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Offene Herzen, offene Türen

Begegnungen auf dem Eifel-Camino

von Florian Koßmann (Autor:in)
190 Seiten

Zusammenfassung

Der Camino ruft! Der 30-jährige Florian folgt dem Jakobsweg von seiner Heimatstadt Andernach quer durch die Eifel hin nach Trier. Sein Weg führt ihn zu Begegnungen mit Menschen, die ihm Herz und Heim öffnen; zu der Gewissheit, dass die Welt nicht voll von Fremden, sondern voll von Freunden ist, die wir nur noch kennenlernen dürfen; zur Erkenntnis, dass es keine "Zufälle", sondern nur Fügungen gibt; und zu der Erfahrung dessen, dass sich Wünsche wirklich erfüllen können. "Beim Pilgern geht es nicht um Kirchen, Kapellen oder schöne Landschaften. Sondern viel mehr um die Begegnungen mit den Menschen, die Deinen Weg kreuzen."

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 Florian Koßmann

In der Wassergall 32

56626 Andernach

Fotos: Florian Koßmann

Aquarelle und Covermotiv: Jacqueline Esser

Lektorat: Claudia Schittek

Web: florian-kossmann.de

Instagram: _florian_kossmann_

Facebook: Florian Koßmann

eMail: offene_herzen_offene_tueren@web.de

Vorwort

Am 01. Mai 2019 – genau ein Jahr nachdem ich den Camino Francés in Spanien startete – begab ich mich auf eine Pilgerfahrt durch meine Heimat: Auf den Eifel-Camino.

Dieser Teil des Jakobsweges führt von Namedy nahe meiner Heimatstadt Andernach quer durch die Eifel nach Trier, zum Grab des Apostels Matthias. Noch immer von meinen Erlebnissen und Erfahrungen auf der spanischen Hauptroute des Camino de Santiago begeistert, wollte ich – nach dem ich die Zeit auf dem Pilgerweg so sehr vermisste – endlich wieder Pilgerluft schnuppern.

Die etwa 880 Kilometer von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Santiago de Compostela und weiter nach Muxía hatte ich vom ersten Mai 2019 an innerhalb von achtunddreißig Tagen und mit nur leichtem Gepäck von etwa 10 bis 12 Kilogramm zurückgelegt. Den Eifel-Camino wollte ich als Gelegenheit zu einer kleinen Trekkingtour mit Zelt, Kocher und allem, was dazugehört nutzen, um festzustellen, ob mir diese Form des Reisens lag und gefiel. Falls ich merken sollte, dass dem nicht so war, hätte ich bequem innerhalb kürzester Zeit mit Bus oder Bahn wieder nach Hause fahren können.

Durch das gesamte Equipment, einige Lebensmittel und Wasser, erreichte das Gewicht meines Gepäcks bis zu 25 Kilogramm, weshalb ich anstatt der üblichen 8 Tage für die etwa 160 Kilometer lange Strecke lieber 10 Tage einplante. Die letzten Etappen des Eifel-Camino sind nämlich mit etwa 25 Kilometern pro Tag berechnet, was bei dem hohen Gewicht meines Gepäckes zwar machbar ist, aber zum einen anstrengend sein, und zum anderen bei dem verlangsamten Tempo quasi den gesamten Tag in Anspruch nehmen würde. Ich wollte jedoch gerne stets gegen 16 Uhr an einem Ziel sein, um ein wenig entspannen und das Wetter genießen zu können.

Womit wir bei einem wichtigen Punkt wären: Das liebe Wetter ... Das kann man sich bekanntlich leider nicht aussuchen. Doch hatte ich bei der Planung dieser Wallfahrt Hoffnung, dass es dem Wetter im Vorjahr ähneln würde, was bedeutete: Bis zu 25°C und viel Sonne. Mit dem Schneeregen am 03.05.2019 ab 400 Höhenmetern hatte wohl niemand mehr gerechnet. Zelten wurde dadurch zu einer Aktivität, welche ich gerne vermeiden wollte; und glücklicherweise sollte ich vielen ebenso freundlichen wie hilfsbereiten Menschen begegnen, die mir zu einer warmen Bleibe für die Nacht verhalfen.

In dem vorliegenden Buch erzähle ich Dir die Geschichte meines Pilgerweges. Vor allem aber möchte ich die Menschen in den Vordergrund rücken, denen ich begegnete, und durch die meine Wanderung erst zu dem besonderen Erlebnis wurde, das sie war. Es ist eine Geschichte von offenen Armen, offenen Herzen und offenen Türen, und von einer Gastfreundschaft, wie ich sie in Deutschland nie für möglich gehalten hätte.

Die Geschichte darüber, wie ich meinen Glauben verlor – daran, dass es Zufälle gibt. Und ich stattdessen zu dem Wissen – nicht Glauben – fand, dass alles seinen Sinn und seine Vorsehung hat.

Eine Geschichte darüber, dass Wünsche wahr werden können.

Dieses Buch ist all den Menschen gewidmet, die mir bei meiner Wanderung auf dem Eifel-Camino halfen; ganz besonderen Menschen – wie Du und ich.

Ich möchte mir während der Erzählung gelegentlich die persönliche Anrede erlauben, da ich Dich mit auf diese Wanderung nehmen, und meine Fragen und Hinweise ganz genau an Dich persönlich richten möchte.

Ich wünsche Dir viel Vergnügen auf unserer gemeinsamen Pilgerreise

Buen Camino!

Fotos von meiner Wanderung auf dem Eifel-Camino

findest Du unter folgendem Link:

https://www.florian-kossmann.de/meine-bücher/offene-herzen-offene-türen/

„Beim Pilgern geht es nicht

um die vielen Kirchen und Kapellen

oder die schönen Landschaften,

sondern viel mehr um die Begegnungen

mit Christus in den Menschen,

die Ihren Weg kreuzen.

Im Austausch mit ihnen wird es gelingen,

den Weg bewusst als einen Glaubensweg zu gehen,

der Einfluss auf Ihr Leben haben wird.“

Pilgergruß in der Pfarrkirche

Heiligste Dreifaltigkeit, Monreal

Erster Tag

01. Mai 2019

Von Andernach nach Mayen-Hausen

18 Kilometer

Erkenntnis des Tages:

„Ich habe einen Plan. Vertraust Du mir?

– in Liebe, das Universum.“

(unbekannter Verfasser)

Der Camino ruft

„Man kann Dir den Weg weisen,

aber gehen musst Du ihn selbst.“

– Bruce Lee –

Geh' ich? Geh' ich nicht?

Geh' ich? Geh' ich nicht?

So geht das seit Tagen. Ich bin schon selbst genervt von mir und meiner Unschlüssigkeit. Doch die Wettervorhersage der nächsten Tage lässt mich nun mal wirklich zweifeln: Regen, Kälte, Ungemütlichkeit, Maximaltemperaturen von vierzehn Grad am Tage, Minimaltemperaturen von Null Grad in der Nacht. Soll ich mir das wirklich selbst antun? Aber ich habe doch schon gepackt und allen von meinem Vorhaben erzählt ...

Es ist der Morgen des ersten Mai – der Tag meines geplanten Startes für den Eifel-Camino – und ich weiß noch immer nicht, ob ich losgehen oder lieber doch in die warme Provence fahren soll. Meine Unschlüssigkeit zieht mich emotional sehr runter. Ich entscheide, erst einmal zu meinen Eltern zu fahren, bei denen der gepackte Rucksack steht, und mir dort nochmals in Ruhe die Wettervorhersagen anzusehen. Warum der Rucksack bei meinen Eltern steht? Ich wohne testweise in meinem VW Bus, und der große Einhundert-Liter-Rucksack würde den halben Platz rauben.

Als ich den Schillerring in Andernach entlangfahre, sehe ich auf Höhe des Hallenbades einen Mann. Also, erst einmal erkenne ich nur einen Rucksack mit Armen und Beinen. Als der Mann sich umblickt schätze ich ihn auf Anfang vierzig. Er führt einen Jagdhund an der Leine. In der anderen Hand hält er einen langen Wanderstock – genau so einen, wie ich ihn auf dem Jakobsweg in Spanien dabeihatte, und ebenso wie jener, den ich vor wenigen Tagen aus Haselnuss selbst gefertigt habe. An seinem olivfarbenen Rucksack baumelt eine beige Jakobsmuschel. Er geht zur Stadionstraße Richtung Miesenheim… besser gesagt: Richtung Trier.

