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Lilith

Eiskalter Engel

von Astrid Korten (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

Das Leben von Anna und Max Gavaldo könnte so schön sein. Sie sind glücklich miteinander und freuen sich auf ihr zweites Kind. Doch eine grausame Vergewaltigung erschüttert die Stadt und auch Anna wird bedroht. Ihre 16-jährige Tochter Katharina scheint etwas darüber zu wissen. Sie hat das zweite Gesicht und verhält sich seltsam. Immer wieder führen ihre Visionen sie in die Vergangenheit und ins Reich der Toten – eine Faszination, der das junge Mädchen sich kaum entziehen kann. Eines Tages taucht der mysteriöse Baan in Katharinas Leben auf. Sie ahnt nicht, dass damit das Böse seinen Einzug in ihr Leben und das ihrer Familie hält … "Gewohnt spannend mit einem furiosen Finale, dass den Leser atemlos zurück. Das war wie üblich ganz großes Kino und allerbeste Unterhaltung!" (Mundolibris) "Mit "Lilith - Eiskalter Engel" hat Astrid Korten einen Psychothriller von atemberaubender Spannung geschaffen. Ein echter faszinierender Pageturner, der der Frage nachgeht, ob das Böse vererbbar ist." (Honigmond) "Hochspannung vom Feinsten. Ein Highlight." (Wagner) "Grandios" (Bookstar) Ein atemberaubender Thriller über Wut und Rache, Wahn und ein grausames Verbrechen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Auf vielfachen Wunsch meiner Leser: Die Fortsetzung von „Eiskalte Umarmung“

LILITH – EISKALTER ENGEL

Aus jedem Kätzchen wird mal eine Katze. Sie wirken immer so harmlos am Anfang: winzig und ruhig, schlabbern ihr Tellerchen Milch. Aber sind ihre Krallen lang und scharf geworden, dann fließt Blut.

Vincent Coccotti


Info

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 Astrid Korten

http://www.facebook.com/Astrid.Korten.Autorin

Website: www.astrid-korten.com

Twitter: https://twitter.com/charbrontee

Google: Astrid Korten

Lektorat: Susanne Zeyse

Korrektorat: Susanne Zeyse, Melanie Hinterreiter

Bildnachweis: ©Shutterstock /PicFine

Covergestaltung ©ZERO Werbeagentur München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.


Über das Buch

„Die Toten schlafen mit offenen Augen.

Sie beobachten uns aus der Vergangenheit.“

Eine Obsession mit verheerenden Folgen ...

Das Leben von Anna und Max Gavaldo könnte so schön sein. Sie sind glücklich miteinander, bewohnen ein schönes Haus am Starnberger See und freuen sich auf ihr zweites Kind. Doch Anna wird bedroht und die 16-jährige Tochter Katharina hat das zweite Gesicht. Immer wieder führen ihre Visionen sie in die Vergangenheit und ins Reich der Toten – eine Faszination, der das junge Mädchen sich kaum entziehen kann. Und auch nicht dem Mann mit den dunklen Augen, dem sie in ihren Träumen immer wieder begegnet.

Eines Tages taucht der mysteriöse Baan in Katharinas Leben auf. Sie verliebt sich sofort in ihn, doch sie ahnt nicht, dass damit das Böse seinen Einzug in ihr Leben und das ihrer Familie hält …

Ein atemberaubender Thriller über Wut und Rache, Wahn und Machtlosigkeit.


Astrid Korten

L I L I T H

EISKALTER ENGEL

Psychothriller


ANGST

„Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“

Ingmar Bergman


Polizeipräsidium München, Verhörraum 21

28. Dezember 2016

Es war ein langer Tag gewesen. Bemerkenswert, auf eine dunkle, beunruhigende Weise. Für den Leiter der Kripo München, Benedikt van Cleef, und seine Kollegin, Claire Schirow, die zusammen die Ermittlungen leiteten, war er noch lange nicht vorüber.

„Glaubst du das?“, fragte Claire.

Benedikt van Cleef, müde, aber wohl wissend, dass seine Familie und das Bett noch ein paar Stunden warten mussten, zuckte mit den Schultern.

„Die Sache ist irre. Ich meine, ernsthaft krank“, fuhr Claire fort.

Sie standen einander im Korridor gegenüber, jeder mit einem Plastikbecher lauwarmem Automatenkaffee in der Hand. Benedikt sah seine Kollegin aufmerksam an. Ihr messerscharfer Verstand hatte ihn schon einige Male vor schwerwiegenden Fehlern bewahrt.

Er war sich nur über eine Sache im Klaren: Wenn er mit der Beschuldigten fertig war, würde sie ihn nie wieder mit diesem strahlenden Lächeln anschauen. Keiner der Beteiligten in diesem Fall sollte je wieder von dem Grauen in der Nacht geweckt werden, darin waren Claire und er sich einig.

Er hatte seine Kollegin während seiner Ausbildung zum Polizisten kennengelernt und damals eine kurze Affäre mit ihr gehabt. Allerdings hatte die hormonell bedingte Besessenheit nur vier Monate angehalten. Claire war beim Drogendezernat gewesen und seit einigen Jahren bei der Kripo. Sie war wie er verheiratet und hatte zwei Söhne. Seit ihrer ersten Begegnung hatte sie dreißig Kilo mehr auf den Rippen, was ihren Faible für Schlabberhosen und weite, grauenvolle Pullis erklärte. Ihr braunes Haar war kurz geschnitten und ihr ovales Gesicht schmückte eine farbenfrohe Brille. Sie war eine exzellente Ermittlerin und eine loyale Kollegin. Ihren Schlabberlook mochte er nicht besonders, dafür aber ihren Humor umso mehr.

Claire zündete sich eine Zigarette an. „Was ist mit dir, Benedikt? Glaubst du es? Könnte unsere Beschuldigte auch sie getötet haben?“

„Keine voreiligen Schlüsse, Claire. Im Moment jedenfalls.“

„Ich wette, die Medien sind anderer Meinung. Vorhin haben schon wieder zwei Presseheinis im Präsidium angerufen und wollten Informationen. Die werden aus dieser Sauerei einen verdammten Zirkus machen.“ Sie blies Rauch in die Luft. „Kann man ihnen nicht verdenken, oder? Es ist eine große Story und sie müssen ihren Job machen.“

„Das müssen wir auch.“ Benedikt deutete auf die Tür am Ende des Korridors. „Lass uns wieder reingehen. Ich vernehme und du schaltest dich ein, wenn es nötig ist.“

Claire drückte ihre Zigarette aus. „Good cop, bad cop?“

„Nein!“, sagte er empört. „Sie wird niemals gestehen. Wir müssen es anders angehen.“

Claire zuckte mit den Schultern. „Du meinst, weil wir diesen Brief gelesen haben, sollten wir unkonventioneller vorgehen und gegen die Regeln verstoßen?“

Van Cleef nickte. „Absolut!“

„Wie du meinst.“

Sie betraten den Vernehmungsraum. Er war spartanisch: weiße Wände, eine grelle Deckenlampe und ein Tisch mit einem Tonbandgerät. Benedikt hatte es hier immer deprimierend gefunden. Wie eine Zelle in der Klapsmühle, nur ohne Gummiwände. Als er jetzt an die düstere Geschichte dachte, die sich hier offenbarte, fand er den Vergleich beängstigend angemessen.

Sie saß mit ihrem Anwalt am Tisch. Sie flüsterten, verstummten aber sofort, als sie den Raum betraten.

Vielleicht ein Zeichen der Schuld, dachte Benedikt. Er war lange genug in diesem Beruf, um zu wissen, dass schon die bloße Anwesenheit eines Polizisten selbst bei dem unschuldigsten Menschen das Gefühl erwecken konnte, dass er etwas zu verbergen hätte. Das gehörte zu den Widrigkeiten dieses Berufs. Aber es war sein Beruf. Und er würde ihn ausüben, selbst wenn es ihm im Moment besonders schwer fiel.

Fünf Minuten später war die Vernehmung wieder im Gange.

„So war es nicht“, wiederholte die Beschuldigte zum zweiten Mal. „Ich schwöre, so war es nicht!“

„Nicht? Aber für mich sieht es so aus und so stellt es sich auch für das Gericht dar. Das begreifen Sie doch, oder?“, fragte Claire.

Schweigen. Die Beschuldigte starrte zu Boden. Sie sah blass aus, verängstigt und plötzlich viel jünger. Eher ein Kind, als ein erwachsener Mensch. So war es oft bei Tatverdächtigen, wenn ihnen die Ungeheuerlichkeit dessen klar wurde, womit sie es zu tun hatten. Einen Augenblick lang empfand Benedikt Mitgefühl. Dann dachte er an die Einzelheiten des Falls, und das Gefühl verschwand so schnell, wie es gekommen war.

„Fangen wir von vorn an. Lassen Sie uns ganz zum Anfang zurückkehren. Und denken Sie daran, ich will alles wissen …“

Aber alles würde er niemals wissen. Auch nicht, wie es wirklich begonnen hatte. Stopp! Er wusste wie alles begonnen hatte. Vor vielen Jahren, als ein Psychopath, der sich Jakob nannte, blutjungen Frauen die Fingernägel himmelblau lackierte.

Als er sie danach missbraucht und getötet hatte.

Als er Anna Gavaldos Schwester Katharina im Visier hatte.

Und sie tötete.

Als Anna zehn Jahre später von dem Mörder ihrer Schwester vergewaltigt wurde.

Als …

Ein Verbrechen war wie ein Teppich aus Emotionen. Tausend verschiedene Gefühle an tausend verschiedenen Tagen miteinander verwoben.

Und der Ursprung dieses Verbrechens lag so viele Jahre zurück, und die Leute, die an den ersten Akten beteiligt gewesen waren, trugen eine enorme Schuld, selbst die Unschuldigen.

„Ich habe sie nicht getötet.“ Ein Wimmern. „Ich habe sie gehasst, aber ich habe sie nicht umgebracht!“


Jakob …

Die Toten schlafen mit offenen Augen. Sie beobachten uns aus der Vergangenheit.

Vincent Coccotti


Kapitel 1

Starnberg, Oktober 2016

Die sechzehnjährige Katharina Gavaldo spürte, wie sich die Schwere des Schlafes langsam löste. Auf dem Nachttisch leuchtete der Wecker, der beim Aufwachen normalerweise ihre Wutausbrüche abbekam. Die blauen Ziffern sagten ihr, dass sie noch einige Stunden weiterschlafen durfte und obwohl die Tür ihres Zimmers einen Spalt offenstand, sah sie nichts als Dunkelheit. Natürlich. Die Nacht war gnädig. Zu ihr – und ihren Dämonen, von denen niemand eine Ahnung hatte.

