die gesamte Besatzung war mit einem Schlag wie elektrisiert. Röhmer stürmte gefolgt von Hallster in die Operationszentrale. Der Gesichtsausdruck des wachhabenden Offiziers war ihm Information genug.

»Alarmtauchen!« Der Schrei des Kommandanten wurde in sekundenschnelle durch das ganze Boot getragen. Jeder, der nicht gerade Wache hatte, rannte in Windeseile zum Bug, um das Abtauchen durch mehr Gewicht im vorderen Bereich zu beschleunigen.

Die Befehle kamen schnell hintereinander. Im Augenblick der Gefahr wusste jeder der Matrosen, was er zu tun hatte.

»Volle Kraft, Ballasttanks füllen!«, brüllten die Offiziere. Das Kommando zur Einstellung der Tiefenruder folgte. U-9881 tauchte in einem extremen Winkel ab, sodass im hinteren Bereich nicht gesicherte Ladung ins Rutschen kam.

Das knirschende Geräusch, das entstand, als sich das U-Boot jetzt entschlossen durch die Wassermassen in die Tiefe schob, ließ den jungen Matrosen das Blut in den Adern gefrieren, obwohl dieses Rumpfknistern längst nichts Fremdes mehr für sie war.

Dann wurde es still, niemand sprach. Wenn nötig, wurde geflüstert. Nur so konnten die deutschen Soldaten verhindern, von der feindlichen Technik aufgespürt zu werden.

Es war nicht das erste Mal, seit sie in jener kalten Nacht in Kiel abgelegt hatten, dass U-9881 in solch eine Situation kam. Bei den ersten Feindkontakten hatten der Kampfgeist und der Wunsch, dem Gegner die Stirn zu bieten, die Männer angetrieben. Mittlerweile sah man jedoch nur noch die Angst in ihren Augen. Die jungen Matrosen konnten nicht mehr verbergen, wie ihnen zumute war. Manche bewegten lautlos die Lippen und sprachen ein stummes Gebet. Andere verkrampften die Körper oder ballten die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. Der junge Funkmaat unterdrückte mühsam ein Schluchzen.

Als der Zerstörer über ihnen die Wasserbomben abwarf, schlossen die meisten der Männer die Augen. Um das 90 Meter lange U-Boot begann das Meer zu toben. Ihr metallenes Gefährt erbebte und schien verloren. Durch die Explosionen wurde es wie ein kleines Papierschiffchen hin- und hergeschleudert. Jemand rief »Wassereinbruch«, dann griffen Hände nach Eimern oder großen Schraubenschlüsseln. Jeder tat sein Möglichstes. Mit verbissenen Mienen kämpften die Männer gegen das eindringende Wasser an. Als das Leck endlich unter Kontrolle war, schien auch der Angriff des Zerstörers vorbei zu sein. Sie hatten überlebt, aber der Jubel blieb aus. Stattdessen konnte man das schwere Atmen der Matrosen vernehmen. Sie gaben sich keinen Illusionen mehr hin – heute war es gut gegangen, doch letzten Endes wäre es nur eine Frage der Zeit, bis das Glück sich von ihnen abwenden würde.

Röhmer sah die müden Gesichter der Besatzung und die Hoffnungslosigkeit darin. Ihm ging es nicht anders. Am liebsten hätte er sie alle nach Hause befehligt, aber das war unmöglich. Außerdem musste er, als Kommandant, die Moral der Mannschaft aufrecht erhalten und mit gutem Beispiel vorangehen. Röhmers Blick kreiste nochmals über die Marinesoldaten. Niemand schien seine Verbitterung zu bemerken. Zumindest glaubte der Kapitänleutnant das in jenem Moment.

 

* * *

 

Friedrich Maynfeld hatte wie gewöhnlich die Operationszentrale leise verlassen. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. Wieder einmal hatte es dieser Kapitänleutnant Röhmer geschafft. Der Wissenschaftler hätte für die Reise gerne ein bequemeres, zumindest ein sichereres Transportmittel gewählt, aber er hatte nehmen müssen, was er kriegen konnte. Er würde die Fahrt überstehen, seine Pläne realisieren und ein reicher, berühmter, aber auch einflussreicher Mann werden. Seine Mutter hatte ihn oft als »Glückskind« bezeichnet. Aber es gehörte viel mehr dazu als nur pures Glück. Man musste die Chancen erkennen, keine Skrupel haben und mit genug Improvisationstalent gesegnet sein. Letzteres hatte es ihm ermöglicht, bei den Nazis Karriere zu machen. Politik oder Krieg interessierten ihn nur, soweit sie ihm einen Vorteil brachten. Er unterschrieb dort, wo man die besten Konditionen bot. Die Reise nach Japan war eine Option gewesen, aber ihm schwebte eine bessere Alternative vor.

Bei dem Gedanken daran verzog Maynfeld das markante Gesicht zu einem boshaften Grinsen. Sein erster Eindruck von Röhmer war offensichtlich der richtige gewesen. Dieser Mann hatte Zweifel, die er sich zunutze machen könnte. Jetzt brauchte es nur noch einen winzigen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde, und Maynfeld hätte ein leichtes Spiel mit dem Kapitänleutnant.

 

 

Kapitel 2

 

40.000–25.000 v. Chr.: Ein »Atlatl« dient dazu, einen Pfeil oder Speer mithilfe eines Wurfarms mit hoher Kraft zu schleudern. Diese Speerschleuder erhöht die Reichweite enorm, gleichzeitig wird das Geschoss mit höherer Wucht ins Ziel befördert. Der »Atlatl«, den man auch als »Steinzeit-Kalaschnikow« bezeichnet, wird später durch Pfeil und Bogen ersetzt.

 

Büro des »BAS« in Brüssel – 15. Mai, Gegenwart

 

Leon Marchand saß entspannt an seinem Schreibtisch und sah den Tagesbericht durch. Die letzten Wochen waren ruhig gewesen. Nur die üblichen Verdächtigen. Ein russisches Drogenkartell und ein argentinischer Konzern, die sich ungewöhnlich aggressiv auf den osteuropäischen Markt drängten. Er hatte ein kleines Team mit der Recherche beauftragt. Paul Berens, der erst seit Kurzem zum BAS gehörte, hatte die Koordination übernommen. Paul hatte vor wenigen Monaten entscheidend dazu beigetragen, die gefährlichen Machenschaften aufzudecken, die im Zusammenhang mit der geheimnisvollen »Akte Aljona« standen. Daraufhin hatte ihm Marchand kurzerhand einen Job beim BAS angeboten.

Das »Bureau of Analysis and Statistic«, kurz »BAS« genannt, war nach dem Mauerfall 1989 gegründet worden, um die Entwicklungen im Osten, vor allem in Russland, zu beobachten. Natürlich war das alles streng geheim gewesen und auch heute hatten nur wenige Menschen Informationen über das BAS.

Anfang der Neunziger beschränkte sich die Arbeit vor allem auf das Überwachen von Personen, die aufgrund ihrer Vergangenheit nach 1945 und während des Kalten Krieges interessant waren – beim BAS hießen sie »Rote Lichter«. Heute, über fünfundzwanzig Jahre später, konzentrierte sich die Behörde immer mehr auf das Beobachten der osteuropäischen Märkte und auf das Herausfiltern krimineller Subjekte. Damals wie heute standen ihnen dafür eine umfangreiche Datenbank und der Zugriff auf die Infrastruktur anderer Institutionen und Behörden zur Verfügung. Welche europäischen Regierungen hinter dem BAS standen, wusste auch Marchand nicht genau. Eine Rolle spielte das für ihn nicht, denn er hatte seinen Vorgesetzten, der ihm die Gespräche mit den Politikern abnahm.

 

Leon Marchand war ein gut aussehender Mann Mitte fünfzig. Das Haar trug er stets militärisch kurz. Ein Überbleibsel aus seiner Zeit bei der Armee.

Das Klopfen an der Tür ließ ihn aufblicken. Jone betrat den Raum und schob sich, wie es seine Gewohnheit war, das kantige schwarze Brillengestell in die graue Haarpracht. Jone war Finne und Marchand schätzte ihn als Mitarbeiter und Freund. Außerdem war der Mann ein wandelndes Geschichtsbuch. Leon würde es bedauern, wenn sein langjähriger Kollege eines Tages in Rente gehen würde.

»Gibt es etwas Neues von diesem Drogenkartell?«, fragte der Leiter des BAS nun interessiert.

Jone, der nächstes Jahr seinen sechzigsten Geburtstag feiern würde, blickte ernst zu seinem Vorgesetzten. »Nein«, antwortete er ein wenig gedehnt.

Marchand horchte auf. Etwas an der Art und Weise, wie dieses »Nein« klang, hatte ihn alarmiert.

»Du wirst es nicht glauben«, fuhr Jone nun fort, »wir haben ein ›Rotes Licht‹.« Und noch bevor sein Chef eine Frage stellen konnte, lieferte der Finne weitere Informationen. »Es geht um Siegfried Röhmer!«

Der letzte Satz klang, als wäre damit alles gesagt, aber Marchand tappte völlig im Dunkeln.

»Tut mir leid, ich habe keine Ahnung, wer das ist. DDR? Stasi?«

Jone schüttelte den Kopf und setzte sich seinem Vorgesetzten gegenüber. Aufgeregt sprach er weiter: »Es geht um Kapitänleutnant Siegfried Röhmer.«

Der Leiter des BAS verspürte ein Kribbeln auf der Kopfhaut. Jetzt sagte ihm der Name etwas. Das bedeutete, es musste sich um jemand Brisantes handeln. Bei der Datenmenge, die sie mittlerweile verwalteten, blieben einem nur die »großen Fische« in Erinnerung.

»Marine?«, hakte er nun nach.

»Ja, und zwar Hitlers Marine. Was sagt dir U-9881?«

Marchand schnappte nach Luft. Mit einem Schlag wusste er, von wem sein Mitarbeiter sprach und warum Röhmer als »Rotes Licht« in ihrer Kartei schlummerte.

»Der Siegfried Röhmer? Der, der mit seinem U-Boot 1945 zu den Russen übergelaufen ist?«

»Genau der«, antwortete Jone mit einem triumphierenden Lächeln.

»Ich weiß nicht, wie viele Geschichten sich um die geheimnisvolle Ladung dieses U-Boots ranken! Es heißt, Röhmer wäre auf dem Weg zu den Japanern gewesen und hätte sich dann kurz vor Kriegsende dazu entschlossen, zu den Russen überzulaufen. Es halten sich hartnäckig Gerüchte, die besagen, dass der Krieg anders ausgegangen wäre, wenn U-9881 Japan jemals erreicht hätte.«

»Ja, ich weiß. In diesem Punkt gleichen sich die Geschichten. Die Fracht des U-Boots wäre angeblich kriegsentscheidend gewesen. Allerdings hat nie jemand feststellen können, was genau die damals an Bord hatten. Laut den noch existierenden Ladelisten gab es eine große Anzahl durchnummerierter Kisten mit unbekanntem Inhalt …«

Leon Marchand war nun neugierig. Ungeduldig fragte er deshalb: »Wie genau ist dieser Kapitänleutnant denn nun auf unserem ›Radar‹ aufgetaucht?«

Jone zog die Brille vom Kopf und setzte sie sich wieder auf die Nase. Dann sagte er ernst: »Online-Auktion.«

»Bitte?«

»Tja, wer hätte das gedacht. Sein Soldbuch, sprich sein Pass, ist bei einer Online-Auktion angeboten worden und er sieht echt aus. Hier …«

Marchand nahm den Ausdruck, den ihm Jone von der Website gemacht hatte. Dann bemerkte er die fremden Schriftzeichen unter der Abbildung des Passes.

»Was ist das? Chinesisch?«

»Koreanisch«, antwortete Jone angespannt.

Marchand hob überrascht eine Augenbraue. »Wie kommt der Pass nach Korea?«

»Keine Ahnung, eventuell hat das gar nichts zu bedeuten.«

»Was wissen wir sonst noch über diesen Röhmer und sein U-Boot?«

»Die Alliierten glaubten damals, die Ladung hätte etwas mit Hitlers Atomprogramm zu tun. Es gab sogar Spekulationen, die davon ausgingen, dass Stalin mit den Kisten von U-9881 sein eigenes Atomprogramm vorangetrieben hätte. Allerdings haben die Russen nie bestätigt, dass das U-Boot samt Ladung in ihren Besitz gekommen ist.«

»Warum sollten sie auch?«, antwortete Marchand nachdenklich. »Zudem wäre diese Forschung mittlerweile längst überholt.«

»Du denkst, diese Angelegenheit spielt für das BAS heute keine Rolle mehr?«

»Siegfried Röhmer spielt für uns heute vielleicht keine Rolle mehr, aber eine Ladung kriegsentscheidendes Material? Ganz privat hoffe ich auf den guten, alten ›dummen‹ Zufall. Soll heißen, es hat nichts zu bedeuten, dass dieser Pass als ›Schnäppchen‹ im Internet angeboten wird. Ganz privat vertraue ich auch darauf, dass das U-Boot längst von den Russen verschrottet wurde und die Ladung keine Gefahr mehr darstellt. Aber als Leiter dieser Abteilung kann ich mir Hoffen und Vertrauen nicht erlauben. Deswegen möchte ich doch noch ein bisschen mehr erfahren. Also, was haben wir noch?«

Dieses Mal grinste Jone zufrieden. »Ich habe unsere Computerleute darauf angesetzt. Wir haben die Adresse des Verkäufers in Südkorea.«

 

Philippinen, am gleichen Tag in einem Hotelresort auf der Insel Cebu

 

Gerrit genoss seinen Aufenthalt auf den Philippinen. Das Hotel war erstklassig, das Essen lecker und die Temperaturen fantastisch. Er hatte Bedenken wegen möglicher Unwetter gehabt – aber offensichtlich blieb sein Ferienort verschont. Die Taifun-Hochsaison hatte, genau so, wie es ihm von der netten Reisebüromitarbeiterin in Brüssel versprochen worden war, noch nicht begonnen.