Das darf doch nicht wahr sein! Ich bin total aus dem Häuschen. Durch das offene Fahrerfenster lache ich ihm mit breitem Grinsen entgegen, feuere ihn mit erhobenem Daumen an und verspüre eine unglaubliche Euphorie; ein unfassbar starkes Ja-Gefühl.

Das ist doch kein Zufall! Noch nie habe ich in Andernach einen Pilger gesehen. Und nun zum ersten Mal eben genau an jenem Morgen, an dem ich mir unschlüssig bin, ob ich den Eifel-Camino laufen soll oder nicht. Und darüber hinaus in ausgerechnet den Sekunden, in denen ich durch den Schillerring fahre. Das kann kein Zufall sein! Das ist ein Zeichen, was sonst? Ich soll losziehen. Der Camino ruft mich.

Na dann: Jö! Das Schicksal darf man nicht herausfordern.

Bei meinen Eltern angekommen erzähle ich ihnen von dieser verrückten Begegnung, während wir gemeinsam frühstücken. Danach schlüpfe ich in meine Wanderkleidung, schultere den Rucksack, und ‚bin dann mal weg‘.

Miesenheim

„Auch der weiteste Weg

beginnt mit einem ersten Schritt.“

– Konfuzius –

Der Morgen ist kühl und recht diesig. Jedoch lässt die Nebeldecke über mir auf einen sonnigen Tag hoffen. Der eigentliche Beginn des Eifel-Caminos befindet sich zwar im Andernacher Stadtteil Namedy, doch ich beginne in Andernach selbst, am Haus meiner Eltern. Als ich hinter dem Ortsausgang am Freibad vorübergehe, kommen mir die ersten Zweifel, ob ich die etwa einhundertsechzig Kilometer bis nach Trier mit dem schweren Gepäck überhaupt schaffe. Dennoch bin ich voller Euphorie.

Ab dem Ortsausgang folge ich dem Radweg entlang dem Nette-Bach nach Miesenheim. Die graue Nebeldecke lässt die grünen Felder zu beiden Seiten des Weges ein wenig trüb aussehen und zaubert ein melancholisches Bild in die Landschaft. Jedes Schild und jede Basaltsäule mit einer gelben Jakobsmuschel darauf geben mir Antrieb und Zuversicht für die bevorstehenden Tage.

In Miesenheim begegne ich am oberen Ende der Neuwieder Straße überraschender Weise einer Bekannten, die ich schon mehrere Jahre nicht gesehen habe. Wir freuen uns beide sehr über das Wiedersehen und unterhalten uns lange über sämtliche Neuigkeiten der vergangenen Jahre. Doch da man Reisende nicht aufhalten soll, verabschieden wir uns bald und ich gehe weiter.

Die Stempelstellen, an denen man seinen Pilgerausweis abstempeln lassen kann, sowie die Kirche St. Kastor sind an diesem Mai-Feiertag leider geschlossen. Vor einigen Häusern stehen Birken, geschmückt mit bunten Bändern oder Kreppband. Es freut mich zu sehen, dass dieser Brauch auch in der heutigen Zeit nicht vergessen zu werden scheint. Auf dem Dorfplatz steht – wie in jedem Dorf, durch das mein Weg führen wird – ein hoher Maibaum, welcher auf eine Feier am Vorabend schließen lässt. Am Bürgerhaus von Miesenheim hinter dem Ortsausgang sehe ich ein paar bekannte Gesichter, die die Reste der ‚Nacht der Männer’-Feier beseitigen.

Plaidt

„Es gibt auf dieser Welt einen einzigen Weg,

den nur Du allein gehen kannst.

Wohin er führt? Frag nicht, geh ihn.“

– Friedrich Nietzsche –

Ich folge der Beschilderung des Jakobsweges – den gelben, strahlenförmigen Jakobsmuscheln auf blauem Grund – hinein nach Plaidt. Das Touristenbüro an der Hummerich-Halle ist an diesem Tag leider ebenfalls geschlossen; also wieder kein Stempel. Im Industriegebiet mache ich dort, wo der geschotterte Radweg nach Kruft beginnt eine Rast, um etwas zu essen und zu trinken. Die Nebeldecke hat sich derweil aufgelöst, weshalb ich die Zip-Hose kürzen und das langärmlige Oberteil ausziehen kann. Die Sonne scheint mir warm ins Gesicht. Der leuchtend gelbe Raps steht in voller Blüte. Viele Radler fahren an mir vorüber, grüßen freundlich. Mit einigen wechsele ich kurz Worte. Die anfänglichen Muskelschmerzen durch das schwere Gepäck haben sich weitestgehend gelegt und ich mich gut eingelaufen. Auf der Bordsteinkante sitzend, löffle ich zwei kleine Joghurts, lasse mir dazu Müsli aus der Hand in den Mund rieseln und esse im Anschluss eine Banane; normalerweise bin ich es gewohnt, das Ganze in einer Schüssel zu vermengen, aber unterwegs würde das – und vor allem das Spülen danach – zu viel Aufwand bedeuten. Es muss so gehen.

Ein spazierendes Pärchen mit Kinderwagen kommt aus Richtung Plaidt auf mich zu. Als sie nah genug herangekommen sind erkenne ich eine ehemalige Klassenkameradin aus der Realschule, die ich seit dem Abschluss vor vierzehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Wir sind erfreut und überrascht über diese Begegnung. Sie stellt mir ihren Mann vor und wir unterhalten uns lachend über unsere jeweiligen Werdegänge der letzten Jahre, sowie über Ziele, die jeder in der Zukunft anstrebt. Natürlich erzähle ich ihnen von meiner bevorstehenden Wanderung durch die Eifel, woraufhin die beiden mir viel Erfolg wünschen, als wir uns verabschieden.

Es wird ein warmer Tag, und der Duft des Frühlings sowie das frische Grün der Bäume und Felder bereiten mir Freude. Etwa auf der Höhe von Kretz kommt mir ein Wanderer mit großem Rucksack entgegen. Er scheint in etwa meinem Alter zu sein, wirkt sympathisch und gut gelaunt. Ich frage ihn, wohin er unterwegs sei.

„Ich wandere ans Nordkap.“

Ich bin total baff: „Ach was!? Und wo bist du gestartet?“

„In Tarifa, im Süden von Spanien“, erzählt er stolz.

Ich bin … baffer … – wenn es diese Steigerung von ‚baff‘ überhaupt gibt.

„Wie lange bist du denn schon unterwegs? Und wann etwa wirst du am Nordkap sein?“

„Gestartet bin ich am ersten Januar und erreiche mein Ziel hoffentlich irgendwann im Oktober. Ich gehe jeden Meter zu Fuß, denn für jeden Kilometer zahlen private Spender einen Euro für einen guten Zweck.“

Wir unterhalten uns lange über sein Vorhaben und das Wandern an sich. Er heißt Philipp Fuge und läuft diese Strecke zum Einen natürlich für sich selbst, zum Anderen aber auch für die Spendenaktion eines Naturschutzprojektes. Er gibt mir einen Flyer, mit dem er auf sein Projekt und seine Website samt Blog aufmerksam macht (www.gibraltar-nordkap.com). Philipp erzählt mir, dass er schon einmal von Berlin – woher er stamme – ans Nordkap gelaufen sei, und darüber ein Buch geschrieben habe.

Ich bin beeindruckt, wünsche ihm alles Gute für seine Reise und verabschiede mich von ihm, da wir beide weiter möchten. Diese Begegnung – auch wenn sie nur kurz war – hat mir wirklich Mut gemacht und gezeigt, dass ich das Richtige tue.

Nach der Begegnung mit Philipp bin ich so gut gelaunt, dass ich meinen ersten Videotagebuch-Clip mache … ein seltsames Gefühl in die Kamera meines Smartphones zu sprechen, habe ich Ähnliches doch vorher noch nie getan, sondern war sogar immer recht kamerascheu. Nachdem aber meine Camino-Gefährtin Jenneke auf dem Jakobsweg in Spanien einen Vlog geführt und ein wirklich schönes Video (YouTube-Channel: Jenneke van Genechten, Video: The Writer's Vlog: Pilgrimage to Santiago de Compostela 2018 (English)) ihrer gesamten Erlebnisse – auch unserer gemeinsamen – erstellt hat, will ich Gleiches versuchen, um die Erinnerungen und Eindrücke besser festzuhalten.