Katharina wusste, warum sie aufgewacht war: Heute Nacht war es soweit. Da war sie ganz sicher. Wer würde denn auch zweifeln, wenn nicht einmal die seltsame Gestalt, die sie seit einigen Wochen immer in ihren Visionen heimsuchte, es tat. Ein junger Mann, der ihr sagte, dass sie eins waren; dass sie zusammengehörten. Dass er sie liebte, obwohl er sie noch nie gesehen hatte.

„Im Dunkeln werden wir uns eines Tages begegnen und uns danach nie mehr trennen“, hatte er gesagt. Katharina glaubte ihm. Seine Worte hallten wieder und wieder in ihren Gedanken nach. „Wir beide handeln. Zur selben Zeit. Zur selben Stunde. So werden wir uns nah sein.“

Als Katharina elf Jahre alt war, hatte ihre Mutter manchmal gesagt, sie sei ein „anstrengendes“ Kind. Sie hatte nie so richtig verstanden, was ihre Mutter damit meinte. Sie selbst fand sich überhaupt nicht schwierig. Sie warf keine Gegenstände auf den Küchenboden wie ihre Mutter und bekam auch keine Wutanfälle, selbst wenn sie gelegentlich mit dem Gedanken spielte. Bis auf Fisch und Käse aß sie alles, was auf den Tisch kam. Sie war weder lauter noch dümmer als andere Kinder, die sie kannte. Ihr Name war leicht auszusprechen und leicht zu buchstabieren. Sie hatte ein hübsches Gesicht, blass und voller Sommersprossen, blaue Augen und langes, blondes Haar. Sie ging jeden Tag zur Schule wie andere Kinder auch und machte nie viel Wind darum. Zu ihrer Mutter war sie nicht gemeiner als ihre Mutter zu ihr war. Nie klopften Polizisten an die Haustür, um sie zu verhaften. Nie drohten Ärzte in weißen Kitteln, sie ins Irrenhaus zu schaffen, wie ihr Vater es vor Jahren mal mit ihrer Mutter getan hatte.

Sie fand sich eigentlich ziemlich pflegeleicht.

Erst jetzt hatte Katharina verstanden, was ihre Mutter damit meinte. Anna fand sie deswegen schwierig, weil sie so still war und wegen dieser Geschichte mit dem Köter des Nachbarn. Das machte ihr offenbar zu schaffen. Ein weiteres Problem bestand darin, dass sie gern allein war. Natürlich nicht die ganze Zeit. Nicht einmal jeden Tag. Aber an den meisten Tagen zog sie sich gern auf eine Stunde in ihr Zimmer oder in den Garten hinter der Villa zurück, um ungestört ihren Gedanken nachzuhängen.

Seit dem Vorfall mit dem Hund glaubte ihre Mutter, dass sie ein mit Vorsicht zu genießendes Kind war. Dabei war es dieses Viech gewesen. Katharina hatte damals darauf geachtet, dass sie keine plötzliche Bewegung machte, als der Hund sie entdeckte, bis sie mit dem Rücken gegen das Garagentor stand. So konnte das Tier sie nicht umkreisen. Dann nahm sie aus der Jackentasche das Taschenmesser ihres Vaters und eine Streichholzschachtel. Schon schlich der Hunde schwanzwedelnd heran, geiferte und knurrte und heulte.

Zu Katharinas Füßen lagen ein paar trockene Blätter und Zweige. Rasch und geschickt formte sie sie zu einem kleinen Häufchen. Der Hund kam näher. In der Schachtel befanden sich nur noch fünf Zündholzer. Sie konnte den Atem des Tieres riechen – ein schrecklicher Gestank nach fauligem Fleisch. Rasch bückte sie sich und versuchte, das Streichholz hinter vorgehaltener Hand anzuzünden. Ein Windstoß, die Flamme flackerte, doch Katharina hielt sie dicht an den Haufen, ein Blatt fing Feuer, dann ein zweites, dann das Ende eines Zweigs, und bald brannte der ganze Haufen lichterloh. Sie schichtete noch mehr Laub, Zweige und größere Äste aufeinander. Der Hund wich zurück. Tiere fürchteten sich vor Feuer. Die Flammen züngelten höher, und der Wind trieb den Rauch genau auf den sabbernden Rachen zu. Da griff Katharina nach dem Taschenmesser und ging auf den Hund zu …

Katharina hatte sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Unzählige Augen starrten ihr entgegen, die zu den Stofftieren gehörten, die fein säuberlich aufgereiht im Regal saßen. Es machte ihr Spaß, nachts im Halbschlaf in diese starren Gesichter zu sehen. In der Dunkelheit blitzte hinter deren Niedlichkeit etwas Böses hervor. Von ihr besiegt – abgefackelt und niedergestochen wie der blöde Köter des Nachbarn.

Sie seufzte und kämpfte eine Weile mit sich, bis sie schließlich das Laken zur Seite warf, die Beine aus dem Bett schwang und mit nackten Füßen in ihre Schuhe schlüpfte.

Sie nahm ihr Tagebuch aus dem Geheimfach in der Schreibtischschublade und schrieb …

„Es gibt gute Neuigkeiten, Katharina“, hat Mom gesagt und mir den Brief der Schlampe Wagenknecht gezeigt. „Du darfst jetzt wieder am Kunstunterricht teilnehmen, weil du dich so kooperativ angestellt hast, dass deine Lehrerin dich wieder dabeihaben will. Reiß dich also in Zukunft zusammen!“

Bla, bla, bla.

Der Mensch wird als Sünder geboren, Mom! Wusstest du das nicht?

Ich bin momentan den ganzen Tag wütend. Auf meine Mutter, die überall herumschnüffelt, auf dieses Haus – mein Gefängnis. Ich bin wütend auf dich, weil du mich zur Weißglut bringst, weil du schwanger bist, weil ich bald nicht mehr ein Einzelkind sein werde, weil mein Vater …

Ich hätte Lust dir die Luft zu nehmen, Mom, dir die Kehle durchzuschneiden wie bei deiner Schwester. Oh … wie unartig. Das ist nicht sehr nett, was ich hier schreibe.

Reg dich nicht auf, Mom. Ich hab dich trotz allem lieb.

Aber in meinem Kopf hat sich eine Kammer geöffnet, die brechend voll ist mit Wut, und ich kriege die Tür nicht mehr zu. Tagsüber gelingt es mir noch ganz gut, meine Gedanken an irgendeiner Hirnwindung zu parken, doch nachts …

Katharina legte den Stift beiseite. Die Tür zum Zimmer ihrer Eltern knarrte, als sie sich vergewisserte, dass sie schliefen. Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinunter.

Im Wohnzimmer war niemand. Alles war noch genauso, wie vor dem Schlafengehen und ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Sie schloss leise die Tür hinter sich und ging direkt auf den Wohnzimmerschrank zu, in dem ihre Mutter die zarten Kristallgläser aufbewahrte, die noch ihrer Großmutter gehört hatten. Nur zu besonderen Anlässen wurde aus diesen Gläsern getrunken. Und nur ihrer Mutter war es erlaubt, sie zu berühren. Gespült wurden sie mit der Hand, sie durften keinesfalls in die Spülmaschine.

Katharina nahm ein Glas nach dem anderen aus dem Schrankregal, legte es auf den Boden und trat darauf. Sie wirkte dabei gelassen, aber in ihr brodelte unbändige Wut. Das zerbrochene Kristall bildete einen schimmernden Teppich, der mit jedem ihrer Tritte größer wurde. Dabei wanderte ihr Blick immer wieder kurz zur Wohnzimmertür, doch hinter der war kein Mucks zu hören.

Es dauerte fünf Minuten, bis die Regale leer waren. Nur wenige Geräusche begleiteten ihr Wüten. Danach huschte sie wieder die Treppe hinauf, kroch in ihr Bett und starrte ihre Stofftiere an.

Als sie die Augen schloss, tauchte wieder die Vision vor ihrem inneren Auge auf. „Meine große Katharina, meine mutige Katharina, meine starke Katharina.“ Sein Flüstern in ihrem Kopf war gedämpft. Er war so stolz auf sie.

Sie nickte, lächelte glücklich. Niemand ahnte, dass sie beide eine gemeinsame Zukunft erwartete. Nur wann das sein würde, wusste Katharina nicht.

Max Gavaldo entdeckte die Verwüstung, als er am Morgen die Treppe herunterkam. Katharinas Vater war in der Regel der Erste der Familie, der die Küche betrat. Meist verließ er das Haus, bevor die anderen aufwachten.

Katharina hörte, wie er am unteren Ende der Treppe den Namen ihrer Mutter rief. „Anna! Steh bitte auf! Verdammt, was ist das hier für eine Scheiße?“

Katharina hörte den Schrei ihrer Mutter.

Einen Moment später wurde sie von ihrem Vater aus dem Bett ins Wohnzimmer gezerrt.

„Ist es wahr, was deine Mutter da behauptet?“, wollte er wissen. „Dass du das warst? Raus damit, warst du das?“

Katharina nickte.

„Warum?“

„Darum.“

„Das ist keine Antwort, Katharina.“

Kein Wort kam über ihre Lippen.

„Was ist passiert?“, fragte er wütend. „Es muss einen Grund geben, warum du das getan hast.“ Er packte seine Tochter an beiden Schultern und schüttelte sie. „Schau mich an! Warum? Was ist passiert?“

„Mom hat Jasper weggeworfen“, antwortete Katharina.

Jasper war ein Geschenk gewesen und sie liebte den getupften Teddybären innig, hatte ihm schon als Kind ihre Sorgen und Wünsche anvertraut. Mittlerweile fehlte dem Stofftier ein Ohr und es wurde von vielen Nähten zusammengehalten, was ihrer Liebe zu dem Spielzeug keinen Abbruch getan hatte.

Ihre Mutter betrat das Wohnzimmer. „Ich habe immer gesagt, dass dein Schatz zum Monster mutiert, Max. Mit pubertären Allüren hat das nichts mehr zu tun!“

„Anna! Bitte!“

Sie sah ihre Mutter an, ihr müdes, blasses Gesicht. Und fühlte ihre Wut.

