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Eine mörderische Tour

von Katharina Kohal (Autor:in)
269 Seiten

Zusammenfassung

"Eine mörderische Tour":
Ein Abenteuerurlaub der besonderen Art – so hatte Jo Meysner, Chef der Reiseagentur Special Travels, die Trekking-Tour zum Monte Roraima angekündigt. Und er hat nicht zu viel versprochen: Für die kleine Reisegruppe wird es tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch in ganz anderem Sinn, als erwartet. Denn auf dem Hochplateau des Roraima geschieht ein Mord.
Mit der Aufklärung des Verbrechens wird der attraktive Comisario Garcia Hernández beauftragt. Schon bald erkennt er, dass der Mord geplant war. Für die Ermittlungen braucht er dringend Unterstützung und bekommt sie umgehend vom schnoddrigen Kriminalhauptkommissar Wiesmann.
Bei den Vernehmungen der Zeugen treten längst bewältigt geglaubte Ereignisse aus der Vergangenheit zu Tage. Und zeitweilig scheint es, als hätte jeder von ihnen ein Motiv.
Sowohl Garcia Hernández als auch Wiesmann wähnen sich bereits am Ziel, doch dann zeigt sich das Verbrechen in einem ganz anderen Licht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Prolog

Die Reiseagentur hatte längst geschlossen und er war allein. Seit mindestens fünf Minuten schon starrte er auf die Datei, die ihm per E-Mail zugeschickt wurde. »Sorry, mehr habe ich nicht gefunden«, stand im Begleittext. Aber für Jo Meysner, den Geschäftsführer der Reiseagentur Special Travels, war es genug: Er erkannte die Zusammenhänge. Das Geschehen um den Mord vor nunmehr vier Wochen zeigte sich plötzlich in einem ganz anderen Licht. Hauptkommissar Wiesmann und dem venezolanischen Comisario Garcia Hernández fehlte bislang das letzte Teil im Puzzle, doch ihm, Jo Meysner, hatte es im Grunde genommen der Zufall in die Hände gespielt. Jetzt kannte er das Motiv des Verbrechens. Und somit auch den Mörder.

Ruhelos lief er umher und überlegte, was jetzt zu tun sei. Dann griff er entschlossen zum Telefon. Nach dem vierten Klingelton vernahm er ein überraschtes »Hallo?«

Es war die Stimme des Mörders.

 

Teil I

Ein erstes Treffen

Noch vor einem Monat schien für Jo Meysner die Welt in Ordnung. Die Geschäfte liefen bestens, erst recht, seit er das Angebot seines Reiseunternehmens verkleinert hatte. Er hatte sich, wenn auch nicht auf die eigene Person bezogen, deutlich verschlankt. Ottonormalverbraucher-Pauschalreisen, wie er sie nannte, nahm er peu à peu aus dem Programm heraus. Stattdessen bediente er jetzt eine Nische, die sich ihm erst vor ein paar Jahren aufgetan hatte. Der Anlass hierfür war seine Reise als Backpack-Tourist durch Südamerika. Damals hatte er spontan beschlossen, Ähnliches künftig auch interessierten Kunden anzubieten, allerdings mit einigem Komfort und auf hohem Niveau. Seine Agentur hieß zu diesem Zeitpunkt noch Meisner-Reisen und er selbst Joachim Meisner. Aber beides fand er nun nicht mehr passend zu dem neuen Konzept. Es klang ihm zu bieder. Und so wurde aus seinem Namen Jo Meysner, und Meisner-Reisen nannte er in Special Travels um.

Die anspruchsvollen Trekking-Touren, die Special Travels anbot, waren nicht billig, genaugenommen sogar recht kostenintensiv. Sie wurden nur für kleine Gruppen organisiert. Das Angebot richtete sich an körperlich fitte und finanziell gut gestellte Kunden, die das Abenteuer suchten. Meist handelte es sich dabei um nicht mehr ganz junge Teilnehmer, die den gebotenen Service zu schätzen wussten und bereit waren, entsprechend dafür zu zahlen. Zu diesem Service gehörte unter anderem, dass seine Reiseagentur die Abenteurer, wie Jo Meysner sie gerne nannte, auch abholte. Und das im sprichwörtlichen Sinn. Denn kurz vor Beginn einer jeden Tour fand ein erstes Treffen statt, bei dem sie sich untereinander und auch ihren Guide kennenlernten. Zudem bot sich die Gelegenheit, noch Hinweise zu geben oder Fragen zu stellen. Wann immer es Jo Meysner möglich war, begrüßte er seine Abenteurer persönlich. So auch heute.

Diesmal würde sie die Tour zum Roraima-Tepui führen, dem höchsten Tafelberg im Dreiländereck Brasilien, Venezuela und Guyana.

Seit langem schon war es Jo Meysners Wunsch, selbst einmal an einer solchen Expedition teilzunehmen. Aber als Geschäftsführer seiner Agentur war er unabkömmlich, er fand nicht die Zeit für derartige Touren. Das zumindest war die offizielle Version. Der eigentliche Grund war ein anderer: Die jahrelange Tätigkeit am Schreibtisch und das ständige Sitzen ließen ihn träge werden. Er fühlte sich körperlich einfach nicht mehr fit genug.

Nun also stand er das erste Mal vor seinen Abenteurern. Rasch glitt sein Blick über die Anwesenden: Vierzig Plus! Keiner der Teilnehmer mochte altersmäßig darunter liegen. Dieser geschätzte Altersdurchschnitt entsprach vollkommen seiner Erfahrung: Finanziell gut situierte Mittvierziger, die ein Abenteuer besonderer Art suchten.

Insgesamt hatten sieben Personen die Reise gebucht, drei Frauen und vier Männer. Nur sechs saßen in der Runde.

»Meine lieben Abenteurer. Ja, das sind Sie für mich!« So begann er jede seiner Begrüßungen, so auch diese. Mit routinierten Formulierungen stellte er sich, das Konzept der Agentur und noch einmal die Höhepunkte der kommenden Tage vor. Dabei hatte er Gelegenheit, die Anwesenden etwas näher zu betrachten. Meist genügte ihm ein kurzer Blick auf jeden Einzelnen, um dessen körperliche Verfassung und charakterliche Eigenheiten einzuschätzen. Dies gelang ihm ohne Unterbrechung seines Redeflusses.

Jetzt hörte er sich sagen: »Zum Kennenlernen von Land und Leuten mag die Reise wohl weniger geeignet sein, aber dafür werden Sie auf dieser anspruchsvollen Trekking-Tour eine grandiose Landschaft und eine einmalige Fauna und Flora erleben.« Dabei ruhten seine Augen für einen Moment auf einem sportlich durchtrainiert wirkenden Mann, möglicherweise war er der Jüngste der Gruppe. Schon dessen Körperhaltung verriet, dass er sich allen Strapazen der Reise stellen und diese problemlos bewältigen würde. Vermutlich war er der Draufgängertyp, den der Guide während der Tour von riskanten Alleingängen abbringen müsste.

Einen völlig anderen Eindruck bekam Jo Meysner von der schmächtigen blonden Dame neben ihm. Ihre Gesichtszüge waren durchaus ansprechend, doch wirkte sie insgesamt kühl und abweisend. Jo bezweifelte, dass sie den kommenden Anstrengungen gewachsen wäre. Doch vielleicht täuschte er sich.

Ebenso befürchtete er, dass die etwas mollige Brünette die körperlichen Herausforderungen unterschätzte. Sie wirkte keinesfalls trainiert, sondern eher behäbig und bequem. Sie hatte ein sympathisches, rundliches Gesicht und sah ihn erwartungsvoll an. Auf ihren brünetten Haaren lag ein rötlicher Schimmer.

»Die Tour wird einiges von Ihnen abverlangen, sowohl körperlich als auch mental. Doch der Anblick der ältesten geologischen Formationen unseres Planeten wird Sie für alle Strapazen entschädigen.«

Ähnlich aufgeschlossen wie die freundliche Brünette schien der Herr neben ihr Jos Erläuterungen zu folgen. Hin und wieder nickte er bestätigend. Im Kontrast zu den dunklen, fast schwarzen Haaren hatte er einen hellen Teint. Jo Meysner fielen seine kultivierten Hände auf, die er auf den übereinandergeschlagenen Beinen verschränkt hielt. Wahrscheinlich ein Intellektueller, ein Akademiker, der sich im Vorfeld der Reise ausführlich informiert und belesen hatte, war Jos erster Eindruck.

Neben ihm hatte die dritte weibliche Teilnehmerin Platz genommen. Sie saß sehr aufrecht und wirkte schlank und groß. Die dunkelblonden Haare trug sie straff zurückgebunden. Sie gaben ihrem Äußeren etwas Strenges, Ernstes. Auffallend waren ihre ausdrucksvollen graublauen Augen.

Den Stuhl um ein paar Zentimeter zurückgeschoben, saß der dritte männliche Teilnehmer etwas außerhalb der Runde. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und die Beine weit von sich gestreckt. Insgesamt wirkte er robust und sehr selbstbewusst. Jo glaubte, in ihm einen Führungsmenschen zu erkennen, einen Manager vielleicht, der für ein paar Tage eine Herausforderung ganz anderer Art suchte. Sicher würde es ihm schwerfallen, in den kommenden Tagen die gewohnten Autoritätsansprüche abzulegen.

Jo kannte sich in dieser Hinsicht aus. Oftmals bestätigten sich seine ersten Eindrücke dann später durch die Erfahrungen des Guides. Dessen Aufgabe würde es auch in diesem Falle wieder einmal sein, aus der bunt zusammengewürfelten Truppe zumindest für die Dauer der kommenden Tage ein Team zu bilden.

»Wie ich eingangs schon erwähnte, wird es eine anspruchsvolle Tour werden, die durchaus ihre Risiken in sich birgt. Aber unser Guide wird Sie in gewohnter Weise sicher führen. Wichtig dafür ist, dass Sie sich strikt an seine Weisungen halten.« 

In diesem Moment betrat ein leger gekleideter Mann den Raum und nahm auf einem der freien Stühle Platz. Jo lächelte ihm zu.

»Und jetzt darf ich Ihnen Miguel, Ihren Guide vorstellen. Wie Sie gleich bemerken werden, ist er kein gebürtiger Venezolaner. Aber er lebt schon seit einigen Jahren dort, kennt sich bestens aus und spricht fließend Spanisch.«

Mit einem verlegenen Grinsen sah Miguel in die Runde. Was sein Äußeres betraf, so pflegte er das Klischee des lässigen Aussteigers. Die langen Haare trug er zu einem Zopf gebunden, von dem er sich, wollte er nicht unfreiwillig komisch erscheinen, wohl eines Tages trennen müsste. Und dieser Tag lag nicht mehr in allzu weiter Ferne. Denn auch Miguel hatte die Vierzig längst überschritten. Zu den abgetragenen Jeans trug er ein wie eben aus dem Rucksack hervorgezerrtes, zerknittertes Baumwollhemd. Seine bloßen Füße steckten in Ledersandalen. Schon deren Anblick ließ die anderen, da es jetzt Anfang März noch empfindlich kühl war, frösteln. In dem Moment öffnete sich die Tür, und der siebente Teilnehmer der Exkursion kam herein. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm er auf dem letzten freien Stuhl Platz. Jo nickte zufrieden, jetzt war die Runde komplett. Er schwärmte noch ein wenig von der atemberaubenden Natur auf und rund um den Roraima.

Wieder einmal verspürte er Fernweh und empfand mit Wehmut und wohl auch einer Portion Neid jene flirrende Stimmung zwischen Vorfreude, Erwartung und Nervosität, die sich vor jeder Reise unter den Teilnehmern einstellte.

Schließlich verabschiedete er sich mit den Worten: »Ob Sie es glauben oder nicht: Ich beneide Sie um das kommende Abenteuer!«

Mit einem frechen Grinsen raunte Miguel ihm zu: »Ich bewundere Sie … wolltest du doch sagen, oder?« Dann erhob er sich lässig und schaute in die Runde. »Meinen Namen kennt ihr ja bereits. Da wir die nächsten Tage gemeinsam verbringen werden, schlage ich vor, dass wir gleich von Anfang an zum Du übergehen.«

»Das müssen Sie schon jedem selbst überlassen.«

Die Bemerkung kam von der schmächtigen Blonden. Für einen Augenblick fühlte sich Miguel aus dem Konzept gebracht. Eine derart schroffe Abfuhr hatte er bis dahin nicht erlebt. Aber bevor er etwas erwidern konnte, bekam er Unterstützung von einem der Teilnehmer, von dem er sie am wenigsten erwartet hätte. Ausgerechnet der Typ, der Miguel mit verschränkten Armen und ausgestreckten Beinen gegenübersaß und ihn mit kritischem Blick zu mustern schien, sprang ihm jetzt bei.

»Mir ist der Vorschlag recht. Also, ich bin Torsten.« Herausfordernd schaute er in die Runde und dann zu der Blonden hinüber. Sie hielt seinem Blick stand.

»Das ist Ihre Sache. Mein Name ist Heike Eckert.«

Damit schienen die Fronten geklärt. Unbeeindruckt von dem kurzen Schlagabtausch richtete Torsten seinen Blick auf die Brünette.

»Und ich bin Britta«, kam sie der stummen Aufforderung nach.

Als er sich den anderen zuwenden wollte, unterbrach Miguel die begonnene Vorstellungsrunde. »Was euch auf unserer Tour erwarten wird, dürfte bekannt sein. So ungefähr zumindest. Und ihr habt alle die Liste mit der empfohlenen Ausrüstung erhalten. Für die Trekking-Tour solltet ihr nicht mehr als zehn Kilo Gepäck mitnehmen, den Rest könnt ihr in unserem Ausgangscamp in Santa Elena lassen. Die Nächte werden wir in Zelten verbringen. War schon jemand von euch in einem der lateinamerikanischen Staaten?«

»Ich, aber nur dienstlich«, meldete sich der vierte männliche Teilnehmer, der etwas verspätet hinzugekommen war. Er hieß Jens, hatte kurze dunkle Haare und lebhafte braune Augen, in denen ein verschmitztes Lächeln lag. Vom Äußeren her hätte man ihn für einen Lateinamerikaner halten können.

Miguel fragte weiter: »Wer von euch hat schon an ähnlichen Touren teilgenommen?«

Natürlich, der sportlich Durchtrainierte, er stellte sich als Frank vor, meldete sich. Miguel war nicht überrascht, dass auch Torsten diesbezügliche Erfahrungen gesammelt hatte. Früher nahm er an Bergsteigertouren teil, bis ihm der Job keine Zeit mehr dazu ließ. Weder Heike Eckert noch Britta hatten bisher derartige Touren unternommen.