Kruft

„Wohin Du auch gehst, geh’ mit Deinem Herzen.“

Konfuzius

In Kruft mache ich auf einer gemütlichen Bank neben einem kleinen Brunnen, sitze ein wenig in der Sonne, um mich zu erholen. Mein Plan für den Abend ist es, auf dem Parkplatz der Fraukirch – einer großen Wiese – zu zelten. Das Wetter ist herrlich und meine Laune könnte besser kaum sein. Ich bin glücklich und fühle mich seit langem endlich wieder gut und am richtigen Ort.

Leider ist das Touristenbüro in Kruft ebenfalls geschlossen, weshalb ich auch hier keinen Stempel bekommen kann. Hinter dem Ort folge ich einem geraden, asphaltierten Radweg durch eine wunderschöne Landschaft mit gelben Rapsfeldern. Vergnügt lasse ich den Pilgerstab in meiner Hand kreisen.

Fraukirch

„Unseren Weg lernen wir 

früher kennen als unser Ziel.“

– Ernst Ferstl –

Kurz vor der Fraukirch spricht mich ein Radfahrer im Alter von etwa sechzig Jahren an und fragt, woher ich komme und wohin ich gehe. Wir unterhalten uns übers Pilgern, da er schon einmal mit dem Fahrrad von Deutschland nach Santiago de Compostela gefahren ist. Als wir uns der Kirche nähern, verabschieden wir uns voneinander.

Auf dem Vorplatz der Fraukirch findet eine Maifeier statt. Ein Bierbrunnen ist aufgebaut, es gibt Kaffee, Kuchen und Grillfleisch. Alle Bänke und Tische sind belegt. Der Lärm überfordert mich nach einem ganzen Tag in der Stille der Natur. Ich lasse meinen Rucksack vor der Kirche stehen und gehe hinein. Es ist ein hübsches und schlichtes Gotteshaus, mit einem kunstvollen, alten Altar aus Holz. Ich setze mich in eine Bank, um ein wenig auszuruhen und alles auf mich wirken zu lassen. Doch ich kann an Kirchen generell nicht viel finden. Es sind kalte, von Menschen gebaute Mauern, leere Räume. Alle Gesichter der Malereien oder Figuren sind voller Leid, Trauer, Schmerz, Traurigkeit. Wenn das das Christentum widerspiegelt, warum sollte man dann freiwillig einer christlichen Konfession beitreten und sonntags in die Kirche gehen? Um sein Leid zu vergrößern? Das ist mir schleierhaft. Denn warum sollte Gott, der all die Schönheiten und Freuden dieser Welt erschaffen hat, sich in einem Raum voller Tod, Leid, Trauer und Kälte aufhalten?

Neben der Tür ist an der Wand ein kleines Schreibpult angebracht, auf dem der Pilgerstempel und ein Stempelkissen liegen. Ich mache einen Stempel in meinen Pilgerpass und gehe hinaus in die Sonne.

Auf einer Steinbank vor der Gaststätte ‚Fraukircher Hof‘ ein wenig abseits vom Trubel sitzend, gönne ich mir ein Steak vom Grill und ein alkoholfreies Weizenbier, während ich über den weiteren Verlauf des Abends nachdenke. Denn eigentlich hatte ich geplant, an der Fraukirch zu übernachten. Jedoch steht der Parkplatz voll von Autos und der Lärm der Besucher ist störend. Ich spüre, dass ich nicht hierbleiben möchte. Mir kommt die Idee, mein Zelt einfach irgendwo zwischen der Kirche und Mayen-Hausen am Feldrand aufzuschlagen. Deshalb lasse ich mir vom freundlichen Personal des ‚Fraukircher Hofes‘ meine Trinkflaschen und den Fünf-Liter-Wassersack füllen, und begebe mich auf den Weg. An den zusätzlichen fünf Kilogramm Wasser habe ich mühsam zu schleppen. Meine Beine schmerzen sehr und haben kaum noch Kraft, die Feldwege hinaufzulaufen.

Mayen-Hausen

„Nicht der Weg ist das Schwierige,
vielmehr ist das Schwierige der Weg.“

– Soren Kierkegaard –

Kurz vor dem Ortseingangsschild nach Hausen erreiche ich endlich eine große Wildwiese, die sich als Zeltplatz eignen würde. Auf der anderen Straßenseite sehe ich aber zudem das Dach einer Grillhütte gleich neben einem Fußballplatz; auch diese will ich mir einmal ansehen und schauen, ob sie sich als Zeltplatz eignet. Drei Spaziergänger mit Hund kommen mir entgegen. Ich spreche sie an. Einer der drei wohnt in Hausen. Er kann mir zwar auf meine Frage hin keinen geeigneten Zeltplatz nennen, rät mir aber davon ab, mein Zelt auf der Wildwiese aufzuschlagen, da der Besitzer – welcher auf dem Gelände nebenan eine Schweinezucht betreibt – möglicherweise etwas dagegen haben könnte. Die Grillhütte hält er jedoch für eine gute Möglichkeit zur Übernachtung.

Um dorthin zu gelangen, muss ich um den Fußballplatz herumlaufen, auf dem gerade der Platzwart die Linien abkreidet. Ich stelle mich mit einem breiten Grinsen vor den Zaun und hebe die Hand zum Gruß. „Hallo. Entschuldigen Sie bitte“, sage ich. Als er herangekommen ist: „Ich bin Pilger auf dem Weg nach Trier und wollte fragen, ob es möglich ist, hinter der schönen Grillhütte dort zu zelten.“

„Nach Trier? Wo bist du denn gestartet?“

„In Andernach. Heute ist mein erster Tag“, gebe ich lachend zu, „aber ich bin so platt, als wäre ich schon Wochen unterwegs und kann kaum mehr einen Meter laufen.“

„Ja, also die Hütte ist heute nicht vermietet. Spricht also nichts dagegen, dass du dort zeltest.“

„Oh Mann! Das wäre super. Weiter schaffe ich es heute nämlich wirklich nicht mehr. Vielen Dank.“

„Nicht dafür.“

Als ich meinen Rucksack abgestellt und den Wassersack in die Sonne gelegt habe in der Hoffnung, das Wasser würde sich genügend erhitzen, um damit später eine Dusche nehmen zu können, kommt der Platzwart noch einmal heran: „Wenn du willst, kannst du auch in der Umkleide duschen. Ich öffne dir dann eben das Tor dort. Bin ja noch eine Zeit lang hier.“

„Oh, wow, vielen Dank.“ Ich bin sehr dankbar; was für ein Glück! So schultere ich wieder den Rucksack und folge ihm zum Tor, durch das er mich hineinlässt.

„Dort draußen die Tür lasse ich dir über Nacht offen. Das ist die Gästetoilette.“

„Wow! Vielen, lieben Dank. Wie heißt du?“, frage ich.

„Ich bin der Heiner.“

„Heiner, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.“

„Ach Quatsch! Hast Schwein gehabt, dass ich gerade hier war.“

„Nee, nee, ich glaube bei so etwas nicht mehr an Zufälle; sowas ist Fügung.“ Ich erzähle ihm von meinen tagelangen Zweifeln über den Eifel-Camino, von dem Pilger, welchen ich am Morgen in Andernach gesehen hatte, und davon, dass ich eigentlich an der Fraukirch zelten wollte, es mir dort jedoch zu laut war.

Die Duschen sind zwar leider kalt, aber da mir vom Marschieren noch sehr warm ist, macht es mir nicht so viel aus. Schnell wasche ich auch noch meine schweißnasse Wäsche durch. Ich bin froh, später nicht verschwitzt in den Schlafsack kriechen zu müssen. Draußen setze ich mich noch kurz zu Heiner, der mittlerweile fertig mit seiner Arbeit ist, und wir unterhalten uns über das Pilgern und den Jakobsweg in Spanien, bis er sagt: „Komm, ich zeig dir, wo du in der Hütte Lichtschalter und Steckdosen findest.“

Gemeinsam gehen wir hinüber und er zeigt mir alles. Ich danke ihm nochmals sehr, als wir uns verabschieden. Dann hänge ich die Wäsche zum Trocknen auf, mache ein Video und lege mich mit meiner Isomatte auf eine Bank, um ohne Oberteil das Gefühl der warmen Nachmittagssonne auf meiner Haut zu genießen und ein wenig zu dösen.