Einen Augenblick lang hatte Katharina das Gefühl, dass ihre Mutter auf sie losgehen würde, ihr Gesicht war hassverzerrt. Und sie spürte noch etwas, das sie erschaudern ließ: Schadenfreude, süße Schadenfreude. Zu dem Hohngelächter, das in ihrem Kopf ertönte.

Sie zuckte mit den Schultern.

Vielleicht war der frühe Morgen daran schuld, aber plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie Hunger hatte. Sie drehte sich um, als wäre die Sache damit erledigt, und lief erhobenen Hauptes an ihren Eltern vorbei. Wutentbrannt folgten sie ihr. In der Küche trat Katharina an den Küchenschrank und nahm eine unangebrochene Packung Schokoladenkekse heraus. Sie riss die Packung auf und stopfte mehrere Kekse in sich hinein.

Ihre Mutter atmete schwer. Sie sah aus, als wäre sie drauf und dran, ihre Tochter windelweich zu prügeln.

Katharina sah sie hasserfüllt an. „Das war nicht fair, Mama“, sagte sie mit eisiger Stimme und nahm weitere Kekse aus der Packung. „Ich musste Jasper aus der Mülltonne fischen!“

Entsetzt sah ihr Vater sie an. „Das Leben ist nicht fair, Kind“, sagte er. „War es nur wegen Jasper …?“ Seine Stimme versagte.

„Ja“, log Katharina.


Kapitel 2

Bundesstaat Amazonas, Oktober 2016

Während der Semesterferien erkundete der einundzwanzigjährige Baan immer wieder die Höhle an der Wasserscheide zwischen dem Orinoko-Fluss und dem Amazonas. Er glaubte fest daran, dass er dort die Antwort auf die Frage finden würde, wie sein Vater in Europa ums Leben gekommen war und wie er mit dem Verstorbenen Kontakt aufnehmen konnte. Er hoffte, einen Jivaro in der Höhle anzutreffen. Die kleinen, seltsamen Männer galten zwar als gefährlich und mordlustig, aber nur die Jivaro beherrschten die Kunst, die Geister der Vergangenheit heraufzubeschwören. Aus diesem Grund hatte Baan auch ihre Sprache erlernt und sich genauso mit ihren Ritualen vertraut gemacht wie einst sein Vater Jakob.

Außerdem fand Baan es spannend, in den kühlen Wänden der Höhle nach Zeichen der Dämonen zu forschen – viel spannender, als an der Universität von Salvador da Bahía Medizin zu studieren. Selbst ein gemeinsamer Ausritt mit Raimundo, dem Verwalter der Fazenda, konnte nicht mit einem Streifzug durch die finstere Höhle mithalten. Für Baan war sie eine Quelle der brasilianischen Kultur.

Heute wird etwas Ungewöhnliches passieren, dachte Baan, denn in der vergangenen Nacht hatte er zum dritten Mal eine Vision gehabt. Bei dem Gedanken an das junge Mädchen mit den langen, blonden Haaren und den blauen Augen, das ihm aus der Ferne zugewinkt hatte, spürte er ein Kribbeln im Nacken und hörte das laute Pochen seines Herzens. Sie war von atemberaubender Schönheit, aber der Ausdruck in ihren eisblauen Augen hatte etwas Unheilvolles, ja, sogar etwas Bedrohliches.

Seit er von den Visionen heimgesucht wurde, fand er Geschmack am Tod und hatte keine Angst mehr davor, erstickte jeden noch so leisen Zweifel daran. Er genoss es, eine sechs Meter lange Anakonda dabei zu beobachten, wie sie im Wasser ein kleines Tier umschlang und es tötete, oder die Piranhas dabei zu verfolgen, wie sie einem verletzten Tapir das Fleisch von den Knochen rissen. Er war furchtlos wie sein Vater. Deshalb hatten die Jivaro seinen Vater, ihren weißen Freund aus München, den Furchtlosen genannt. Und er, Baan, war Jakobs Sohn.

Während er seinen Weg fortsetzte, drehte er sich um und warf einen Blick auf sein Zuhause, das sein Vater ihm vermacht hatte: die Fazenda Giacomo. Rauch stieg aus dem Schornstein des Außengrills auf. Die großen Fenster waren dunkel, aber vertraut. Raimundo bereitete ein Churrasco für die Arbeiter zu. Niemand folgte ihm. Die Luft war rein.

Raimundo, ein Afroindianer aus Salvador da Bahía, verwaltete nicht nur die Fazenda Giacomo, sondern war auch sein Vormund. Alles, was Baan über seinen Vater wusste, hatte Raimundo ihm erzählt, der Jakobs engster Freund und Vertrauter gewesen war. Baan selbst hatte kaum noch Erinnerungen an seinen Vater. Er war erst drei Jahre alt gewesen, als Jakob nach Deutschland gegangen und nie von dort zurückgekehrt war.

Seine Mutter hatte in den vergangenen Jahren kaum Zeit für ihn gehabt. Er sah sie nur selten, denn seit Jakobs Tod lebte sie im zweihundert Kilometer entfernten Recife und musste vier weitere Kinder ernähren. Dennoch mochte Baan sie. Sie hatte die typischen funkelnden Augen einer Brasilianerin, dunkle Haut und eine schwarze Lockenmähne. Baan kam mehr nach seinem Vater. Mit seinen dunklen Locken, den großen braunen Augen, einer fein geschnittenen Nase und den vollen Lippen sei er ein schönes Kind gewesen und heute ein attraktiver Mann, behauptete seine Mutter. Deshalb nannten sie und Raimundo ihn manchmal nur Jakobs Sohn. Das wiederum erfüllte ihn mit Stolz.

Nach dem Mittagessen an diesem Tag hatte Baan sich wütend davongeschlichen, nachdem er Raimundo in der Küche dabei beobachtet hatte, wie er die Bluse von Gabriela aufgeknöpft hatte. Mit seinen Händen hatte er die kleinen, festen Brüste der Hausangestellten berührt, ein Bein zwischen ihre geschoben und das Becken der Mulattin kreisen lassen. Es hatte Baan überhaupt nicht gefallen, dabei Raimundos dunkles Lachen zu hören und zu sehen, wie der Verwalter Gabrielas Körper liebkoste. Schließlich war sie dreißig Jahre jünger als Raimundo.

Innerhalb weniger Minuten hatte sich seine Seele verdunkelt und alles, was vorher hell gewesen war, wurde als Dämon nach außen gestülpt. Baan geriet neuerdings immer öfter in dumpfe, sinnlose Wut, sobald er mit der Zügellosigkeit von Raimundo konfrontiert wurde. Dann rannte er durch imaginäre Schatten davon, mit großen, dunklen, gehetzten, blutunterlaufenen Augen.

Auch jetzt lief er zur Höhle, das Gesicht gerötet, weil er seine Gedanken nicht verstand und warum er neuerdings immer voller Zorn war, sobald er sich selbst befriedigte. Er liebte die Unschuld einer Blüte, die Vollkommenheit einer Amazonaslilie, auf der sich höchstens einmal ein Schmetterling niederließ. Das abgründige Tier der Lust mochte er überhaupt nicht, denn dann nagten Dämonen genussvoll geifernd an seinem Fleisch.

Die langen, dunklen Haare klebten ihm am Rücken. Er lief zu schnell, der Atem stach ihm in die Brust – von der Anstrengung, noch schneller zu laufen, seine Beine noch schneller zu bewegen, als könnte er etwas durchbrechen, etwas, das niemand sehen durfte: seine abgrundtief bösen Gedanken hinter seinem Unschuldsgesicht.

Er beugte mehrmals den Kopf und wich den tiefhängenden Ästen der Regenwaldbäume aus, um deren Stämme sich die wild wachsenden Lianen ineinander verflochten. Dazwischen drängten sich seltsame Pflanzen, die ihre Farbe im wechselnden Licht veränderten. Der Pfad war von modrigem Laub und Moos überwuchert und so glitschig, dass Baan ein paar Mal fast gestürzt wäre. An der Stelle, an der ein Abhang den lichtundurchlässigen Baldachin der Baumwipfel durchbrach, drang Sonnenschein bis in die mittleren Lagen des Regenwaldes vor. Beim Anblick der uralten schwarzen Felsen, die vor ihm lagen, verspürte er ein Gefühl von Unheil, einen Sumpf von Albträumen. Der Wald schien ihm zuzuflüstern, dass ein Mensch hier nicht willkommen war.

Er fühlte sich schwach und zittrig, als er mit klopfendem Herzen vor dem Eingang der Höhle stand. Hängende und kletternde Pflanzen in unterschiedlichen Grünschattierungen kämpften hier ums Überleben und umschlangen den Eingang der Höhle mit ihren feinen Wurzeln. Es tobte eine lautlose Schlacht um Licht und Platz.

Baan bahnte sich einen Weg durch die Öffnung. Seine Neugier war stärker als der Zorn, den er auf Raimundos Triebe verspürte. Er schob mehrere Lianen beiseite.

Baan war nicht fähig, sich zu bewegen, und starrte auf die kleine, furchteinflößende, greisenhafte Gestalt vor ihm, die auf etwas einschlug, das auf dem Boden lag. Ein Bündel vielleicht oder eine Macumba-Puppe, dachte er. Er erkannte nur das lange, helle Haar in der Farbe einer Mondblume.

Der Jivaro war bis auf einen Lendenschurz nackt, sein Körper mit dem Saft der Urucu-Frucht rot gefärbt und mit schwarzen Kreisen bemalt. Baan musste sich entscheiden: umkehren oder sich mutig erheben. Der Gedanke, dass der Moment gekommen war, in dem er Antworten auf seine Fragen bekommen würde, siegte über sein Misstrauen und seine Vorsicht. Er war erstaunt über seine Fähigkeit, mögliche Skrupel einfach beiseitezuschieben, sich von sich selbst zu lösen und die Lage kühl zu analysieren.

Baan ging einen Schritt weiter, blieb aber stehen, als der Indianer ihn bemerkte. Taumelnd drehte er sich um und sah Baan an.

Es war ein gegenseitiges Erkennen und die stille, aber spontane Übereinkunft, die nächsten Stunden gemeinsam zu verbringen. Baan starrte den Jivaro an, musterte das kleine Gesicht, das ebenfalls blutrot bemalt war, sah die dunklen Schatten unter den Augen, deren Lider so zart waren, dass die Iriden durchschimmerten, die nun gefährlich aufblitzten. Ein Glühen wie im Fieberwahn, vermutlich von einer Portion Peyote-Pilze, nach deren Einnahme die Welt trotz der Finsternis grell und intensiv in allen erdenklichen Farben leuchtete.