»Für mich aber kein Problem«, behauptete Heike.

Britta hingegen schien nicht so sicher. »Ich hoffe, dass ich durchhalten werde.«

»In der Reisebeschreibung wurde die Tour als ausgesprochen anspruchsvoll bezeichnet. Oder hast du da was missverstanden?« Diese Bemerkung kam von Torsten.

Miguel lenkte rasch ein: »Ich denke, dass du alles problemlos schaffen wirst, Britta.« Sein Blick wanderte weiter und blieb bei der dritten Dame in der Runde hängen. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den er zu kennen glaubte: Es war eine Spur Resignation, die im Widerspruch zu ihrer selbstbewussten Haltung stand. In seltsamer Weise fühlte er sich berührt. Doch im nächsten Augenblick war dieser irritierende Eindruck verflogen. Sie stellte sich als Carolin vor, »Nennt mich bitte einfach Caro«, und erklärte, dass sie gerne und intensiv wandere, Bergtouren bisher aber noch nicht unternommen habe.

»Und wie sieht es bei dir aus?«, wandte sich Miguel an Jens.

»Mit Trekking-Touren habe ich wenig Erfahrungen. Aber eine Zeit lang hatte ich mal Freiklettern trainiert.« Beeindruckt schielte Frank zu ihm hinüber: Freeclimbing! Klettern ohne Absicherung, nur mit Händen und Füßen! Er selbst hatte es noch nie probiert.

Zum Schluss stellte sich Magnus vor. »Für mich wird es ebenfalls die erste Tour dieser Art werden.« Und etwas zögernd fügte er hinzu: »Ich gestehe, dass mir Laptop und Schreibtisch wesentlich vertrauter sind als Schlafsack und Wanderschuhe.« Torstens verständnislosen Blick deutete er richtig. Doch bevor dieser eine bissige Bemerkung machen konnte, nannte Magnus selbst den Grund dafür, warum er sich dennoch für die strapaziöse Tour entschieden hatte.

»Die Tafelberge hatten mich schon lange interessiert. Spätestens, seit ich Sir Arthur Conan Doyles Lost World gelesen hatte, stand für mich fest, dass ich sie irgendwann mit eigenen Augen sehen muss. Auf dem Roraima sind achtzig Prozent der Organismen endemisch, das bedeutet, dass ein Großteil der Flora und Fauna an keinem anderen Ort der Welt vorkommt.« Für ein, zwei Minuten brillierte er mit seinem Wissen, bis Miguel ihn höflich unterbrach und wieder auf organisatorische Belange zu sprechen kam.

»Insgesamt werden wir acht Tage unterwegs sein: je einen Tag für die An- und Abreise und sechs Tage für die eigentliche Trekking-Tour. Bitte überprüft nochmal sorgfältig eure Ausrüstung. Habt ihr sonst noch Fragen?«

»Wie sieht es eigentlich mit der Verpflegung während der Tour aus?«, wollte Britta wissen.

»Wir essen alles, was da kreucht und fleucht und am Wegesrand wächst«, erklärte Miguel mit todernster Miene. Als er Brittas verunsicherten Blick sah, versprach er schmunzelnd: »Selbstverständlich werden wir bestens versorgt. Eine Gruppe von Pemón-Indianern begleitet uns. Sie kümmern sich um die Zubereitung der Mahlzeiten und den Transport der Zelte.«

Frank schien ein wenig enttäuscht. »Wenn uns jede Mühe abgenommen wird, ist es doch keine Abenteuertour!«

Solche Diskussionen waren Miguel nicht fremd. Gerade, als er in scherzhaftem Ton vorschlagen wollte, dass Frank, sollte er während der Tour nicht ausgelastet sein, sich ja gerne nützlich machen könne, kam ihm Torsten zuvor.

»Ich verstehe eure Probleme nicht. Es steht doch alles in der Tourenbeschreibung, die ihr bekommen habt.«

»Und ich verstehe nicht, warum Sie sich da überhaupt einmischen«, entgegnete Heike in eisigem Ton. »Es ist die Aufgabe des Guides, derlei Fragen zu beantworten.«

Mit ausdrucksloser Miene nahm Torsten die Kritik entgegen. Nur an der Anspannung seiner Kiefermuskulatur war zu erahnen, was in ihm vorgehen mochte.

Miguel unterbrach die Diskussion und kam auf den anstrengendsten Teil der Etappe, den Aufstieg auf das Hochplateau des Roraima, zu sprechen. »Es geht steil bergauf. Nehmt daher nur das Nötigste mit, Richtwert sind zehn Kilo. Auf dem Plateau bleibt euch genügend Zeit für eigene Erkundungen. Ihr werdet einmalige Gesteinsformationen, Schluchten, Höhlen und eine kaum vorstellbare Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten vorfinden. Eine Besonderheit sind die fleischfressenden Pflanzen oder Karnivoren, wie sie bezeichnet werden.«

Der Begriff Karnivoren schien für Magnus das Stichwort zu sein. Er ließ es sich nicht nehmen, über sein Lieblingsthema zu dozieren. Lächelnd betonte er, dass er selbst sich ausschließlich von Pflanzen ernähre, also Veganer sei. 

Während dieser Umstand die anderen Teilnehmer nicht interessierte, sah Miguel Komplikationen bei der Verpflegung auf sich zukommen. Dafür musste eine Lösung gefunden werden. Etwas verärgert über diese neue Problematik und weil deren Verursacher noch immer selbstvergessen über die verschiedenen Arten der Karnivoren referierte, schaute er in die Runde. Dabei registrierte er, dass Torsten kurz davor war, zu explodieren, und auch Franks Geduld zu Ende ging. Genervt verdrehte er die Augen. Was Jens dachte, war schwer zu erahnen. Den Blick auf Magnus gerichtet, hörte er mit ausdrucksloser Miene zu. Caro schien mit ihren Gedanken weit entfernt.

Neben Heike Eckert, die nur mit Mühe eine bissige Bemerkung unterdrückte, saß Britta und schaute betreten zu Boden. Die Situation war ihr sichtlich peinlich.

Unterschiedlicher konnten die beiden Frauen kaum sein, fand Miguel. Wie Schneeweißchen und Rosenrot, nur dass die Charaktere in diesem Fall vertauscht schienen. Bei derartigen Betrachtungen war ihm entgangen, dass Magnus seinen Vortrag beendet hatte.

In die plötzliche Stille hinein verkündete Torsten: »Also, wenn es keine weiteren Fragen oder Hinweise gibt, machen wir doch einfach Schluss für heute.« Er stand auf und griff nach seiner Jacke. Die anderen sechs Augenpaare waren auf Miguel gerichtet.

»Sorry, ich war gerade in Gedanken. Ja, dann sehen wir uns wie besprochen übermorgen direkt am Terminal wieder. Ich freue mich auf euch und auf die kommende Tour.«

Beim Verabschieden gab er jedem die Hand. Und als Bestätigung seiner Beobachtungen nahm er Heikes festen Händedruck wahr, der im Widerspruch zu ihrer äußeren Erscheinung stand. Noch kräftiger war der von Torsten. Britta schüttelte ihm mit einem »Danke für die Erläuterungen« die Hand. Magnus gab ihm seine eher flüchtig, und Frank verabschiedete sich wie erwartet mit einem betont lässigen Handschlag. Miguel bedauerte, dass er den von Jens und Caro kaum wahrgenommen hatte. Er war abgelenkt durch eine Bemerkung, die Torsten im Hinausgehen fallen ließ. Und es klang nicht nett.

»Na, wie war’s?«, erkundigte sich Jo Meysner, als Miguel in dessen Büro kam.

»Na wie schon. Vermutlich werde ich mich wieder mal mit einem ambitionierten Extremsportler, einem verhinderten Führungstypen und einem belesenen Klugscheißer, der zu allem Übel auch noch ein eingefleischter Veganer ist, herumschlagen müssen. Neu in der Runde sind diesmal ein bissiges Schneeweißchen und ein naives Rosenrot.«

Jo wusste sofort, wen er meinte.

 

Ankunft in Santa Elena

Britta war mit dem Umpacken ihres Reisegepäcks noch immer nicht fertig. Das Reduzieren auf die empfohlenen zehn Kilo Tragegewicht fiel ihr schwer. Erschöpft warf sie sich auf den freien Sessel in dem engen Hotelzimmer.

»Ich bin völlig kaputt von dem langen Flug.«

Heike Eckert sah sie verständnislos an. »Wir haben doch den ganzen Tag nur gesessen und gegessen. Ich muss mich jetzt bewegen.« Ihr Rucksack stand fertiggepackt neben dem Bett.

Britta seufzte. Die permanente Effizienz der anderen ging ihr zunehmend auf die Nerven; sie unterstrich ihre eigene Unzulänglichkeit. Doch was blieb ihr anderes übrig, als sich mit der Situation zu arrangieren? Lieber hätte sie das Zimmer mit Caro geteilt. Aber die hatte das Einzelzimmer bekommen.

»Sind Sie denn gar nicht müde?«

Noch immer waren sie beim unpersönlichen Sie. Eine Antwort erhielt sie nicht, denn Heike Eckert verließ das Zimmer. Britta quälte sich aus dem Sessel und betrat das kleine Bad. Nachdem sie geduscht und die Kleidung gewechselt hatte, fühlte sie sich ein wenig besser und streckte sich auf ihrer Seite des schmalen Doppelbettes aus.

Sie musste wohl ein wenig eingeschlafen sein, denn ein lautes Klopfen riss sie aus ihrem Traum. 

»Fertigwerden zum Abendessen!« Es war Miguel. Gleich darauf pochte er an der nächsten Tür.

Später dann, nach einem reichlichen Abendessen, saß die Gruppe in der kleinen Lounge des Hotels beisammen, und Miguel stimmte alle auf den Start am nächsten Morgen ein.

»Pünktlich um acht geht’s los. Das heißt, dass wir uns spätestens um sieben zum Frühstück treffen und kurz vor acht startklar sein müssen. Zwei Jeeps werden uns durch die Gran Sabana bis zu dem 1.000 Meter hoch gelegenen Indianerdorf Paraitepuí bringen. Auf der Fahrt dorthin können wir in der Ferne schon die Tafelberge sehen. Allerdings sind sie meistens nebelverhangen.«

»Wie lange wird die Anfahrt dauern?«

»Ungefähr zwei Stunden. In Paraitepuí nehmen wir ein leichtes Mittagessen ein, danach beginnt die erste Etappe der Trekking-Tour. Wir wandern circa dreizehn Kilometer durch die Gran Sabana und erreichen am zeitigen Abend das Camp am Rio Kukenan. Dort erwartet uns ein warmes Abendessen. Auch die Zelte sind schon aufgebaut.«

»Das klingt alles sehr nach Komfort«, monierte Frank. »Müssen wir überhaupt noch was selber machen?«

»Ja, eure Beine in Bewegung setzen und später einige Höhenmeter überwinden«, erwiderte Miguel trocken. »Gibt es sonst noch Fragen?« 

Jetzt meldete sich Britta. »Du hast davon gesprochen, dass wir auf der Tour nicht mehr als zehn Kilo mitnehmen sollen. Wo lassen wir den Rest des Gepäcks?«

Torsten rollte genervt mit den Augen. »Es wurde doch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es hier in Santa Elena bleibt.«

Als Britta daraufhin betreten schwieg, sprang ihr Miguel bei. »Die Frage ist durchaus berechtigt. Alles überflüssige Gepäck deponieren wir in einem Raum hier im Hotel.«

Sie bedankte sich bei ihm mit einem kleinen Lächeln.

Da alle von der langen Anreise abgespannt und offensichtlich gereizt schienen, beendeten sie bald ihr abendliches Beisammensein und zogen sich zurück. Für diese Nacht teilten sich Frank und Jens ein Zimmer, Torsten und Magnus das andere.

»Woher kommt eigentlich der Vorname Magnus? Ich habe ihn bisher nur selten gehört.«

»Aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie groß an Geist«, erklärte er mit einem schiefen Grinsen. »Erspar dir alle Witze darüber, die wurden schon von meinen Mitschülern gemacht.« Dann schwiegen beide. Jeder widmete sich seinen Aufzeichnungen über den heutigen Tag.

Im Zimmer nebenan regte sich Britta auf: »Ich finde seine Art beleidigend und unverschämt. Wenn er so weitermacht, drehe ich ihm irgendwann den Hals um!« Heike Eckert wusste, dass sie von Torsten sprach.

»Davon würde ich dringend abraten.«

»Wieso?«

»Er ist zu dick. Ich meine seinen Hals.«

Momentan war Britta für Ironie unempfänglich. Aufgebracht fuhr sie fort: »Ich wage kaum noch, eine Frage zu stellen. Sofort stellt er mich als dämlich hin.«

»Jetzt lassen Sie sich doch nicht so verunsichern! Der wartet doch nur darauf, dass Sie auf die Provokationen eingehen.« Heike stand auf und packte ihr Tablet weg. »Vielleicht ist es nur seine persönliche Art, Kontakt aufzunehmen«, schob sie sarkastisch nach.

»Ganz bestimmt! Einen geschickteren Annäherungsversuch kann ich mir kaum vorstellen!«

Unterdessen hatte sich Heike entkleidet und ging ins Bad. In der Tür drehte sie sich noch einmal um.

Mit einem schiefen Lächeln behauptete sie: »Er mag Sie.«

Britta musste lachen. Diese Art von Humor hätte sie Heike Eckert gar nicht zugetraut. Für einen Moment hing sie ihren Gedanken nach, dann nahm sie ihren Laptop und begann zu schreiben. Zehn Minuten später, als Heike frisch geduscht und mit feuchtem Haar zurück ins Zimmer kam, hatte sie sich bereits auf ihrer Seite des Doppelbettes ausgestreckt und gähnte. Kurz darauf schlief sie ein. Heike dagegen lag noch lange wach und starrte in das Halbdunkel des Zimmers. Schließlich stand sie leise auf und nahm die Hälfte einer Schlaftablette. Ohne diese kam sie immer seltener aus.

 

Weiter durch die Gran Sabana

Zunächst verlief die Fahrt über eine gutausgebaute Asphaltstraße in Richtung Norden, später dann wurde der Weg ruppiger und ging schließlich in eine Schotterpiste über. Sie fuhren durch die Gran Sabana, in der Ferne kamen die wolkenverhangenen Bergmassive in Sichtweite. Nach reichlich zwei Stunden Fahrt hatte die Gruppe das Indianerdorf Paraitepuí, den Ausgangspunkt ihrer Wanderung, erreicht. Als erste sprangen Miguel und die beiden Fahrer aus den Jeeps.