Ich entscheide kurzerhand, mein Zelt gar nicht aufzustellen, sondern einfach auf einer Bank in der Grillhütte zu schlafen; so kann ich mir die ganze Arbeit mit dem Auf- und Abbau ersparen. Zum Abendessen koche ich auf meinem Gaskocher Spagetti mit Tomatensauce; vorzüglichst! Nach dem Abendessen spüle ich im Waschbecken der Herrentoilette mein Geschirr, lege es zum Trocknen in die schwächer werdende Sonne und bereite in der Hütte mein Bettchen. Am Kopfende lege ich Pfefferspray, Stirnlampe und den Pilgerstab zur Verteidigung bereit; nur für den Fall der Fälle. Doch bei der Vorstellung, mich mit dem Stab zu verteidigen, muss ich grinsend an asiatische Kampfmönche mit ihren Stöcken denken. Kampfmönch!!! Allein das Wort schon; verrückt.

Abends schaue ich mir den schönen Sonnenuntergang an, der alles in ein rötliches Licht taucht. Später dann bin ich froh über das elektrische Licht in der Hütte, welches mir erlaubt, noch ein wenig zu lesen. Doch schon bald bin ich zu müde und krieche in den Schlafsack. Das Thermo-Inlett lege ich griffbereit, falls mir zu kalt werden sollte.

Auf dem Bolzplatz neben dem Fußballplatz spielen ein paar Teenager Fußball. Ich kann nicht wirklich einschlafen, da ich mir ein wenig Sorgen darüber mache, dass nachts noch irgendwer auftauchen könnte: Ein Tippelbruder, oder betrunkene Jüngelchen, die hier einige Bier zischen wollen. Mein Hauptproblem dabei ist, dass ich ohne Brille quasi blind und absolut wehrlos bin, und die Vorstellung, in der Nacht durch den Lärm von irgendwem aufzuschrecken, kaum aus dem engen Schlafsack zu kommen, dann noch nach meiner Brille tasten zu müssen und sie in der Hektik womöglich noch hinunterzuwerfen und wehrlos zu sein, gefällt mir gar nicht. Ein Zelt bietet zwar keinen direkten Schutz, aber es gibt einem zumindest ein Gefühl von mehr Sicherheit. Zudem kann von außen niemand direkt ersehen, ob nur eine Person darin liegt, oder vielleicht zwei Wanderer samt Hund – was für einen Verbrecher natürlich einen großen Unterschied machen würde. Aber in der offenen Grillhütte bin ich viel mehr ausgeliefert, weshalb ich entscheide, mit Brille zu schlafen, was auch einigermaßen funktioniert. Doch eine wirklich ruhige Nacht ist es nicht, da ich immer wieder aufwache.

Zweiter Tag

02. Mai 2019

Von Mayen-Hausen nach Monreal

12 Kilometer

Erkenntnis des Tages:

„Beim Pilgern geht es nicht um Kirchen,

Kapellen oder schöne Landschaften.

Sondern viel mehr um die Begegnungen

mit den Menschen, die Deinen Weg kreuzen.“

(aus einem Pilgergruß abgewandelt)

Mayen

„Der Jakobsweg ist eine Reise der Seele.“

– Shirley MacLaine –

Es ist kalt, als ich erwache. So tief wie möglich verkrieche ich mich in den warmen Schlafsack und luge aus einer kleinen Öffnung heraus, durch die ich Luft bekomme. Der Morgen dämmert noch. Es ist leicht neblig, eine Amsel singt zurückhaltend. Ich schaue mich um, und muss breit grinsen, als ich mir vorstelle, ich würde mich mit den Augen einer zweiten Person hier zwischen der Ausrüstung liegen sehen; beziehungsweise den offensichtlich gefüllten Schlafsack.

Du glaubst nicht, wie froh ich bin, in dieser Situation zu sein. Endlich mal wieder etwas erleben; etwas anderes machen; raus aus der Komfortzone. Das einzige, was meine Stimmung ein wenig dämpft, ist die Frage, wie ich jetzt zu Frühstück und einem warmen Tee komme, ohne den gemütlichen Schlafsack hinaus in die Morgenfrische verlassen und in die kalten Klamotten schlüpfen zu müssen. Oh Mann, zu viele Herausforderungen für einen Morgen. Doch gebe ich mir einen Ruck und mache es einfach; das bin ich ja vom vergangenen April, seitdem ich im VW Bus lebe, schon einigermaßen gewohnt.

Am Waschbecken der Toilette hole ich frisches Wasser, brühe mir damit einen Tee auf und nutze den kleinen Rest heißen Wassers, um den Naturjoghurt zu verdünnen und gleichzeitig anzuwärmen, in den ich Müsli und eine geschnittene Banane mische. Es schmeckt köstlich; umso mehr hier draußen und nach der Anstrengung des gestrigen Tages. Nach dem Frühstück mache ich einen Videotagebuch-Clip, spüle das Geschirr am Waschbecken aus, packe meine Sachen in den Rucksack und starte in den zweiten Tag.

Die ersten Schritte fallen mir wirklich schwer, so sehr schmerzen meine Beinmuskeln von der gestrigen Belastung. Dennoch habe ich große Lust weiterzulaufen. Ich muss nur erst einmal langsam warm werden. Entlang der L98 laufe ich nach Hausen hinein. An einer Straßenkreuzung trotte ich nach links die Dorfstraße bergauf durch den Ort. Ab ihrem Ende folge ich einer ehemaligen Bahntrasse – die nun, von viel Grün umgeben, den asphaltietren Maifeld-Radweg bildet – stetig bergauf zum Mayener Ost-Bahnhof. Ein Zug fährt vorüber in Richtung Andernach. Schon verrückt, dass ich mit diesem Zug die Strecke, für die ich nun über einen Tag zu Fuß brauchte, innerhalb von etwa fünfzehn Minuten zurücklegen könnte. Leicht frustrierend. Aber es geht mir ja nicht darum anzukommen – sonst wäre ich sofort mit der Bahn nach Trier gefahren –, sondern ums Unterwegssein und die Erfahrungen dabei.

Heinz Schäfer

„Wir alle sind Pilger,

die auf ganz verschiedenen Wegen

einem gemeinsamen Treffpunkt zuwandern.“

– Antoine de Saint-Exupéry –

Als ich durch Mayen hinab in die Altstadt laufe, merke ich immer wieder lange und forschende Blicke anderer Passanten. Mein Pilgerstab scheint die Menschen etwas zu irritieren …, denn wann sieht man mal jemanden mit einem solchen Gegenstand durch die Stadt laufen. Und zugegeben: Mit dem Einhundert-Liter-Rucksack sehe ich auch aus, als ginge ich auf eine Himalaja-Expedition … in Mayen.

Durch das wunderschöne Brückentor hindurch gelange ich in die historische Altstadt und setze Mayen gedanklich auf meine Liste der Orte, die ich in der nächsten Zeit genauer besichtigen möchte. Es ist schon verrückt: Da wohnt man nur wenige Fahrminuten entfernt und war trotzdem noch nie wirklich dort.

An der Kirche St. Clemens erkenne ich das schöne Sandsteinrelief mit dem Jakobspilger wieder, das auch in meinem Pilgerführer abgebildet ist. Ich trete auf die andere Seite der Straße, um ein Foto davon zu machen. Eine Ladenbesitzerin, die neben mir ihre Ware vor dem Geschäft platziert, spricht mich an, ob ich Pilger sei, woher ich komme, und wohin ich gehe. Wir unterhalten uns ein wenig; und zwar ‚zufällig‘ (ja, da haben wir das Thema wieder) genau so lange, dass ich nach dem Gespräch zeitgleich mit einem Herrn im Eingang der Kirche stehe, als ich mir einen Stempel in den Pilgerpass setze.

„Sind Sie Pilger?“, fragt dieser mich.

„Ja, ganz richtig.“

„Wo sind Sie denn gestartet?“

„In Andernach. Ich laufe den Eifel-Camino bis nach Trier.“

„Dann habe ich Ihnen vor kurzem den Pilgerausweis zukommen lassen.“

Ich bin kurz etwas irritiert, bis ich verstehe: „Dann sind Sie Heinz Schäfer?“

„Genau.“

Ich öffne den Pilgerausweis und zeige auf die erste Innenseite: „Hier ist Ihre Unterschrift.“

„Ganz recht“, er lächelt zufrieden. Ich stelle mich ihm vor und wir geben einander die Hände. „Waren Sie schon im Pfarrhaus, um sich einen Stempel zu holen?“

„Nein, ich habe mir aber gerade hier am Eingang einen Stempel ins Heftchen gemacht.“

„Im Pfarrhaus haben wir noch einen anderen. Kommen Sie mal mit.“

Ich folge ihm, und wir unterhalten uns unterwegs über den Jakobsweg und das Pilgern. Ich erzähle Herrn Schäfer, dass ich im vergangenen Jahr den Camino Francés in Spanien gelaufen sei, und er mir wiederum, dass er über mehrere Jahre in Etappen von Mayen nach Santiago pilgerte.