Sein Kollege Jone hatte ihn mit der Frage »Haben dir unsere Ausflüge nicht gereicht?« aufgezogen und damit natürlich auf ihren letzten Fall angespielt.

Gerrit musste zugeben, dass ihm der Nervenkitzel bereits fehlte. Er fühlte sich nicht dafür geschaffen, rund um die Uhr am Schreibtisch zu sitzen. Das war ihm hier in seinem Urlaub nur noch bewusster geworden. Er würde mit Marchand sprechen müssen. Seit ihrem Abenteuer letztes Jahr hatte sich für ihn alles verändert.

Gerrit war neunundzwanzig Jahre alt und Brite. Den Job beim BAS verdankte er seinen Computerkenntnissen. Ihm machte seine Arbeit Spaß, keine Frage, aber ihm fehlte das gewisse Etwas dabei. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm, während er nach seinem Mai-Thai griff und beherzt an dem Strohhalm sog. Offensichtlich war das zwei jungen braun gebrannten Amerikanerinnen nicht entgangen, die nun kichernd in seine Richtung blickten.

Gerrit war selbst an der Strandbar akkurat frisiert und glatt rasiert. Zu seinem Bedauern hatte er die für viele Engländer typischen rotblonden Haare und sehr helle Haut. Damit war er dazu verdonnert, sich vor allem auf die Schattenplätze der feudalen Hotelanlage zu beschränken. Die jungen Frauen kicherten immer noch. Gerrit grinste jungenhaft zurück und machte gerade Anstalten, sich den Damen zuzuwenden, als der Anruf kam.

 

»U-9881?«, Gerrit vergaß sofort den Mai-Thai und die beiden Strandschönheiten und bahnte sich eilig den Weg durch die zahlreichen Feriengäste.

»Ich bin allein, wir können reden«, sagte er etwas theatralisch, als er in seinem Hotelbungalow ankam.

Leon Marchand, am anderen Ende der Leitung, musste schmunzeln, enthielt sich allerdings eines Kommentars. Er hatte längst bemerkt, dass sein Mitarbeiter nach der »Aljona-Sache« anfing, sich im normalen Büroalltag zu langweilen. Er hätte Gerrit gerne im Team behalten, befürchtete aber, dass dieser sich in nächster Zeit einen aufregenderen Job suchen würde. Nun, vielleicht konnte ihn dieser Spezialauftrag davon überzeugen, dass das BAS doch das Richtige für ihn war.

»Hör zu, was hältst du von ein paar Tagen Sonderurlaub in Südkorea?«

Gerrit war sofort Feuer und Flamme. »Klar, Boss, ich bin schon am Packen!«

Marchand erklärte seinem Mitarbeiter, was sie herausgefunden hatten, und gab ihm die Adresse in Sokcho. Eine Stadt an der Ostküste Südkoreas, direkt am Japanischen Meer und nicht weit entfernt von der Grenze zu Nordkorea.

Der Verkäufer von Röhmers Pass hatte einen Nickname benutzt, aber für die Computerspezialisten war es ein Leichtes gewesen, seine reale Adresse herauszufinden. Ein gewisser Lim Mok hatte die Wohnung angemietet – traditionell stand im Koreanischen der Nachname vor dem Vornamen.

»Ich will wissen, woher der Pass stammt und ob er echt ist!«

»Geht klar«, antwortete Gerrit eifrig, der sich sein Handy hinter das Ohr geklemmt hatte und bereits während des Gesprächs seine Kleider achtlos in den Koffer warf.

»Versuche, ihm den Pass abzukaufen. Dein Budget sollte dafür ausreichen.«

»Privatjet?«, fragte der junge Mann nun hoffnungsvoll.

»Nicht übertreiben. Linienflug, erster Klasse, mein Freund, das sollte reichen. Du bist knappe fünf Stunden in der Luft. Am Flughafen in Seoul steht ein Mietwagen bereit. Ich will alle sechs Stunden Meldung.«

»Geht klar!« Gerrit war die Aufregung anzuhören.

Marchand hatte das Gefühl, noch eine Warnung aussprechen zu müssen, darum sagte er: »Wenn dir irgendetwas komisch vorkommt, dann verschwinde in dein Hotel. Wir gehen momentan davon aus, dass nichts hinter diesem plötzlichen Auftauchen des Passes steckt – trotzdem möchte ich, dass du vorsichtig bist. Außerdem solltest du die Zeit während des Flugs nutzen und die Unterlagen lesen, die dir Jone per E-Mail geschickt hat.«

Das dritte »Geht klar!« unterdrückte der junge Mann gerade noch, stattdessen verabschiedete er sich mit einem nüchternen »Ich melde mich, sobald ich in Seoul gelandet bin«.

 

Südkorea, 16. Mai

 

Am frühen Morgen saß Gerrit im Flieger Richtung Seoul. Er hatte mittlerweile alles gelesen, was er von Jone erhalten hatte. Dem Finnen war es sogar gelungen, Kopien der alten Fracht- und Besatzungslisten von U-9881 aufzutreiben.

Obwohl der junge Brite die Anfangszeiten des BAS nicht miterlebt hatte, da war er schließlich noch ein Säugling gewesen, wusste er natürlich um die ursprüngliche Bedeutung dieser Behörde. Eigentlich war es darum gegangen, keine bösen Überraschungen mit den neuen Freunden im Osten zu erleben. Daher sollten auch alle ehemaligen Gegenspieler im Auge behalten werden. Die älteren Kollegen, wie Jone zum Beispiel, hatten ihm erzählt, welche Geheimnisse damals zutage gefördert worden waren. Der Verbleib des Kapitänleutnants Siegfried Röhmer, seiner Mannschaft und U-9881 gehörte allerdings nicht dazu.

Mit einer wohligen Gänsehaut lehnte sich Gerrit in seinem breiten Erste-Klasse-Sitz zurück und dachte über Jones E-Mail nach. Dieses U-Boot hatte also eine geheime Ladung transportiert. Man munkelte, dass die Nazis zusammen mit der Fracht auch einen ihrer besten Physiker nach Japan geschickt hätten. Allerdings tauchte in den Papieren des Bootes nirgendwo ein entsprechender Name auf.

Was, wenn Röhmer damals doch nicht zu den Russen übergelaufen war? Wo war dann das U-Boot geblieben? Lag es vielleicht auf dem Meeresgrund, oder hatten es sich doch die Amerikaner gekrallt? War die Behauptung, der Kapitänleutnant hätte Stalin seine Aufwartung gemacht, nur ein geschicktes Täuschungsmanöver? Wie dem auch sei, jedenfalls war der junge Brite froh, dass ihn Marchand mit den Nachforschungen betraut hatte.

 

Nach der Landung in Seoul setzte er sich sofort in den Mietwagen und machte sich auf den Weg nach Sokcho. Allerdings stellte sich das als schwieriger heraus, als er angenommen hatte. Seoul war nicht nur irgendeine Großstadt, hier war das Herz von Südkorea und entsprechend pulsierte die Metropole.

Als er bemerkte, dass er sich verfahren hatte, und das Navi einschaltete, war die Sprachwiedergabe auf Koreanisch. Aber auch die emotionslose englische Version lotste ihn noch gefühlte dreitausend Kilometer kreuz und quer durch die City, bis er endlich die richtige Stadtautobahn erreichte. Gerrit stöhnte, sein Missgeschick war ihm peinlich. Glücklicherweise verlief die restliche Fahrt ohne weitere Zwischenfälle und er fand problemlos die Adresse in Sokcho.

Die Wohngegend war alles andere als ansprechend. Ein bisschen erinnerte sie ihn an die Außenbezirke von Birmingham oder Manchester.

Um nicht zu sehr aufzufallen, ließ er den Wagen nicht direkt vor dem mehrstöckigen Haus stehen, sondern parkte ein Stück entfernt neben einem kleinen Lebensmittelgeschäft.

Zu Fuß machte er sich auf den Weg. Die Einwohner des Viertels hielten ihn vermutlich für einen Touristen, der sich verlaufen hatte.

Das Haus, in dem Lim Mok lebte, wirkte etwas heruntergekommen. Die Eingangstür hing schief in den Angeln und ließ sich nicht richtig schließen. Auch die Fassade hätte einen neuen Anstrich vertragen können. Am Eingang gab es keine Namensschilder, allerdings hätte Gerrit mit den koreanischen Schriftzeichen sowieso wenig anfangen können. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich zu Moks Wohnung durchzufragen.

Eine Frau mittleren Alters fegte gerade den Gehweg. Obwohl sie während ihrer Arbeit ein mürrisches Gesicht machte, reagierte sie äußerst freundlich auf den Briten.

Sie bemühte sich, sein Anliegen zu verstehen, und konnte ihm in gebrochenem Englisch die Auskunft geben, dass Mok im dritten Stock wohnen würde: linke Seite, zweite Tür.

Zuvorkommend informierte sie Gerrit noch darüber, dass vor ungefähr einer halben Stunde schon einmal nach Herrn Lim gefragt worden sei. Die beiden Männer habe sie ebenfalls nach oben geschickt, allerdings seien das keine Ausländer gewesen.

Gerrit wurde hellhörig. Offensichtlich war dieser Lim Mok heute bei Fremden sehr begehrt. Freunde konnten die Männer kaum gewesen sein, sonst hätten sie nicht nach dem Weg zu seinem Appartement fragen müssen.

Er bedankte sich freundlich, bemerkte aber, wie sich seine Muskeln anspannten. Die Baseballkappe, die er auf dem Kopf trug, zog er tiefer ins Gesicht. Für alle Fälle kramte er sein Handy aus der Tasche und startete die Videoaufzeichnung. Unauffällig umschloss er das kleine Smartphone mit der Handfläche und hielt es vor sich.

Das Treppenhaus war menschenleer und der Geruch von würzigem Essen zog durch die Gänge, während der BAS-Mitarbeiter den dritten Stock erklomm. Vor Moks Wohnung blieb er stehen und lauschte. Im Inneren hörte er ein eigenartiges Rumoren – es klang, als würde jemand Möbel verschieben. Dann vernahm er gedämpfte Stimmen. Die koreanische Sprache war für ihn fremd, alles klang unrhythmisch und hart. Irgendetwas polterte im Inneren der Wohnung auf den Boden. Gerrit zuckte zusammen und dachte an Marchands Anweisungen. Jedoch wäre es ihm in diesem Moment unmöglich gewesen, einfach zu gehen. Seine Neugier war zu groß. Hinter der Tür hörte er plötzlich eilige Schritte, die auf ihn zukamen.

Mit angehaltenem Atem sprang er zur Seite und schnellte um die nächste Ecke. Vorsichtig spähte er aus seinem Versteck und schob das Handy ein wenig nach vorne. Zwei Männer verließen die Wohnung von Lim Mok. Sie sprachen nicht miteinander, sondern huschten wie Schatten vorbei und verschwanden.

Instinktiv hatte es der Brite vorgezogen, den beiden nicht entgegenzutreten. Jetzt hoffte er, dass das kein Fehler gewesen war, schließlich hätte ja einer von ihnen der gesuchte Mok sein können.

Er wartete ein paar Minuten und schlich dann zur Wohnung. Erneut versuchte er, etwas zu hören, und bemerkte dabei, dass die Tür nur angelehnt war.

Mit klopfendem Herzen schob er sie leise auf und schlüpfte schnell hindurch. Im Inneren war es dunkler als im Treppenhaus.

Gerrit trat in ein kleines Wohnzimmer und wollte sich schon mit einem freundlichen »Hallo« bemerkbar machen, als er begriff, was hier geschehen war.

Mit Entsetzen starrte der BAS-Mitarbeiter auf den Toten am Boden. Wie es aussah, hatte er Lim Mok gefunden.

 

In diesem misshandelten Zustand war das Alter eines Menschen nur schwer zu erkennen. Gerrit konnte es kaum glauben, dass Lim erst fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sein sollte.

Im Gesicht des toten Koreaners hing noch ein Fetzen breites Klebeband. Offensichtlich war es als Knebel benutzt worden, damit die Nachbarn die Schreie nicht hören konnten. Er war noch nicht lange tot. Sein Gesicht glänzte feucht von den Tränen, die er vor Angst und Schmerz vergossen hatte. Der Geruch von menschlichen Ausscheidungen hing in der Luft. Es fiel Gerrit schwer, nicht in Panik zu geraten, als ihm bewusst wurde, was man dem Mann angetan hatte.