Ein Luftzug wirbelte Staub auf und wehte Baan einen abscheulichen Geruch entgegen. Brühe, die ihn an die Suppe mit den Fettaugen und dem widerlich stinkenden Knochenmark erinnerte, die seine Mutter immer für ihn zubereitet hatte, wenn er krank war.

Plötzlich drang grelles Licht von draußen durch den Eingang und erhellte das Etwas auf dem Boden. Baan hielt inne, als er lose Stofffetzen erkannte, die eine Tsantsa, einen Schrumpfkopf, teilweise umhüllten. Er wich zurück. Die Haut war samt Haaren vom Schädelknochen abgezogen, die Lippen zusammengenäht und die Augäpfel herausgeschält. Der violettblaue Faden bildete einen gespenstischen Kontrast zu dem blassen Mund. All das nahm Baan im Bruchteil einer Sekunde wahr, er fühlte jedoch keinen Impuls, wegzulaufen. Seine Faszination und seine Neugierde waren größer.

Baan glaubte eine Gefühlsregung in den Augen des Jivaro zu sehen, als der kleine Mann nickte und ihn herbeiwinkte.

„Du bist furchtlos. Du bist unverkennbar Jakobs Sohn“, wisperte er.

Sein Anblick schien dem Jivaro-Häuptling Freude zu bereiten, aber Baan war dennoch auf der Hut. Der Jivaro schaute ihn unverwandt an und dann verschwamm die Wirklichkeit und verrutschte am Rand von Baans Blickfeld. Er hielt den Kopf schräg und betrat Sekunden später eine andere Welt, eine dunkle Welt, die nach Schmutz und Fäulnis roch und in der der Indianer ihm das Ritual erklärte und Baan von seinem Vater Jakob berichtete.

Stöhnend schloss Baan die Augen. Endlich fügte sich alles zusammen. Seine nächtlichen Visionen, seine Verachtung für die zügellose Lust, sein Gefallen am Tod. Die Wahrheit über seinen Vater bahnte sich auf schwarzen Schwingen ihren Weg durch die Höhle – geradewegs in sein Hirn.

Danach war Baan nicht mehr der Mann, der am Tag zuvor noch an ein unbeschwertes Studentenleben an der Universität in Salvador da Bahía geglaubt hatte. Seine Visionen waren so wahr wie der uralte Jivaro, der in der Höhle aufgrund seiner Bejahrtheit und seines geschwächten Herzens dem Tod entgegensah.

Baan lief hinaus, dem gleißenden Rot des Abendhimmels entgegen, den Farben des Feuers, wie sie nur die Hölle entsenden konnte. Er versank im wirbelnden Strom der vergangenen Eindrücke, um an diesem Ort mit wakan, der allumfassenden Seele, zu verschmelzen. In seinem Kopf war ein leises, konstantes Sirren. Ich werde die Menschen finden, die meinen Vater auf dem Gewissen haben. Ich werde sie suchen, sie finden, sie töten …


Kapitel 3

München, Oktober 2016

Es gelang Anna Gavaldo, den Raum des Hotels „Bayrischer Hof“, in dem die Benefizveranstaltung der Organisation Terre de femme für die Opfer von häuslicher Gewalt gegen Frauen soeben ihren Höhepunkt erreichte, ungesehen zu verlassen. Ihre Freundin Mathilda van Cleef setzte zu einer Rede an. Das Reden und Lachen der rund einhundert geladenen Gäste, das den Raum mit einem Dröhnen erfüllte, verstummte. Alle Blicke waren auf Mathilda gerichtet, die in diesem Moment ihren Entschluss nicht bereute, die Laudatio für die Präsidentin der Organisation Terre de femme zu halten und sich bei dem Publikum für die großzügigen Spenden zu bedanken.

Mathilda zog mit ihrem gekonnten Auftritt die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Witz, Charme und ihre rote Lockenmähne taten ein Übriges.

Anna kannte Mathilda seit ihrer Kindheit. Ihre erste Begegnung hatte auf dem Schulhof der Grundschule stattgefunden, wo sie Mathilda schüchtern nach dem Weg zum Klassenraum gefragt hatte. Mathilda hatte – wie sie selbst – einen leicht nordischen Akzent, deshalb war da gleich eine Vertrautheit zwischen ihnen gewesen. Weil Anna als Kind so dünn und blass gewesen war und im Allgemeinen so zerbrechlich gewirkt hatte, hatte sie im Augenblick ihres Aufeinandertreffens Mathildas Schutzinstinkt geweckt, der sich auch nicht legte, als Mathilda später feststellte, dass Anna sehr gut für sich selbst sorgen konnte und einen eisernen Willen besaß.

Anna liebte Mathildas Fantasie und ihre Leichtigkeit, ihre ansteckende fröhliche Art. Ihre Ehemänner waren miteinander befreundet, und Max und sie waren die Paten der van-Cleefs-Zwillinge, Cox und Samu.

Anna seufzte. Jeder im Saal schien den Abend zu genießen – überall schöne Kleider, Schmuck, Parfüm, ausgelassenes Lachen. Und sie inmitten des Geschehens und doch getrennt von allen anderen wie durch eine unsichtbare Wand. Sie lächelte mechanisch, antwortete nur, wenn sie etwas gefragt wurde, nickte oder schüttelte den Kopf und trank von ihrem Champagner.

Sie fühlte sich wie eine Marionette, die an Fäden hing und von irgendjemandem geführt wurde, ohne zu einer einzigen eigenständigen Bewegung fähig zu sein. Seit Tagen ging das so. Es war eine eigentümliche Angst in ihr, seit Anna erfahren hatte, dass sie wieder ein Kind erwartete.

Ich trage die Verantwortung für ein ungeborenes Baby, dachte sie. Ich darf nie wieder nach Jakobs Willen leben. Was sie aber gerade tat, hatte mit Leben und Verantwortung kaum was zu tun: Sie hatte eine Panikattacke.

Der Moment war gar nicht so ungünstig. Es gelang ihr, den Saal ungesehen zu verlassen. Sie hatte sich während der letzten Minuten bereits in die Nähe des Ausgangs vorgearbeitet und so waren es nur noch wenige Schritte, bis sie draußen war.

Anna schloss die schwere Tür hinter sich und lehnte sich für einen Moment tief atmend gegen die Wand. Wie ruhig es hier draußen war, wie kühl! Verdammt, reiß dich zusammen, Anna Gavaldo!

Eine Angestellte des eleganten Hotels kam vorbei und verharrte einen Moment, unschlüssig, ob die an der Wand lehnende Frau vielleicht Hilfe brauchte. Anna vermutete, dass sie ziemlich mitgenommen wirkte, wenn sie ungefähr so aussah wie sie sich fühlte. Sie richtete sich auf und versuchte zu lächeln.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich die Angestellte.

Anna nickte. „Ja. Es ist nur … es ist ziemlich heiß da drinnen!“ Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür. „Mir ist ein wenig übel.“

Die junge Frau sah sie mitleidig an, ging aber dann weiter.

Anna begriff, dass sie unbedingt die Toilette aufsuchen und einen Blick in den Spiegel werfen sollte. So, wie die junge Frau sie gerade angesehen hatte, musste sie ziemlich derangiert aussehen. Kein Wunder, dachte sie, nach dem, was eben geschehen ist. Was zuhause in unserem Haus geschieht …

Zuerst war es nur ein Gefühl gewesen. Doch inzwischen war Anna sich sicher, dass eine Bedrohung sie umkreiste, wie damals, als die Bestie Jakob ihr Leben bestimmt hatte.

Der marmorgeflieste Raum empfing sie mit sanftem Licht und einer leisen, beruhigenden Musik, die aus verborgenen Lautsprechern erklang. In den Toilettenkabinen hielt sich gerade niemand auf. Aber bei weit über hundert Gästen, die sich im Hotel aufhielten, konnte dieser Zustand nicht von langer Dauer sein. Jede Sekunde konnte jemand hereinkommen. Ihr blieb nicht viel Zeit.

Sie stützte sich auf eines der luxuriösen Waschbecken und blickte in den hohen Spiegel darüber, aber erkannte die Frau kaum, die sie da sah. Ihre hellblonden Haare hingen wirr hinunter. Ihr Lippenstift war offenbar am Rand eines Champagnerglases gelandet, jedenfalls war nichts mehr davon auf ihrem Mund zu sehen. Ihre Nase glänzte, und ihr Make-up war verschmiert.

Sie hatte es gespürt. Geahnt, dass ihr Geist sich noch immer nicht von Jakob befreit hatte. In Gedanken umkreiste er sie noch immer, und sie ihn. Für sie beide gab es keinen Frieden. Vorhin hatte sie sein Flüstern vernommen und danach nichts so sehr gebraucht, wie diesen Raum verlassen zu können. Irgendjemand hatte sie im Saal beobachtet, um ihr schließlich im Vorbeigehen die Worte ins Ohr zu flüstern: „Ich werde dich töten.“

Sie musste sich jetzt schnell frisch machen und danach versuchen, irgendwie diesen Abend zu überstehen. Er konnte nicht ewig dauern. Die Veranstaltung war praktisch vorüber, die Spenden eingesammelt. Als Nächstes würde das Buffet eröffnet werden und dann konnte sie sicher rasch und diskret verschwinden.

Sie stellte ihre Handtasche auf die Marmorplatte.

Was für ein entsetzlicher Abend!

Plötzlich kullerten die Tränen aus ihren Augen, einfach so und sie konnte nichts dagegen machen. Entsetzt hob sie den Kopf, sah ihr fremdes Gesicht an. Und die Panik der Vergangenheit darin.

Kopflos riss sie ein ganzes Bündel seidenweicher Kosmetiktücher aus dem Behälter an der Wand und versuchte, die Tränenflut zu stoppen.

Ich muss nach Hause. Sofort!

Da! Hinter ihr war ein Geräusch. Die Tür, die zum Gang führte, wurde geöffnet. Spitze Absätze klapperten auf dem Marmor. Schemenhaft, verschwommen durch den Tränenschleier, nahm Anna eine Gestalt im Spiegel hinter sich wahr, eine Frau, die den Raum in Richtung der Toiletten durchquerte.

Anna presste die Kosmetiktücher gegen ihr Gesicht und tat so als putzte sie sich die Nase.

Beeil dich, ermahnte ihre innere Stimme sie, verschwinde!