Er klingelt an der Tür des Pfarrhauses, welche daraufhin elektrisch geöffnet wird, und wir betreten nach Anklopfen ein Büro zur linken des Flures. Eine freundliche Dame sitzt hinter dem großen Schreibtisch.

„Ich bringe hier einen Pilger aus Andernach auf seinem Weg nach Trier“, erklärt Herr Schäfer ihr strahlend. „Er würde sich gerne einen Stempel bei Ihnen holen.“

Die Frau kommt der Bitte gerne nach und unterhält sich noch kurz mit Heinz Schäfer; beide kennen sich. Ich verabschiede mich von der Dame und Herr Schäfer begleitet mich zurück zur Kirche. Auf dem Vorhof wird er mehrfach von Passanten sowie Bewohnern oder Besuchern des angrenzenden Seniorenheimes angesprochen – er schein bekannt zu sein, wie ein bunter Hund. Dann erklärt er mit ein paar Details zum Verlauf des weiteren Weges. Weiter erzählt Herr Schäfer, dass er Initiator des Eifel-Camino sei. Unter der Sankt-Matthias-Bruderschaft Mayen – deren Ehrenbrudermeister er ist – wurde der Pilgerweg mit großem finanziellem Aufwand ausschließlich aus Spenden eingerichtet. Viele Stelen aus Basalt sowie Hinweistafeln säumen den Weg bis nach Trier und bieten den Pilgern gute Orientierung.

Wir tauschen uns noch ein wenig aus und er bittet mich, ihm nach dem Camino eine E-Mail mit meinen Erlebnissen sowie Hinweisen zur Wegführung zu schreiben. Dann geben wir einander zum Abschied die Hände, und ich besichtige die Kirche.

Maye majoh!

„Wege, die in die Zukunft führen,

liegen nie als Wege vor uns.

Sie werden zu Wegen erst dadurch,

dass man sie geht.“

– Franz Kafka –

Auf dem Marktplatz unter der Genovevaburg angelangt, brauche ich einige Sekunden, um mich zu orientieren. Dann entdecke ich das historische Rathaus, in welchem sich nun das Touristenbüro und damit die Stempelstelle befindet. Ich komme mir sehr unbeholfen vor, als ich mit dem riesigen Rucksack das Gebäude betrete. Am Infoschalter frage ich den jungen Angestellten nach einem Stempel, lege ihm den Pilgerausweis auf den Tisch und er setzt den Stempel hinein; leider verkehrt herum. Wat’n Dappes! Mein vierter Stempel steht Kopf. Naja, was soll‘s? Alles eine Frage der Perspektive, oder?

In der nahegelegenen Bäckerei gönne ich mir ein zweites Frühstück und einen grünen Tee dazu, lausche den Gesprächen der Gäste und beobachte vom Fensterplatz aus das Treiben in der Fußgängerzone.

Gestärkt und ausgeruht setze ich meinem Weg fort. Auf dem Marktplatz ernten Pilgerstab und Rucksack wieder Blicke. Die Jakobsmuscheln führen mich aus der Altstadt hinaus, durch ein Stadttor hindurch, von wo sich mir nochmal ein schöner Blick auf die Genovevaburg bietet.

Da die Sonne scheint, es wärmer wird und mein Weg nun bergan steigt, kürze ich die Zip-Hose und ziehe das langärmlige Hemd aus. Bald führen mich die Wegmarkierungen aus Mayen heraus und wieder über Feldwege, vorbei an frischgrünen Feldern und Wiesen – auf einer sehe ich ein Reh stehen. Butterblumen bedecken neben anderen Wildblumen die Wiese mit bunten Farbklecksen. Eine Feldlärche trällert über mir. Sonne und Wärme tun gut. Nach Überquerung einer Bahntrasse verläuft der Weg noch ein wenig über die Felder, bis er in einen Wald hineinführt. Das Laub der Buchen und Haselnusssträucher ist jung und strahlt in frischem Grün. Vögel singen in den Bäumen. Ich bremse meinen Schritt bewusst, neige ich doch leider dazu, zu beschleunigen und zu schnell zu gehen. So schnell, dass ich mehr auf meine Atmung achte als auf die Schönheit, die mich umgibt. Und zu schnell, um in Ruhe in mich gehen oder nachdenken zu können. Und genau das ist ja einer meiner Hauptgründe für solch eine Pilgerreise: In Ruhe und umgeben von der Natur fernab des Alltages und der gewohnten Umgebung meine Vergangenheit und Gegenwart zu reflektieren, sowie meine Zukunft zu visualisieren und zu manifestieren. Es ist für mich sowohl eine spirituelle Reise als auch eine Auszeit vom oft so unbewusst gelebten Alltag. Eine Möglichkeit der Transzendenz.

Auf einer kleinen Lichtung erreiche ich die Waldkapelle. Sie wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – in welchem die Stadt Mayen fast vollständig zerstört worden war – zu Ehren der Gottesmutter Maria als Dank für die Errettung aus großer Not errichtet. Leider ist sie verschlossen. Von hier steigt der Eifel-Camino einen geraden Waldweg bergan. Der Aufstieg ist schweißtreibend, auch wenn mir ein kühler Wind entgegenweht und ich sehr langsam kleine Schritte setze.

Bald muss ich eine kreuzende Straße queren, die ich – nachdem ich mich ein wenig orientiert habe – als die L98 wiedererkenne, welche zu meiner Linken hinab nach Monreal führt. Auf der anderen Seite der Straße folge ich in kleinen Schritten einem geschotterten Weg zwischen knallgelben Rapsfeldern hinauf. Mein Pilgerstab, den ich – wie schon den ersten auf dem Camino Francés – auf den Namen ‚Hape‘ getauft habe (in Anlehnung an Hape Kerkeling), ist mir dabei eine große Hilfe. Auf dem höchsten Punkt des Hügels steht eine hohe Basaltsäule, aus der wunderschön und sehr kunstvoll ein Pilger zusammen mit der Gravur ‚Santiago 2125 km‘ und einem Pfeil herausgemeißelt ist, in dessen Zeigerichtung ich unterwegs bin. Die Säule steht inmitten eines für Wandervögel wie mich angelegten hübschen Rastplatzes. Nebst Bienenhotel, Infotafel und noch jungen Bäumen gibt es hier zwei Sitzgruppen – jeweils bestehend aus einem Tisch mit zwei Bänken aus Holz –, welche leider beide besetzt sind. Auf der hinteren sitzt ein Pärchen im Alter von etwa Anfang dreißig, auf der vorderen – mir am nächsten – ein Mann zwischen fünfzig und sechzig Jahren.

Ich setze meinen Rucksack nahe der Säule ab, um ein wenig zu verschnaufen. Mit dem Hemd wische ich mir den Schweiß aus dem Gesicht, bevor ich es als Schutz vor dem kalten Wind anziehe. Dabei lasse ich mir ein wenig Zeit um zu schauen, ob vielleicht eine Sitzgruppe frei wird. Doch niemand verlässt den Rastplatz, und das ist – wie mir im Nachhinein klar wird – auch kein Zufall. Wäre nämlich ein Tisch frei gewesen, hätte ich mich an diesen gesetzt, und es würde nicht zu der Begegnung gekommen sein, von der ich Dir nun erzählen möchte.

Rolf

„Es sind die Begegnungen mit Menschen,

die das Leben lebenswert machen.“

– Guy de Maupassant –

Der Mann am vorderen Tisch lächelt mir freundlich entgegen und lädt mich mit einer Geste seiner Hand ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Ich folge seiner Einladung: „Vielen Dank. Der Anstieg von Mayen war wirklich anstrengend und ich brauche ein Päuschen.“

„Das glaube ich dir. Vor allem bei deinem riesigen Rucksack. Wie viel Kilo schleppst du denn mit dir herum?“

„Fünfundzwanzig Kilo in etwa“, antworte ich und erzähle, dass ich mich in einer Trekkingtour mit Zelt, Schlafsack und Kocher ausprobiere.