Noch nie zuvor hatte er ein Folteropfer gesehen. Auch wenn man die Berichte darüber kannte, so war es doch etwas vollkommen anderes, im gleichen Raum mit einem so grausam geschundenen Körper zu sein.

Lim Moks Peiniger hatten ihm mit Stöcken die Fußsohlen blutig geschlagen. Vor Gerrits innerem Auge spielte sich eine schreckliche Szene ab: Er stellte sich vor, wie man Mok immer und immer wieder schlug, bis die Haut aufplatzte und die harten Stöcke die freiliegenden Knochen malträtieren konnten. Zwischendurch riss man ihm das Klebeband vom Mund, um Antworten zu erzwingen, die er nicht geben konnte, nur um dann mit dieser sadistischen Prozedur fortzufahren. Gerrit glaubte sogar, die vom Knebel gedämpften Schmerzensschreie hören zu können, sowie Moks leises Wimmern und Flehen.

War es so gewesen? Hatte man von dem Koreaner Informationen gefordert? Ging es etwa um den Pass des einstigen Kapitänleutnants Siegfried Röhmer? Oder war hier ein Bestrafungsritual durchgeführt worden – vielleicht ein Kredithai, der Schulden eintrieb? Gerrit verwarf seinen letzten Gedanken. Geldeintreiber brauchten lebendige Kunden. Tote konnten Schulden nicht zurückzahlen. Außerdem hatten die Mörder in der Wohnung etwas gesucht. Die polternden Geräusche von vorhin erklärten sich, wenn man einen Blick auf die ausgeleerten Schubladen und durchwühlten Schränke warf. In der Wohnung herrschte wildes Chaos.

Gerrit fasste einen Entschluss. Er würde selbst noch einmal nachsehen. Vielleicht stieß er auf etwas Brauchbares. Allerdings war das nicht der Fall. Vermutlich hatten die Mörder bei ihrer Suche mehr Erfolg gehabt.

 

Als der Brite zwanzig Minuten später so unauffällig wie möglich die Wohnung von Lim Mok verließ und die Stufen zum Ausgang hinabstieg, hatte er weiche Knie. Zum Glück war die nette Nachbarin von vorhin nicht mehr auf der Straße. Wenn sich erst einmal die Polizei der Sache annehmen würde, dann wäre er sicherlich schnell der Verdächtige Nummer eins. Vielleicht war es aber auch verkehrt gewesen, die südkoreanischen Behörden nicht sofort zu verständigen. Jetzt spielte das jedoch keine Rolle mehr.

Er würde entgegen dem ursprünglichen Plan sofort nach Seoul zurückfahren und von dort aus Marchand anrufen. Länger hier in Sokcho zu bleiben, schien ihm nicht besonders klug.

Nur unter größter Anstrengung gelang es Gerrit überhaupt, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken, so sehr zitterten seine Finger. Auf der Rückfahrt war er dankbar, dass das Navi von Zeit zu Zeit etwas sagte – das half ihm, sich nicht so alleine zu fühlen. Der Schock saß tief und plötzlich wünschte sich der junge Mann zurück an seinen Schreibtisch, der momentan einsam in dem hellen Büro in Brüssel stand.

 

* * *

 

Während sich Gerrit das Zahnputzglas mit Gin Tonic im Verhältnis 2:1 füllte und es sich wie eine kalte Kompresse an die Stirn hielt, ertrug er stumm die Schimpftirade von Leon Marchand, die gerade per Handy über ihn hereinbrach.

Sein Chef war sauer. »Was habe ich dir gesagt? Kein Risiko! Ab ins Hotel, wenn etwas merkwürdig ist! Waren das nicht meine Worte?«

Gerrit murmelte eine Entschuldigung und wartete, bis sein Vorgesetzter Dampf abgelassen hatte.

»Herrgott, du bist nicht ausgebildet für so etwas!« Leon Marchand fühlte sich verantwortlich. »Du nimmst die nächste Maschine zurück, pack alles zusammen und bewege dich schnellstens zum Flughafen.«

Statt darauf zu reagieren, stellte Gerrit eine Frage: »Konntet ihr mit dem Video etwas anfangen? Kann man die Gesichter der Typen erkennen?«

Marchand schnaufte gut vernehmlich in den Hörer. Kurz schwieg er, dann wurde er sachlich. »Ja, die Aufnahme ist brauchbar. Wir versuchen unser Glück. Außerdem hat die Polizei in Sokcho mittlerweile die Leiche von Lim Mok gefunden. Wir haben jemanden in der britischen Botschaft in Seoul, der uns auf dem Laufenden halten wird. Bis jetzt suchen sie dich jedenfalls noch nicht.«

Es folgte eine kurze Pause, dann sprach Marchand erneut: »Das mit dem Video war gute Arbeit.«

Gerrit entspannte sich ein wenig und ergriff seine Chance: »Ich sollte die Schwester aufsuchen. Vielleicht weiß sie etwas.«

Im Appartement des Toten hatte er Fotos und die Adresse von einer gewissen Lim Sang in Seoul gefunden. Wie sich herausstellte, die Schwester des Opfers. Röhmers Pass blieb allerdings weiter verschwunden.

Marchand wusste, dass Gerrit recht hatte. Wenn sie an der Sache dranbleiben wollten, dann musste sie ihr nächster Weg zu der Schwester führen. Allerdings fürchtete er um die Sicherheit seines Mitarbeiters.

»Leon, ich bin doch nun mal schon hier. Was, wenn mehr dahintersteckt? Ich sollte mit der Schwester reden. Außerdem könnte die Frau in Gefahr sein. Wenn wir sie gefunden haben, dann können das die anderen auch.«

Marchand schwieg so lange, dass Gerrit bereits befürchtete, dass das Gespräch abgerissen sei. Dann plötzlich erklang erneut die Stimme des Vorgesetzten. »Du gehst auf direktem Weg zur britischen Botschaft. Dort bleibst du, bis ich dir neue Anweisungen gebe.«

»Und die Frau? Was, wenn die Mörder bei ihr auftauchen?«

»Das regle ich!«, antwortete der Leiter des BAS mit Nachdruck.

 

Leon Marchand beendete das Gespräch mit ungutem Gefühl und machte sich schnurstracks auf den Weg zu seinem Vorgesetzten.

Der war einigermaßen überrascht von dem, was ihm vorgetragen wurde. Allerdings war der Mann kein Dummkopf und er verließ sich auf Marchands Urteilsvermögen.

Er hielt sich nicht mit langen Reden auf, sondern fragte nur: »Was brauchen Sie?«

Marchand war erleichtert. Auf seinen Boss war eben Verlass. »Wir brauchen jemanden, der die Schwester des Toten, diese Lim Sang, überwacht. Vielleicht können uns die Deutschen aushelfen. Die haben in ihren Botschaften immer ein paar Sicherheitsleute extra. Man muss denen aber unmissverständlich klar machen, dass der Schutz der Frau höchste Dringlichkeit hat. Wir schicken die Bilder von Gerrits Video rüber. Das Überwachungsteam soll sofort eingreifen, wenn die Mörder bei der Schwester auftauchen. Und ich will Gerrit solange bei den Briten unterbringen, damit er nicht in eine Mordermittlung hineingezogen wird.«

»Wäre es nicht besser, ihn abzuziehen?«

»Ehrlich gesagt hatte ich das eigentlich auch vor. Aber ihn vor Ort zu haben, um mit der Schwester zu sprechen, ist natürlich ein riesiger Vorteil.«

»Vielleicht haben diese beiden Killer bei Lim Mok alles gefunden, was sie suchten, und sind längst wieder in dem Rattenloch verschwunden, aus dem sie gekrochen sind«, sagte der Vorgesetzte mit einem tiefen Seufzer.

»Ja, und vielleicht hat das alles gar nichts mit diesem Kapitänleutnant Röhmer und seinem Pass zu tun.«

Ein trauriges Lächeln umspielte jetzt den Mund von Marchands Boss, als er sagte: »Tja, vielleicht!«

Leon war froh, dass das BAS mit solch weitreichenden Kompetenzen und Verbindungen ausgestattet war. Die beiden Botschaften würden natürlich helfen, dafür konnte sein Vorgesetzter schon sorgen.

 

Zurück in seinem Büro beriet er sich mit Jone.

Der Finne wollte seinen Chef beruhigen und sagte: »Wir sollten die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass der Mord an Lim Mok nichts mit dessen Online-Auktion und dem Pass von Röhmer zu tun hat.«

Marchand sah ihn dankbar an. »Ja, aber sind wir doch einmal ehrlich – wir glauben doch beide längst nicht mehr an pure Zufälle. Ich denke, wir sind da an etwas dran.«

Jone widersprach nicht. Letzten Endes sah er es wie sein Vorgesetzter. Das Stochern im Wespennest hatte begonnen und die gefährlichen »Biester« schwärmten bereits aus.

 

* * *

 

An der Ostküste von Nordkorea – 20. Mai, Gegenwart, nachts

 

Der verrostete Geländewagen fuhr mit quietschenden Reifen um die Kurven. Der Auspuff stieß schwarze Rauchwolken aus und Chin fragte sich zum wiederholten Mal, wie er sich nur hatte auf so etwas einlassen können.

Mit zusammengepressten Lippen lenkte er das Fahrzeug über die schmale Landstraße und drückte seinen Fuß fest auf das Gaspedal, bis er die Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Seine Hüfte schmerzte. Er fuhr mit der Hand an die Stelle und sog scharf die Luft ein, als seine Finger die Wunde berührten. Man hatte auf ihn geschossen, ihn gejagt wie ein wildes Tier. Hektisch sah er in den Rückspiegel. Es schien, als wären die Lichter hinter ihm verschwunden. Sollte es ihm tatsächlich gelungen sein, die Verfolger abzuhängen?

 

Chin arbeitete in einer der neuen Fabrikanlagen Nordkoreas. Eines Tages, das war vor ungefähr drei Jahren gewesen, hatte ihm ein Ausländer ein Angebot gemacht und ein großes Bündel Devisen auf den Tisch gelegt. Er hatte nicht widerstehen können. Eine ganze Zeit lang lief es richtig gut für ihn. Die Bündel kamen regelmäßig und er brauchte noch nicht einmal etwas dafür tun.

Chin war Mitte zwanzig und Computeradministrator. Er war einer von vielen und besaß weder die richtigen politischen Verbindungen noch geniale Fähigkeiten, die ihn zur Elite des Landes hätten aufsteigen lassen können. Aber dafür hatte er seit drei Jahren genügend Geld, um sich ein schönes Leben zu machen.

Alles war großartig gewesen, bis man von ihm vor wenigen Tagen die Gegenleistung für die schönen »Geschenke« forderte. Plötzlich und völlig unerwartet hatte man ihn aktiviert. Eigentlich war das, was man von ihm verlangte, nicht schwer. Er sollte ein bisschen spionieren.

Anfangs hatte er sogar richtig Spaß daran. Als Erstes fand er einen Weg, an dem Sicherheitssystem des Hauptrechners vorbeizukommen. Aber schnell stellte sich heraus, dass sich die für seine Auftraggeber interessanten Daten dort nicht befanden. Man wollte Informationen über die Forschungsprojekte der Anlage. Da ihm niemand sagen konnte, nach was genau er suchen musste, war er massiv unter Druck geraten.

In der Firma war man bereits wegen seiner neugierigen Fragen misstrauisch geworden. Auf das unabhängige Computernetzwerk der Forschungsabteilung bekam er keinen Zugriff, der ausgeklügelte Verschlüsselungsalgorithmus war nicht so leicht zu umgehen. Also hatte er beschlossen, dem Bereich einen persönlichen Besuch abzustatten – in der Hoffnung etwas Brauchbares auf gutem, altmodischem Papier zu finden. Dafür wollte er sich die in Nordkorea allgegenwärtigen Elektrizitätsprobleme zunutze machen. Niemand wunderte sich hierzulande über einen Stromausfall. Er würde einfach während seiner Nachtschicht den Hauptschalter umlegen, zu den Büros der Forschungsabteilung hetzen und diese durchsuchen. Nachts waren nur die Produktionshallen in Betrieb. Die Forschungsgebäude lagen im Dunkeln und auch von der Computerabteilung musste für gewöhnlich nur ein Mitarbeiter anwesend sein.

Sein Plan ging auf. Wie gewöhnlich wurde der Stromausfall von den anwesenden Arbeitern mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Chin schlüpfte unbemerkt ins Nebengebäude und machte sich an die Arbeit. Durch die fehlende Elektrizität funktionierten auch die veralteten Schließanlagen nicht mehr. Schnell fand sich der junge Koreaner zurecht und sein Weg führte ihn direkt in die Räume des Abteilungsleiters. Die Schreibtischschublade war zwar verschlossen, aber Chin entdeckte den Schlüssel nach kurzem Suchen unter einer kleinen Topfpflanze.

Als er wenig später die Unterlagen auf dem Tisch ausbreitete, wusste er, dass er einen Volltreffer gelandet hatte. Die kleine Taschenlampe im Mund beeilte er sich, die Papiere mit dem Handy, das man ihm gegeben hatte, zu fotografieren.