Die Schritte hielten inne. Einen kurzen Augenblick lang herrschte völlige Stille. Dann drehte die Fremde sich um und kam auf Anna zu. Legte ihre Hand auf ihre leise bebende Schulter.

Anna hob den Blick und sah die andere hinter sich im Spiegel. Ein besorgtes Gesicht. Fragende Augen. Anna kannte sie nicht, aber nach ihrer Garderobe zu schließen gehörte sie ebenfalls zu den Gästen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Frau. „Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber …“

Die Freundlichkeit, die Sorge, die aus der ruhigen Stimme sprach, waren mehr, als Anna ertragen konnte. Sie ließ die Tücher sinken und versuchte nicht mehr, den Strom ihrer Tränen aufzuhalten.

„Da drinnen … da ist jemand …“, schluchzte Anna. „Er hat gesagt, dass er mich töten will. Mich und meine Familie.“


Kapitel 4

Starnberg – In derselben Nacht

Max Gavaldo schenkte sich ein Glas Wein ein und beobachtete das Feuer im Kamin. Mit seinen Gedanken in der Nacht zu sitzen, erschien ihm irgendwie erträglicher als ruhig im Bett neben Anna liegen zu müssen, die sich mittlerweile wieder beruhigt hatte.

Völlig aufgelöst war sie von der Benefizveranstaltung nach Hause gekommen und hatte ihm unter Tränen berichtet, dass irgendjemand sie mal wieder bedroht hatte.

Verdammt, dachte er. Ging das schon wieder los? Wer oder was hatte den Schalter umgedreht, um dem Irrsinn mal wieder einen Blick durch die Tür zu gewähren? Vielleicht Annas Schwangerschaft?

Max liebte seine Frau, sie war für ihn von unwiderstehlichem Zauber. Er kannte nur zwei Empfindungen: innige Liebe und unbändigen Ehrgeiz. Er war ein brillanter Manager mit einem todsicheren Gespür für Neuerungen, steckte voller Ehrgeiz und wollte noch immer die Welt erobern. Aber nur mit Anna und seiner Tochter an seiner Seite.

Er gestattete sich zum ersten Mal, seine Gedanken der Angelegenheit zuzuwenden, die er die vergangenen Jahre aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte. Er hatte an alles denken wollen, nur an eines nicht – an den Mann, der für Annas desolaten Zustand verantwortlich war und der seine Frau fast zerstört hatte: Jakob.

Der Wohnraum lag im Halbdunkel, die Dämmerung sickerte schwach durch die zugezogenen Baumwollvorhänge. Aus den Boxen, die sich im Regal zwischen seinen Büchern versteckten, klang leise Jazzmusik. Kenny G improvisierte mit seinem Tenorsaxofon im rauchigen Timbre das Thema von Hearts of Soul. Die CD-Hülle lag geöffnet neben einer zusammengeknüllten Wolldecke auf dem Sofa. Vor der Couch, auf einem teuren Perserteppich, stand ein niedriger Sofatisch aus dunklem Wurzelholz. Er fügte sich gut ein in das avantgardistische Ambiente des Zimmers. Auch der Duft nach Annas Parfüm, den sie im Zimmer verströmt hatte, passte gut.

Anna lag seit Stunden im Schlafzimmer und schlief tief und fest. Auf dem Tisch lag ihr in Leder gebundenes Tagebuch, das er vor Jahren zufällig im Keller hinter dem Weinregal gefunden hatte. Es war mit grauenvollen Zeichnungen und handschriftlichen Eintragungen vollgekritzelt. Er hatte bis heute keine Zeile darin gelesen, sondern es seit Jahren in seinem Safe unter Verschluss gehalten. Doch nach dem heutigen Vorfall hatte er beschlossen, dass er sich das Tagebuch doch ansehen musste. Vielleicht fand er darin einen Lösungsansatz für Annas Konflikte, etwas anderes fiel ihm nicht ein. Er musste sie schützen, denn schließlich erwartete sie ein Kind. Endlich, dachte er. Sein Kind!

Er nahm das Tagebuch in die Hand. Blätterte vor und zurück und landete schließlich bei Annas letzten Eintragungen.

Dezember 1999 

Bin ich in einem Keller?

Eine Dunkelheit wie diese habe ich in meinem Leben noch nicht erlebt. Ich glaube gefesselt auf einem Stuhl über einem lichtlosen Abgrund zu schweben. Nur allmählich kehrt das Gefühl wieder in Arme und Beine zurück. Ich bewege meine Hand vor den Augen. Obwohl ich spüre, dass die Handfläche leicht meine Nase berührt, sehe ich sie nicht. Ich umklammere die Stuhllehne. Irgendwo klappert Besteck. Mein Herz rast.

Jakob wird mich töten. So wie er meine Schwester Katharina getötet hat.

Gestern hat er mir eine weiße Paste ins Gesicht geschmiert, damit ich für einen Tag und eine Nacht die Blässe einer Toten habe. Nein! Jakob hat es als „fahle Aura“ bezeichnet und die Worte gesprochen: „Quando a vida perde o seu sentido, a morte nao mais assustara.“

Ich kenne ihre Bedeutung nicht.

Plötzlich ist seine Stimme dunkel und tief geworden, seine Augen riesig und hohl. Er sieht dem Mann meiner Albträume so ähnlich.

„Ich werde dich töten“, hat er gesagt.

Dienstagnachmittag?

Als er das erste Mal zu mir kommt, herrscht in dem Raum noch schwache Helligkeit. Es muss Dienstagnachmittag sein. Er bringt Wasser und gibt mir etwas zu trinken. Danach geht er wieder und kommt erst nach Stunden wieder. Im Raum ist es jetzt völlig dunkel, es ist also Nacht. Er berührt mich, streichelt meine Brüste. Ich kann nicht schreien und mich nicht bewegen. Mein Atem stockt unter seiner Berührung.

Mittwoch oder Donnerstag oder Freitag?

Ich versuche vorsichtig, meine Hände und Füße zu bewegen. Das dumpfe Pochen verwandelt sich sofort in einen stechenden Schmerz. Meine Gedanken werden klarer. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Es muss Mittwochmorgen sein. Man wird nach mir suchen. Diese hauchdünne Hoffnung ist das Einzige, was mir bleibt. Ich flüstere Max’ Namen und flehe ihn aus dem Dunkel an, mich zu retten.

Max schluckte heftig und schenkte sich ein zweites Glas an. Verdammt! Verdammt! War es ein Fehler das alles zu lesen? Er spürte einen Kloß in seinem Hals, als er weiterlas.

Jakob betrachtet mich. Ich liege auf dem Tisch im Keller seines alten Hauses. Er hat mir die Hand- und Fußgelenke gefesselt und meinen Mund mit einem Knebel verschlossen. Er muss die Dosis der Drogen erhöhen, denn ich bin aufgewacht.

„Deine Gesichtszüge müssen für mein Vorhaben völlig entspannt sein“, sagt er. „Nur wenn du schläfst, kann ich mich an dir sattsehen und dich streicheln.“

Er legt eine Wolldecke über meinen nackten Körper. Unter der Decke streichelt er mich sanft und zärtlich. Er hat schöne, zarte Hände.

Die Nacht im dunklen Keller, gefesselt an einen Stuhl, hat meinen Widerstand gebrochen. Er sagt, dass er mir einen Vorgeschmack auf den Tod geben will, indem er einen Spiegel mit einer Kerzenflamme anrußt und ihn mir vorhält. Nur so kann ich beim Sterben mein Gesicht sehen. Er ist vollkommen wahnsinnig.

Donnerstag

Ganz allmählich tauche ich aus einem tiefen, traumschweren Schlaf auf. Mein Kopf fühlt sich an wie mit Watte gefüllt. Hinter meinen Lidern wirbeln seltsame Traumbilder. Ich spüre eine Plastikplane unter meinem Körper. Der Raum erscheint mir diesmal nicht so dunkel und kalt. Ein merkwürdig verbrannter Geruch liegt in der Luft.

„Deine Schwester zu töten, war ein besonderes Ereignis. Ich habe es genossen“, zischt er. „Dein Tod wird vollkommener und ohne jegliche Störung sein. Du wirst mich danach ein ganzes Leben begleiten.“

Ich hebe die Lider und sehe in seinen Augen den Wahnsinn aufflackern. Sein Kopf ist gesenkt und die Arme sind hinter dem Rücken verschränkt, als wolle er etwas vor mir verstecken.

„Sieh mal, Anna. Das werde ich in wenigen Stunden mit dir machen“, flüstert er.

Mit der einen Hand hält er mir den Spiegel vors Gesicht, mit der anderen zeigte er mir einen geöffneten, blutverschmierten Schädel, aus dem eine Hirnhälfte herausquillt.

Er stellt den blutigen Schädel so hin, dass ich ihn immer beim Aufwachen unmittelbar vor Augen habe. Ich verliere das Bewusstsein.

Freitag

Er hat es sich anders überlegt, sagt er. Ich habe mich in ein gewaltiges Schweigen zurückgezogen. Das diffuse Licht des Mondes, das durch das kleine Fenster fällt, taucht den Kellerraum in dunkelgraue Schatten. Jakobs schwach beleuchtetes Gesicht ist ein verschwommenes Profil, in dem die Augen spukhaft in den Höhlen liegen.

Ich liege jetzt auf dem Boden und kann nur schemenhaft erkennen, wie er eine Lampe einschaltet. Eine lange Kette baumelt an einem Haken.

Er sagt, dass ich eine weitere Lektion zu erlernen, einen weiteren Schritt auf unserer gemeinsamen Reise zu gehen hätte. Er verstellt die Kette und kürzt sie, dann befestigt er einen Panikverschluss daran und hängt eine Ledervorrichtung an den Haken. Oben befindet sich eine Metallstange, an der zwei breite schwarze Lederstreifen an mehreren Klammern hängen.

Mein von Drogen umnebeltes Gehirn gaukelt mir mittlerweile leuchtende Farben vor: Sonnengelb, Azurblau, Smaragdgrün, doch vor allem Tizianrot.

„Die anderen waren hierfür nicht zu haben“, höre ich ihn sagen, „im Gegensatz zu dir.“

Er wirft mir einen flackernden Blick zu. Im Raum wird es plötzlich still. Jakob knöpft sich langsam das Hemd auf, zieht es aus und wirft es auf den Boden. Seine Härte presst sich gegen den Stoff seiner Jeans. Dann kommt er zu mir.