„Und wohin wanderst du?“

„Ich laufe den Eifel-Camino von Andernach nach Trier; in acht bis zehn Tagen, je nachdem, wie gut ich mit dem Gepäck vorankomme.“

„Und das ist ein Jakobsweg, richtig?“

„Genau. Nachdem ich im vergangenen Jahr den Camino Francés in Spanien gelaufen bin, und mir sowohl das Wandern als auch das Feeling so gut gefallen haben, wollte ich das auch gerne mal in der Heimat testen.“

„Und wieso pilgerst du? Also ich meine: War der Jakobsweg in Spanien eine religiöse Sache für dich?“

„Nein, ich persönlich halte von Religion im Sinne der traditionellen Konfessionen nicht allzu viel. Es hatte vielmehr spirituelle Beweggründe.“

„Ah, interessant“, sagt der Mann erstaunt. „Und wie kommt das in deinen jungen Jahren? Wie alt bist du, wenn ich fragen darf?“

„Darfst du“, erwidere ich lachend. „Ich bin dreißig; also letztes Jahr geworden, und das war auch der Grund, in eben jenem Jahr den Jakobsweg zu gehen. Ich wollte mal einen kleinen Schnitt in meinem Leben machen, Zeit zum Nachdenken haben, für eine Weile aus dem gewohnten Umfeld herauskommen. Ich brauchte eine Gelegenheit, die vergangenen zehn Jahre zu reflektieren und zu schauen, ob ich zufrieden auf sie zurückblicken kann; ob ich erreicht habe, was ich mir vorgenommen hatte. Und ich wollte die nächsten zehn Jahre visualisieren; überlegen, ob ich die vergangenen nochmal genauso leben will, oder vielleicht etwas ändern möchte.“

„Und? Zu welchem Schluss bist du gekommen?“

„Zu dem, dass ich einiges anders machen will. Ich habe zwar in Bezug auf meine persönliche Weiterentwicklung viel erreicht, worüber ich auch sehr froh bin, aber meine Träume im Bezug aufs Reisen habe ich mir noch nicht wirklich erfüllt. Zwar bin ich so oft gereist, wie ich konnte und der Beruf es zuließ, aber bei Weitem nicht so viel, wie ich eigentlich wollte. Und das eigentliche Problem daran, dass ich meine Ziele nicht erreicht habe, war, dass ich mir keine klaren Ziele gesetzt hatte. Das habe ich nun geändert, und es läuft gut bisher. Ich bin sogar schon so weit, dass ich seit Anfang April in meinem VW Bus wohne, um das Geld, welches ich bisher für die Miete meiner Wohnung zahlte, nun für eine Langzeitreise sparen zu können.“

Wir lachen beide, da dies wirklich ungewöhnlich ist. Doch der Mann ist – wie die meisten, denen ich davon erzähle – begeistert von der Idee des Vanlife.

„Respekt! Das ist mutig“, sagt er.

„Danke. Aber ich habe schon lange von einem Leben im Bus geträumt, jedoch nie den Mut aufgebracht, es durchzuziehen. Und nun schlage ich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Ich erfülle mir den Traum vom Vanlife, nutze den Bus endlich einmal voll aus, spare dadurch viel Geld für meinen Traum einer Langzeitreise und kann zudem jeden Tag woanders sein.“

„Wie heißt du denn eigentlich? Mein Name ist Rolf.“

Wir reichen einander die Hände, und ich stelle mich ihm vor.

„Also. Das klingt, als hätte der Jakobsweg dich weitergebracht?“, fragt Rolf.

„Ja, auf jeden Fall. Er war eine unglaubliche Bereicherung und hat vieles in meinem Leben verändert.“

„Ein Freund von mir ist ihn auch einmal gegangen. Die Ärzte hatten ihm noch etwa vier Monate zu leben prophezeit, da sein Krebs schon so weit fortgeschritten war und die Chemo auch nichts mehr brachte. Damit wollte er sich aber nicht zufriedengeben und ist den Jakobsweg gepilgert. Sogar von Trier aus.“

Ich staune: „Oh, Wahnsinn! Da ist man ja etwa vier Monate unterwegs. Wann war denn das?“

„Vor elf Jahren. Und er lebt noch heute.“

Ich bin sehr verblüfft, aber man hört oft von Wunderheilungen auf dem Jakobsweg. Rolf berichtet weiter: „Er hat unterwegs zu sich selbst und seinem inneren Seelenfrieden gefunden, und war dort so sehr in Einklang mit sich und so glücklich, dass sein Körper sich selbst heilte.“

„Wow, unglaublich.“

Wir unterhalten uns weiter über Spiritualität und irgendwann sagt Rolf ein paar sehr treffende Dinge über meine Persönlichkeit, die mich irritieren, da er sie nicht wissen kann.

„Woher weißt du das?“, frage ich ihn.

„Ich spüre es.“

„Bist du ein Heiler oder Medium?“

„Ja, so in der Art. Ich spüre die Energien von Menschen, finde darüber zusammen mit dem Klienten dessen Blockaden und kann ihm durch Reiki helfen, diese zu lösen.“

„Rolf, ich bin gerade ziemlich baff. Vorgestern Abend – also an dem Tag, bevor ich losgegangen bin – habe ich eine E-Mail an eine ganzheitliche Heilerin geschrieben. Denn seit fast einem Jahr – seit ich vom Jakobsweg zurück bin – spüre ich eine tiefe Unzufriedenheit in mir. Eine sehr bedrückende Unzufriedenheit, die mich arg frustriert und lähmt, und durch die ich im vergangenen Jahr kaum einen Tag hatte, den ich als ‚schön‘ oder ‚fröhlich‘ bezeichnen würde. Und ich habe keine Ahnung, woher sie kommt, und wie ich sie loswerde. Deshalb wollte ich diese Heilerin um Hilfe bitten. Denn ich glaube, allein finde ich aus diesem Tief nicht heraus. Ich hatte der Heilerin geschrieben, weil ich hoffte, sie könnte mir helfen, zu meinem inneren Frieden zurückzufinden. Etwa in den Jahren 2013 und 2014 hatte ich eine unglaubliche Zufriedenheit und eine wahnsinnig gute Lebensqualität. Alles war super, ich war absolut zufrieden, wie ein Zen-Meister. Ich brauchte niemanden, vermisste nichts, hatte keine Sorgen; habe mich innerlich wohl gefühlt. Ich hatte das Gefühl, bei mir selbst angekommen zu sein; meinen inneren Frieden gefunden zu haben. Aber das alles ist seit einigen Jahren wie weggeblasen. Und besonders schlimm war das vergangene Jahr. Zum ersten Mal litt ich unter dem Gefühl von Einsamkeit, beziehungsweise leide noch immer darunter. Aber es ist nicht so, dass sich im Außen viel zum Negativen geändert hätte, denn ich habe schon immer alles allein gemacht; doch im vergangenen Jahr habe ich sehr darunter gelitten. Es frustriert mich, dass man bei der Lebensweise in unserer heutigen Gesellschaft keine Zeit mehr für Freundschaft hat. Kein Wunder, dass so viele Menschen sozial isoliert leben und depressiv werden. Ich hatte der Heilerin vorgestern per E-Mail geschrieben. Heute Morgen habe ich eine Absage von ihr bekommen, da sie aus gesundheitlichen Gründen keine Kunden mehr annehmen könne. Und jetzt – keine vier Stunden später – treffe ich dich, Rolf. Ich bin gerade sehr irritiert. So etwas ist doch kein Zufall!?“

„Nein, da gebe ich dir Recht. Das ist ganz sicher kein Zufall. Es ist Fügung. Aber sag mir mal: Wo sitzt deine Unzufriedenheit?“

Ich bin kurz verwirrt und denke nach.

„Beantworte meine Frage nicht mit dem Kopf!“, sagt er mit seiner sanften, einfühlsamen Stimme. „Spüre in dich hinein, wo deine Unzufriedenheit sitzt! Zeige einfach darauf!“

Dies ist ein Moment, der mir so nahe und so tief in mein Innerstes geht, dass mir die Tränen kommen und ich beinahe zu weinen beginne, als ich die geballte Faust auf mein Brustbein lege.

Rolf lächelt wissend und fragt dann sanft: „Und was sitzt dort?“

„Mein Herz“, bekomme ich nur heiser hervor.