Jedoch überließ man entgegen Chins naiver Annahme die Forschungsbüros nicht sich selbst. Bevor sich der junge Mann verstecken konnte, wurde die Tür aufgerissen. Die Wachen schrien aufgeregt: »Wir haben einen Spion!«, und befahlen dem vermeintlichen Feind, sich sofort auf den Boden zu legen. Chin sah ihre Waffen und dachte daran, wie schrecklich es im Gefängnis sein würde. Als Nächstes kamen ihm die grausamen Bilder von öffentlichen Hinrichtungen in den Sinn.

Seine Entscheidung war getroffen. Lieber wollte er das Risiko eingehen, erschossen zu werden, als die Folter oder das Gefängnis ertragen zu müssen. Er sprang nach vorne und stürmte an den Wachen, die von dieser Reaktion völlig überrumpelt waren, vorbei. Eine Sekunde später eröffneten die Männer das Feuer. Chin wurde getroffen, stolperte aber tapfer weiter. Zuerst fühlte er keinen Schmerz, dann fing die Wunde an zu brennen, und es war, als würde ein stumpfes Messer seinen Oberschenkel aufschlitzen.

Die Kugel steckte immer noch in seiner Hüfte. Nur ein Gedanke trieb ihn jetzt an: Er musste zum Übergabepunkt. Seine Auftraggeber würden ihn mitnehmen und sich um ihn kümmern. In Nordkorea konnte er unmöglich bleiben.

Chin verdrängte die Erinnerung daran, dass er das Handy während seiner Flucht verloren hatte. Immerhin war er in der Lage gewesen, sich einiges, was dort auf den geheimnisvollen Papieren gestanden hatte, zu merken. Auch jetzt flüsterte er den Inhalt der Unterlagen ständig vor sich hin, damit er nichts vergaß.

 

Wieder glitt sein Blick in den Rückspiegel. Waren das die Lichter von Autoscheinwerfern?

Dem jungen Koreaner lief der Schweiß von der Stirn. Ihm war heiß, so als hätte er Fieber. Reiß dich zusammen!, versuchte er, sich zu ermahnen, als er einen lauten Knall hörte.

Ungläubig sah Chin auf seine Hände, die hektisch am Steuer zerrten, aber keine Kontrolle mehr über das Lenkrad hatten. Das Auto fing plötzlich an, zu schweben, reagierte auf nichts mehr und auch das Motorengeräusch schien verstummt. Aber die Stille hielt nicht lange an. Der Aufprall war heftig und der Wagen überschlug sich. Chin glaubte, endlose Runden in diesem kantigen Karussell zu drehen. Schließlich rutschte das Auto auf dem Dach über den Asphalt und zog einen Funkenregen hinter sich her.

Der Koreaner wurde gegen die Frontscheibe gepresst und hielt die ganze Zeit über die Augen geschlossen. Er hatte keine Ahnung, was gerade mit ihm passierte. Als der Wagen endlich unbeweglich im Graben lag, schoss so viel Adrenalin durch seinen Körper, dass alle Schmerzen vergessen waren. Der ersten Freude, den Unfall überlebt zu haben, folgte die Erkenntnis, dass seine Verfolger immer noch hinter ihm her waren. Man hatte einen seiner Reifen zerschossen. Der Schütze musste unglaublich gut sein oder verdammtes Glück gehabt haben. So ein Treffer war alles andere als einfach.

Chin wollte sofort aus dem Auto und versuchen, sich zur Küste durchzuschlagen. Die Tür klemmte und er war noch angeschnallt. Der junge Mann spürte, wie Blut an seiner Schläfe entlanglief, ignorierte aber die Verletzung und versuchte sich verzweifelt, aus dem Sicherheitsgurt zu befreien.

Hektisch zog er an der tödlichen Fessel und riss sie dabei aus der Verankerung, die offensichtlich total verrostet war. Mit aller Kraft warf er sich gegen die verbogene Tür. Vermutlich war auch hier das fortgeschrittene Alter des Gefährts seine Rettung. Chin kugelte auf den harten Boden und atmete schwer. Aber ihm blieb keine Zeit für eine Pause. Das Geräusch eines sich nähernden Fahrzeugs war unüberhörbar. Der Koreaner sprang auf die Beine und stieß einen Schmerzenslaut aus. Die Kugel in seiner Hüfte bohrte sich gnadenlos wie ein dicker Finger immer tiefer ins Fleisch. Schon hörte Chin das Schlagen der Autotüren. Er hinkte schnell von der Straße, die bewaldeten Hügel boten ihm Schutz. Die Küste konnte nicht mehr weit entfernt sein. Fahrig drehte er sich im Kreis. Wo war das Meer?

»Im Namen der Demokratischen Volksrepublik Korea, ergeben Sie sich!«, hörte er eine laute Stimme.

Er zuckte zusammen und zog sich weiter in den Wald zurück. Aber er konnte seine Verfolger immer noch hören – es schien, dass weitere Fahrzeuge dazukamen und sich mittlerweile eine kleine Armee formierte, um ihn zu jagen.

Chin lief los, rannte kreuz und quer durch das Gelände, fiel mehrere Male hin, schlug sich die Knie auf, rappelte sich aber immer wieder hoch. Er glaubte, das Gebell von Hunden und Stimmen dicht hinter sich zu hören. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, hoffte darauf, dass ihm sein Verstand lediglich einen Streich spielte und niemand mehr hinter ihm her war. Völlig erschöpft lief er nun bergab. Plötzlich war er sich ganz sicher, das Rauschen des Wassers und das Toben der Wellen zu hören. Laut nach Luft schnappend, rannte er weiter. Ja, er hatte es geschafft. Er fühlte den Kies unter seinen Füßen, schmeckte die salzige Luft und spürte den typischen kühlen Wind auf der Haut. Am Ufer erkannte er jetzt sogar ein Schlauchboot, das musste sein Kontakt sein.

Vor Erleichterung riss er die Arme in die Höhe und begann zu winken. Nur wenige Meter trennten ihn noch von seiner »Rettung«, als ein weiterer Schuss fiel. Chin spürte etwas in seinem Rücken, aber er lief immer weiter und sah mit Entsetzen, dass das Boot bereits ins Wasser gezogen wurde.

»Wartet!«, schrie er heiser. Panik überkam ihn, man konnte ihn doch jetzt nicht zurücklassen.

Wieder spürte Chin einen eigenartigen Druck, dieses Mal am rechten Schulterblatt. Er stolperte ins Wasser, das Schlauchboot schaukelte auf den Wellen und schien sich zu entfernen.

»Wartet«, schrie er noch einmal. Das Meer war kalt und plötzlich hatte er entsetzliche Schmerzen. Sein ganzer Körper fühlte sich wie eine einzige Wunde an. Endlich griffen Hände nach ihm, und er wurde an Bord gehievt. Jemand sagte etwas, aber Chin war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Die Wunde an der Hüfte klaffte auseinander und die Einschüsse am Rücken hatten den jungen Koreaner lebensgefährlich verletzt. Jemand tätschelte ihm das Gesicht. Eine Stimme stellte Fragen, die er nicht verstand. Er wollte die Augen schließen, aber man ließ ihn nicht. Die Kälte war mittlerweile unerträglich und er konnte das Zittern nicht unterdrücken.

»Was hast du herausgefunden?«, fuhr ihn die Stimme nun schroff an. »Was geschieht dort?«

Chin begriff und versuchte zu antworten. Sein Mund war trocken und er schmeckte Blut. Mit aller Kraft wollte er die Worte wiedergeben, probierte, sich krampfhaft an das zu erinnern, was er sich so mühsam gemerkt hatte. Aber es gelang ihm nicht. Nur eines war ihm im Gedächtnis geblieben.

Erneut wurde er grob geschüttelt. »Sag, was du herausgefunden hast, sag es!«, drängte man ihn.

Es war nicht mehr als ein Flüstern, als Chin mit seinem letzten Atemzug antwortete: »Projekt Todlicht.«

 

1945, Anfang Mai

 

Es sollte nicht lange dauern, bis Friedrich Maynfeld seine Chance bekam. Anfang Mai häuften sich die abgefangenen amerikanischen Funkmeldungen über den Tod Hitlers und die Kapitulation Deutschlands. Vom eigenen Lager erhielten sie dagegen keine Nachrichten mehr. U-9881 war nicht weit von der japanischen Küste entfernt. Noch galt Japan als verbündeter Nazi-Deutschlands. Damit blieb das asiatische Land für Röhmer und seine Mannschaft ein sicherer Hafen.

Maynfeld musste also überzeugend sein. Etwas, das ihm – auch angesichts der Tatsache, dass er quasi die Wahrheit sagen konnte – nicht sonderlich schwerfallen würde. Sein Vorschlag war im Prinzip für alle Beteiligten die beste Lösung. Zudem schien heute ein guter Zeitpunkt, das entscheidende Gespräch zu führen.

In der Nacht hatte es einen weiteren Angriff gegeben. Dabei wurde einer der jungen Matrosen schwer verletzt. Eines der massiven Drehräder hatte sich beim Alarmtauchen gelöst und wurde mit Wucht durch den Bootsrumpf geschleudert. Der Soldat konnte nicht ausweichen, das Metallrad traf ihn direkt ins Gesicht. Sein linkes Auge wurde ausgeschlagen und die schwere Kopfverletzung, zusammen mit dem hohen Blutverlust, hatten ihm qualvolle Stunden bereitet. Schmerzmittel waren in den letzten Kriegstagen Mangelware, folglich konnte der Schiffsarzt dem Kameraden kaum Erleichterung verschaffen. Sein Stöhnen und Jammern hatte die Männer aufgerieben. Als der erlösende Tod endlich eingetreten war, waren selbst die Stärksten unter ihnen gebrochen. Ein Umstand, der Maynfeld jetzt in die Hände spielte.

Mit betont betretener Miene bat er den Kaleu um eine Unterredung. Die ersten Worte galten dem toten Matrosen – es war wie ein Test, der erfolgreich verlief. Die Mimik Röhmers sprach Bände. Maynfeld würde einen Vorstoß wagen.

 

* * *

 

»Sie verlangen von mir, zu den Amerikanern überzulaufen und damit mein Land zu verraten?«, stieß Röhmer schließlich hervor, nachdem ihm der Wissenschaftler sein Vorhaben erklärt hatte.

Der Kaleu klang nicht wirklich entsetzt, sodass Maynfeld diese Bemerkung ignorierte und einfach weitersprach: »Der Krieg ist vorbei. Was denken Sie, was Sie und Ihre Männer erwartet, wenn die Amis uns als Gefangene in die Finger bekommen?« Er räusperte sich leise, bevor er eindringlich weitersprach: »Und das wird passieren, früher oder später! Da ist es doch besser, rechtzeitig zu verhandeln.«

Der junge Professor machte ein unschuldiges Gesicht, aber Röhmer hatte dessen Spiel längst durchschaut.

»Für Sie, Herr Maynfeld, wird sicher alles hervorragend laufen. Als Zivilist, keine Uniform, kein Hinweis auf ein Parteibuch oder SS-Kontakte … Aber für mich und meine Männer könnten diese ›Verhandlungen‹ Kriegsgefangenschaft bedeuten. Japan ist nicht mehr weit, warum sollte ich das riskieren?«

»Herr Kapitänleutnant, Sie sind sicher ein hervorragender U-Boot-Kommandant. Aber, so leid es mir tut, vom politischen Kalkül verstehen Sie nichts.« Der Wissenschaftler versuchte ein freundliches Lächeln.

»Aber Sie tun das?«, erwiderte Röhmer mit sarkastischem Unterton.

Maynfeld ließ sich nicht beirren. Bisher hatte er vor Röhmer gestanden und lässig die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Jetzt nahm er unaufgefordert Platz und beugte sich ein Stück nach vorne. »Was glauben Sie, wie lange Japan noch durchhalten kann?« Zufrieden lehnte er sich zurück und beobachtete den Kapitänleutnant, der sich dieses Szenario offensichtlich gerade vorzustellen versuchte. Er setzte nach: »Die Japaner werden untergehen, genau wie Deutschland. Wollen Sie und Ihre Männer dann dort sein? In einem fremden Land? Was denken Sie, werden Ihnen die Amerikaner dann noch anbieten? Es wird heißen, Sie hätten sich hinter japanischen Kimonozipfeln versteckt. Und wer garantiert Ihnen, dass die Japaner Sie nicht ausliefern, um die eigenen Soldaten zu retten?«

Röhmer kämpfte mit den widersprüchlichsten Empfindungen. Ausgerechnet der unsympathische Maynfeld, gegen den er eine regelrechte Aversion hatte, sollte bei so einem riskanten Unternehmen sein Verbündeter sein. Er hätte den Mann gerne sofort wegen Hochverrats erschossen, aber leider lag dieser schmierige Kerl mit seinen Vermutungen richtig. Der Krieg war ganz offensichtlich verloren, der japanische Hafen nicht wirklich eine Option und davon abgesehen hatte er, Siegfried Röhmer, längst genug vom Kämpfen und Sterben.

»Wer sagt mir, dass meine Männer unversehrt bleiben? Sie?«, fragte er den Wissenschaftler gereizt.

»Ja, ich!« Maynfeld strotzte vor Selbstbewusstsein und genoss das verblüffte Gesicht des Kapitänleutnants.

»Wie?«

»Ich habe den Amis etwas anzubieten. Das reicht für mich, Sie, Ihre Offiziere und die Mannschaft.«

»Was?« Röhmers Stimme klang immer noch unwirsch.