»Von hier aus könnt ihr schon den Kukenan-Tepui und das Roraima-Massiv sehen. Sie wirken zum Greifen nah, aber die Distanz täuscht.«

Nachdem sich die Gruppe ein wenig im Dorf umgeschaut hatte, gab es ein leichtes Mittagessen in Form von Sandwiches und Obst. Danach luden die beiden Fahrer die Rucksäcke aus.

»Auf geht’s zu unserem ersten Etappenziel, dem Camp Kukenan.« Miguel schaute ermunternd in die Runde und gleich darauf besorgt auf Brittas prallgefüllten Rucksack. »Jedes Kilo zu viel wird dich während der Tour belasten!«

»Und dies sicher nicht nur hinsichtlich des Gepäcks.«

Mit hochrotem Gesicht wandte Britta sich ab. Sie wusste, dass Torsten auf ihre Figur anspielte.

»Wenn du möchtest, kann ich was zu mir in den Rucksack nehmen.« Als Britta für einen Moment zögerte, drängte Frank: »Nun komm schon. Ich meine es ernst.«

»Danke, das ist wirklich nett.« 

Etwas verlegen packte sie hastig ihre Regenjacke und das Badezeug um. Dabei entging ihr nicht Torstens nächste Bemerkung, dass wohl jeder in der Lage sein sollte, seinen Krempel selber zu tragen. Aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, beteuerte Frank, dass er sowieso nicht ausgelastet sei und das zusätzliche Gewicht als sportliche Herausforderung betrachte.

Miguel hatte Torstens Bemerkungen gehört. Bei nächster Gelegenheit würde er ihn beiseitenehmen und ein paar passende Worte sagen. Aber jetzt mussten sie erst einmal los. Im Umdrehen rief er den anderen zu, dass jeder sein eigenes Tempo finden müsse, er selbst aber alle im Auge behalten und bei Bedarf entsprechende Pausen einlegen würde. Dann lief er, dicht gefolgt von Jens, Frank und Torsten, in mäßigem Tempo voran. In etwas größerem Abstand folgte Caro. Unschlüssig schaute Britta sich nach Heike Eckert um. Gerade als sie sich ihr anschließen wollte, zog diese zügig an ihr vorbei. Sie hörte Magnus’ Stimme neben sich.

»Ich kann’s noch gar nicht fassen! Jetzt sind wir tatsächlich hier.« Begeistert deutete er in Richtung der Tafelberge, die sich in der Ferne wie Festungen aus der weiten Ebene erhoben. 

Über Britta ergoss sich eine Flut an Informationen über die Beschaffenheit des Hochplateaus. Nur mit halbem Ohr hörte sie zu und lief schweigend neben ihm her. Die Wanderung durch die Savannenlandschaft mit ihrem leichten, aber steten Anstieg strengte sie zusehends an. Auch Magnus musste irgendwann mit seinen Kräften haushalten. Endlich versiegte sein Redefluss.

 

 

Am frühen Nachmittag erreichten sie die erste Flussüberquerung. Frank saß barfuß am Ufer und wartete. Kurz nach ihm trafen auch die anderen ein. Miguel drehte sich besorgt nach Magnus und Britta um. Aber auch sie kamen wenig später hinzu. Beide hatten gerötete Gesichter, Magnus, da ihm die Hitze zu schaffen machte, und Britta vor Anstrengung und weil sie weitere Bemerkungen von Torsten befürchtete. Aber dieser schenkte ihr keine Beachtung, sondern hatte seinen Blick auf die Tafelberge gerichtet. Sie schienen zum Greifen nah.

»Wie lange schätzt du noch?«

»Ich denke, in einer reichlichen Stunde sind wir am Camp Kukenan. Passt bei der Flussüberquerung auf, dass ihr nicht wegrutscht. Ihr solltet vorsichtshalber Socken anziehen.« 

Sie begannen, durch die Strömung zu waten. Britta biss die Zähne zusammen und stieg durch das eiskalte Wasser, immer darauf bedacht, auf den glatten Steinen nicht auszugleiten oder anderweitig auf sich aufmerksam zu machen. Endlich hatte auch sie das gegenüberliegende Ufer erreicht. Die Gruppe legte eine Pause ein und trocknete die Füße in der Sonne.

Auf der bisherigen Wegstrecke hatten sie immer wieder kleine Zwischenstopps eingelegt, um die spektakuläre Landschaft mit ihrer seltenen Flora zu fotografieren. Magnus nutzte die Pausen, um zu zeichnen. Auch jetzt saß er etwas abseits und hatte einen kleinformatigen Skizzenblock vor sich. Mit zügigen Strichen brachte er das Wesentliche zu Papier. Dann ging es weiter.

Der Weg führte nun beständig bergan. Eine Weile lief Miguel neben Frank an der Spitze der Gruppe, doch dann ließ er sich zurückfallen, bis er auf gleicher Höhe mit Torsten war.

»Auch wenn dir’s schwerfällt, Torsten, halte dich bitte mit bissigen Bemerkungen zurück. Sie vermiesen die Stimmung.«

Verärgert erwiderte er: »Ich persönlich habe mich schon lange vor Beginn der Roraima-Tour gründlich vorbereitet. Das Gleiche erwarte ich auch von den anderen. Diese blöde Fragerei ist einfach nervig. Außerdem sollte sich jeder vorher darüber im Klaren sein, ob er der körperlichen Herausforderung überhaupt gewachsen ist. Wenn das nicht der Fall ist, kann man eben nicht an solch abenteuerlichen Touren teilnehmen. Die ganze Reise war teuer genug, und ich möchte sie jetzt genießen.«

»Irgendwie müssen wir in den nächsten Tagen alle miteinander auskommen. Ich fände es durchaus in Ordnung, wenn die Herren den drei Frauen in schwierigen Situationen auch mal helfen.«

Sofort schoss Torsten dagegen: »Die dürre Blonde ist zäh wie eine Bergziege, die kommt bestens alleine klar. Auch die Große, Caro oder wie sie heißt, braucht keine fremde Hilfe. Aber die zimperliche Dicke geht mir gewaltig auf die Nerven. Außerdem ist sie empfindlich wie eine Mimose.«

»Hast du was gegen Frauen?«

»Im Gegenteil. Ich war jahrelang mit einer verheiratet.«

»Kaum zu glauben«, erwiderte Miguel lakonisch. Dann lief er zügig weiter und setzte sich wieder an die Spitze der Gruppe.

Nach einer reichlichen Stunde hatten sie das Camp erreicht. Die Temperatur war hier deutlich kühler und angenehmer als in den Weiten der Savanne, die sie in der fünfstündigen Wanderung durchquert hatten. Wie von Miguel angekündigt, standen die Zelte schon da. Er ging hinüber zu den Pemón-Indianern, die mit der Zubereitung der Mahlzeiten beschäftigt waren. Auf Spanisch besprach er mit ihnen den weiteren Ablauf des Abends. Bald darauf kehrte er zur Gruppe zurück.

»Ihr könnt die Rucksäcke jetzt in den Zelten unterbringen. Wer möchte, kann noch ein kühles Bad im Rio Kukenan nehmen.«

In der Annahme, dass er das Zelt mit Jens teilen würde, stellte Frank sein Gepäck ab. Umso erstaunter war er, als Magnus wenig später durch die Öffnung schaute.

»Es ist dir doch recht?«, erkundigte er sich höflich.

»Ja … klar.«

Bald darauf stiegen alle, außer Britta und Magnus, in den Rio Kukenan. Auch Britta hätte sich gerne nach der langen Wanderung ein wenig abgekühlt, doch vor Torsten wagte sie sich nicht im Badeanzug zu zeigen.

Eine halbe Stunde später gab es ein warmes Abendessen. Es schmeckte hervorragend.

»Und du willst wirklich auf die gebackenen Schweinelenden und all die herrlichen Käsesorten verzichten?«, fragte Britta ungläubig. 

Aber Magnus winkte ab. »Es gibt doch noch so viel anderes ohne tierische Zutaten, die Bohnen- und Linsengerichte zum Beispiel, oder die frittierten Kochbananen und Maisfladen. Außerdem hat das Essen bei mir nicht die Priorität …«

»... die es für dich hat«, ergänzte Torsten mit einem Blick in Brittas Richtung.

Jens stieß ihn an. »Das war nicht nett.«

»Ich bin nicht nett

Die Gespräche bei Tisch zogen sich nur schleppend dahin. Selbst das venezolanische Bier vermochte nicht die angespannte Stimmung aufzulockern. Nur Miguel und Magnus bemühten sich um gemeinsame Gesprächsthemen und kamen bald auf den folgenden Tag und die Besonderheiten, die sie übermorgen auf dem Roraima erwarten würden, zu sprechen. Magnus begann wieder über die verschiedenen Orchideenarten, Flechten und Gräser zu referieren.

»Die hohe Steilwand und das andere Klima auf dem Hochplateau haben zu einer Isolation gegenüber dem Regenwald und der Savanne geführt. Das ist auch der Grund dafür, warum fast alle Organismen endemisch sind.«

»Was bedeutet eigentlich endemisch?«, erkundigte sich Britta.

Als hätte Torsten nur auf diese Frage gewartet, meinte er mit einem boshaften Lächeln: »Magnus erklärt es sicher gern nochmal.« Doch der schwieg dazu. Also dozierte Torsten selber: »In der Biologie bedeutet der Begriff das Auftreten von Pflanzen und Tieren in einer bestimmten, klar abgegrenzten Umgebung.«

»Wortwörtlich auswendig gelernt. Alle Achtung!« Heike hatte den entsprechenden Eintrag unterdessen bei Wikipedia gefunden und mit Torstens Erklärung verglichen.

An diesem Punkt beendete Miguel das Beisammensein. Er stand auf und wünschte eine gute Nacht. Auch Britta ging zum Zelt. Sie brauchte noch ein paar Minuten für sich alleine. Als Heike Eckert wenig später hinzukam, bedankte sie sich bei ihr.

»Wofür?«, fragte sie verwundert.

»Dafür, dass Sie ihm Kontra gegeben haben.«

»Ich verstehe nicht, warum Sie das nicht selber tun«, erwiderte sie knapp. Damit war das Thema für sie erledigt. Beide holten ihre Tablets hervor und schrieben die Eindrücke des heutigen Tages nieder. Torstens neuerliche verbale Attacken erwähnte Britta mit keinem Wort. Daran wollte sie sich später nicht erinnern. Nach ein paar Minuten steckte sie ihr Gerät weg, kroch in den Schlafsack und schlief bald darauf ein.

Im Nachbarzelt beging Frank den Fehler, noch einmal nachzufragen, woher Magnus seine detaillierten Kenntnisse hatte.

»Ich habe viel Fachliteratur dazu gelesen, weil mich die Tafelberge schon immer interessierten. Als Junge habe ich den Roman von Arthur Conan Doyle The Lost World regelrecht verschlungen. Obwohl darin nie der Name des Roraima erwähnt wird, ist er aber eindeutig gemeint. Lange Zeit wurde darüber spekuliert, ob man auf dem Tafelberg auch ausgestorbene Tierarten finden würde.«

Minutenlang dozierte er über die Pflanzen- und Tierwelt, die sie oben erwarten würde, bis Frank mit einem knappen »Na fein, das werden wir ja alles sehen« die langatmigen Erläuterungen unterbrach.

In der folgenden halben Stunde widmeten sie sich schweigend ihren Aufzeichnungen und Fotografien. Dann steckte Frank seinen Laptop weg und streckte sich auf der Isomatte aus. Magnus schien wieder mal kein Ende zu finden, er blätterte unschlüssig im Skizzenblock und ergänzte hier und da ein Detail. Nach fünf Minuten schaltete er die Beleuchtung aus und legte sich ebenfalls hin.

Wie die Nächte zuvor lag Heike noch lange wach. Neidvoll vernahm sie Brittas leise Schnarchgeräusche. Schließlich suchte sie in ihrer Kulturtasche nach den Schlaftabletten. Durch das Rascheln in ihrem Schlaf gestört, wälzte sich Britta auf die andere Seite. Aber gleich darauf waren wieder ihre gleichmäßigen Atemzüge zu hören. Endlich fand Heike die Schachtel, drückte eine Schlaftablette heraus und zerteilte sie. Doch an ein Getränk, um sie schlucken zu können, hatte sie nicht gedacht. Mit Widerwillen zerbiss sie die halbe Tablette und würgte sie herunter. Die trockene Substanz blieb an ihrem Gaumen kleben und löste einen Hustenanfall aus. 

Erschrocken fuhr Britta hoch. »Was ist denn los?« Aber augenblicklich erkannte sie die Situation und griff nach ihrer Wasserflasche. »Hier, versuch mal, was zu trinken!« Hastig nahm Heike ein paar kräftige Schlucke. Endlich gelang es ihr, die Tablettenreste hinunter zu spülen. Übrig blieb ein ekeliger, bitterer Geschmack im Mund. Als Heike wieder zu Atem kam, fragte Britta: »Woran hast du dich denn so fürchterlich verschluckt?« Versehentlich war sie zum Du übergegangen.

»Ich hatte eine Tablette genommen.« 

In der Zwischenzeit war Miguel aus seinem Zelt gekrochen und leuchtete mit der Taschenlampe in Richtung des Damenzeltes.

»Braucht ihr Hilfe?« 

Heike verneinte und betonte, dass alles wieder in Ordnung sei. Die Sache war ihr peinlich. Irgendwann, weit nach Mitternacht, schlief sie endlich ein.

 

Aufbruch zum Base Camp

Überrascht schaute Frank aus dem Zelt: Um ihn herum war dichter Nebel. Unter lauten Unmutsäußerungen krochen nun auch die anderen aus ihren Zelten.

»Damit müssen wir hier rechnen. Aber wartet’s ab: Nach dem Frühstück kann es schon wieder ganz anders aussehen.«

Miguel wusste, wovon er sprach, und er behielt Recht. Nachdem alle reichlich gefrühstückt und sich auf die heutige Etappe eingestimmt hatten, schien bald wieder die Sonne. Allen war bewusst, dass ein anstrengender Tag bevorstand. Es würde ständig bergauf gehen, und zwei Flüsse müssten überquert werden, der Rio Tek und der Rio Kukenan.

»Du hast die ganze Zeit kein Wort gesagt«, stellte Heike fest. 

Mit einer knappen Kopfbewegung deutete Britta in Richtung Torsten, der einige Meter vor ihnen lief. Fast neidvoll nahm sie zur Kenntnis, dass Caro ganz offensichtlich kein Problem mit ihm zu haben schien. Beide wanderten nebeneinander und unterhielten sich angeregt.

»Ignorier ihn doch einfach«, empfahl Heike, dann beschleunigte sie ihr Schritttempo, bis sie auf gleicher Höhe mit Miguel und Frank war.