„Ich kann mit dir machen, was ich will“, haucht er mir ins Ohr. „Ich habe es schon lange gewusst: Im Grunde hast du nur auf mich gewartet.“

Er kniet nieder, schiebt meinen Slip herunter und streift ihn ab. Ich trage jetzt nur noch das Goldkettchen um meinen Knöchel. Ein Geschenk vom Stamm der Jivaros, hat er gesagt.

Er küsst die Innenseite meiner Oberschenkel. Dann spüre ich einen scharfen Schmerz, als er zubeißt. Ich zucke zusammen, doch er hält mich an der Taille fest und beißt noch fester. Es durchschauert mich, vor Erregung und Schmerz. Er erhebt sich, greift in die Jeanstasche, zieht eine Spritze mit einer langen Nadel heraus und injiziert mir eine goldgelbe Flüssigkeit.

„Reiß dich zusammen“, sagt er und schlägt mir ins Gesicht.

Bevor ich das Bewusstsein verliere, schmecke ich Blut.

Max legte das Tagebuch für einen Moment zur Seite. Sein Herz raste. Er dachte an Anna und an all das, was ihn für immer mit ihr verband. Ihre gemeinsam verbrachten Jahre mit den unzähligen Erinnerungen. Das Liebesgeflüster am späten Abend, die kleinen Witze, die nur sie verstanden, ihre Amnesie, ihre schrecklichen Erlebnisse – das alles hatte sich zu einer gemeinsamen Geschichte verwoben.

Schon damals, nach einem Gespräch mit seinem besten Freund Benedikt van Cleef, dem Leiter der Kripo München, war die Ungewissheit von ihm abgefallen. Er hatte sicheren Schrittes die richtige Entscheidung getroffen und Anna geheiratet.

Wenn Benedikt van Cleef nicht gewesen wäre … Er wollte nicht daran denken. Anna hatte ihr Leben nur der Hartnäckigkeit dieses Mannes zu verdanken.

Er las weiter …

Später machte er einen Spaziergang durch die dunkle Nacht. Der Neumond ließ das Wasser des Starnberger Sees verführerisch glitzern. Aber es war kalt und Kälte hatte immer etwas Bedrohliches. Dennoch verweilte er ein wenig am Ufer des Sees.

Ich muss aufhören, Annas Tagebuch zu lesen, dachte er. Jede Zeile war ein Stich mitten in sein Herz. Und dennoch konnte er nicht anders.

Er blickte sich um. Kein Jakob weit und breit. Er war allein. „Er kommt nicht“, würde Anna jetzt sagen. Er dachte schon wie seine Frau. Schluss jetzt!

Der Teppich aus Unkraut und vermoderten Blättern knisterte leise unter den Schuhsohlen, als er zurücklief zur Villa. Plötzlich stockte er. Irgendetwas war anders als sonst. Aber was? Er blieb stehen, starrte in die Dunkelheit. Nichts. Die Straße war menschenleer. Kein kalter und farbloser Schatten wanderte umher. Alles war ruhig, bis auf den Wind, der durch die Bäume rauschte. Warum hatte er dann das Gefühl, beobachtet zu werden? Dieses verdammte Tagebuch!

Er schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Immer weiter weg von der Villa. Jeder Schritt half ihm dabei, seine Gedanken zu ordnen, die Schwere abzuschütteln. Ab und an tauchten Nachtschwärmer aus dem Dunkel der Straße vor ihm auf, taumelten an ihm vorbei, ein paar einsame Wölfe, einige eng umschlungene Pärchen. Eine Kneipe tauchte vor ihm auf, ein Licht in der Dunkelheit. Sie gefiel ihm, weil sie leer war. Er trat ein.

Hinter dem Tresen stand ein kräftiger Mann mit blasser Gesichtshaut und Glatze. Er nickte ihm zu. „Was darf’s sein?“, fragte er.

„Ein Bier.“

Das Bier kam prompt und Max nahm einen Schluck.

„Harte Nacht?“

„Es gab schon schlimmere“, antwortete er. „Aber: ja, harte Nacht.“

„Hat sie dich verlassen, Kumpel?“

Max hob die Schultern, trank. Er hatte keine Lust, sich zu unterhalten, nahm die Flasche und setzte sich damit ans Fenster. Durch die schmutzigen Scheiben eröffnete sich ihm der Blick auf die nächtliche Straße.

Er dachte an Anna und sofort war da dieses Achterbahngefühl in seinem Magen. Seine Augen füllen sich mit Tränen und er dachte: Ja, verdammt. Ich liebe sie. Immer noch und trotz allem.

Er zahlte sein Bier und ging zurück zur Villa. Unterwegs blieb er einen Moment lang stehen, um zu den Sternen hinauf zu starren, an gar nichts zu denken, ein wenig die Augen auszuruhen, hier, auf der Straße, unweit seiner Haustür. Einfach zu warten, im Dunkeln, an der Schwelle zum Morgengrauen. Dann ging er weiter, so langsam, dass der kalte Wind all seine Emotionen davontrug und sein Schmerz schließlich außer Sichtweite war. Jetzt war er nur noch zu müde, zu vernarbt und wieder zu verwundet.

Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Er drehte sich um, hielt den Atem an, lauschte. Weit und breit war niemand zu sehen. Nur die Villa vor ihm. Geh hinein! Worauf wartest du denn noch?

Da! Ganz deutlich war es zu hören. Klack … klack … klack. In der Ferne hallten Schritte wider. Jetzt war er sich sicher, dass er längst nicht mehr allein war und dass jemand ihn tatsächlich im Visier hatte.

Er hatte lange darüber nachgedacht, ob er jemanden ins Vertrauen ziehen sollte. Es wäre das Vernünftigste. Jeder normale Mensch würde einfach die Polizei rufen und von seinem Verdacht berichten. Er könnte Benedikt van Cleef einweihen und um Hilfe bitten. Benedikt würde ihm Glauben schenken, aber Anna? Im besten Fall würde er sie beide zunächst einmal befragen. Vielleicht erfuhr er dann die ganze Wahrheit. Vielleicht erfuhr er dann, was damals geschehen war.

Er musste mit Benedikt sprechen. Für Anna. Für Katharina. Es ging nicht anders. Er musste ihm Fragen stellen und ihm dabei in die Augen sehen. Keine höflichen Fragen, die ein besorgter Ehemann in einem längst kalten Fall einem Polizisten stellte, der über jeden Zweifel erhaben war.

Es mussten die richtigen Fragen sein. Das konnte nur er, da er jetzt Annas Tagebuch kannte. Und er konnte es nur allein. Überhaupt – wenn er jemandem von seinem und Annas Verdacht erzählen würde, dann nur aus Angst vor einer neuen Bedrohung. Anna und er waren auf sich selbst gestellt. Er musste das ändern und Benedikt sein Geheimnis anvertrauen. Das war er Anna schuldig. Und seiner kleinen Familie.

In der Villa kletterte er aus den Trümmern seiner Seele hervor, setzte sich Stück für Stück wieder zusammen.

Und weinte.


Kapitel 5

Salvador da Bahía – Oktober 2016

Seit Baan wieder im brasilianischen Salvador da Bahía war und angefangen hatte, über Anna Gavaldo zu recherchieren, ertappte er sich immer wieder bei dem Wunsch, das ganze Tun dieser Frau aus seinem Gedächtnis zu löschen. So wie man das mit einem Text am Rechner machte, der einem nicht gefiel. Einfach die Delete-Taste drücken.

Leerer Bildschirm.

Angenehm leer.

Überraschend wohltuend leer.

Baan führte seine Fantasien jedoch immer noch weiter fort, wollte Anna und ihre Sippschaft aus seinem Leben löschen. So stellte er sich vor, wie er ihrem Körper einen kleinen Delete-Schubs gab. Und weg war sie.

Weg war Anna Gavaldo.

Auf ewig aus seinem Gedächtnis und seiner Erinnerung verschwunden.

Zur Hölle gefahren, wo sie hingehörte.

Doch wenn er sich diesen Gedanken hingab, fühlte er sich merkwürdig schuldig. Sie schaffte es aus der Ferne, ungesunde Schuldgefühle in ihm aufsteigen zu lassen.

Wie machte sie das bloß?

Er musste etwas dagegen unternehmen. Immerhin konnte er nach den Tumulten der vergangenen Tage heute das Haus verlassen. Die Menschen trauten sich wieder auf die Straßen, denn die Polizisten hatten ihren Streik beendet. Der Alltag war zurück in Salvador da Bahía – das bedeutete nur drei Mordopfer pro Tag statt dreizehn. Nur einige hundert Raubüberfälle, Schießereien, Einbrüche statt der Tausenden der vergangenen Tage. Auch die Busse fuhren wieder. Das Militär kam nur, wenn die Stadt im Ausnahmezustand war. Dennoch waren die 2500 Soldaten und 500 Elitepolizisten erst einmal geblieben und patrouillierten in der Stadt der „ewigen Schönheit“.

Baan schloss gewissenhaft die Eingangs- und die Seitentür ab und steckte den Schlüssel in seine Hosentasche, bevor er den Weg hinunterging. Das Wetter war unbeständig. Kleine Wolken drängten rastlos über den Himmel. Die Sonne blitzte auf und verschwand wieder, immer wieder gab es vereinzelte Regenschauer. Vor der Hafeneinfahrt am Ende der malerischen Bucht ging Baan an einer Reihe von Festungen vorbei, die früher zum Schutz der Stadt gedient hatten.

Er war unterwegs zur Nosso Senhor do Bonfim, einer volkstümlichen Kirche im Süden der Stadt und einer der Wahrzeichen von Salvador da Bahía. Seit Baan in Salvador Medizin studierte, hatte die barocke Kirche von 1746 ihn immer wieder magisch angezogen. Vermutlich weil hier neben dem christlichen Gott auch Oxala, der höchste Candomblé-Gott, verehrt wurde. Viele Nachfahren der schwarzen Sklaven zelebrierten Candomblé, die Religion ihrer afrikanischen Vorväter. Und auch Baan ließ sich oft inspirieren vom afrikanischen Rhythmus in Salvadors bunten Straßen.

An der großen Treppe vor der Kirche boten ihm Salvadors Straßenkinder Fitinhas an. Als er ein Mädchen auf den Stufen erblickte, überraschte es ihn keineswegs, dass er in diesem Augenblick sein Tun und Handeln sofort auf sie ausrichtete. Er hatte sie schon öfter dort gesehen. Baan fand es faszinierend zu beobachten, wie sich die verbitterten Gesichtszüge des kleinen Mädchens schrittweise entspannten, als es auch ihn von weitem erspähte und eine Hand mit bunten Fitinhas ausstreckte.