»Mich!«

»Wie bitte?«

»Sie haben richtig verstanden, mich! Und ein paar Kleinigkeiten von Ihrem Boot.«

Daraufhin verzog der Kaleu das Gesicht. »Sie wollen denen die Ladung anbieten? Das nenne ich nicht gerade sehr originell.«

Maynfeld fing an, sich über diesen einfältigen Proleten zu ärgern. Allerdings unterdrückte er seinen Zorn.

Alles zu seiner Zeit, Friedrich, dachte er wütend, antwortete aber lediglich mit leichtem Spott in der Stimme: »Sie haben also keine Ahnung, wer ich bin, und was ich mache?« Geräuschvoll stieß der Wissenschaftler die Luft aus und fuhr fort: »Ich möchte, dass Sie sich etwas ansehen …«

Damit griff Maynfeld zu seiner Aktentasche, die er ständig bei sich trug und mit Argusaugen bewachte. Gemächlich legte er die Unterlagen auf Röhmers Tisch.

Der Kapitänleutnant las mit hochgezogenen Augenbrauen die Überschrift auf den Papieren, die vor ihm lagen. Dort stand: »Todlicht«.

 

 

Kapitel 3

 

5.000 v. Chr.: Pferde werden domestiziert. Den Zeitpunkt genau zu benennen, ist schwer, außerdem wird davon ausgegangen, dass dies an verschiedenen Orten parallel passierte. Unbestritten ist jedoch, dass der Einsatz von Pferden nicht nur das Transportwesen, sondern auch Kriege massiv beeinflusst hat. Pferde werden bis heute zum Beispiel bei militärischen oder polizeilichen Operationen in unwegsamem Gelände eingesetzt.

 

Büro des BAS – 25. Mai, Gegenwart

 

Wie es aussah, verfolgte niemand die Schwester des toten Lim Mok. Das deutsche Überwachungsteam, das mittlerweile abgezogen worden war, hatte die Frau beobachtet, während diese das Begräbnis ihres Bruders in Sokcho vorbereitet hatte. Die Leiche war nicht sofort freigegeben worden und die Beerdigungszeremonie dauerte mehrere Tage. Deshalb war es nicht einfach gewesen, die Schwester in Seoul anzutreffen. Heute war Lim Sang jedoch in ihre Wohnung zurückgekehrt und Gerrit sollte Kontakt aufnehmen.

 

* * *

 

Mit den Bildern von Gerrits Handy kam das BAS nicht voran. Obwohl sie auf zahlreiche Personendatenbanken zugreifen konnten, gelang es ihnen nicht, die Identität der Fremden festzustellen.

Jone hockte mit zusammengekniffenen Augen vor dem Bildschirm und sah sich die bearbeiteten Vergrößerungen an, als Paul Berens erschien und ihm freundschaftlich auf den Rücken klopfte.

»Na, alles klar, sind das eure Verdächtigen aus Südkorea?«

Jone nickte.

Paul hatte bis vor Kurzem noch in Russland als Bioinformatiker gearbeitet. Dann war sein Leben komplett aus den Fugen geraten und am Ende war der Vierzigjährige beim BAS gelandet. Marchand hatte ihn zwar zurzeit mit einem anderen Fall beauftragt, aber Paul war natürlich von den Untersuchungen in Südkorea unterrichtet.

»Wie kam es eigentlich zu der Teilung Koreas?«, fragte er nun unvermittelt seinen älteren Kollegen.

Jone, der eine Pause gebrauchen konnte, drehte sich zu Paul um. »Korea war bis 1945 eine japanische Kolonie und hätte eigentlich nach Ende des Zweiten Weltkrieges – Japan war zwischenzeitlich ja besiegt worden – unabhängig werden können. Aber die Siegermächte hatten andere Pläne. Der Norden orientierte sich nach der Teilung an Moskau und kannte keine Gnade mit politischen Gegnern und Andersdenkenden. Der Süden stand unter amerikanischem Protektorat und die Menschen dort litten unter einer Militärdiktatur, bei der es ebenfalls zu Unterdrückungen und Gewalt gegen die Bevölkerung kam. Heute hat sich der Süden zu einer Industrienation entwickelt. Im Norden dagegen gibt es Lebensmittel- und Energieengpässe. Da kann es nachts auch einfach mal dunkel bleiben. Die nordkoreanische Führung in Pjöngjang will ihr Atomprogramm nicht einstellen, verletzt fortwährend die Menschenrechte und verteidigt ihr totalitäres System, weshalb das Ausland an den Sanktionen und Embargos festhält. Ganz schön verfahren.«

Paul verstand und schwieg einen Moment nachdenklich. Dann fragte er: »Und wie kam Röhmers Pass nun nach Südkorea?«

»Genau darauf können wir uns keinen Reim machen. Immerhin haben wir ihn und sein U-Boot bei den Russen vermutet.«

Paul Berens streckte sich in seinem Stuhl, dann räusperte er sich und sagte mit einem Grinsen: »Also, ich bin zwar kein Experte für Korea, aber wenn ich an eurer Stelle wäre, würde ich versuchen, von den Russen zu erfahren, ob U-9881 1945 nun bei denen angelandet ist oder nicht. Und weil wir ja seit Neustem einen guten Kontakt haben, hätte ich mich ans Telefon gesetzt und ...«

Weiter kam Paul nicht, denn zwischenzeitlich war Leon Marchand hinter ihm aufgetaucht. Er hatte die letzten Worte seines Mitarbeiters gehört und vollendete dessen Satz mit einem Seufzer: »... und Boris Sorkin angerufen!«

 

* * *

 

Major Boris Iwanowitsch Sorkin war hocherfreut, als sich Leon Marchand bei ihm meldete. Der Major, dem die »Einheit Vier« unterstand, schätzte seinen Kollegen aus Brüssel sehr.

 

Die »Einheit Vier« war vor einigen Jahren gegründet worden. Ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen sollte sie ein wachsames Auge auf ausländische Investoren aus dem Westen haben. Auch und vor allem, wenn diese plötzlich zu eng mit russischen Politikern zusammenarbeiteten.

Sorkin war eines Tages in den Kreml gerufen worden und man hatte ihm diesen Posten gegeben. Nicht, dass er ihn gewollt hätte. Er war eigentlich kein Bürokrat, sondern Soldat. Sein Fürsprecher war ein ehemaliger General aus seiner Zeit beim Militär gewesen, der Sorkin als einen der wenigen ehrenvollen Männer dieser Zeit vorgestellt hatte.

Dann wurde ihm sein sogenannter Vertrauensmann präsentiert. Der Einzige, dem Sorkin Bericht erstatten musste und unter dessen Befehl er stand. Der Major war einigermaßen überrascht gewesen, wer ihm da die Hand geschüttelt hatte. Alles lief unter strengster Geheimhaltung ab. Nur ein kleiner Personenkreis wusste überhaupt davon.

»Schließlich müssen wir den Staat schützen, wenn nötig auch vor sich selbst!«, hatte man ihm gesagt.

Major Sorkin hatte verstanden. Es ging um die Angst vor Verschwörung und Putsch! Also suchte man Männer wie Sorkin, die unbestechlich und nicht der Politik, sondern nur dem Land treu ergeben waren. So hatte er dann auch Marchand kennengelernt.

Mit einer gewissen Unruhe lauschte Boris Sorkin nun den Ausführungen seines Brüsseler Kollegen, der ein sehr gutes Russisch sprach.

 

»Das hört sich so an, als hätte sich das BAS ein weiteres heißes Eisen aus dem Feuer gezogen«, sagte der Major mit der für ihn üblichen Gelassenheit.

Marchand, am anderen Ende der Leitung, sah das Gesicht von Sorkin mit den braunen, leicht hängenden Augen vor sich. Die ließen ihn immer etwas schläfrig aussehen und vermittelten jenen, die den Russen nicht kannten, den trügerischen Eindruck, Sorkin würde sie nicht durchschauen.

Der Leiter des BAS wusste jedoch aus eigener Erfahrung, mit welchem messerscharfen Verstand dieser Mann arbeitete. Sorkin war durch und durch vertrauenswürdig, und um es altmodisch auszudrücken, ein Mann von Ehre.

»Ich befürchte, Sie haben recht, Boris Iwanowitsch«, antwortete ihm Marchand und verwendete die russische Höflichkeitsform.

Sorkin ließ sich nicht lange bitten, sondern kam direkt zur Sache: »Wie kann die ›Einheit Vier‹, wie kann ich helfen?«

»Nun, ehrlich gesagt, mache ich mir mittlerweile etwas Sorgen um den Verbleib dieses U-Boots. Es würde mich beruhigen, wenn ich wüsste, dass es vor vielen Jahren zum Beispiel in einer Werft in Wladiwostok abgewrackt wurde …«

Sorkin gab einen seltsamen Laut von sich und der Leiter des BAS glaubte fast, sein Gesprächspartner würde kichern, obwohl er sich eine derartige Gefühlsregung von dem stets disziplinierten Major kaum vorstellen konnte.

»Sie denken, Russland hat dieses U-Boot? Wie kommen Sie darauf?« Sorkin schien tatsächlich amüsiert.

»Alle Unterlagen nach Kriegsende deuten darauf hin, dass der Kapitänleutnant Siegfried Röhmer zu Ihren Landsleuten übergelaufen ist.«

»Und es gibt bis heute keine Bestätigung dafür?«

»Nein!«

»Also wenn das BAS bisher nichts gefunden hat, dann kann das entweder bedeuten, dass diese Geschichte auch heute noch ›Streng geheim‹ ist – was mich ein bisschen wundern würde – oder dass Ihre Annahme falsch ist und U-9881 niemals russisches Salzwasser unter dem Kiel hatte.«

»Können Sie das prüfen?«, fragte Marchand nun hoffnungsvoll.

Sorkin hatte bereits eine ziemlich klare Idee davon, wie er an die Daten kommen könnte, allerdings lag ihm noch etwas auf dem Herzen. Darum sagte er: »Ich kann versuchen, zu helfen, aber wenn Russland in irgendeiner Weise betroffen ist, dann muss ich meinen Verbindungsmann informieren. Natürlich mit der größtmöglichen Diskretion. Anders wird es nicht laufen.«

»Einverstanden!«

»Was noch?« Sorkin hatte ein gutes Gespür für Menschen, und er brauchte den Leiter des BAS nicht vor sich zu haben, um zu wissen, dass das noch nicht alles war.

»Wir haben Bilder der Killer, kommen damit aber nicht weiter.«

»Und? Sind die Männer Russen?«

»Sie sind Asiaten, mehr wissen wir nicht. Ich dachte, vielleicht hat das FSB noch ein paar Datenbanken, die hilfreich sein könnten …«

»Einen Versuch wäre es sicher wert. Schicken Sie mir die Bilder, ich sehe zu, was ich machen kann. Sie werden von mir hören.«

Die ehrlich gemeinten Dankesbekundungen wurde Marchand nicht mehr los, denn Major Sorkin hatte bereits aufgelegt.

 

* * *

 

Boris Sorkin hatte sich sofort auf den Weg zu Olga Komarowa gemacht. Niemand, der in Russland spezielle und handfeste Informationen brauchte, kam an ihr vorbei. Mit schnellem Schritt betrat der Major die kühlen Räume im Untergeschoss einer Moskauer Behörde, deren Zugang nur ausgewählten Personen vorbehalten war.

Obwohl ihn das Wachpersonal kannte, musste er seinen Ausweis vorzeigen. Auch das war ein Beweis dafür, dass dieser Bereich als äußerst sensibel eingestuft wurde.

Der Major grüßte einen vorbeihastenden Oberst, der für den Nachrichtendienst tätig war, bevor er alleine die düsteren Gänge entlangschritt. Man hatte die Räume aufwendig renoviert, aber dabei keinesfalls Sorkins Geschmack getroffen. Dieser puristische Stil machte das Gebäude leblos und unheimlich, vermutlich war das Absicht gewesen. Der Major konnte das typische Summen hören, das hier unten allgegenwärtig war. Es kam von den Computern. An diesem Ort befand sich vermutlich das größte Rechenzentrum von ganz Russland. Riesige Server mit Kühlanlagen bildeten das Herz der Einrichtung, der Zutritt war strengstens verboten. Und über allem wachte wie ein dunkler Engel, der seine breiten Schwingen über dem Heiligen Gral ausbreitete, Olga Petrowa Komarowa.

Mit der »Wächterin der Daten« persönlich sprechen zu wollen, war so, als ob man verschiedene Level eines Computerspiels überwinden musste. Sein Weg führte ihn durch mehrere Räume, in denen Informatiker und Softwarespezialisten in langen Reihen saßen und die Augen stur auf ihre Bildschirme richteten. Anschließend folgte die Anmeldung, das Sekretariat, der Wartebereich und erst danach betrat er die Räume von Olga Komarowa.

Nach all der Moderne und der geballten Technik in den Vorzimmern hätte man hier sicher etwas anderes erwartet als Regale voller Akten und Papierbündel. Sämtliche Tischplatten waren übersät mit großen Packen zusammengeschnürter, vergilbter Seiten oder langen Papprollen, in denen vermutlich Karten und Pläne verstaut waren. Mitten in dem Chaos, das an eine Altpapiersammelstelle erinnerte, übersah er beinahe das breite Gesicht, das nun hinter einem Bildschirm hervorlugte. Der Computer war offensichtlich der einzige Vertreter des 21. Jahrhunderts in diesem Raum.