Bald kamen sie am ersten Fluss an und überquerten ihn ohne größere Schwierigkeiten. Wenig später dann, beim Rio Kukenan, wurde es weitaus komplizierter. Der Wasserstand war höher als bei dem kleineren Rio Tek. Hier erwies sich die Durchquerung als echte Herausforderung, zumal die Strömung das Waten im Wasser erschwerte und die Tiefe nur schwer abzuschätzen war. Miguel behielt alle im Auge und hielt sich bereit, zu helfen.

Mit einem Aufschrei glitt Britta auf einem Stein aus und landete im kalten Wasser. Sofort versuchte Miguel, zu ihr zu gelangen. Doch vor ihm war Frank zur Stelle, reichte ihr die Hand und zog sie ans Ufer.

Britta vermied es, in Torstens Richtung zu schauen. Aber der widmete sich seiner Fotoausrüstung, die er, wie von Miguel empfohlen, wasserdicht verpackt hatte.

Die Sonne trocknete die nassgewordene Kleidung schnell, und nach einer zehnminütigen Rast ging es weiter, stetig bergauf. An einem Orchideenfeld hielten sie inne.

»Hier, eine riesige Karnivore!«, rief Magnus begeistert.

»Wie ernährt sie sich eigentlich?«

»Meist fangen sie Insekten oder sogar kleine Frösche mit Klebe- oder Klappfallen. Wenn sich die Beute den beiden Blatthälften nähert …«, er demonstrierte den Vorgang mit seinen nebeneinandergelegten Handflächen, »… dann wird das Insekt mit einer schnellen Schließbewegung eingefangen. Das ist die seltenere Form der Fangmethoden. Es gibt nämlich auch noch die Fallgrubenfallen …«

»Lass mal gut sein«, unterbrach ihn Frank, und Miguel mahnte zum Weitergehen.

»Wir haben noch eine gewaltige Strecke vor uns. Insgesamt werden es elf Kilometer sein, immer bergan.«

Die Vegetation wurde merklich üppiger und ging in einen dichten Urwald über. Nicht weit vor ihnen tauchten Nebelfelder auf, die sich an den steilen Wänden des Roraima festhielten.

Nach einer knappen Stunde hörten sie Stimmen und entdeckten wenig später auf einer kleinen Lichtung die Pemón-Indianer. Sie hatten einen Mittagslunch vorbereitet.

»Im Base Camp gibt es dann ein warmes Abendessen«, versprach Miguel.

»Das ist ja Service pur!«

»Ich nenne es Verhätschelung«, war Franks nicht ganz ernst gemeinter Kommentar dazu.

»Du kannst dir ja Kröten oder Schlangen fangen.«

»Schlangen?!« Britta sprang entsetzt auf.

»Es sind nur kleine, und die verschwinden, wenn sie dich hören.« Die Bemerkung kam von Torsten. Immerhin war der zynische Ton verschwunden, es klang eher nach gutmütigem Spott.

Nach dem Mittagslunch brachen sie bald wieder auf. Das Gelände wurde immer unwegsamer und führte steil bergauf über kantiges Gestein. Unter Zuhilfenahme der Hände arbeiteten sie sich beständig höher. Am leichtfüßigsten schien Heike den Anstieg zu bewältigen. Immer war sie den anderen ein paar Meter voraus.

»Ich sagte ja, wie eine Bergziege«, kommentierte Torsten.

In gleicher Höhe mit ihm stieg Miguel scheinbar mühelos über das Gestein. Dicht hinter ihnen mühte sich Britta ab und haderte vor dem nächsten Schritt. Mit den Augen suchte sie nach einem festen Halt. Fast gleichzeitig reichten ihr beide Männer die Hand. Sie ergriff die von Miguel, Torstens ignorierte sie.

 

Westlich von ihnen sahen sie den Zwillingstafelberg des Roraima, den Tepui Kukenan mit seinem sechshundert Meter hohen Wasserfall.

»Hier legen wir wieder einen Stopp ein. Wo bleibt eigentlich Magnus?«

Es dauerte Minuten, bevor er in Sichtweite kam. Mit einem entschuldigenden Lächeln erklärte er, dass er zwischendurch nochmal skizziert habe. 

»Wir müssen zusammenbleiben«, mahnte Miguel. Diesmal klang er ungehalten. 

Eine Weile lang stand die Gruppe am Hang und bewunderte den Blick auf den Wasserfall.

»Er wurde übrigens durch die Verfilmung von Arthur Conan Doyles Roman berühmt«, wusste Magnus zu berichten.

»Stimmt. Der Salto Kukenan ist ein nicht permanenter Wasserfall. Er entspringt in 2.650 Metern Höhe auf dem Plateau des Tepui Kukenan«, ergänzte Miguel.

»Bevor wieder jemand nachfragt, was ein nicht permanenter Wasserfall ist, kann ich gerne mit meinem angelesenen Wikipedia-Wissen dienen.«

»Danke, Torsten, es fragt keiner.«

Dann ging es weiter. Der Rest der Etappe fiel allen etwas leichter. Nach einer Stunde erreichten sie das Base Camp. Auf wundersame Weise waren auch diesmal wieder die einheimischen Begleiter schon vor Ort, hatten die Zelte aufgebaut und bereiteten gerade das Abendessen vor.

Als Hauptgericht gab es Arepas, einen Teig aus Mais, Wasser und Salz, dazu geschmortes Fleisch, Zwiebeln, Oliven und Kapern. Als Getränk wurde Polar, ein mildes venezolanisches Bier gereicht.

Plötzlich äußerte Torsten: »Irgendwie finde ich es unpassend, dass sich Frau Eckert mit Britta duzt und mit allen anderen per Sie ist.« Er hatte sein Glas bereits erhoben. 

Zum ersten Mal dieser Tage hatte Heike etwas Farbe im sonst blassen Gesicht. Immerhin griff auch sie zum Glas. »Da muss ich Ihnen recht geben.« Dann stieß sie nacheinander mit allen an. Torsten überging sie dabei.

Mit einem gleichgültigen Schulterzucken nahm er es zur Kenntnis und wandte sich an Miguel. »Fotografierst du eigentlich noch bei jeder Tour?«

»Ja, ich stelle eine Fotostory mit aktuellen Bildern und einem kurzen Reisebericht zusammen. Ihr könnt gerne euer eigenes Bildmaterial mit einarbeiten. Auch Textbeiträge und Magnus’ Skizzen sind willkommen. Zum Ende der Tour gebe ich euch dann das Passwort, um die Datei runterzuladen.«

Die Gruppe saß noch eine Weile beisammen. Diesmal war die Stimmung viel entspannter als die Abende zuvor, sie war fast ausgelassen. Torsten ließ keine Gelegenheit aus, Heike demonstrativ mit ihrem Nachnamen anzureden. Ihr spöttisches Lächeln ertrug er mit Gleichmut. Alle schienen bester Laune und in Vorfreude auf den nächsten Tag zu sein. Erst als es empfindlich kühl wurde, zog sich jeder in sein Zelt zurück.

Diesmal hatte Heike rechtzeitig an eine Flasche Mineralwasser gedacht, nahm eine halbe Schlaftablette und drehte sich auf die von Britta abgewandte Seite. Einschlafen konnte sie trotzdem nicht. Wieder lauschte sie in die Dunkelheit hinein und auf die regelmäßigen Atemzüge neben ihr. Etwas weiter entfernt hörte sie die einheimischen Begleiter spanisch reden. In dem Gespräch glaubte sie, Miguels Stimme herauszuhören. Endlich, eingelullt durch die Wirkung der Tablette, die fremden Laute und die Geräusche der Nacht, schlief sie ein.

 

Aufstieg auf den Roraima

Wie am Tag zuvor hingen dichte Nebelschwaden über dem Camp und verbargen die Sicht auf die Steilwand des Roraima.

»Der Nebel macht die Sache geheimnisvoller«, versuchte Miguel die Gruppe bei Laune zu halten. 

Diesmal versprach er nicht, dass sich der Himmel bis zum Start aufklären würde. Und zu aller Verdruss setzte ein leichter Nieselregen ein, der bald in einen Schauer überging. Der Tisch, an dem sie frühstückten, war mit Planen überspannt, auf denen die Tropfen erst ein zaghaftes, dann ein immer stärker werdendes Trommelgeräusch erzeugten.

Während des Frühstücks gab Miguel noch ein paar Informationen zum Hochplateau des Roraima, das sie nach einer vier- bis fünfstündigen Besteigung erreichen würden.

»In aller Kürze, das meiste ist euch vielleicht schon bekannt: Von Geologen wird angenommen, dass sich der Sandstein der Tepuis vor rund zwei Milliarden Jahren gebildet hat. Die Hochebene, auf der sich der Roraima befindet, entstand vor der Trennung des Urkontinentes Gondwana. Als dieser vor etwa 160 Millionen Jahren auseinanderbrach und Südamerika nach Westen driftete, wurde der Sandstein in die Zwillings-Tepuis Kukenan und Roraima geteilt. Eine Theorie besagt, dass dies durch ein gewaltiges Erdbeben geschah.« 

Miguel hielt inne und lauschte auf das Geräusch des Regens, der mit unverminderter Heftigkeit auf die Plane, unter der sie saßen, niederging. Alle trugen ihre Regenbekleidung, doch die Nässe kroch durch alle Ritzen und ließ sie frösteln. Selbst der heiße Kaffee vermochte sie kaum aufzuwärmen. Nur Magnus schien von dem ungemütlichen Wetter völlig unbeeindruckt. In Vorfreude auf das Kommende saß er am Tisch, er konnte den Aufbruch kaum erwarten.

»Beim Aufstieg wird euch wieder warm werden,« prophezeite Miguel. »Aber letztendlich verdanken die Tepuis ihre grüne, üppige Vegetation vor allem dem ständigen Nebel und den Regengüssen. Auf manchen Tafelbergen war noch nie ein Mensch. Die Oberflächen wurden bisher nur von Hubschraubern aus fotografiert. Der Tepui Kukenan gilt übrigens als heiliger Berg und darf seit 1997 nicht mehr bestiegen werden. Außerdem wurde der Aufstieg als besonders gefährlich und unfallträchtig eingeschätzt. Aber letztendlich gilt Ähnliches für den Roraima. Ihr werdet heute selbst sehen, dass die Landschaft auf dem Hochplateau keine Hochebene ist, wie man früher annahm, sondern aus Felslabyrinthen mit zum Teil mehreren hundert Meter tiefen Schluchten besteht. Es ist also höchste Aufmerksamkeit geboten. Und bitte keine waghalsigen Unternehmungen auf eigene Faust«, ergänzte er mit einem Seitenblick auf Frank.

Noch während er sprach, hatte der Regen nachgelassen und schließlich ganz aufgehört. »Los geht’s«, mahnte er zum Aufbruch.

Minuten später hatte ein jeder seinen Rucksack geschultert, und die Gruppe setzte sich in Bewegung. Der Weg führte sie auf einem Pfad aufwärts durch gespenstig anmutende Nebelwälder und ständig wechselnde Vegetation zur Wand des Roraima. Der nun spürbar zunehmende Anstieg bereitete Britta Mühe. Erschöpft hielt sie inne und schaute sich verstohlen um. Hinter ihr war nur noch Magnus zu sehen, der in aller Ruhe fotografierte, vor ihr kraxelten die anderen bergauf, Miguel an der Spitze. Immer wieder blieb er stehen und schaute sich nach der Gruppe um. Als Magnus außer Sichtweite geriet, ließ er sich zurückfallen und ließ die anderen vorbei. Nun führte Frank die Truppe an, direkt hinter ihm lief Heike, dicht gefolgt von Jens, Torsten und Caro. In großem Abstand zu ihnen quälte sich Britta den immer steiler werdenden Pfad hinauf. Bis zur Steilwand würden sie noch eine reichliche Stunde brauchen. Sie schaute zurück und sah Magnus und den Guide nachkommen. Es war offensichtlich, dass beide in gereizter Stimmung waren, Magnus, weil er gemaßregelt wurde, und Miguel, weil er den anderen zum wiederholten Male auffordern musste, nicht absichtlich zurückzubleiben.

»Fotografieren kannst du auch später noch. An den interessantesten Stellen legen wir sowieso Pausen ein.«

»Woher willst du wissen, was für mich persönlich interessant ist?« 

Miguel antwortete nicht darauf, sondern lief schweigend hinter ihm her. Bald waren sie auf Brittas Höhe. »Stopp, Pause!«, rief er den anderen zu. »Ab jetzt müssen wir zusammenbleiben. Wir erreichen bald den Anstieg über die sogenannte Rampe. Genießt nochmal den herrlichen Ausblick von hier. Es darf auch skizziert werden«, ergänzte er mit einem säuerlichen Lächeln.

Magnus stand mit dem Blick abgewandt und schwieg.

Der anstrengende Aufstieg führte sie vorbei an Jahrtausende alten Gesteinsformationen und ständig wechselnder Vegetation. Immer wieder legten sie Pausen ein, um ein wenig zu verschnaufen und die grandiose Aussicht zu genießen.

»Was ist das hier eigentlich für eine Blüte?«, fragte Torsten.

»Eine Mimose.«

»Tatsächlich? Hier, Britta, schau mal! Eine Artverwandte!« 

Abrupt kehrte sie ihm den Rücken zu. Sie schaute auf die Weiten der Gran Sabana, die tief unter ihnen lag.

»Warum musst du sie immer ärgern?«, fragte Miguel leise.

»Eben weil sie sich so schön ärgert.«

 

Wie von Miguel vorhergesagt, erreichten sie gegen Mittag das Hochplateau und bald darauf auch das Zeltlager, das unter einem Felsvorsprung aufgebaut war. Erschöpft aber glücklich bezogen sie ihre Unterkünfte für die folgenden zwei Nächte. Um das Zelt nicht mit Magnus teilen zu müssen, hatte Torsten diesmal darauf geachtet, wo Jens den Rucksack ablegte, und stellte seinen daneben. Mit ihm verstand er sich am besten.

Eine Viertelstunde später trafen sich alle auf dem Platz vor dem Zeltlager und schauten sich um. Vor ihnen lag eine bizarre Welt.

»Hier könnten wir ein Gruppenfoto machen«, schlug Miguel vor und gab seine Kamera einem der Träger. »Die Herren bitte nach hinten, die Damen nach vorne.«

Nach einigem Hin und Her und Gelächter rief Britta: »Eigentlich stehe ich nicht gerne vorne! Ich ärgere mich immer, wenn ich mich auf Fotos sehe.«

»Das kann ich gut verstehen.« Aber noch bevor Empörung über Torstens verletzende Bemerkung aufkommen konnte, legte er seinen Arm um sie und gestand: »Weil es mir genauso geht.«

 

Nach einem leichten Mittagessen führte Miguel die Gruppe zum Aussichtspunkt La Ventana, hinter dessen überhängender Kante es steil nach unten ging. Von hier aus hatten sie einen grandiosen Blick zum Nachbartafelberg Kukenan.