Dieses Mal war es das kleine Mädchen, das das blaue Fitinhas-Bändchen um sein Handgelenk knotete. Spucke rann ihm dabei als Rinnsal übers Kinn. Wieder fing er den trostlosen Blick des Straßenkindes auf. Alles an ihm wirkte vertrocknet: die verkrusteten, aufgeplatzten Lippen, die braune, schuppige Haut an Gesicht und Armen, die verschmutzte Kleidung, die Storchenbeine unter den Shorts. Der Kampf ums Überleben war dem Mädchen anzusehen: In grimmiger Entschlossenheit, die in seinen braunen Augen loderte. Die Augen einer angehenden Kriminellen, dachte Baan. Dennoch war das Mädchen unter dem Schmutz von Salvadors Favelas wunderschön.

„Für jeden Knoten darfst du dir etwas wünschen, Senhor“, sagte es. „Aber das Band darf nicht mehr entfernt werden. Wenn es von alleine abfällt, sind deine drei Wünsche erfüllt.“

Danach setzte sich das Mädchen wieder auf eine Treppenstufe und schenkte ihm ein kurzes, geheimnisvolles Lächeln. Schnell lief er die verbleibenden Stufen hinauf und betrat einen bizarren Raum, in dem die Zeugnisse der augenscheinlichen Wirkung der Fitinhas zu finden waren: der Sala dos Milagros. Im „Wunderzimmer“ hingen unzählige Votivtafeln, Wunschzettel und kleine Nachbildungen von Körperteilen, um sich für deren Heilung zu bedanken. Dazwischen befanden sich aber auch die „verbotenen Wünsche.“ Dort brachte Baan seine drei Wünsche für den Candomblé-Gott Oxala, an.

Oxala soll dir ins Gesicht spucken.

Oxala soll sich über dir ausleeren.

Ich will, dass du daran erstickst!


Kapitel 6

Starnberg, November 2016

Hey,

irgendetwas geschieht mit mir. Ich genieße es neuerdings, in den Tierpark zu gehen und die Tiere dabei zu beobachten, wie sie das rohe Fleisch von den Knochen reißen, die der Tierpfleger ihnen zum Fraß hinwirft. Mir gefällt die Vorstellung. Das ist cool.

Im Tierpark Hellabrunn, umgeben von einer riesigen, undurchdringlichen, schweigenden Vegetation, kann ich meiner Fantasie freien Lauf lassen. Also finde ich mich dort in Gedanken in einer Welt wieder, die sich vollkommen ihren Gesetzen anpasst, und mich immer tiefer in die Geheimnisse meines eigenen Wesens verstrickt.

Ich finde Geschmack am Tod. Dass ich dabei exotische Tiere vor Augen habe, muss eine besondere Bedeutung haben. Da bin ich mir absolut sicher. Vielleicht liegt es daran, dass ich Dinge voraussehe, denn ich habe das, was die Menschen das zweite Gesicht nennen. In meinen Visionen finde ich mich in tropischen Gebieten wieder und bin von einer einzigartigen Tierwelt umgeben. Papageien und Affen schreien um die Wette, Tukane lassen sich auf den Grüntönen nieder und scharlachrote Ibisse und Löffler starren mich an, als wären sie meine Wächter.

Der Gedanke, irgendwann selbst ein Tier zu töten, hat mich schon seit meiner Kindheit fasziniert. Genaugenommen, seit ich den alten Teddy von Mom zerfetzt habe. Niemand weiß davon, nicht einmal meine Mutter. Es geschah, nachdem Jörg Kreiler, ein Freund meiner Mutter, mir Jasper geschenkt hatte. Aber mit ihm kamen die Dämonen.

Jasper ist ein getupfter Teddybär mit recht seltsamen Angewohnheiten, getupft wie die anderen Biester von Jörg auch, die Mom nach seinem Tod alle weggeworfen hat.

„Getupft müssen die Stofftiere sein, Kleines“, hatte Jörg immer gesagt.

Getupft! Ein seltsames Wort, das eine gewisse Kraft zu haben scheint, sofern das überhaupt möglich ist, und wenn ja, dann steht diese Kraft nicht nur für das Gute. Gefleckt ist gut, gesprenkelt schon ein wenig hässlicher, aber getupft ist irgendwie anders, obwohl ich nicht sagen kann, warum.

„Getupft, getupft“, flüsterte sie, während sie weiterschrieb.

Komisch … auch Jörg wurde getötet, wie die Schwester meiner Mutter, die ebenfalls Katharina hieß. Ein bisschen viel Tod, finde ich.

Ich mochte Jörg. Und er stand auf Mom. Er hat sie förmlich angeschmachtet. Na, wer tut das nicht. Sie sieht ja auch klasse aus mit ihrem langen, blonden Engelshaar und den blauen Augen.

Von Jasper wollte ich mich nie trennen, ebenso wenig wie von meinen Kinderbüchern. Der Teddybär ist mein Freund und hat einen festen Platz in meinem Zimmer. Er lehnt an der Schreibtischlampe, mustert mich mit seinen dunklen Augen. Er lotst mich in der Dunkelheit durch meine Träume.

Nun … ich finde es jedenfalls faszinierend und abscheulich zugleich, einem Tier beim Sterben zuzusehen. Ich weiß, ein Mädchen in meinem Alter – ich bin sechzehn Jahre – sollte an anderen Dingen Gefallen finden. Aber es ist, wie es ist.

Ich stecke voller Marotten, behauptet mein Vater Max und schiebt es auf die Pubertät. Was sind schon Marotten? Zum Beispiel verabscheue ich Schmutz und hasse Unsauberkeit. Mir wird übel beim Anblick von fettigen Fingerabdrücken an Türen, einer Explosion aus silbrigen Staubpartikeln auf dem Fernseher oder Essensresten in einem Kochtopf. Ich hasse den Unrat, den Hausmüll, faulendes Obst oder den Schimmel im Keller. Ich liebe die Farbe Weiß. Mein Zimmer ist in meiner Lieblingsfarbe gestrichen und auf meinem Bett liegt eine faltenfreie, blütenweiße Decke. Weiß ist steril und steht für Sauberkeit. Deshalb ist sie die Farbe des Todes. Und der Tod ist nun mal rein.

Eine Leiche beispielsweise ist immer weiß und nach dem Waschen frei von Schmutz. Ich ekle mich nicht vor Leichen. Ein toter Körper ist nur eine Hülle. Wenn der Geist den Körper verlässt, reduziert sich der Mensch auf diese Hülle. Ein toter Körper ist weniger als nichts. Er hat keinen Wert mehr und gleichzeitig ist für den Körper nichts mehr von Bedeutung. Deshalb mag ich meinen Aushilfsjob im Beerdigungsinstitut von Herrn Käfer.

Lukas Käfer mag ich auch. Er ist mindestens fünfzig Jahre, vielleicht älter und trägt immer einen dunklen Anzug. Die tiefschwarze Krawatte hängt auf eine Weise schief, die vermuten lässt, dass er sich immer in Windeseile umzieht. Seine rosige Haut strahlt vor Gesundheit. Sein volles Haar hat unter der grauen Beleuchtung etwas dämonisch Imposantes. Nach einem Todesfall gibt es für Herrn Käfer immer viel zu tun und deshalb überlässt er mir das Waschen und Aufhübschen der Leichen.

Mein Vater findet meine Arbeit ein wenig makaber, aber Mom sagt, sie sei in Ordnung. Außerdem bin ich gut im Aufhübschen der Toten. Ich arbeite immer sehr sorgfältig, wenn ich eine Leiche wasche und sie anschließend schminke. Ich nehme mir die Zeit. Ich rede, ich schaue zu, ich rieche.

Übrigens … mein Name ist Katharina. Ich bin die Tochter von Anna und Max Gavaldo und irgendetwas geschieht mit mir. Deshalb habe ich mich entschieden, ein Tagebuch zu führen. Das ist mein zweiter Eintrag.

Katharina legte den Stift für einen Moment beiseite. Trotz der kalten Jahreszeit drang Vogelgekreische durch das gekippte Küchenfenster. Vielleicht eine Krähe, die sich verirrt hatte? Ihr Blick glitt nach draußen. Eine blasse, durch die Sonne zum Leben erweckte Winterlandschaft erinnerte sie an eine Geschichte, die ihre Mutter ihr in der Kindheit vorgelesen hatte. Eine Geschichte über einen Kristall, der in Tausende kleine Splitter zersprang, und die Landschaft darunter wie einen Brillanten funkeln ließ, oder wie die zerbrochenen Kristallgläser auf dem Parkettboden im Wohnzimmer. Ihre Mutter hatte sich mittlerweile wieder beruhigt, aber ihr Vater nicht so richtig. Er nannte sie seit dem Vorfall Lilith, und nicht mehr „meine Kate“.

Hm … Lilith gefiel ihr besser. Lilith bedeutete „Zweig des Dämonenbaums, eine Albträume verursachende nachtaktive Dämonin, ein sich herumtreibender Waldgeist“. Ja, das traf es wohl ziemlich genau und reflektierte ihre Veränderung.

Katharina warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war schon drei Uhr nachmittags und ihre Mutter war immer noch nicht zuhause. Sie nahm ihren Stift wieder in die Hand.

Mom … sie ist siebenunddreißig Jahre und eine kluge, intelligente Frau. Das habe ich immer geglaubt. Aber in all den Jahren habe ich noch nie gesehen, dass sie sich so seltsam benommen hat wie heute Morgen. Früher war sie ja oft komisch, aber da hat sie noch ihre rosa Pillen geschluckt und ist ständig zum Psychiater gerannt.

Heute Morgen jedenfalls stand Mom auf der Terrasse unserer Villa und sie stand so komisch da, als hätte sie im Garten ein Gespenst gesehen. Unmittelbar anschließend an unsere Terrasse wachsen Silberbirken wie eine Reihe geisterhaft-weißer Gestalten. Und dahinter stehen endlos dichtstehende Bäume mit dürren Ästen. Da war nichts Besonderes, aber ihr Mund stand offen, ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Augen weit aufgerissen. Auf der anderen Seite des Gartens hatte die Wintersonne die Baumkronen in blassgraues Licht getaucht, als wären sie Teil eines winterlichen Monet-Gemäldes. So eine Kopie hängt im Büro meines Vaters.