Das breite Gesicht wurde noch breiter, als Olga freudig grinste und rief: »Boris Iwanowitsch, welche Ehre!«

Wie immer war der Ton sarkastisch und schroff. Aber Sorkin wusste, dass die Begrüßung durchaus freundlich gemeint war, und antwortete höflich: »Olga Petrowa, es ist mir eine Freude, Sie zu sehen.«

»Na, das kann ich mir denken, immerhin wollen Sie etwas von mir.«

Die Frau kam nun mit resoluten Schritten auf den Major zu. Sie war höchstens ein Meter sechzig groß und das grobe Tweedkostüm saß stramm um ihren fülligen Körper. Ihr Haar war rot gefärbt und kurz geschnitten. Die grünen Augen der mittlerweile Sechzigjährigen blitzten Sorkin herausfordernd an.

Es gab Gerüchte, dass Olga Petrowa angeboten hätte, nach ihrer Pensionierung umsonst weiter hier zu arbeiten, weil dieses unterirdische Reich ihr Leben wäre. Aber vermutlich war es eher so, dass die Leitung sie niemals gehen lassen würde.

»Wenn Sie persönlich hier erscheinen, dann sicher nicht, um mir Komplimente zu machen.« Sie reckte das Kinn nach vorne und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also?«

»Ich brauche Ihre Hilfe in zwei Angelegenheiten«, antwortete Sorkin und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Mit einer entsprechenden Geste forderte sie ihren Gast auf, seine Anliegen vorzutragen.

Sorkin begann mit den beiden Asiaten, die Lim Mok umgebracht hatten. Olga reagierte darauf wie ein Aufziehmännchen. Sie sauste an ihren Computer und ihre Finger flatterten wild über die Tasten.

»Dann wollen wir mal sehen, was wir über dieses Mörderduo haben.«

Schnell lud sie die Videodatei von dem Stick, den der Major dabeihatte, auf ihren Rechner. Dann startete sie den Abgleich mit den Datenbanken. Die erste Suche ergab jedoch keinen Treffer. Aber so leicht ließ sich Frau Komarowa nicht entmutigen. Wie ein Terrier vor einem Fuchsloch stürzte sie sich in die Welt der Informationen. Nach gut dreißig Minuten lehnte sie sich seufzend zurück.

»Nichts!«, sagte sie bedauernd. Man merkte ihr an, dass sie mit diesem Ergebnis keineswegs zufrieden war. Sorkin, der ihr gerade sagen wollte, dass man eben nicht immer einen Treffer landen konnte, wurde ignoriert. Plötzlich schlug sich Olga mit der flachen Hand auf die Stirn und tippte erneut hastig etwas in ihren Computer.

Der Major hörte nur ihr leises Brummen, als die Frau den Bildschirm betrachtete.

Schließlich erschien ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht. »Ich wusste es doch. Irgendwo gibt es immer eine Spur, man muss nur an der richtigen Stelle suchen.«

Sorkin trat nun aufgeregt zu ihr. Olga zeigte ihm die Bilder zweier Männer, die eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit den Mördern auf Gerrits Video hatten.

»Moderne Phantomzeichnungen. Erstellt mit spezieller Software«, erklärte Olga ihrem Gesprächspartner.

»Sie sind wirklich unschlagbar«, stieß Sorkin anerkennend hervor. »Wer sind die Männer?«

»Hier steht, das seien nordkoreanische Killer. Keine Namen, keine Daten, nur diese Phantombilder. Alles vage.«

»Nordkoreanische Killer? Sind Sie sicher?«

Der Blick, den ihm die Frau zuwarf, beantwortete seine Frage.

»Interessant. Wer ist ihr Arbeitgeber? Die Regierung in Pjöngjang?«

Olga runzelte die Stirn und überflog die wenigen Angaben auf dem Bildschirm. »Scheint so.«

Boris Sorkin vergaß für einen Augenblick, dass er nicht alleine war, und lief vor sich hin brütend auf und ab. Wenn die Männer wirklich im Auftrag der nordkoreanischen Regierung unterwegs waren, stellte sich doch die Frage, warum man sie auf diesen Südkoreaner, Lim Mok, angesetzt hatte. Oder anders herum, wieso war dieser so wichtig für das Regime im Norden? Das erinnerte Sorkin an sein zweites Anliegen.

Als er seine Bitte vorgetragen hatte, gab Olga Petrowa einen überraschten Laut von sich. »Das ist mal etwas anderes. Jetzt wird es altmodisch.« Wie, um das Gesagte zu unterstreichen, scannte sie mit geschürzten Lippen die großen Aktenberge in ihrem Büro. »Dafür brauche ich mehr Zeit. Ich muss nämlich Papier wälzen. Versprechen kann ich aber nichts. Unter uns, ich habe so meine Zweifel, dass ich nach all den Jahren noch Unterlagen über ein deutsches U-Boot aus dem Zweiten Weltkrieg finde.«

»Ich bin sicher, wenn das jemand kann, dann Sie.«

Olga gluckste vergnügt und verabschiedete ihn mit dem Versprechen, sich schnellstmöglich zu melden.

 

Seoul, in der Wohnung von Lim Sang, Schwester des ermordeten Lim Mok – 25. Mai

 

Als Gerrit direkt vor Lim Sang stand, sah er sofort, dass diese Frau in den letzten Tagen einiges durchgemacht hatte. Sang war ausgesprochen hübsch und man konnte auf ihrem feinen Gesicht die ersten Lachfältchen erkennen. Sie wirkte wie ein fröhlicher Mensch, den das Schicksal nun besonders hart gebeutelt hatte. Ihre Augen waren vom vielen Weinen um den Bruder gerötet. Gerrit wusste mittlerweile, dass in Korea meist weiß als Farbe der Trauer gewählt wurde. Unter anderem trugen die Frauen einen weißen Trauerflor im Haar, genauso wie es Lim Sang gerade tat.

Misstrauisch hatte sie den Europäer beäugt und die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet. Gerrit hatte sich verbeugt, seinen Ausweis vom BAS gezeigt, mit dem die junge Frau wenig anfangen konnte, und dann versucht, seine guten Absichten überzeugend darzulegen. Schließlich wurde er hereingebeten. Gerrit streifte seine Schuhe ab und schlüpfte in die bereitstehenden Gästehausschuhe.

Sang studierte Sprachen und hatte keine Mühe, sich mit ihm auf Englisch zu unterhalten. So nah wie möglich an der Wahrheit erklärte er, dass seine Behörde auf den Pass von Siegfried Röhmer aufmerksam geworden sei und er, bevor er eine Gelegenheit gehabt hätte, darüber mit Mok zu sprechen, von dessen Tod erfahren musste.

Sang sah Gerrit mit großen Augen an und erschrak. Bevor er weitersprechen konnte, stieß sie einen spitzen Schrei aus und verschwand im Wohnzimmer.

Kurze Zeit später hörte man sie immer wieder den gleichen Satz auf Koreanisch sagen, bis sich der BAS-Mitarbeiter ein Herz fasste und ebenfalls den Raum betrat.

Erschrocken blickte Sang nun auf. Tränen liefen ihr über das sanfte Gesicht.

»Er ist weg, er hat ihn genommen, diesen verdammten Pass. So ein Dummkopf!« Lim Sang deutete verzweifelt auf einen zerdrückten Pappkarton, der auf dem Tisch vor ihr lag.

»Er hatte den Pass von Ihnen?«, fragte Gerrit nun erstaunt.

Die junge Frau setzte sich erschöpft auf ein weiches Bodenkissen »Er hat ihn sich genommen, dieser Dummkopf.«

Gerrit sah sich in dem kleinen Zimmer um. An einem Haken hing ein Hanbok, die traditionelle koreanische Tracht. Vermutlich hatte die junge Frau das Kleidungsstück bei der Trauerfeier getragen. Es gab ein schmales Sofa, den Tisch mit dem Pappkarton und mehrere Kissen, die vor dem Fernseher lagen. Traditionell bevorzugten viele Koreaner diese Art des Sitzens. Der BAS-Mitarbeiter räusperte sich unsicher.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte Lim Sang verlegen. Sie hatte ihre gastgeberischen Pflichten vergessen und bat Gerrit nun höflich, Platz zu nehmen. Noch bevor der Engländer etwas entgegnen konnte, fragte sie: »Wurde mein Bruder etwa deshalb getötet? Unsere Polizei meinte, er habe schlechten Umgang gehabt.«

»Hatte Ihr Bruder denn schlechten Umgang?«, hakte Gerrit nun nach, um möglichst viel über den Toten zu erfahren.

Sang sagte traurig: »Mok hatte es nicht einfach. Unsere Eltern sind früh gestorben und wir lebten lange Zeit bei unseren Großeltern in Sokcho. Aber Mok kam nie über den Verlust hinweg. Er suchte immer nach Wegen, seinen Kummer zu besiegen.«

»War er denn in Schwierigkeiten?«

Die junge Frau lächelte müde. »Mok war immer in Schwierigkeiten und in chronischer Geldnot. Er hatte viele Ideen, aber die meisten waren von vorneherein zum Scheitern verurteilt.« Mit ängstlicher Miene sah sie auf. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebte meinen Bruder. Er war kein schlechter Mensch, aber irgendwie gelang es ihm nie, richtig Fuß zu fassen. Alkohol, Glücksspiel und so weiter. Ja, mein Bruder hatte schlechten Umgang«, sagte sie nun wütend, »aber deswegen hatte er diesen Tod noch lange nicht verdient. Er war trotz allem ein guter Mensch.«

Einen Moment lang schwiegen beide, dann fragte Lim Sang in ruhigerem Tonfall: »Wird Ihre Behörde den Mörder meines Bruders finden? Mir wurde nämlich gesagt, dass die Chancen dafür äußerst schlecht stehen.«

Gerrit fühlte sich etwas in die Enge getrieben, andererseits bekam er gerade eine Chance geboten, mehr zu erfahren. Er antwortete: »Wir werden es auf alle Fälle versuchen, das verspreche ich. Aber Sie müssen uns sagen, was Sie über diesen alten Pass wissen. Den Pass des Kapitänleutnants Siegfried Röhmer.«

»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet: Wurde mein Bruder deshalb getötet?«

Kurz zögerte der Engländer, dann entschloss er sich, dieser unglücklichen jungen Frau eine ehrliche Antwort zu geben. »Ich bin mir fast sicher, dass es so war.«

Lim Sang fing an, leise zu weinen. Dann straffte sie die Schultern, bot Gerrit Tee an und war bereit, seine Fragen zu beantworten.

»Wo haben Sie den Pass her?«, begann der BAS-Mitarbeiter das Verhör mit der dringlichsten Frage.

»Von meinem Großvater Hiroto …«

 

* * *

 

Mai 1945 – U-9881

 

Als Maynfeld mit seinen Ausführungen am Ende war, fragte sich Röhmer, ob er nun ein Genie oder den Teufel höchstpersönlich auf seinem U-Boot hatte. Dieser Professor war sicher einer der intelligentesten Menschen der Erde. Röhmer hatte keine Zweifel mehr daran, dass sich die Alliierten auf ein Geschäft einlassen würden. Maynfeld wäre wohl tatsächlich in der Lage, etwas für ihn und seine Mannschaft auszuhandeln – und wenn es nur die unbeschadete Heimkehr nach Deutschland wäre. Da dieser Punkt nun geklärt war, wandte sich der Kommandant einem anderen zu. Entscheidend für das Gelingen der Aktion war Maynfelds Zuverlässigkeit. Die allerdings bereitete Röhmer Sorgen.

»Ich werde mich mit meinen Offizieren besprechen«, gab er zur Antwort und versuchte, dabei emotionslos zu wirken.

Aber sein Gesprächspartner wusste, wie die Dinge standen. Der Kaleu war beeindruckt und von Maynfelds Vorschlag durchaus angetan.

 

Falls Röhmer einen Aufschrei der Empörung erwartet hatte, dann blieb dieser jedenfalls aus. Seine Offiziere waren sich einig. Es sollte aufhören, und zwar sofort, egal auf welche Weise. Die Forderungen, die sie für sich stellen wollten, waren klar. Freies Geleit in die Heimat, keine Kriegsgefangenschaft und für die, die nicht mehr zurückwollten, die Möglichkeit eines Neuanfangs in den Staaten. Dafür erhielten die Amis das U-Boot samt Ladung und Friedrich Maynfeld, dessen Bedingungen vermutlich wesentlich umfangreicher sein würden.

Die Mannschaft bekäme die Information über den »Handel« erst kurz vor dem Zusammentreffen mit den Amerikanern. Es galt jetzt, einen kühlen Kopf zu bewahren und Unruhe an Bord zu vermeiden.

Der kleine Stab der Offiziere war sich einig. Noch am selben Tag wurde ein Funkspruch abgesetzt. Sehr zu Röhmers Erleichterung war das Interesse an dem Wissenschaftler und der mitgeführten Fracht so groß, dass die Amerikaner schon nach kurzer Bedenkzeit auf alles eingingen.

»Du tust das Richtige«, flüsterte Fritz Hallster und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich will nur noch nach Hause!«

Röhmer atmete durch, von seiner Mannschaft würde niemand mehr sterben müssen.