Miguel empfahl, den Nachmittag für einen kleinen Erkundungsausflug zu nutzen.

»Die längste Ausdehnung des Hochplateaus beträgt ca. fünfzehn Kilometer. Die werdet ihr ja heute sicher nicht mehr erwandern wollen.«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

»Wie schon erwähnt: Fast das gesamte Gelände des Hochplateaus ist im Prinzip ein riesiges Felslabyrinth mit tiefen Schluchten. Es besteht die Gefahr, sich zu verirren oder zu dicht an eine Kante zu geraten. Gebt also Acht auf euch. Noch ein Hinweis: Auf euren Erkundungen werdet ihr einzigartige Kristalle entdecken. Ihr dürft sie fotografieren oder zeichnen, aber es ist streng verboten, sie mitzunehmen. Haltet euch strikt an die Vorgaben, am Ende der Trekking-Tour werden in Paraitepuí Kontrollen durchgeführt. Und vor allem bitte keine waghalsigen Alleingänge. Wir sehen uns dann zum Abendessen im Camp wieder.« Er selbst ging zu den Pemón-Indianern ins Zeltlager zurück.

Zwischenzeitlich hatte sich die Wolkendecke zugezogen, und es fing zu nieseln an.

»Was ist, Leute, kommt ihr mit?« Als Torsten keiner weiter folgte, zog er alleine los. 

Sowohl Frank als auch Magnus hatten schon konkrete Ziele vor Augen, Frank wollte nochmal zurück zum Aussichtspunkt La Ventana, und Magnus hatte auf dem Weg dahin eine prächtige Drosera entdeckt, aber keine Zeit gefunden, sie zu zeichnen.

Jens zögerte, er schien noch unschlüssig zu sein. Dann lief er in die gleiche Richtung, in der beide kurz zuvor verschwanden. Nur die drei Damen blieben zurück.

»Wollen wir bei dem Wetter wirklich noch was unternehmen?«, fragte Britta. »Außerdem bin ich vom Aufstieg fix und fertig.« 

Heike und auch Caro zeigten wenig Verständnis. »Wir sind ja nur die zwei Tage hier oben. Es bleibt kaum Zeit, um alles zu erkunden.«

Mit diesen Worten entfernte sich Heike und lief ein Stück in den dichter werdenden Nebel hinein. Auch Caro zog los, schlug allerdings eine andere Richtung ein.

Britta schaute ihnen nach. Sie konnte sich noch nicht dazu entschließen, ebenfalls aufzubrechen. Doch sie wusste, dass sie es bereuen würde, wenn sie die Zeit ungenutzt verstreichen ließe.

 

Die Nebelschwaden verschluckten weitestgehend alle Geräusche. Hin und wieder drangen fremde Laute und Gesprächsfetzen der einheimischen Helfer herüber, die einzelnen Personen waren nur schemenhaft erkennbar.

Das alles nahm Caro aus der Distanz wahr. Sie saß auf einem Felsvorsprung unweit des Zeltlagers. Entgegen ihrer Ankündigung, die nähere Umgebung noch ein wenig zu erkunden, war sie schon nach einer halben Stunde wieder umgekehrt. Jetzt beobachtete sie, wie sich eine Gruppe aus dem Nebel herausschälte. Beim Näherkommen erkannte sie, dass es Torsten, Magnus und Jens waren, auf dem Rückweg hatten sie sich getroffen. Gleich nach ihnen kam Heike. Caro stand auf und schloss sich ihr an, gemeinsam gingen sie zum Zeltlager zurück.

Wider Erwarten war Britta nicht da.

»Ich denke, sie hatte keine Lust, nochmal loszugehen?«, wunderte sich Caro. 

Heike zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Offensichtlich hat sie sich’s anders überlegt.«

Eine Viertelstunde später traf auch Britta ein.

»Wo bleibt Frank?«, wollte Miguel wissen, nachdem er sich umgeschaut, ihn aber nirgends entdeckt hatte.

»Mach dir mal keine Sorgen«, meinte Torsten. »Er ist ein erwachsener Mensch und wird wohl selber wissen, was er sich zumuten kann.«

Er sollte recht behalten. Zehn Minuten später traf Frank ein.

Die Wohlgerüche, die herüberwehten, wurden intensiver und kündigten das baldige Abendessen an. Der Koch wusste unterdessen, dass eine Person aus der Gruppe nur vegan aß, und bereitete deshalb auch ein Gericht ganz ohne tierische Produkte zu. Magnus dankte ihm ausdrücklich dafür.

Am Tisch herrschte diesmal eine ausgelassene Stimmung. Ein jeder schien froh, die anstrengende Tour bis dahin geschafft und die Besteigung des Roraima unbeschadet überstanden zu haben. Mittlerweile hatte sich die Gruppe besser kennengelernt, und alle gingen vertrauter miteinander um. Doch Heike widerstand auch Torstens neuerlichem Versuch, ihr das Du anzubieten.

In scherzhaftem Ton drohte er: »Ein drittes Mal werde ich Sie nicht fragen, Frau Eckert, selbst wenn Sie mich auf Knien darum bitten würden!«

»Das wird nicht geschehen«, versicherte sie mit einem dürren Lächeln.

Nachdem Miguel ein paar Höhepunkte des morgigen Tages angekündigt hatte, beendeten sie den Abend, um am nächsten Morgen frisch ausgeruht das Hochplateau zu erkunden.

 

Die Katastrophe

An diesem Morgen traf sich die Gruppe schon vor dem Frühstück, um den Sonnenaufgang zu erleben. Heike fehlte. Gestern Nacht hatte sie es zuerst einmal ohne Schlaftablette versucht, nahm dann gegen zwei Uhr doch eine halbe und schlief erst in den frühen Morgenstunden ein. Auf Brittas freundlichen Zuspruch reagierte sie mit einem benommenen »Ich komme erst zum Frühstück.«

Etwas unausgeschlafen aber sichtlich beeindruckt beobachteten sie gemeinsam den Sonnenaufgang über der Gran Sabana.

»Wie in Jenseits von Afrika ...«, hauchte Britta entrückt.

»Falscher Kontinent«, entgegnete Torsten. »Und es fehlt die Musik.«

Trotz des klaren Wetters sah Miguel besorgt in Richtung Westen. Von dort schob sich eine dunkle Wolkenfront heran. Deshalb drang er darauf, bald zum Zeltlager zurückzukehren.

 

Der Frühstückstisch war reichlich gedeckt. Unterdessen war auch Heike aufgestanden. Blass und schweigsam saß sie am Tisch. Außer Kaffee, frischgepressten Säften und Früchten gab es Arepas Dulces, Weißbrot mit Schinken, verschiedene Käsesorten und Cachapas.

Wieder drängte Miguel mit Blick in den Himmel: »Wenn wir nachher noch einen guten Ausblick in die Ferne haben wollen, sollten wir das Frühstück nicht endlos ausdehnen. Ich befürchte einen Wetterumschwung, und wir haben heute noch viel vor uns. Jeder bekommt ein Lunchpaket und ein Getränk mit auf den Weg.«

Ohne großes Bedauern ließ Magnus seine halbaufgegessenen, in Kokosfett frittierten Maisfladen auf dem Teller liegen und erhob sich.

»¿No le ha gustado a usted?« Hinter ihm stand der aufmerksame Koch, der gestern für ihn das vegane Gericht zubereitet hatte.

»Er fragt, ob es dir nicht geschmeckt hat«, übersetzte Miguel.

»Doch, doch! Im Moment bin ich aber satt«, versicherte Magnus eilig. Lächelnd griff er nach der Marschverpflegung und verstaute sie im Rucksack. Alles, was er für den heutigen Tag benötigte, hatte er schon bei sich und wartete jetzt auf die anderen. Um die Zeit zu überbrücken, blätterte er in seinem fast vollgezeichneten Skizzenbuch.

»¿Dibujó usted esto?«, fragte der Koch bewundernd. Er hatte ihm verstohlen über die Schulter geschaut.

Magnus glaubte, ihn verstanden zu haben, und nickte. Ohnehin war niemand in Sichtweite, der für ihn übersetzen konnte. »Wollen Sie mal schauen?«

Er gab dem Koch das Skizzenbuch. Der betrachtete die Pflanzenstudien und die grobskizzierten Landschaften. Als Magnus bemerkte, wie seine Augen dabei strahlten, fasste er einen Entschluss. »Sie können es behalten.« Der andere verstand ihn nicht. Magnus wiederholte sein Angebot. »Ich schenke es Ihnen.«

Ungläubig schaute ihn der Koch an, dann schien er zu begreifen. »Gracias, muchas gracias, señor.«

Magnus selbst fand seine Geste großherzig. »Ich zeichne in diesem hier weiter«, erklärte er und deutete auf einen Block, der aber auch schon zu einem Drittel mit Zeichnungen gefüllt war.

Unterdessen hatten sich die anderen um Miguel versammelt. Als die Gruppe vollständig war, drängte er zum Aufbruch.

Der Pfad führte sie durch skurrile Felsformationen und enge Täler, vorbei an bizarren Steinskulpturen, bis sie an einen Punkt gelangten, von dem aus sie eine großartige Sicht auf die umliegenden Tafelberge hatten. Auf dem Weg dahin blieb Magnus hin und wieder stehen, um zu skizzieren. So, als wolle er möglichst alle Eindrücke einfangen, zeichnete er zügiger als sonst. Unterdessen bedauerte er zutiefst, dass er das andere Skizzenbuch aus einem Impuls heraus verschenkt hatte.

Als sie die Anhöhe erreicht hatten, ließen sie sich nieder und genossen die grandiose Aussicht. Die Landschaft tief unter ihnen war durch ein weißes Wolkenmeer bedeckt, das gelegentlich aufriss und den Blick auf das üppige Grün des Regenwaldes freiließ. Festungen gleich ragten die benachbarten Tafelberge heraus. An ihren Steilwänden hingen Nebelschwaden, die wie zerpflückte Wattebäusche anmuteten. Schweigend genossen sie das einmalige Naturschauspiel.

»Es ist traumhaft«, schwärmte Britta.

»Ich bin einfach nur hundemüde«, erwiderte Heike tonlos.

»Aber diesen Augenblick wirst du nur einmal erleben!«

»Das ist ja mein Problem. Ich lebe auf etwas hin, und wenn ich es habe, kann ich es nicht würdigen.« Als hätte sie zu viel von sich preisgegeben, stand sie abrupt auf und entfernte sich ein paar Schritte.

Miguel führte die Gruppe weiter, sie liefen durch das Tal der Kristalle bis hin zum Triple Point, einer Art Obelisk, der das Dreiländereck zwischen Venezuela, Brasilien und British Guyana kennzeichnet. Auf dem Rückweg suchten sie nach einer geeigneten Stelle, an der sie ihren Mittagslunch einnehmen konnten. Zwischen schroffen Felswänden und kantigem Gestein fanden sie einen geschützten Platz und packten Sandwiches und Getränke aus. Immer wieder schauten sie in den Himmel, der sich jetzt vollends zugezogen hatte. Dünne Nebelschwaden stiegen auf und verdeckten die Sicht.

Am späten Nachmittag, nachdem Miguel ihnen die verwinkelten Gänge eines Höhlenlabyrinthes gezeigt hatte, beendeten sie ihre gemeinsame Erkundungstour.

»Wer noch Kraft und Lust dazu hat, etwas alleine zu unternehmen, kann dies gerne tun. Wir treffen uns dann um neunzehn Uhr im Zeltlager.«

Heike hatte sich schon entschieden. Sie wollte zurück zum Zelt, um sich vor dem Abendessen noch ein wenig auszuruhen. Etwas unschlüssig stand Britta da und beobachtete, wie die anderen loszogen. Sie brauchte noch einen Moment, ihre Augen fokussierten sich auf den schmalen Pfad vor ihr und eine in den Nebelschwaden entschwindende Person.

 

Er hatte einen Platz gewählt, von dem aus er in die schroff abfallende Schlucht schauen konnte. Tief unter ihm wechselten gewaltige Felsblöcke und karger Sandstein, Letzterer dicht bewachsen mit Farnen, Flechten, mannshohen Bäumen und Sträuchern. Stellenweise war das üppige Grün durch dichten Nebel bedeckt. Der weiße Dunst verschluckte alle Geräusche. Vor zehn Minuten hatten sie sich getrennt, und es war ihm recht. Bis zum Abendessen blieben fast zwei Stunden Zeit. So konnte er seinen Gedanken nachgehen. Er fühlte sich auf eine seltsame Weise beunruhigt und suchte nach einer Ursache dafür. Aber was genau hatte sein Misstrauen erweckt? Es war ein Missempfinden, eine vage Warnung, dass etwas nicht in Ordnung sei. Auf die Signale seines Unterbewusstseins hatte er sich bisher immer verlassen können. Instinktiv schaute er sich um. Außer den nebel- und wolkenverhangenen Felsformationen und Baumgruppen sah er nichts. Sein Verstand sagte ihm, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gäbe. Trotzdem stieg seine Nervosität.

Ein leichter Wind kam auf, und er zog die Schultern hoch. Lange würde er nicht mehr hier sitzen bleiben. Er freute sich auf ein warmes Abendessen und ein, zwei Gläser Bier. Was war es nur, das ihn in den letzten Tagen so augenfällig irritierte? Augenfällig! Dieses Wort sprang ihm förmlich entgegen. Und mit ihm assoziierte er verstohlene Blicke. Er glaubte, sie gespürt zu haben.

Unvermittelt hatte er eine Situation vor Augen, die nunmehr Jahre zurücklag. Er unterhielt sich damals mit Wanda, und neben ihr stand eine weitere Person, der er kaum Beachtung schenkte. Ein flüchtiges Kopfnicken, mehr nicht. Und jetzt wurde ihm alles klar: genau dieser Mensch war hier vor Ort, ständig in seiner Gegenwart! Augenblicklich spürte er eine akute Gefahr.

Doch auf das, was dann geschah, war er nicht vorbereitet.