„Und damit auch dein Herz-Chakra“, ergänzt Rolf. „Du fühlst dich einsam, weil dein Herz-Chakra verschlossen ist. Und dadurch wiederum bist du unglücklich.“

Er erklärt mir noch einiges darüber, bis ich ihn frage: „Kannst du mir helfen, mein Herz-Chakra zu öffnen?“

„Ich praktiziere aktuell nur gelegentlich privat und mache mich erst bald als Heiler selbstständig. Aber ja, ich helfe dir gerne. Du kannst mich besuchen kommen.“

Wir tauschen Adressen und Mobiltelefonnummern aus und unterhalten uns noch ein wenig. Doch da ihn friert, bricht er bald auf. Ich umarme Rolf fest, wir verabschieden uns herzlich und verabreden, in Kontakt zu bleiben. Dann spaziert er jenen Weg in Richtung Mayen hinab, welchen ich vorhin hinaufgestapft kam. Das Paar, das auf der anderen Bank gesessen hatte, muss in der Zwischenzeit ohne unser Bemerken ebenfalls gegangen sein.

Noch immer bin ich überwältigt und erzähle das eben Geschehene sofort einer Freundin via Sprachnachricht. Da ich viel zu berichten habe, dauert die Nachricht recht lange – und auch das soll kein Zufall sein, denn während ich ins Smartphone spreche, sehe ich ein Auto den Schotterweg heraufkommen. Als der Fahrer das Fenster hinablässt, bestätigt sich meine Vermutung: Rolf.

Ich gehe zum Weg hinab, auf dem er hält.

„Florian, ich möchte dir etwas mitgeben.“

„Wenn es nicht zu viel wiegt“, scherze ich.

Er öffnet ein kleines Beutelchen und lässt daraus einen violett-gemusterten, glattgeschliffenen Stein in seine Hand gleiten, den er mir überreicht.

„Was ist das?“, möchte ich von ihm wissen.

„Du wirst es merken. Trage ihn so nah an deinem Herzen wie möglich!“

„Das werde ich. Vielen Dank, Rolf. Ich bin sehr dankbar für diese Begegnung.“

„Mach‘s gut! Und melde dich, falls du Rat brauchst oder reden möchtest. Buen Camino!“

„Danke. Gute Fahrt!“

Rolf setzt den Wagen nach links zurück und winkt noch lange aus dem Fenster, während er den Schotterweg wieder hinabfährt. Ich winke ebenfalls und schaue ihm noch eine Weile hinterher; den Stein fest in der Hand haltend.

Eine Zeit lang bleibe ich noch am Rastplatz sitzen, befühle den glatten Stein und lasse das eben Geschehene auf mich wirken. Dann stecke ich Rolfs Geschenk in die linke Brusttasche meines Hemdes; möglichst nah ans Herz.

Ich bin so euphorisch, dass ich ein Tagebuch-Video mache, um das Erlebte im Detail zu dokumentieren. Dann treibt der kalte Wind mich zum Weitergehen an. Ich schultere den Rucksack und marschiere los. Über einen wahrscheinlich von Wildschweinen aufgewühlten Feldweg geht es hinab in den Wald. Das Sonnenlicht lässt das Grün der jungen Blätter hell und frisch leuchten. Ich bin durch die Begegnung mit Rolf und die frühlingshafte Szenerie in diesem Wald voller Energie und Elan, genieße jeden Schritt, staune über die Schönheit und das sprießende Leben um mich herum, und strahle bis über beide Ohren. Ich bin unfassbar glücklich, den Weg gestartet zu haben und von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt für das Zeichen am gestrigen Morgen – den Pilger in Andernach.

Der Weg ist wirklich schön. Bald erreiche ich den plätschernden Trillbach, welchem ich durch ein hübsches Tal bis fast hinunter nach Monreal folge.

Monreal

„Das Glück muss entlang

der Straße gefunden werden,

nicht am Ende des Weges.“

– David Dunn –

Ein Stück führt der Weg entlang der L98, bis zum Friedhof mit seiner schönen und alten Kapelle St. Georg. Wie beinahe jede Kirche oder Kapelle, an der ich in den nächsten Tagen vorbeikommen werde, sehe ich mir auch dieses Gotteshaus genau an. Die Stille des schlichtgehaltenen Raumes empfängt mich. Ich nutze die Gelegenheit, um in einer Gebetbank zu verschnaufen und den Innenraum auf mich wirken zu lassen. Die Gemälde der Kreuzigungsstationen bestechen durch ihre Kunstfertigkeit. Jedes einzelne betrachte ich genau aus der Nähe. In der bedächtigen Stille des Raumes wirken sie wie stumme Schreie; wie Mahnbilder.

Die Ruhe erfüllt mich mit neuer Energie. Nach Verlassen der Kapelle betrete ich den historischen Ortskern. Monreal ist selbst nach Jahren noch immer eines meiner liebsten Ausflugsziele der Region. Ich fühle mich sofort um mehrere Jahrhunderte zurückversetzt, in die Zeit der wohlhabenden Tuchmacher, welche in den wunderschönen rot-weißen Fachwerkhäusern zu Füßen der Löwen- und der Philippsburg lebten und arbeiteten. Dieser Ort verdient zurecht den ihm verliehenen Titel ‚Perle der Eifel‘. Mit seinen beiden Burgruinen, den alten Gebäuden zu beiden Seiten des glucksenden Elzbaches und seiner verträumten Atmosphäre lädt der Ort zum Verweilen ein.

Vor dem ‚Café Plüsch‘ setze ich mich an ein kleines Tischchen. Die freundliche Bedienung nimmt meine Bestellung entgegen: Ein alkoholfreies Weizenbier und einen Strammen Max. Ich würde sehr gerne in Monreal übernachten, um den Nachmittag und Abend in dieser heimeligen Atmosphäre zu genießen und irgendwo das Buch zu lesen, welches ich mit mir führe. Die Unterkünfte, welche im Pilgerführer stehen oder im Internet zu finden sind, übersteigen mein Budget, weshalb ich mit dem Gedanken spiele, am Ortsrand zu zelten.

Die Bedienung bringt meine Mahlzeit; es schmeckt herrlich. Vier ältere Damen kommen, setzen sich ebenfalls an einen Tisch in die Sonne und bestellen Kaffee und Kuchen. Sie plaudern miteinander; ich lausche ihrem Kaffeekränzchen, da ich die Unterschiede zwischen ihrem mayener und meinem andernacher Dialekt amüsant finde. Nachdem ich gegessen und eine ganze Weile überlegt habe, wie es nun weitergehen soll, bezahle ich und begebe mich hinauf zur Straßenecke ins ‚Café Brixus‘, um mir dort einen Stempel in den Pilgerausweis geben zu lassen. Danach schlendere ich weiter durch die Straßen, was ohne den großen Rucksack wesentlich entspannter wäre.

Erika

„Sei freundlich beflissen

in Deinem Hause den Pilger zu laben,

weil ohn‘ es zu wissen,

schon manche so Engel bewirtet haben.“

– Friedrich Rückert –

Am Eingang der Pfarrkirche Heiligste Dreifaltigkeit stelle ich Rucksack und Pilgerstab ab, bevor ich eintrete. In ihrem Inneren ist es still. Niemand ist dort und die Atmosphäre überaus angenehm. Die Kirche ist historisch eingerichtet. An einem Pult gibt es einen Stempel mit einer schönen Abbildung der Pfarrkirche. Neben dem Stempelkissen klebt eine Karte, welche sich an die Pilger richtet:

Willkommen, lieber Pilger,

in unserer Pfarrkirche Kreuzerhöhung hier in Monreal. Die Kirche liegt auf dem von der St. Matthias-Bruderschaft Mayen neu belebten, mittelalterlichen Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Er führt am Grab des Apostels Matthias in Trier vorbei hin zum Grab des Apostels Jakobus. Man könnte also sagen, Sie befinden sich auf der Spur der heiligen Apostel. Wie sie ihren Weg zu Christus gegangen sind, so haben auch Sie sich auf den Weg gemacht, Christus neu zu entdecken.

Dabei geht es nicht um die vielen Kirchen und Kapellen, die Sie unterwegs sehen werden, nicht um die schönen Landschaften, die Sie durchqueren werden, sondern viel mehr um die Begegnungen mit Christus in den Menschen, die Ihren Weg kreuzen. Im Austausch mit ihnen wird es gelingen, den Weg bewusst als einen Glaubensweg zu gehen, der Einfluss auf Ihr Leben haben wird.

E ultreia! E sus eis! Deus aia nos y Santiago!