 

* * *

 

Zum Treffpunkt östlich der Philippinen würden sie nicht mehr lange brauchen. Alles schien wie am Schnürchen zu laufen. Röhmers Zuversicht wuchs mit jeder Seemeile, die sie zurücklegten.

Als er an diesem Morgen in der Operationszentrale stand, wurden seine Überlegungen jedoch jäh unterbrochen, als er den Lauf einer Luger im Nacken spürte.

»Herr Kapitänleutnant Siegfried Röhmer, ich entziehe Ihnen hiermit das Kommando über U-9881 und verhafte Sie wegen Befehlsverweigerung und Hochverrats!« Mit fester Stimme erteilte der Soldat mit der Waffe weitere Befehle.

Es handelte sich um den Ersten Wachoffizier, ein Mann namens Müller, der Röhmer nie als überzeugter Nazi in den Sinn gekommen wäre. Zudem hatte er vor wenigen Tagen bei ihrer Besprechung keinen Einwand erhoben, als es darum ging, zu den Amerikanern überzulaufen. Offensichtlich war Röhmer zu blauäugig gewesen. Zu glauben, die Aussicht auf eine sichere Heimkehr wäre jedem Soldaten wichtiger als alles andere, war ein großer Fehler gewesen. Ein anderer Offizier stellte sich jetzt hinter Hallster und hielt diesen mit festem Griff. Müller war also nicht alleine. Keine Minute später wurde dem Kaleu klar, dass sich auch sein Oberfunker und der Schiffsarzt gegen ihn gestellt hatten. Letzterer führte nun ihren Gast, Friedrich Maynfeld, mit vorgehaltener Waffe in die Operationszentrale.

Noch bevor die verdutzte Mannschaft reagieren konnte, brüllte Müller: »Wir wurden vom Kapitänleutnant verraten! Ich übernehme ab sofort das Kommando!« Damit sah er zu seinen Mitverschwörern.

Unschlüssig blickten die Soldaten nun zwischen Müller und ihrem bisherigen Kommandanten hin und her. Fest stand, dass es niemand auf eine Schießerei ankommen lassen wollte.

Hallster ergriff noch vor Röhmer das Wort: »Herrgott Müller! Der Krieg ist verloren, wir werden sterben oder in Kriegsgefangenschaft kommen. Und ich weiß nicht, was davon das Schlimmere ist. Der Kapitänleutnant hat sich entschieden, seine Männer zu retten!«

»Indem er unseren Führer Adolf Hitler verrät und damit auch Deutschland?«, brüllte Müller zurück.

»Der Führer ist tot, Deutschland am Boden, du hast die Meldungen doch gehört!«

»Feindpropaganda! Alles Lügen! Ich habe einen Eid geleistet. Wir sind Soldaten und haben unsere Befehle. Ich bringe euch alle vor das Kriegsgericht«, schrie der Offizier immer lauter.

»Du gottverdammter Narr.« Hallster verlor die Geduld. Ohne ein weiteres Wort riss er sich von seinem Bewacher los und stürzte sich auf Müller, der die Waffe blitzschnell von Röhmers Nacken auf den mit den Armen rudernden Ingenieur richtete und abdrückte. Der Schuss hallte wie ein Donnerschlag durch das U-Boot. Für eine Sekunde glaubten die Männer, eine heftige Explosion hätte das Boot auseinandergerissen.

Fritz Hallster lag auf dem kalten Metall, die Kugel steckte in seinen Eingeweiden und das Blut verteilte sich langsam auf dem Boden.

Der Kapitänleutnant stürzte zu seinem Freund. »Los, kommen Sie her, helfen Sie ihm!«, blaffte er den Schiffsarzt an, der mit offenem Mund und der Waffe in der Hand immer noch hinter Maynfeld stand.

Aber für Fritz Hallster kam jede Hilfe zu spät. Der sterbende Ingenieur wollte etwas sagen, sich von seinem langjährigen Freund verabschieden – aber das war ihm nicht mehr vergönnt. Sein Körper krampfte sich ein letztes Mal zusammen, dann entspannten sich seine Glieder und er lag ruhig da, die Augen starr nach oben gerichtet. Fritz Hallster war tot. Gestorben durch die Hand eines deutschen Soldaten. Röhmer wollte aufspringen, war vor Wut außer sich, aber Maynfeld kam ihm zuvor.

Der Wissenschaftler, dessen Pläne so unerwartet durchkreuzt wurden, reagierte wie ein in die Enge getriebenes Raubtier, dem sich plötzlich ein möglicher Fluchtweg bot. Mit einer schnellen Handbewegung riss er dem Schiffsarzt hinter sich die Waffe aus der Hand und feuerte damit auf Müller. Der Körper des Ersten Wachoffiziers fiel mit ungläubig aufgerissenen Augen nach hinten. Aus der kreisrunden Eintrittswunde in der Stirn lief ein blutiges Rinnsal, während am Hinterkopf die Gehirnmasse herausspritzte.

»Wer will sich noch gegen unseren Plan stellen?«, kreischte Maynfeld nun wie ein Wahnsinniger und fuchtelte mit der Waffe vor den Gesichtern der Anwesenden herum.

Röhmer sah den Irrsinn in den Augen des Wissenschaftlers aufblitzen und bereute bereits seine Entscheidung, sich auf dessen Plan eingelassen zu haben. Hätte er nicht zugestimmt, dann würden Fritz Hallster und auch Müller noch leben.

Der Kaleu stand auf, trat auf Maynfeld zu und streckte ihm mit kaltem Blick die Handfläche entgegen.

Es war nicht nötig, etwas zu sagen. Friedrich Maynfeld atmete tief durch, übergab mit einem spöttischen Grinsen die Waffe an den Kommandanten und sagte überheblich: »Ich dachte, Sie hätten Ihre Untergebenen besser im Griff.«

Röhmer machte einen Schritt nach vorne und verlor die Beherrschung. Doch noch bevor er den Wissenschaftler am Kragen packen konnte, kam der panische Ruf eines Besatzungsmitglieds.

»Die Japaner …«, der Mann stotterte, bevor er fortfuhr, »die wollen an Bord kommen!«

 

Sie befanden sich südöstlich von Taiwan. Ohne Vorwarnung war ein japanisches Kriegsschiff vor ihnen aufgetaucht und morste U-9881 an. Offensichtlich warteten die asiatischen Verbündeten der Deutschen bereits ungeduldig auf die Ladung und den angekündigten Professor.

Der Kaleu fragte sich, woher die Japaner ihre momentane Position kannten. War es ihnen etwa gelungen, den Funkspruch an die Amerikaner abzufangen? Oder steckte Müller dahinter?

Röhmer fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er musste sich Zeit verschaffen. »Morsen Sie zurück, dass wir direkt den japanischen Hafen anlaufen werden. Ein Stopp wäre zu gefährlich.« Vielleicht würde er mit diesem Täuschungsmanöver durchkommen.

Die Nachricht wurde übermittelt und kurz darauf flimmerten die Lichtsignale vom japanischen Zerstörer zurück. Offensichtlich ließ man sich nicht auf Röhmers Taktik ein. U-9881 hatte keine Wahl und musste längsseits gehen.

 

Vom japanischen Kriegsschiff brüllte jemand Befehle. Es wurde verlangt, dass jedes entbehrliche Besatzungsmitglied an Deck zu erscheinen hatte. Auch Röhmer stand bei seinen Matrosen auf dem nassen Bootskörper. Zum Glück war die See ruhig – ganz im Gegensatz zu dem Kapitänleutnant.

 

Seoul, in der Wohnung von Lim Sang – 25. Mai, Gegenwart

 

Gerrit saß gespannt neben Lim Sang und forderte sie nun auf, die Geschichte ihres Großvaters Hiroto zu erzählen.

»Als junger Mann war er einer dieser Studentensoldaten, die von den Japanern zwangsverpflichtet wurden. Er hat Sprachen studiert, müssen Sie wissen. Genau wie ich. Später war er als Übersetzer und Lehrer für Englisch tätig. Außerdem sprach er fließend Japanisch und sogar ein gutes Deutsch. Diese beiden Sprachen hat er aber nie benutzt, weil sie ihn zu sehr an den Krieg erinnert haben.«

Die junge Frau zuckte leicht mit den Schultern, als wollte sie sagen: So war er eben und wir haben das respektiert. Dann lächelte sie und fuhr fort: »Jedenfalls fand ihn meine Großmutter im Mai 1945 mit einer schweren Kopfverletzung nicht weit entfernt von der Küste. Er lag einfach auf der Straße. Vermutlich stammte aus dieser Zeit auch die Lederjacke.«

Lim Sang öffnete den Deckel des Pappkartons und zeigte Gerrit das abgewetzte Kleidungsstück.

»Nach seinem Tod habe ich die Sachen an mich genommen. Er hatte sie in dieser Schachtel unter dem Bett versteckt. Und in der Jackentasche hat sich der deutsche Pass befunden! Als ich Mok davon erzählte, war er gleich hellauf begeistert und witterte ein gutes Geschäft – für solche Dinge gibt es einen florierenden Markt. Er wollte den Pass verkaufen, aber ich war dagegen. Mein Gefühl sagte mir gleich, dass dieses Dokument nur Unglück bringen wird. Ich denke, mein Bruder hat ihn sich dann einfach genommen.«

Es fiel ihr schwer, ein Schluchzen zu unterdrücken. Tapfer sprach sie jedoch weiter: »Bevor Sie fragen: Mein Großvater hat nie erzählt, was damals passiert ist. Wir wussten nur, dass er es irgendwie geschafft hatte, aus der Armee der Japaner zu entkommen, und schließlich an der koreanischen Küste gefunden wurde. Das war übrigens auch nicht weit entfernt von seinem Geburtsort. Der lag allerdings im heutigen Nordkorea. Jedenfalls pflegte ihn meine Großmutter wieder gesund, die beiden verliebten sich und heirateten. Mittlerweile war das Land geteilt worden, und Großvater Hiroto blieb hier im Süden, kurz hinter der Grenze.«

Gerrit hatte Bilder der Demarkationslinie entlang des 38. Breitengrades gesehen. Wie Chirurgen hatten die Siegermächte das Skalpell angesetzt und die koreanische Halbinsel nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei Hälften zerteilt.

»Und Ihr Großvater hat nie darüber gesprochen, was ihm widerfahren ist, oder wie er zu dem Pass kam?«

»Nein, den Pass habe ich ja erst nach seinem Tod gefunden und außerdem hat er immer behauptet, sich nicht erinnern zu können, was damals mit ihm passiert ist. Meine Großmutter hat einmal gesagt, dass Hirotos Überleben ein Wunder, eine göttliche Fügung gewesen wäre. Immerhin wurde er durch einen Kopfschuss schwer verletzt.«

»Er hat einen Kopfschuss überlebt?«, fragte Gerrit sichtlich beeindruckt.

»Ja, der Arzt hat damals vermutet, dass die Kugel am Knochen entlanggestreift sei. Mein Großvater hatte ein verletztes Ohr und zeitlebens Probleme mit seiner rechten Seite. Manchmal gehorchte ihm sein Arm nicht. So hat er es zumindest ausgedrückt. Also begann er, zu zeichnen.«

Als Sang das fragende Gesicht des Europäers sah, fügte sie erklärend hinzu: »Quasi als Therapie. Das langsame und exakte Führen des Pinsels half ihm, seine Motorik zu verbessern. Hier, das ist sein Bild. Ich habe es heimlich aufgehoben.«

Die junge Frau entrollte ein DIN-A3 großes Blatt. Gerrit nahm es vorsichtig in die Hand.

»Großvater Hiroto hat immer Maulbeerpapier verwendet für seine Tuschezeichnungen und natürlich Naturfarben.« Die Erinnerung machte Lim Sang traurig. »Er ist erst vor sechs Monaten gestorben. Und jetzt Mok …« Sie schluckte und kämpfte gegen die Tränen an.

»Was heißt, das war sein Bild und wieso musste es heimlich aufgehoben werden?«, fragte Gerrit schnell, den die eigenartige Formulierung neugierig gemacht hatte.

»Nun, Großvater hat immer nur an einem Bild gearbeitet. Wenn es fertig war, dann hat er es vernichtet und ein neues angefangen.«

»Ist das nicht ein wenig ungewöhnlich?«

»Schon, aber weil er immer das gleiche Motiv gemalt hat, hätte es vielleicht auch keinen Sinn gemacht, die Bilder aufzuheben.«

»Immer das gleiche Motiv? Warum?«, fragte Gerrit irritiert.

»Ich habe ihn natürlich danach gefragt und er meinte, dass er lediglich male, um seine Finger zu trainieren. Die Kritzeleien würden ihn jedoch schmerzlich an seine Gebrechen erinnern, daher wollte er sie nicht aufheben. Auch wir Kinder durften keine der Zeichnungen behalten. Das hier war das letzte Bild, das er vor seinem schweren Schlaganfall angefertigt hat. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, es zu vernichten, auch wenn das sein Wunsch gewesen wäre. Stattdessen möchte ich es rahmen lassen, sozusagen als Erinnerung an ihn.«

»Ein schöner Gedanke«, murmelte Gerrit und betrachtete die Zeichnung nun etwas genauer. Er hatte keine Ahnung von Kunst. Das Einzige, was er über ein Bild sagen konnte, war, ob es ihm gefiel oder nicht. Hirotos Bild zeigte steile Klippen, die aus einem dunklen Meer aufragten. Die Wellen brachen sich an den vorgelagerten Felsformationen. Dadurch wirkte die Szene unheimlich und bedrohlich.