 

Britta schien die erste zu sein, die wieder am Zeltlager eintraf. Als sie leise das Zelt öffnete, war es leer. Heike hatte sich entweder anders entschieden und doch noch etwas unternommen, oder sie hatte sich zwischenzeitlich ausgeruht und war bereits am großen Zelt, wo sich die Gruppe später treffen würde. Britta schaute auf die Uhr: noch mindestens eine dreiviertel Stunde, bis es etwas zu essen gäbe. Ihr Magen knurrte jetzt schon; sie musste die Zeit überbrücken und sich beschäftigen. Für einen Augenblick erwog sie, an ihrem Reisetagebuch weiterzuschreiben. Doch sie fühlte sich kraftlos und leer. Zudem beschlich sie das leidige Gefühl, nichts mit sich anfangen zu können. Sie vernahm die Stimmen der Pemón-Indianer und sog die exotischen Düfte ein, die von der Kochstelle herüberwehten. Kurzentschlossen ging sie hinüber, um nachzuschauen, ob von den anderen schon jemand da wäre. Doch sie sah niemanden aus der Gruppe, weder Heike noch Caro oder Miguel. Gerade, als sie umkehren wollte, kam ihr Torsten entgegen. Er war der Letzte, den sie jetzt sehen mochte. Aber diesmal schien er nicht auf Plänkeleien aus zu sein. Er kam auf sie zu und zeigte ihr das Display seiner Kamera.

»Schau mal, was mir vorhin vor die Linse gekommen ist.« 

Erst jetzt fiel Britta auf, dass er außer Atem war. Und er roch. Zuvor hatte sie keinen Geruch irgendeiner Art an ihm bemerkt. Vielleicht lag es daran, dass sie noch nie so nah beieinanderstanden. Doch plötzlich erkannte sie, was ihre Nase längst wahrgenommen hatte: Es war Stress.

»Bist du gerannt?«, fragte sie.

»Das nun nicht gerade. Aber ich habe mich beeilt, weil ich nicht zu spät kommen wollte. Und nun sehe ich: noch kein Schwein da.«

»Immerhin bin ich da.«

»Du bist doch kein Schwein«, erwiderte er amüsiert. 

In diesem Moment kam Miguel und gleich darauf Heike. Erleichtert wandte Britta sich ihr zu. »Ich dachte, du wolltest dich ausruhen?«

»Habe ich doch.« Heike schien auffällig erholter als vor zwei Stunden zu sein.

Kurz darauf trafen Caro und Frank ein, Magnus und Jens fehlten noch immer.

Unterdessen wurde das Abendessen serviert. Aber Miguel fand keine Ruhe und rührte kaum etwas an. Immer wieder hielt er Ausschau in der Hoffnung, dass sie endlich auftauchten.

»Wenn sie in einer halben Stunde nicht da sind, müssen wir sie suchen gehen. Das heißt, ihr bleibt hier vor Ort, und ich ziehe mit den Einheimischen los.« 

In diesem Augenblick erschien Jens. »Sorry, Leute, diesmal habe ich mich gewaltig in der Zeit und der Entfernung vertan.«

»Wo um Himmelswillen warst du denn?«

»Ich bin zurück zum Tal der Kristalle. Das hat mich dermaßen fasziniert, so dass ich unbedingt nochmal hinmusste. Tut mir leid, wenn ihr euch meinetwegen Sorgen gemacht habt.« Er grinste verlegen.

»Hast du zufällig Magnus getroffen? Er ist noch nicht da.«

Jetzt schien Jens ehrlich verwundert. »Tatsächlich nicht? Soviel ich weiß, wollte er noch irgendwas skizzieren und dann bald wieder zurück sein. Gleich nachdem wir uns trennten, habe ich ihn aus den Augen verloren, mir aber keine Gedanken darüber gemacht.« 

Jetzt stand Miguel entschlossen auf. »Ich geh ihn suchen!«

»Ich komme mit«, entschied Torsten.

»Du unternimmst gar nichts, sondern bleibst hier bei den anderen.«

»Was soll ich hier rumsitzen?«

»Mach mir nicht noch zusätzlichen Ärger! Die Verantwortung, wenn etwas passiert sein sollte, trage letztendlich ich.« 

Er sah unterdessen so besorgt aus, dass Torsten ein Einsehen hatte und sich resigniert wieder setzte.

Bis auf den Koch und dessen Gehilfen nahm Miguel alle weiteren einheimischen Kräfte mit auf die Suche. Zu siebent, ausgestattet mit leuchtstarken Taschenlampen, verließen sie das Zeltlager. Die Dunstschleier reflektierten auf gespenstige Weise die Lichtstrahlen und dämpften die Rufe der Suchenden, bis sie vom Nebel verschluckt wurden und in der Ferne schließlich ganz erstarben. Schweigsam und in bedrückter Stimmung blieben die anderen zurück.

»Ich halt das nicht mehr lange aus«, verkündete Frank. 

Als er ernsthafte Anstalten machte, loszuziehen, konnte Torsten ihn nur mit Mühe davon abhalten. Britta schien in eine Art Schockstarre verfallen zu sein. Mit versteinertem Gesicht saß sie am Tisch.

»Es ist was passiert«, murmelte sie tonlos. »Glaubt mir, es ist etwas Schreckliches passiert.« 

Vergeblich versuchte Caro sie zu beruhigen. »Er wird sich verlaufen haben und irrt umher. Aber wahrscheinlicher ist, dass er sich irgendwo niedergelassen hat und auf die Morgendämmerung wartet. So würde ich es jedenfalls machen. Aber ich würde mich gar nicht erst verlaufen«, schob sie nach.

Britta wiederholte nunmehr mit einem Anflug von Hysterie: »Glaubt mir, ihm ist etwas passiert!«

»... spricht das Orakel.«

»Sehen Sie denn nicht, dass sie Hilfe braucht?«, fuhr Heike Torsten an.

»Und ich brauch einen Schnaps.« Auf der Suche nach dem Koch ging er zum Küchenzelt und kam bald darauf mit sechs Gläsern und einer Flasche Miche, einem venezolanischen klaren Schnaps, zurück.

»Für mich nichts«, wies Heike ihn ab.

Torsten goss den anderen und sich ein. Nachdem Britta ihr Glas geleert hatte, schien sie ein wenig gefasster zu sein.

Doch nach ein paar Augenblicken fing sie an zu lamentieren: »Magnus ist so unbeholfen! Er hätte nicht alleine losziehen dürfen!«

»Nun hör aber auf! Er ist ein erwachsener Mann und muss selber wissen, was er tut.« Jetzt brach Britta in Tränen aus. Etwas unbeholfen tätschelte Torsten ihre Schulter. »War nicht so gemeint. Möglicherweise hat er sich den Fuß verstaucht und kann nicht weiterlaufen. Noch besteht absolut kein Grund zur Panik.«

Die Kerzen auf dem Tisch waren längst niedergebrannt, als Jens den Frauen empfahl: »Wäre es nicht sinnvoller, wenn ihr jetzt versuchen würdet, ein wenig zu schlafen?« 

Käme der Vorschlag von Torsten, hätte Heike ihn eiskalt abgelehnt. So aber ergriff sie wortlos Brittas Arm, zog sie hoch und schob sie in Richtung des Zeltes. Caro blieb am Tisch sitzen.

»Wieso sagtest du vorhin, dass dir so was nicht passieren könnte?«, wollte Frank von ihr wissen.

»Mich verlaufen? Weil ich einen ausgeprägten Orientierungssinn habe. Auf jeden Fall werde ich warten, bis Miguel und die anderen von der Suche zurück sind.« Ihr entschiedener Ton ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte.

 

»Möchtest du eine halbe Schlaftablette?«, bot Heike an, bevor sie in ihren Schlafsack kroch.

»Nein danke, es geht schon wieder.«

Wenige Minuten später war Britta eingeschlafen. Heike dagegen lag noch lange wach.

Irgendwann in der Nacht vernahm sie laute Stimmen und kroch eilig aus dem Zelt.

»Nada.« Kopfschüttelnd und mit resignierter Geste gab ein Helfer den Wartenden zu verstehen, dass die Suche erfolglos war. Für ein paar Minuten setzte sich Miguel zu den anderen an den Tisch. Das ihm gereichte Schnapsglas lehnte er ab.

»Aber es besteht doch die Aussicht, dass er verletzt irgendwo liegt und wir ihn finden werden«, versuchte Jens ihn ein wenig aufzubauen.

»Nett gemeint, und wie ein Sprichwort sagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Miguel sah niedergeschlagen und erschöpft aus. »In all den Jahren ist mir so etwas noch nie passiert.« Im nächsten Augenblick hatte er sich wieder gefasst. »Morgen in aller Frühe starten wir eine erneute Suche.«

»Morgen ist schon heute«, erwiderte Frank mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Ja, dann bis bald.« Er stand als erster auf und lief hinüber zum Zelt, das er in dieser Nacht mit niemandem teilen würde.

 

Der Tag danach

Ein lautes Geräusch weckte sie am frühen Morgen, es kam von einem Rettungshubschrauber. Miguel stand bei den Einheimischen, die den Piloten einwiesen. Gleich nachdem er gelandet war, sprang jemand heraus und lief unter den rotierenden Flügeln geduckt auf den Guide zu. Nach kurzer Absprache kam Miguel rüber zu Torstens Zelt.

»Ich fliege mit. Könntest du dich so lange um die Gruppe kümmern?«

»Geht in Ordnung.«

Miguel stieg zu, und kurz darauf hob der Helikopter ab. Außer ihm und dem Piloten waren vier Rettungskräfte an Bord. Wäre der Anlass nicht so dramatisch, hätte er den Flug über das Hochplateau genossen. Nur ein einziges Mal hatte er den Roraima von der Luft aus gesehen. Es war ein Rundflug, den er vor Jahren gebucht hatte.

Der Helikopter glitt über die vertrauten Schluchten und Felsformationen, die in leichte Nebelschwaden verhüllt tief unter ihnen lagen. Über ihnen zeigte sich ein fast wolkenloser Himmel, der in der Ferne in morgendlichen Dunst überging. Diesmal war der üppige Regenwald, der sich als dichtes Grün um den Roraima schloss, nicht durch eine Wolkenschicht bedeckt. Die Sicht war klar. Zum Greifen nah schienen die Nachbar-Tepuis, die sich aus der weiten Ebene erhoben.

»Das Areal, in dem wir suchen müssen, ist begrenzt. Er kann gestern nicht mehr weit gekommen sein«, meinte Miguel. Die Stimme klang belegt und seltsam fremd in seinen Ohren. 

Nachdem der Pilot in weitem Bogen gewendet hatte, sank er auf eine Tiefe von einhundertfünfzig Meter über den Grund. Konzentriert suchten sie mit den Augen die Oberfläche des Hochplateaus ab.

»Was trug er als Bekleidung?«, wollte der Leiter der Rettungskräfte wissen. 

Miguel überlegte angestrengt, dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber es war nichts Auffälliges, irgendetwas Helles.«

Nach einer Viertelstunde gab der Pilot zu bedenken: »Wenn er an der Steilwand abgestürzt ist, besteht kaum Aussicht, ihn zu retten. Zudem wird er in dem dichten Urwald schwer zu finden sein. Soll ich die Kanten abfliegen?«

»Noch nicht. Ich kann mir vorstellen, dass er sich eher im Inneren des Hochplateaus aufhielt. Womöglich ist er von einem kantigen Gesteinsbrocken abgerutscht und hat sich dabei verletzt.«

Nach weiteren zehn Minuten des Überfluges wies Miguel den Piloten an: »Bitte mal in diese Richtung. Dort in der Nähe waren wir gestern. Er hatte sich für die Karnivoren interessiert und blieb ein paarmal zurück, um sie zu skizzieren. Vielleicht ist er alleine nochmal hin.«

Der Helikopter sank herab. Unter sich sahen sie skurrile Felsformationen, dicht daneben tat sich eine circa fünfzig Meter tiefe Schlucht auf.

Langsam überflogen sie das Gestein und die angrenzende Talenge. Nichts.

Gerade, als der Pilot wieder höher ging, rief einer aus dem Suchtrupp: »¡Deténgase!« Gebannt starrten alle in die angegebene Richtung.

Und dann sah es auch Miguel. Er spürte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich. Kalkweiß im Gesicht, zwang er sich, genau hinzuschauen.

 

Die ganze Zeit über hörten sie den Hubschrauber. Manchmal schien sich das Geräusch in der Ferne zu verlieren, kehrte später zurück, bis es an einer Stelle verharrte.

»Sie haben ihn gefunden.« Franks Stimme klang dumpf, er wirkte seltsam apathisch. Von seinem agilen Wesen war nichts mehr zu erkennen. 

Schweigend saßen die anderen am abgeräumten Frühstückstisch. Gegessen hatten sie nur wenig, selbst Britta hatte ihr Essen kaum angerührt. Heike und Caro saßen mit teilnahmsloser Miene daneben.

»Vielleicht hat er sich etwas gebrochen.«

»Hoffentlich nur ein Bein.«

Das untätige Warten fiel allen sichtlich schwer.

»Am liebsten würde ich hingehen«, ließ sich Jens vernehmen.

»Du bleibst hier!«, erwiderte Torsten mit Nachdruck. 

In dem Moment vernahmen sie wieder das Geräusch der Rotorblätter, das jetzt bedrohlich anschwoll. Dann sahen sie den Helikopter, diesmal kam er auf sie zu.

»Warum fliegen die nicht gleich zu einem Krankenhaus weiter?«

»Warum wohl …« 

Die Worte gingen im Lärm des gelandeten Hubschraubers unter. Im nächsten Augenblick sprang der Guide heraus, und gleich danach hob der Pilot wieder ab.

»Dann fliegen sie ja doch weiter zu einem Hospital!« 

Doch Miguels Miene und seine abwehrende Geste ließen die Vorahnung zur Gewissheit werden: Magnus war tödlich verunglückt.

 

In den folgenden Stunden versuchte jeder auf seine Art, das Ereignis zu verarbeiten. Miguel mied die Gegenwart der anderen. Er war nicht in der Lage, Fragen zu beantworten, er musste jetzt alleine sein. Auch Heike wollte mit niemandem reden und zog sich in ihr Zelt zurück. Zudem befürchtete sie erneute Gefühlsausbrüche von Britta. Diese saß stumm am Tisch. Caro hatte sich ein Stück weit abgesetzt und saß auf einem Stein. Teilnahmslos starrte sie ins Leere. Jens lief die ganze Zeit nervös umher.

»Du machst mich noch wahnsinnig!«, regte Torsten sich auf. 

Daraufhin verließ der andere kurzerhand das Zeltlager und lief ein Stück den Weg entlang, den er gestern Abend gekommen war.

Zur Mittagszeit fanden sich alle, außer Jens und Miguel, wieder am Tisch ein.

»Ich bekomme keinen Bissen runter«, behauptete Britta, griff aber dennoch nach einem Sandwich. Mechanisch biss sie hinein und aß es in kürzester Zeit auf.