Weiter! Auf geht’s! Gott steh‘ uns bei und Sankt Jakobus!

… sondern viel mehr um die Begegnungen mit Christus in den Menschen, die Ihren Weg kreuzen.

Dieser Satz berührt mich sehr, da er mir unmittelbar die bisherigen Begegnungen meiner Wanderung ins Gedächtnis ruft. Und auch in den noch vor mir liegenden Tagen werde ich noch oft an diesen Spruch denken; und im Besonderen bei jener Begegnung, von der ich Dir nun erzählen möchte.

Von früheren Besuchen in Monreal weiß ich, dass es auf der anderen Seite des ehemaligen Pfarrhauses, welches sich nur wenige Meter entfernt der Kirche an dem kleinen Kirchplatz befindet, ein Café gibt. Von dort her kommen mir einige Spaziergänger Eis essend entgegen. Da ich natürlich kein Eis sehen kann, ohne selbst eines essen zu müssen, gehe ich der Sache nach.

Im Garten des Cafés ‚Altes Pfarrhaus‘ sind nahezu alle Tische besetzt. Ich nehme auf einem freien Stuhl neben der Eingangstür des Gebäudes Platz. Das Pärchen am Nebentisch wird durch meinen Rucksack neugierig, woraufhin wir ins Gespräch kommen. Sie stellen Fragen über mein Vorhaben und so erzähle ich von den Erlebnissen der beiden Tage und meiner Zeit auf dem Jakobsweg in Spanien. Sie sind im Alter von etwa fünfzig Jahren, kommen aus dem Sauerland und verbringen gerne ein paar Mal im Jahr für mehrere Tage Zeit in der Eifel. Während der Unterhaltung bestelle ich bei der jungen Bedienung einen Eisbecher.

Im Gespräch mit dem Paar erzähle ich, dass ich gerne in Monreal übernachten würde und mit dem Gedanken spiele, mein Zelt auf dem nahgelegenen Bolzplatz aufzustellen. Der Mann rät mir, doch einfach mal die Angestellten zu fragen, ob sie ein gutes Zeltplätzchen wüssten. Wir unterhalten uns noch sehr nett, solange ich meinen Eisbecher genieße. Dann verabschieden sich die beiden und wünschen mir weiterhin eine gute Reise.

Zum Bezahlen gehe ich hinein, und frage bei dieser Gelegenheit die Bedienung, ob sie eine Idee habe, wo ich mein Zelt aufstellen könne, ohne dass sich jemand daran störe. Sie überlegt, geht in die Küche, um ihre Chefin zu fragen und erscheint zusammen mit einer jungen Frau in etwa meinem Alter wieder.

„Hi. Ich wollte fragen, ob du einen Platz zum Zelten weißt. Ich bin auf dem Eifel-Camino unterwegs und würde gerne hier in Monreal übernachten. Aber die Unterkünfte sind mir zu teuer. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, mein Zelt dort drüben auf dem Bolzplatz aufzuschlagen.“

„Also, hinterm Bahnhof gibt es außerhalb des Ortes einen Sportplatz“, erklärt sie mir. „Dort ist genug Platz und Ruhe zum Zelten. Allerdings baut dort gerade der Junggesellenverein ein großes Festzelt auf. Ich denke aber, niemand wird etwas dagegen haben, wenn du dort irgendwo zeltest. Vielleicht freuen die Jungs sich auch über einen weiteren Helfer. Ich kann die Truppe mal anrufen, wenn du magst; ich kenne sie.“

„Ja, cool, das klingt eigentlich nach einer super Idee. Aber näher am Ortskern weißt du kein Plätzchen? Denn ich würde den Abend sehr gerne im Ort selbst verbringen. Wenn ich jedoch am Sportplatz zelte, müsste ich meine Sachen dort unbeobachtet zurücklassen oder erst spät hingehen und mit dem Aufbau beginnen.“

„Kann ich verstehen. Also, eigentlich: Ich habe auch nichts dagegen, wenn du hier im Garten zeltest.“

Ich bin sehr überrascht. „Wow, was? Wirklich?“

„Ja, ich weiß, wie das ist, wenn man irgendwo auf Reisen ist und wenig Mittel zur Verfügung hat.“

„Oh Mann!“, ich kann gar nicht beschreiben, wie froh ich bin. „Ich bin gerade echt etwas perplex! Also wäre das wirklich okay für dich?“

„Klar. Ich muss dabei gerade an einen Freund denken, der auch viel gereist ist. Ihm wurde immer wieder von Menschen geholfen, indem sie ihm eine Unterkunft boten. Ich will auch gerne meinen Teil zu so etwas beitragen. Und außerdem wird der Garten dann mal richtig genutzt. Allerdings habe ich bis achtzehn Uhr Kundschaft. Es käme ungelegen, wenn du dein Zelt aufbaust, während die Gäste hier essen. Aber wenn du nach achtzehn Uhr wiederkommst, ist das kein Problem.“

„Natürlich! Das käme wirklich ziemlich blöd rüber. Ich heiße übrigens Florian.“ Wir geben einander die Hand, während die junge Frau sich mir als Erika vorstellt. „Freut mich sehr, Erika. Besteht die Möglichkeit, meinen Rucksack so lange bei dir zu lassen? Ich würde nämlich gerne noch ein wenig durch den Ort spazieren. Ich habe gesehen, du hast da einen Schuppen oder so etwas neben dem Haus!?“

„Ja klar, da kannst du den Rucksack reinstellen. Ich komme eben mit und zeige dir den Schuppen.“

Ich kann mein Glück noch gar nicht wirklich fassen. Erika führt mich in das Nebengebäude. Hier stelle ich den Rucksack ab, nehme nur Portemonnaie, Buch, Tagebuch und meinen Pullover heraus und lasse den Rest dort. Ich frage Erika nochmal, ob es wirklich in Ordnung sei, in ihrem Garten zu zelten. Sie bejaht lachend. Dankend verabschiede ich mich von ihr, um eine Runde durch den Ort zu schlendern.

Ich bin euphorisch und unbeschreiblich froh über dieses Glück. Wenn ich daran denke, welche Möglichkeit sich mir da gerade geboten hat, verspüre ich ein starkes Glücksgefühl in mir: Ich schlafe in Monreal! Kostenlos. Einfach der Wahnsinn. Es ist zwar erst der zweite Tag, aber der Satz auf dem Kärtchen in der Kirche scheint bisher zu stimmen: Die Menschen machen den Jakobsweg aus.

An der Kirche folge ich dem Weg nach links hinauf zu den Burgruinen. Auf dem Pfad zur Philippsburg – der kleineren der beiden Burgruinen – komme ich an zwei Mädels vorbei, die ein wenig jünger als ich zu sein scheinen. Sie beobachten hinabgebeugt etwas im Gras.

„Hey! Was gibt’s denn hier zu sehen“, frage ich in meiner guten Laune.

„Ameisen“, sagen sie grinsend.

Ich lache: „Mach‘ keine Sachen!! Ameisen?“

Sie müssen ebenfalls lachen. „Ja okay“, sagt die eine, „es gibt Interessanteres als Ameisen. Aber diese hier sind echt groß. Waldameisen.“

„So, so“, bemerke ich mit gespielter Sprachlosigkeit. „Ihr seid wohl nicht von hier, was?“, frage ich sie.

„Nein, wir sind aus dem Ruhrgebiet.“

„Ach, okay. Und ihr seid dann für ein langes Wochenende hier?“

„Ja, genau. Mal bisschen die Eifel erkunden. Ich hatte irgendwo Bilder von Monreal gesehen und wollte es mir unbedingt selbst anschauen.“

„Und wo übernachtet ihr?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139099
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Wandern Jakobsweg Eifel Camino Eifel-Camino Spiritualität Pilgern Erzählungen Kurzgeschichten

Autor

  • Florian Koßmann (Autor:in)

Florian Koßmann, 1988 in Andernach am Rhein geboren - in der Welt zu Hause. Wandervogel, Freigeist, Jakobspilger. Entdeckt früh seine Leidenschaft für das Reisen. Tourt im VW Bus durch Europa, bereist als Backpacker ferne Länder, pilgert auf dem spanischen Jakobsweg Camino Francés. Mit der Wanderung auf dem Eifel-Camino durch seine Heimat entdeckt er die Freude am Schreiben. "Offene Herzen, offene Türen. Begegnungen auf dem Eifel-Camino" ist seine erste Reiseerzählung.
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Titel: Offene Herzen, offene Türen