Lim Sang schien ein gutes Gespür für Gerrits Empfindungen zu haben. Mit einem verständigen Lächeln sagte sie: »Er hat auf seinen Bildern nie die Sonne scheinen lassen. Ich habe immer geglaubt, er brächte damit seinen körperlichen Schmerz zum Ausdruck, aber mittlerweile …« Sie brach ab und Gerrit sah fragend zu der jungen Koreanerin.

Lim Sang zuckte verlegen mit den Schultern. »Na ja, er hatte die ganze Zeit diesen Pass unter dem Bett versteckt. Er muss sich doch an mehr erinnert haben, als er mir anvertraut hat. Bisher waren seine Bilder für mich einfach nur Landschaftsmalereien, Fingerübungen, nichts weiter. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann könnten sie auch einen tiefen Schmerz ausdrücken. Sich nicht erinnern zu können, war vielleicht Hirotos Wunsch gewesen. Aber so wie es aussieht, war ihm der nicht erfüllt worden. Nur, warum hat er über seine Erlebnisse geschwiegen?«

Gerrit verspürte den Drang, ein paar tröstende Worte zu sagen, hatte aber keine Idee, was in dieser Situation passend wäre.

Er wiederholte etwas, das er einmal von Jone gehört hatte: »Der Krieg lässt Menschen auf vielfache Weise leiden. Manchmal hilft den Betroffenen auch das Schweigen, um vergessen zu können.«

Die junge Frau nickte und starrte auf das Bild ihres Großvaters, bevor sie sagte: »Ich hoffe sehr, dass er seinen Frieden gefunden hat. Armer Hiroto.«

»Könnte er sich vielleicht einem Freund anvertraut haben?«

Lim Sang schüttelte den Kopf. »Nein, da bin ich mir ziemlich sicher. Er hat allen die Geschichte von der Amnesie erzählt. Vielleicht wusste Großmutter Bescheid, aber sie hat nie etwas gesagt. Leider ist sie bereits vor zehn Jahren verstorben.«

»Haben Sie sonst noch etwas gefunden?« Gerrit spähte interessiert zu dem Karton.

»Nur die Jacke mit dem Pass.« Sie seufzte und griff nach dem Kleidungsstück. »Warum hob er diese Dinge auf? Ich habe mich das schon die ganze Zeit gefragt. Die Jacke und der Pass gehörten einem deutschen Soldaten. Deutschland war ein Verbündeter Japans und die Japaner waren Koreas Unterdrücker. Somit waren auch die Deutschen unsere Feinde. Was für eine Bedeutung hatten diese Dinge also für meinen Großvater?«

Gerrit fragte sich langsam, ob Hiroto vielleicht ein ganz anderer Typ gewesen war, als diese junge Frau und ihre Familie bisher angenommen hatten. Menschen bewahrten Gegenstände aus unterschiedlichsten Gründen auf. Es musste nicht immer ein sentimentales Motiv geben. Der Mann hätte genauso gut Kollaborateur sein oder finanzielle Ziele verfolgen können. Jetzt, nachdem Röhmers Pass auf dem »Markt« aufgetaucht war, schien es ja offensichtlich, dass es Personen gab, die daran ein großes Interesse hatten. Wer konnte schon wissen, was dem Alten zu Lebzeiten für Ideen gekommen waren. Aber das behielt der Engländer für sich. Stattdessen fragte er höflich: »Darf ich ein Foto machen?«

Lim Sang fand die Bitte zwar merkwürdig, stimmte aber freundlich zu.

Gerrit fotografierte mit seinem Handy den Pappkarton, die alte Lederjacke, deren Taschen er gründlich durchsucht hatte, und zum Schluss Hirotos letzte Zeichnung. Er wusste nicht, ob ihnen das weiterhelfen würde, aber so war er wenigstens nicht gezwungen, mit leeren Händen vor Marchand zu treten.

Am Ende ihres Gesprächs zeigte er die Handyfotos der Männer, die vermutlich für Moks Tod verantwortlich waren. Er behielt die Einzelheiten für sich und fragte Sang lediglich, ob sie den beiden schon einmal begegnet wäre. Die junge Frau verneinte das, wirkte aber beunruhigt und hakte nach. »Haben die etwas mit dem Tod meines Bruders zu tun?«

»Davon gehe ich aus, aber noch tappen wir völlig im Dunkeln, was deren Identität angeht. Die Ermittlungen laufen noch.«

»Ich hoffe, Sie finden diese Monster!«, antwortete sie und musste wieder gegen die Tränen ankämpfen.

Ein bisschen bedrückt verabschiedete er sich schließlich von der jungen Frau. Sein Flug nach Brüssel war für heute Abend gebucht. Gerne hätte er noch mehr Zeit mit Lim Sang verbracht, denn er empfand große Sympathie für die hübsche Koreanerin.

 

 

Kapitel 4

 

500 v. Chr.: Das »Blide« oder auch »Trebuchet« genannte Gerät ist eine Form des Katapults. Man nimmt an, dass die ersten dieser Schleudern in China entwickelt worden sind. Sie wurden noch mit reiner Muskelkraft betrieben und konnten Gewichte von über 100 Kilogramm bis zu 60 Meter weit katapultieren. Spätere, modernere Entwicklungen bedurften nur noch einer kleinen Bedienmannschaft und konnten höhere Gewichte schießen. Neben einfachen Steinen wurden manchmal auch Leichen als Geschosse verwendet.

 

U-9881, südöstlich von Taiwan – Mai 1945

 

Als der japanische Kommandant an Bord von U-9881 kam und vor Röhmer trat, musterte er den Deutschen mit abschätziger Miene. Dann sagte er etwas zu dem jungen Mann an seiner Seite, augenscheinlich ein Übersetzer, der daraufhin in gutem Deutsch Röhmer ansprach: »Wo ist der Professor?«

»Er ist unten«, antwortete der U-Boot-Kommandant wahrheitsgemäß. »Es hieß schließlich, dass nur die Mannschaft an Deck kommen sollte.«

»Wie viel Mann sind noch unten?«, stellte der Übersetzer die nächste Frage. Man sah ihm an, dass er sich an der Seite des japanischen Kommandanten unwohl fühlte. Röhmer schätzte ihn auf etwa achtzehn Jahre. Die Stimme des jungen Asiaten war brüchig und seine Hände zitterten, so als hätte er große Angst. Röhmer wunderte sich über dieses Verhalten, vergaß darüber aber nicht, zu antworten.

Der japanische Befehlshaber schien vorerst mit der Auskunft zufrieden und forderte den Kaleu nun auf, ihm unter Deck zu folgen, damit er die Ladung inspizieren konnte. Die Matrosen im Freien beäugten die Szene unsicher.

Die kleine Gruppe Männer, die als Notbesatzung unter Deck geblieben war, hatte versucht, zusammen mit Maynfeld die Leichen zu verstecken. Die Toten waren, so schnell es eben ging, in die freien Torpedorohre geschoben worden. Respekt und die letzte Ehre würde man ihnen später erweisen. Jetzt hofften die deutschen Soldaten, dass die Japaner doch nichts von ihren Plänen mit den Amerikanern wussten und alles noch ein gutes Ende nehmen würde.

Neben dem Kommandanten des Zerstörers und dessen Übersetzer begleiteten drei weitere japanische Soldaten Röhmer unter Deck.

 

Als der Kapitän des japanischen Kriegsschiffs auf Maynfeld traf und sich nach einem kurzen Wortwechsel davon überzeugt hatte, dass dieser tatsächlich der erwartete Wissenschaftler war, gab er einem seiner Soldaten einen Befehl, woraufhin der mit raschen Schritten davoneilte. Etwas, das bei Röhmer ein ungutes Gefühl auslöste.

Der junge Übersetzer schien unter der Enge auf dem U-Boot zu leiden. Sein Atem ging unverhältnismäßig schnell und ein dünner Schweißfilm bedeckte das ängstliche Gesicht. Immer wieder blickte er in Richtung Ausgang.

Der japanische Kommandant trat nun flankiert von seinen beiden Soldaten auf Röhmer zu. Plötzlich sagte er auf Deutsch: »Verräter!« Die Worte spie er regelrecht aus, dann spuckte er angewidert auf den Boden.

Im gleichen Augenblick wurde auf Deck das Feuer eröffnet. Röhmer wollte nach oben, aber die Japaner hielten ihn zurück. Der Kapitänleutnant hörte seine Männer sterben. Die unverkennbaren Salven von Maschinengewehrfeuer ließen keinen Zweifel daran, dass über ihnen gerade ein kaltblütiges Erschießungskommando die Besatzung von U-9881 liquidierte. Nun würde er keinen mehr von ihnen lebend nach Hause bringen können. Verzweifelt versuchte er sich, die Gesichter der Matrosen, ihre Namen und ihren Rang ins Gedächtnis zu rufen. Aber es gelang ihm nicht. Jeder Schuss, der abgegeben wurde, traf ihn wie ein harter Schlag. Sein Blick wanderte zu den restlichen Besatzungsmitgliedern unter Deck – sie gaben ihm die Schuld, das konnte er an ihren Gesichtern ablesen. Nur Maynfeld stand scheinbar gelassen da.

Endlich wurde das Feuer eingestellt.

Das eigenartige Fauchen des japanischen Kommandanten, als dieser jetzt anfing, Röhmer zu beschimpfen, riss den Kaleu aus der Hoffnungslosigkeit, die er mittlerweile empfand.

Der Übersetzer tat sich schwer damit, einen ihm Fremden in dieser Art und Weise beleidigen zu müssen. Allerdings hätte er es niemals gewagt zu schweigen. Also gab er die Worte seines Vorgesetzten so genau wie möglich wieder: »Sie haben Ihr Land und damit auch Ihre Verbündeten verraten. Dieses U-Boot ist für Japan bestimmt …«

Ein Geräusch unterbrach den jungen Mann.

Röhmer wusste, was das laute Platschen bedeutete. Die Japaner warfen die Leichen seiner Matrosen über Bord. Ohne anständiges Begräbnis würden ihre Körper nun auf dem Meeresgrund verrotten.

Der Kapitänleutnant verspürte eine unglaubliche Wut. »Warum haben Sie meine Männer getötet? Die hatten mit der Sache nichts zu tun.«

Aber der japanische Kommandant hielt nichts von Gnade. »Keine Sorge, Sie werden Ihren Soldaten bald folgen. Aber zuerst entladen wir dieses U-Boot.« Ein gemeiner Zug bildete sich um seine Mundwinkel, als er fortfuhr: »Ein japanisches Sprichwort besagt, dass für den Diener selten das Glück, aber stets das Unglück seines Herrn bestimmt ist. Ihre Männer hatten einen ehrenvollen Tod.«

»Einen ehrenvollen Tod? Feige dahingemetzelt wie Schafe auf der Schlachtbank. Sie kranker Mistkerl! Das waren noch halbe Kinder.«

Der Übersetzer stierte verlegen auf den Boden, während er die Worte des Kaleus weitergab.

Als der japanische Kapitän deren Bedeutung verstand, nickte er kaum wahrnehmbar mit dem Kopf. Daraufhin holte einer der Soldaten neben ihm aus und schlug Röhmer mit voller Wucht ins Gesicht. Der Kapitänleutnant ging in die Knie. Dabei entdeckte er unter dem Kartentisch Müllers Luger, offensichtlich hatten seine Leute die Waffe beim Beseitigen der Leichen übersehen. Er verschwendete keinen Gedanken an seine eigenen Überlebenschancen. Stattdessen griff er nach der Pistole und sprang auf die Füße. Der erste Schuss traf den japanischen Kommandanten in die Schulter, der nächste in die Brust.

Der Übersetzer warf sich auf den Boden, die japanischen Soldaten hoben ihre Waffen. Einer von ihnen hatte eine Maschinenpistole, mit der er jetzt wie ein Wahnsinniger um sich schoss. Die Hülsen prasselten auf den metallenen Untergrund.

»Luke schließen«, schrie Röhmer, während er zielte. Einer seiner Matrosen reagierte.

Noch bevor von oben weitere Japaner in das U-Boot eindringen konnten, vernahm der Kapitänleutnant das rasselnde Geräusch des Drehrads, mit dem der Ausstieg verriegelt wurde.

»Sofort abtauchen!«, brüllte er.

Der Kugelhagel machte es unmöglich, die Deckung zu verlassen. Die wenigen Besatzungsmitglieder sahen sich fragend an, als sie Röhmers Befehl vernahmen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139105
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Terroristen Geiselnahme Bombe Drittes Reich Verschwörung Jagd Nordkorea Anschlag Roman Abenteuer Militär Krieg Krimi Ermittler Historisch Fantasy

Autor

  • Ilona Bulazel (Autor:in)

Die Autorin Ilona Bulazel wurde 1968 geboren und lebt mit ihrem Mann in Baden-Baden. Neben ihren Thrillern und Krimis veröffentlichte sie bisher auch mehrere Kurzgeschichten.
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Titel: Projekt Todlicht