»Planmäßig stünde jetzt der Abstieg zum Base Camp an, aber wie ich die Lage einschätze, werden wir wohl noch bis morgen hierbleiben müssen.« Torsten schaute sich um: »Wo ist Jens eigentlich hin?«

In kühlem Ton erwiderte Heike: »Wie sagten Sie doch gestern? Er ist ein erwachsener Mann und muss selber wissen, was er tut.«

»Da meinte ich Magnus, und es war noch nichts passiert.«

»Doch. Wir wussten es nur nicht.« 

In diesem Augenblick vernahmen sie erneut das Geräusch eines herannahenden Helikopters.

»Warum kommen die jetzt zurück?« 

Aber es waren nicht die Rettungskräfte. In weitem Bogen flog ein Polizeihubschrauber heran.

»Oh, dios mio!«, rief einer der Pemón-Indianer. Miguel stand reglos neben ihnen und verfolgte das Landemanöver. Nacheinander sprangen sechs Uniformierte heraus. Der Guide lief auf sie zu. Was sie mit ihm besprachen, konnte nur erahnt werden. Mehrmals nickte er und hob hilflos die Schultern.

Als Caro Brittas entsetzten Blick auffing, versicherte sie in beruhigendem Ton: »Kein Grund zur Panik. Bei jedem Unfall werden routinemäßig Untersuchungen vorgenommen. Mit uns hat das alles nichts zu tun.«

Nach ein paar Minuten kam Miguel auf die Gruppe zu und fragte scharf: »Wo ist Jens?«

Torsten reagierte gereizt. »Keine Ahnung. Ich bin nicht sein Kindermädchen.«

»Verdammt! Mir wurde gerade gesagt, dass wir zusammenbleiben und hier warten sollen.« 

Er ging wieder zurück zu einem der Polizisten und erklärte die Situation. Es bedurfte keiner Spanischkenntnisse, um dessen Vorwürfe herauszuhören. Dann stieg Miguel mit den Uniformierten in den Helikopter. Wenige Augenblicke später hob er ab, sie flogen gemeinsam zur Absturzstelle.

 

Nach zwei Stunden kehrte Miguel zurück, er kam zu Fuß, und mit ihm auch Jens. Unweit des Zeltlagers hatten sie sich getroffen.

Als der Guide ihm bezüglich seiner eigenmächtigen Aktion Vorwürfe machte, erklärte er schuldbewusst: »Tut mir leid. Aber das untätige Rumhocken hielt ich nicht mehr aus. Und später habe ich wieder den Hubschrauber gehört. Da wollte ich sehen, wo er hinfliegt.«

»Diesmal ist es die Polizei.«

»Was wollen die denn hier!«

»Untersuchungen am Unfallort. Reine Routine.«

Noch vor Einbruch der Dunkelheit kam der Hubschrauber mit den Polizisten zurück. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem diensthabenden Chef klärte Miguel die anderen auf.

»Wir dürfen auch morgen das Plateau nicht verlassen.«

»Wieso das denn?! Die Sache dürfte doch nun geklärt sein! Ein tragischer Unfall. Was können wir denn hier noch zur Aufklärung beitragen?«, regte Torsten sich auf.

Auch Frank reagierte aufgebracht. »Ausgeschlossen! Ich muss rechtzeitig wieder zurück sein!«

Zwei Beamte traten auf die Gruppe zu. Erst auf den zweiten Blick war erkennbar, dass sie Waffen trugen.

»¿Hay preguntas?«, fragte der ältere der beiden in scharfem Ton.

Torsten erwiderte ungehalten: »Auf welcher Gesetzesgrundlage werden wir hier festgehalten? Wir müssen uns das nicht bieten lassen! Nicht von ein paar korrupten Beamten!« 

Das Wort korrupt wurde sehr wohl verstanden, die Situation drohte zu eskalieren. Noch bevor Miguel vermitteln konnte, wandte sich Britta mit einem entschuldigenden Lächeln an die beiden Venezolaner.

In holprigem aber doch verständlichem Spanisch erklärte sie: »Disculpe por favor. Es una confusión …«

Immerhin schienen die Worte Wirkung zu zeigen. Der ältere nickte kurz, und beide entfernten sich ein paar Schritte, behielten die Gruppe aber im Auge. Die anderen Polizisten sprachen unterdessen mit den Pemón-Indianern.

»Du kannst wohl Spanisch?«

»Nur wenige Worte. Ich hatte mal einen Sprachkurs gemacht. Das Meiste habe ich schon wieder vergessen.«

Zwischenzeitlich hatte der Koch ein leichtes Essen bereitet. Es war offensichtlich, dass er auf eine dritte abendliche Mahlzeit nicht eingerichtet war. Nachschub erwartete er erst in zwei Tagen, wenn die nächste Gruppe kommen würde. Bis dahin musste er improvisieren.

Die Polizisten hatten ihre eigene Verpflegung dabei. Während des Essens saßen sie etwas abseits, behielten aber alle im Auge. Warum sie überhaupt hier oben vor Ort blieben, wusste niemand. Und diese Ungewissheit ließ Raum für Spekulationen.

»Die nehmen doch hoffentlich nicht an, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist!«

»Natürlich ist er keines natürlichen Todes gestorben. Er wird irgendwo abgestürzt sein.«

»Aber doch nicht durch Fremdeinwirkung.«

»Die werden bald herausfinden, dass es ein tragischer Unfall war.«

»Warum dauert es dann so lange?«

»Keine Ahnung, offenbar sind sie hier besonders gründlich.«

»Irgendetwas Auffälliges müssen sie entdeckt haben, sonst würden sie sich nicht so lange hier aufhalten. Miguel, du warst doch dabei, als er gefunden wurde. Kannst du uns nichts Näheres dazu sagen?«

Bisher hatte er sich jeden Kommentars enthalten. Er sah blass und mitgenommen aus. Seit Magnus gestern Abend zunächst vermisst und heute Vormittag tot aufgefunden wurde, war Miguel nicht mehr derselbe wie zuvor. Nichts von seiner ursprünglichen Lässigkeit und der Abenteuerlust, mit der er andere sonst mitriss, war übriggeblieben. Es fiel ihm sichtlich schwer, über den Vorfall zu sprechen.

»Magnus ist in eine Schlucht gestürzt«, erklärte er knapp. »Er hatte keine Chance zu überleben.«

»Und wurde an der Absturzstelle etwas Verdächtiges gefunden?«

»Ich weiß es nicht. Als sie ihn bargen, war ich nicht unmittelbar dabei.«

Sie saßen noch bis in die späten Abendstunden hinein beisammen. Der Platz vor den Zelten war hell erleuchtet.

Mit Blick auf die wachhabende Policía meinte Frank: »Die denken doch nicht etwa, dass wir abhauen würden!«

»Offensichtlich doch.«

 

Der Comisario

Sie saßen noch nicht lange am Frühstückstisch, da hörten sie abermals das Geräusch eines herannahenden Helikopters. Es war wieder der Polizeihubschrauber, der über dem Areal kreiste und dann an bekannter Stelle niederging.

»Na also, jetzt werden die Carabineros abgeholt, und der ganze Spuk hört endlich auf.« 

Zunächst schien sich Torstens Hoffnung zu bestätigen, denn die Polizisten sprangen auf und liefen zum Hubschrauber. Die Drehung der Rotorblätter wurde langsamer, bis sie schließlich stillstanden und das Geräusch verstummte.

»Kein gutes Zeichen«, kommentierte Jens. Er und Torsten waren ebenfalls vom Frühstückstisch aufgestanden und beobachteten die Szenerie aus der Nähe. »Wenn sie vorhätten zuzusteigen, würden sie das bei laufendem Motor machen.« Er sollte Recht behalten.

Kurz darauf stiegen zwei Männer aus dem Helikopter. Der eine war augenscheinlich der Pilot. Der andere, ein hochgewachsener, elegant gekleideter Herr in Zivil, nahm die Meldung des ranghöchsten Polizisten mit einem knappen Kopfnicken entgegen. Dann kam er auf Torsten zu und sprach ihn auf Spanisch an. Der reagierte mit einem verständnislosen Schulterzucken.

»Ah, Entschuldigung, Sie sind demnach nicht der Guide«, schlussfolgerte der Fremde in perfektem, fast akzentfreiem Deutsch. 

In dem Augenblick erschien Miguel. Nach einer kurzen Begrüßung entfernten sich beide ein paar Schritte und führten das Gespräch auf Spanisch weiter.

»Vielleicht ist er ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft?«, hoffte Britta.

»Wohl kaum, dann hätte ihm der Polizist keine Meldung gemacht.«

Nach ein paar Minuten kamen Miguel und der Fremde auf die Gruppe zu. Auffallend waren dessen markante Gesichtszüge und die graugrünen Augen, die im Kontrast zum gebräunten Teint und den dunklen Haaren standen. Miguel stellte ihn als Comisario Garcia Hernández vor.

In fließendem Deutsch bat dieser: »Ich bitte zu entschuldigen, dass es für Sie ein paar Unannehmlichkeiten geben wird.«

»Die hatten wir bereits«, erwiderte Torsten.

Der Comisario überging die Bemerkung und fuhr mit unverminderter Höflichkeit fort: »Ich habe einen Durchsuchungsbeschluss ...«

»... den Sie uns sicher gleich vorlegen werden.« Wieder war es Torsten, der ihm ins Wort gefallen war.

Ungerührt gab Garcia Hernández bekannt: »Während ich mich mit jedem von Ihnen unterhalte, werden die Zelte und ihre persönlichen Dinge durchsucht und Ihre Smartphones und Tablets vorübergehend beschlagnahmt. Sie erhalten die Geräte in kürzester Zeit zurück.« Allen verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Noch bevor jemand Einwände erheben konnte, forderte der Comisario Torsten auf: »Wenn Sie mich jetzt bitte begleiten würden.«

»Und der Durchsuchungsbeschluss?«, wiederholte er seine Forderung. Mit einer nachlässigen Geste legte der Comisario ein Schriftstück vor. Torsten schaute ein paar Sekunden lang darauf, dann erklärte er eisig: »Der Text ist in Spanisch verfasst.«

»Das Schreiben ist korrekt«, versicherte Miguel. »Mach bitte keinen zusätzlichen Ärger.« 

Schweigend folgte Torsten dem Kommissar.

Frank starrte Miguel an. »Was soll das Ganze?!«

Der meinte ausweichend: »Garcia Hernández hat mir nur mitgeteilt, dass zu dem Todesfall ermittelt wird. Mehr weiß ich auch nicht.« 

Damit gab sich Frank nicht zufrieden. »Die nehmen doch nicht etwa an, dass einer von uns nachgeholfen hätte?« Miguel schwieg dazu. »Aber das ist doch absurd! Wie kommt es eigentlich, dass er so gut Deutsch spricht?«

»Er hat ein paar Jahre in Deutschland gelebt. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum er mit diesem Fall hier betraut wurde.«

»Es ist kein Fall!«, widersprach Frank. »Das wird sich in kürzester Zeit herausstellen. Länger als die Tour geplant war, kann ich ohnehin nicht bleiben.« Er fluchte: »Wenn ich das geahnt hätte! Die Reiseagentur wird uns eine saftige Entschädigung zahlen müssen!«

In ungewöhnlich scharfem Ton erwiderte Miguel: »Du scheinst den Ernst der Lage nicht zu begreifen! Ein Mensch hat sein Leben verloren, das ist schlimm genug, und augenscheinlich bezweifeln sie, dass es ein tragischer Unfall war. Sonst hätten sie keinen Durchsuchungsbeschluss.«

»Aber wie wird es jetzt für uns weitergehen?«

»Das siehst du doch. Wir werden nacheinander vernommen.«

 

In einem der Zelte, das die einheimischen Helfer freigeräumt hatten, saß Torsten dem venezolanischen Kommissar gegenüber. Das höfliche Lächeln, das Garcia Hernández bisher gezeigt hatte, war einem eisigen Gesichtsausdruck gewichen.

»Ihr Name bitte?«

»Torsten Weber.« 

Nach einem kurzen Blick in die vor ihm liegenden Unterlagen stellte Garcia Hernández seine erste Frage. »Kannten Sie Herrn Magnus Krüger schon vor der Reise?«

»Nein, und dass er mit Nachnamen Krüger heißt, höre ich jetzt zum ersten Mal. Ich hatte vorher überhaupt niemanden aus der Gruppe gekannt. Auch nicht Magnus.«

»Sie haben sich nicht namentlich vorgestellt?«, fragte Garcia Hernández verwundert.

»Doch, aber nur mit Vornamen.«

»Sie hatten Herrn Krüger demnach nie zuvor gesehen?«

Etwas vager in seiner Aussage meinte Torsten jetzt: »Zumindest kann ich mich nicht an ihn erinnern. Er ist für mich der Typ, dem man überall begegnen könnte, in Geschäften, auf der Straße…«

»... oder als Mandant. Sie sind Anwalt?«

»So steht es in meinen Reiseunterlagen.«, erwiderte er lapidar.

»War er mal Ihr Mandant?«

»Nein, definitiv nicht.«

»Wann genau haben Sie ihn zum ersten Mal gesehen?«

»Die Gruppe hat sich vor Reiseantritt am vierten März zu einem Vorgespräch im Reisebüro getroffen. Das gehört zum Programm. Bei der Gelegenheit habe ich ihn kennengelernt. Zwei Tage später traten wir die Reise an.«

Der Comisario notierte etwas und fragte dann: »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

»Natürlich an dem Tag bevor er verunglückte.«

»Das meine ich nicht«, entgegnete Garcia Hernández in schärferem Ton. »Erinnern Sie sich bitte an die Situation und um welche Uhrzeit das war.« Ratlos hob Torsten die Schultern.

»Ich habe nicht darauf geachtet. Wenn ich geahnt hätte, was passieren würde, hätte ich’s mir selbstverständlich gemerkt.«

Der Comisario deutete ein Lächeln an. »Bitte schicken Sie Herrn Schuricht zu mir.«

 

Torsten wurde von den anderen mit Spannung erwartet.

»Ein Herr Schuricht wird gewünscht«, erklärte er in ätzendem Ton und registrierte, dass sich Frank mit finsterer Miene erhob. Auch ihn kannte er nur unter seinem Vornamen.

»Was wollte er denn von dir wissen?«

»Im Prinzip nur, ob ich Magnus vorher gekannt hätte und wann ich ihn das letzte Mal gesehen habe.«

Mit zur Schau getragener Gelassenheit betrat Frank das Zelt und nahm Platz.

»Wie lange wird man uns hier oben festhalten?«

»Es kommt darauf an, wie schnell wir vorankommen.« 

Frank zwang sich zu innerer Ruhe, aber der Kommissar schien sich jetzt Zeit zu nehmen. Er blätterte in den Unterlagen und las die spärlichen Eintragungen, die er zu Frank Schuricht fand. Endlich stellte er die erste Frage.

»Wie gut kannten Sie Herrn Magnus Krüger?«

»Fast gar nicht. Wir haben in den drei Tagen, die wir gemeinsam verbrachten, kaum ein Wort gewechselt.«

»Fiel er Ihnen in irgendeiner Weise auf?«

»Nur dadurch, weil er in meinen Augen ziemlich untrainiert wirkte und uns alle mit Details über fleischfressende Pflanzen langweilte.« 

Der Comisario ließ ein leichtes Schmunzeln erkennen. »In Ihren Reiseunterlagen steht, dass Sie Diplomsportlehrer sind.«

»Dann wird es wohl stimmen«, gab Frank zurück. »Ich betreibe ein Fitnessstudio, Spezialgebiet Präventions- und Rehabilitationssport. Wenn ich länger als die geplante Zeit fehle, bekomme ich Probleme, weil ich keine Vertretung habe.«

Mit regloser Miene entgegnete Garcia Hernández: »Momentan haben wir ganz andere Probleme.« Dann wollte er auch von Frank wissen, wann er Magnus Krüger das letzte Mal gesehen hatte.

»Vorgestern, nachdem wir die gemeinsame Erkundungstour beendet hatten.«

»Um welche Uhrzeit war das?«

»So gegen siebzehn Uhr. Unser Guide schlug vor, dass jeder nach eigenen Interessen und Kräften noch etwas unternehmen könnte. Um neunzehn Uhr sollten wir uns wieder zum Abendessen einfinden.«

»Waren Sie gemeinsam mit jemandem unterwegs?«

»Nein, ich bin alleine los.«

»Wohin genau?«

»Nochmal zurück zu dem Höhlenlabyrinth, das uns der Guide zuvor gezeigt hatte.«

»Haben Sie gesehen, ob Herr Krüger mit jemandem losgezogen ist?« 

Einen Augenblick lang überlegte Frank, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Soweit ich mich erinnere, wollte er noch irgendwas skizzieren und ging alleine.«

Der Comisario beendete das Gespräch. Immerhin hatte er diesmal etwas konkretere Informationen erhalten.

 

Als Nächster wurde Jens Machlitt vernommen. Auch er schien äußerlich gelassen, doch Garcia Hernández spürte dessen unterschwellige Nervosität.

Auf die Frage, wann er Magnus Krüger zum letzten Mal gesehen habe, gab er an: »So gegen halb sechs. Zuerst dachte ich, dass er sich mir anschließen wollte. Jedenfalls liefen wir ein Stück gemeinsam, bis er dann plötzlich eine andere Richtung einschlug. Mir war’s ehrlich gesagt ganz recht, dass wir uns trennten.«

»Hat er ihnen gesagt, wohin er wollte?«

»Nein, er ist ohne weitere Erklärungen fort.«

Garcia Hernández notierte etwas und fragte in beiläufigem Ton: »Ist ihm jemand gefolgt?«

»Ich habe niemanden bemerkt. Aber in dem Nebel war ohnehin kaum was zu erkennen.«

»Wohin sind Sie selbst gegangen?«

»Zum Tal der Kristalle.«

Wieder machte er eine Notiz, bevor er fragte: »Haben Sie dort jemanden getroffen?«

»Nein, ich hielt mich da nicht lange auf. Das Wetter wurde zunehmend ungemütlicher.«

»Danke, Herr Machlitt, momentan habe ich keine weiteren Fragen an Sie.« 

Jens erhob sich. »Soll ich Ihnen eine der Damen schicken?«

»Nein, jetzt ist Mittagszeit.«

 

Aufkommendes Misstrauen

Vom Küchenzelt her roch es verführerisch. Der Hubschrauber, mit dem der Comisario gekommen war, hatte auch neue Verpflegung mitgebracht.

»Kein gutes Zeichen«, behauptete Torsten. »Es bedeutet, dass wir hier oben länger bleiben werden.«

Schweigend ließ sich Jens am Mittagstisch nieder. Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung Küchenzelt, aus dem Miguel gerade kam. »Ob er schon mehr weiß?«

Fast schien es, als würde der Guide die Gruppe meiden. Den ganzen Vormittag über hatte er sich bei den einheimischen Helfern aufgehalten oder sich in sein Zelt zurückgezogen. Jetzt nahm er bei der Gruppe Platz. Am Nachbartisch saßen die Sicherheitskräfte und etwas separat von ihnen der Comisario mit dem ranghöchsten Polizisten. Sie sprachen leise miteinander.

Unterdessen wurde das Essen serviert. Für die nächsten Minuten widmeten sich alle schweigend der Mittagsmahlzeit. Plötzlich schob Britta ihren Teller beiseite.

»Mir ist jeglicher Appetit vergangen.«

»Was dir ja nicht schaden kann.«

»Halten Sie doch einfach mal den Mund!«

Für einen Augenblick starrte Torsten Heike an, dann stand er wortlos auf und verließ die Mittagsrunde.

»Jetzt weint er sich aus«, schob sie gehässig nach, aber keiner lachte. 

Britta selbst war zum Heulen zumute, sie blieb aber bei den anderen sitzen. Verstohlen schauten sie Torsten nach, der sich etwas weiter entfernt auf einem großen Stein niederließ.

Es war offensichtlich, dass bei allen die Nerven blank lagen.

Als der Comisario seine Mahlzeit beendet hatte und sich erhob, murmelte Heike: »Jetzt geht’s weiter.« 

Aber er ging zu den Zelten der einheimischen Helfer. Dort schien er sich ewig aufzuhalten.

 

»Wie lange dauert das denn!« Nervös schaute Heike immer wieder hinüber.

Britta saß reglos neben ihr und schwieg. Mit leerem Blick starrte sie vor sich hin, so, als würde sie schicksalsergeben alles Kommende ertragen. Etwas abseits, am anderen Ende des Tisches, saß Caro und unterhielt sich mit Miguel über den Abstieg vom Hochplateau. Nur auf den ersten Blick hatte es den Anschein, als sei sie von der bedrückenden Situation unberührt. Durch kleine hastige Gesten verriet sie ihre innere Anspannung. Schließlich sprach sie ihre Befürchtung aus.

»Das Ganze sieht nicht wie eine normale Ursachenforschung nach einem Unfall aus. Da steckt mehr dahinter. Warum gibt es diesen Durchsuchungsbeschluss? Was glaubt der Kommissar bei uns zu finden?«

»Er hat nur kurz mit mir gesprochen. Aber ich habe herausgehört, dass etwas an der Absturzstelle gefunden wurde, das nicht in das Bild eines tragischen Unfalls passt.«

Caro nickte nachdenklich. »Sowas in der Richtung habe ich mir schon gedacht. Demnach geht die Polizei von einem Tod durch Fremdeinwirkung aus?« 

Unglücklich zuckte Miguel mit den Schultern. »Sieht ganz danach aus.« Er seufzte und meinte dann: »In all den Jahren ist nie etwas passiert. Und nun das hier.«

»Wie kam es eigentlich dazu, dass du als Guide arbeitest?« 

Jetzt lächelte er müde. Die Frage wurde ihm schon oft gestellt: Meist aus purer Neugier, manchmal schwang eine Spur Neid mit, oftmals aus reiner Höflichkeit und nur selten aus echtem Interesse an seiner Person.

Erschrocken schob Caro nach: »Entschuldige bitte, es geht mich nichts an.«

»Ist schon in Ordnung. Ich musste vor Jahren eine schwere Enttäuschung verarbeiten und suchte sowas wie einen Neuanfang. Da kam das Angebot als Guide zu arbeiten gerade recht. Außerdem haben mich die lateinamerikanischen Staaten schon immer fasziniert.«

»Bist du zufrieden mit dem Job hier?«

»Wie man’s nimmt. Es kommt immer auch ein wenig auf die Gruppe an. Wie die Stimmung und das Interesse sind.«

»Und diesmal scheint es, abgesehen von dem tragischen Zwischenfall, schwierig zu sein, stimmt’s?« 

Miguel nickte. Dann stand er auf und ging hinüber zu Torsten. »Mach die Sache doch nicht noch unerträglicher, als sie ohnehin schon ist.« Begütigend klopfte er ihm auf die Schulter. »Komm mit zurück an den Tisch, Torsten.«

»Was soll ich dort? Mir Brittas Gejammer und Frau Eckerts Zurechtweisungen anhören? Nee danke.«

»Ich habe dir doch schon mal gesagt, dass du die gehässigen Bemerkungen Britta gegenüber lassen sollst.«

»Das fällt mir ehrlich gesagt schwer. Und jetzt möchte ich einfach mal alleine sein.«

 

Der Comisario hatte die Befragungen der Pemón-Indianer beendet und steuerte auf den Tisch zu, an dem der Rest der Gruppe saß. »Ich möchte jetzt mit Frau Sommer sprechen.«

Erschrocken fuhr Britta hoch. Wenig später saß sie ihm gegenüber. Ihre Haltung und Mimik verrieten, dass sie mit den Nerven am Ende war.

In höflichem Ton begann er: »Es sind reine Routinefragen, Señora Sommer, also kein Grund zur Beunruhigung.«

Das war der Moment, in dem sie in Tränen ausbrach.

Gefühlsausbrüche dieser Art hasste Garcia Hernández, sie ließen ihn verlegen werden. Schweigend wartete er ab, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann bat er: »Bitte beschreiben Sie mir Herrn Krüger. Was war er für ein Mensch?« Diese Frage hatte sie nicht erwartet. Da sie ihn irritiert ansah, erklärte er: »Ich möchte mir ein genaues Bild von dem Verunglückten machen.«

Britta registrierte, dass er nicht vom Opfer sprach. »Ich habe ihn erst während der Trekking-Tour kennengelernt, das Treffen vor der Abreise mal nicht mitgerechnet«, begann sie zögernd. »Meine Beschreibung kann daher nur sehr oberflächlich sein.« Der Comisario nickte. Er ließ ihr Zeit. »Ehrlich gesagt machte Magnus auf mich einen etwas eigenbrötlerischen Eindruck. Auf jeden Fall schien er wissenschaftlich gebildet und künstlerisch begabt zu sein. Während der Tour blieb er oft zurück, weil er Pflanzen skizzierte. Generell wirkte er freundlich aber etwas reserviert. Ganz offensichtlich hatte er sich auf die Reise bestens vorbereitet und sich vor allem auf die Erkundung des Hochplateaus gefreut. Dass er dabei auf so tragische Weise ums Leben kam, kann ich immer noch nicht fassen.« Garcia Hernández befürchtete einen neuerlichen Gefühlsausbruch und beeilte sich mit der nächsten Frage.

»Wie war sein Verhältnis zu den anderen in der Gruppe?«

Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern. »Er war eigentlich zu allen freundlich.«

»Etwas genauer bitte.«

»Magnus wirkte irgendwie bemüht, so als läge ihm daran, mit allen gut auszukommen.«

»Wie verhielten sich die anderen ihm gegenüber?«

Britta spürte die wachsende Ungeduld in seiner Stimme und fuhr hastig fort: »Ich glaube Torsten, ich weiß leider nicht seinen Nachnamen, hat sich manchmal über ihn lustig gemacht.«

»Inwiefern?«

»Wenn Magnus sich in ausschweifenden Erklärungen zur Flora auf dem Hochplateau erging, kam von ihm mitunter eine spöttische Bemerkung. Aber das geschah sicher nicht in böser Absicht«, schob sie halbherzig nach.

Garcia Hernández bemerkte ihre Zurückhaltung und drängte: »Ich brauche genauere Aussagen.«

»Mir fiel aber nichts weiter auf.« Britta wirkte jetzt wieder eingeschüchtert.

»Wie war sein Verhältnis zu Frank Schuricht?«

»Ich würde es als unauffällig beschreiben, vielleicht sogar als entspannt.« Bevor er wieder ungehalten weiterfragen konnte, erklärte sie: »Ähnlich verhielt es sich bei Jens. Er hat sich auch manchmal mit Magnus unterhalten.«

»Und die beiden anderen Damen?« 

Britta überlegte einen Augenblick. »Ich glaube, Carolin hat ihm ebenfalls geduldig zugehört.«

»Und Frau Eckert?«

»Sie mied seine Gegenwart. Sicher, weil er sie langweilte.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass ihn jemand aus der Gruppe von früher her kannte?«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Und Sie selbst?« Verunsichert sah Britta ihn an. »In Ihren Reiseunterlagen steht, dass Sie Physiotherapeutin sind. Sicher haben Sie in Ihrem Beruf mit vielen Menschen Kontakt. Es wäre doch möglich, dass Sie ihm in diesem Zusammenhang schon einmal begegnet sind.«

»Ich hätte mich an ihn erinnert, aber er war mir völlig unbekannt.« 

Garcia Hernández notierte etwas, dann deutete er ein Lächeln an. »Danke, Frau Sommer. Wenn Sie jetzt bitte Frau Eckert zu mir schicken würden.«

 

»Und? Wie war’s?«, wollten die anderen wissen.

Britta zuckte mit den Schultern. »Er fragte mich, was Magnus für ein Mensch war. Doch was sollte ich dazu schon sagen. Ich kannte ihn ja kaum.«

»Und sonst noch was? Du siehst so betroffen aus«, hakte Frank nach.

»Nichts weiter«, behauptete sie. Doch das nahm er ihr nicht ab. Zögerlich fügte sie hinzu: »Er versuchte, mich auszufragen, wie das Verhältnis zwischen Magnus und jedem einzelnen von uns war.«

»Und das hast du ihm natürlich haarklein berichtet!« Die Unterstellung kam von Torsten, der unbemerkt herangetreten war. 

In Brittas Gesicht stand jetzt die blanke Wut. »Natürlich!«, fuhr sie ihn an. »Und vor allem, dass du über ihn Witze gemacht hast!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739496177
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Venezuela Steilwand Abenteuerurlaub Trekking-Tour Reisegruppe Flucht Liebe Verdacht Verfolgung Besteigung des Monte Roraima Cosy Crime Whodunnit Krimi Ermittler Thriller Spannung

Autor

  • Katharina Kohal (Autor:in)

Eine Prise Humor, ein Schuss Romantik und mitunter ein Hauch Fernweh; das sind die Zutaten für ihre Kriminalromane. Katharina Kohal lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Mit dem Eintritt in den Ruhestand entdeckte sie ihre Lust am Schreiben neu und veröffentlichte seither:
„Ein fast perfektes Team“,
„Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus“,
„Mehr als ein Delikt“,
„Eine mörderische Tour“,
„Cyber Chess mit tödlicher Rochade" und
„Verstörende Erinnerung“.

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Titel: Eine mörderische Tour