Mom rannte in den Garten und steuerte schnurstracks auf die Baumgruppe zu. Doch plötzlich torkelte sie wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt wurden. Schnipp, schnapp. Schnipp, schnapp.

Dann hob sie ihre Hände in die Luft. „Verschwinde! Wie kannst du es wagen?“, hörte ich sie schreien. „Max! Er ist wieder da. Max! Er ist wieder da.“

Ich verstehe nicht, was meine Mutter da gemacht und mit wem sie gesprochen hat. Und Max hätte ihr gar nicht helfen können. Mein Vater hatte das Haus bereits verlassen und war auf dem Weg in die Firma.

Auf unserem Grundstück war niemand zu sehen, aber Mom ist seit Stunden verschwunden. Das geschieht neuerdings oft. Bis heute habe ich mir deswegen keine großen Sorgen gemacht, denn Mom geht oft stundenlang spazieren. Mittlerweile mache ich mir aber Gedanken, denn es häufen sich die merkwürdigen Vorkommnisse.

Es fing damit an, als Mom neulich sagte, dass irgendetwas im Haus sich verändert hätte. Seitdem stellt sie meine Schuhe nicht mehr in den schwarzlackierten Dielenschrank, sondern lässt sie im Flur stehen. Sie will die Schranktür nicht mehr öffnen. Sie glaubt, quietschende Geräusche zu hören, als ob sich im Schrank etwas rege …

Katharina blickte auf und erinnerte sich.

„Mom, was ist los mit dir?“ Katharina stand gegen die Küchenzeile gelehnt.

Ihre Mutter blätterte in einem Kochbuch. „Jemand hat meine Witterung aufgenommen, Katharina“, antwortete sie leise. Sie sah sie dabei mit ihren blauen Augen an, die dunkel schimmerten, fast schwarz. Augen, die Katharina förmlich hypnotisierten. „Vielleicht ist es Jakob, der im Schrank die gelben Zähne zu einem bösen Grinsen fletscht.“

Im ersten Moment wusste Katharina nicht, was sie antworten sollte. „Tiere nehmen eine Witterung auf, Mom. Was ist Jakob? Ein Wolf?“

„Niemand. Entschuldigung, ich rede Blödsinn. Es sind diese Albträume.“

Katharina wurde hellhörig. „Was für Albträume, Mom?“

„Das möchtest du nicht wissen, mein Schatz“, antwortete sie und legte das Kochbuch zur Seite.

Mit überbordender Heftigkeit überflutete Katharina ein einziger Gedanke: Du verheimlichst mir etwas, Mom! „Mom, ich bin sechzehn Jahre! Komm, erzähl mir davon!“

Katharina sah, dass ihre Mutter kurz zögerte und tief durchatmete.

„Ich träume, dass sich in der Nacht alle Türen weit öffnen und jemand kleine getupfte Teddybären nach mir wirft, die mich würgen“, begann ihre Mutter. „Dann höre ich neben dem Quietschen knochige alte Hände, die sich über das Treppengeländer hinauf in mein Schlafzimmer schieben. Es war schon schlimm genug, es zu hören, aber es vor meinem inneren Auge zu sehen …“

Katharina spürte den Hauch einer Lüge. In solchen Momenten hatte ihr Leben mit ihrer Mutter etwas Nervtötendes. Sie hasste Unwahrheiten. Sie waren wie Staub, der in der Nase kitzelte.

Mom berührte ihre Schulter. „Eines Tages werde ich dir meine Geschichte erzählen, Katharina. Nur nicht heute. Es ist nur ein Traum.“

Erstaunt merkte Katharina, dass sie lächelte.

Ich habe nicht weiter nachgehakt, sondern in der Nacht das rote Klatschmohnkleid aus ihrem Schrank genommen, es zerrissen und in die Mülltonne geworfen. Es hat mir einfach Spaß gemacht, etwas zu zerstören, woran ihr Herz hängt. Ich habe geschwiegen und meine Eindrücke nicht erwähnt: das Knarren im ersten Stock, die offengelassene Tür, das fehlende Foto von der Pinnwand, die Griffspuren an der Außenseite der Terrassentür oder die nächtlichen Schritte übers Pflaster.

Neulich habe ich mich nach der Schule in meinem Zimmer ausgeruht. Ich bin von einem Geräusch im Schlafzimmer nebenan aufgewacht. Ein seltsames, undefinierbares Geräusch. Ein … Poltern?

Ich habe mein Ohr fest an die Wand gepresst und gelauscht, ganz intensiv, und geglaubt, ein Kichern zu hören, das so schnell verhallte, wie es erklungen war. Sofort war ich auf den Füßen. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Blieb stehen. Lauschte. Alle meine Sinne waren geschärft.

Ich habe im Gästezimmer nachgesehen. Nichts. Nur mein eigener Atem und die vertrauten Geräusche des Hauses um mich herum. Der Raum hinter der Tür war leer und still. Totenstill. Wieder in meinem Zimmer konnte ich mich nicht mehr auf die Hausaufgaben konzentrieren, beunruhigt und verfolgt von …

Ja, wovon denn? Seltsam.

Katharina legte den Stift beiseite, steckte den Block in ihre Tasche und sagte sich, dass es der Wind gewesen sein musste. Der Wind. Oder die Katze, die etwas umgeworfen hatte. Nichts Schlimmes. In dem Moment blitzte ein Gedanke auf: Du machst dir etwas vor.

Aber es brachte nichts, über eine Sache zu grübeln, die sie sich nicht erklären konnte. Sie war spät dran. Lukas Käfer erwartete sie im Beerdigungsinstitut.


Kapitel 7

Starnberg, November 2016

Die Begräbnisstätte an der Hügelflanke des Nachbarorts lag unmittelbar hinter dem Beerdigungsunternehmen Käfer inmitten eines Kiefernwaldes und wirkte finster und bedrohlich, als kündigte sich nach dem Tod weiteres Unheil an. Vielleicht lag es daran, dass die Urnenanlagen, Grüfte und Mausoleen schlicht waren und die umgebenden Bäume tänzelnde Schatten auf die Gräber warfen. Unter den Tausenden Ruhestätten lag auch das Grab ihrer ermordeten Tante.

Es war kalt. Jeden Tag gab es neue Wettervorhersagen, die eisige Temperaturen ankündigten. Die Waldpfade waren mit einer dünnen Schicht Schnee überzogen, als Katharina ihr Fahrrad an dem Ständer hinter der Friedhofskapelle ankettete.

Unten fuhr ein Auto vorbei. Sie nahm nur die Schatten wahr, welche die Bäume durch das Scheinwerferlicht warfen. An der Hügelflanke spiegelten die polierten Grabsteine das Licht des Nachmittags wider. Die Vorbotin des Jenseits lockte sie mit dem Lichtspiel auf den quecksilbrigen Schattenrissen.

„Herrgott noch mal! Ich habe keine Zeit für die Verlockungen des Totenreichs“, murmelte sie.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, ein Rascheln, und sah sich um. Das Friedhofstor stand offen. Eine Frau lief auf ein einsames, ziemlich verwahrlostes Grab zu. Doch dann ging sie um die Grabstelle herum auf einen hohen Ahornbaum zu und befestigte ein blaues Seidentuch an einem Zweig, sodass der Wind damit spielen konnte.

Völlig abgedreht, dachte Katharina. Die Menschen wurden immer sonderbarer.

Einige Gräber weiter entdeckte sie ihren Boss, den Beerdigungsunternehmer Lukas Käfer. Neben ihm nahm eine ältere Frau Beileidsbezeugungen aufrecht und beinahe trotzig entgegen und zeigte eine Fassade, die Katharina an ihre Großmutter erinnerte. Der Wind spielte mit ihrem Mantel. Darunter war ihr schwarzes Kleid zu sehen: altmodisch, ein Tribut an die 80er Jahre in schwarzer Spitze, vermutlich mit Ärmeln wie eine zweite Haut. Das schwere, graumelierte Haar hatte sie im Nacken zu einem Dutt gebändigt. Die Frau blickte auf ihre gefalteten Hände.

Katharina schloss für einen Moment ihre Augen. Plötzlich glaubte sie Antonín Dvoráks Symphonie aus der Neuen Welt zu hören, die im Hintergrund leise aus einer Anlage ertönte, während ihre ermordete Tante im Grab betrauert wurde. Es war eine Vision aus der Vergangenheit, die sich sekundenschnell vor ihrem inneren Auge abspielte. An dieser Stelle öffnete sie wieder die Augen. Sie konnte die Dinge nicht nur voraussehen, sondern manchmal fand sie sich auch in der Vergangenheit wieder.

Als die Frau mit dem Seidentuch sich umdrehte, erkannte Katharina ihre Mutter und stutzte. Sie trug einen Mantel, den Katharina noch nie an ihr gesehen hatte. Auch ihr Gang hatte etwas Befremdliches, als ihre Mutter wenig später mit versteinerter Miene vor dem verwahrlosten Grab stand.

Was macht sie da? Katharina wurde klar, dass diese Grabstelle etwas mit ihrer Mutter machte, denn sie begann zu weinen, und von Weitem schien es, als würden die Tränen ihre Mutter mit aller Gewalt schütteln und sie könnte einfach nicht mehr damit aufhören.

Katharina versteckte sich hinter dem Stamm einer dicken Eiche, wo ihre Mutter sie nicht sehen konnte, und sah ihr einfach zu. Der Anblick war so banal, so alltäglich, dass Katharina im ersten Moment nicht begriff, was das Ganze bedeutete.

Plötzlich presste ihre Mutter, von Kummer überwältigt, die Hände vors Gesicht. In dem Moment gingen ihr die Worte von Herrn Käfer durch den Kopf: „Wir verzweifeln, obwohl der Tod das Tor zu Freude und Herrlichkeit ist.“

In der Regel verachtete Katharina die Unbeherrschtheit, aber ihre Mutter musste die Person, die in diesem Grab lag, wohl sehr geliebt haben, dass ihre Trauer so groß war.

Dann verstehe ich allerdings nicht, warum sie dieses namenlose Grab verwahrlosen lässt, dachte sie.

Unweit von der Grabstelle befand sich auch das Grab ihrer verstorbenen Tante. Warum hatte sie mit einem Mal das Gefühl, dass zwischen den beiden Toten eine Verbindung bestehen musste? Sie wusste es nicht.

Für einen Moment stand ihre Welt still. Sie blickte zu Boden und dachte, dass sie mehr über die Ermordung ihrer Tante erfahren wollte. In Gedanken sprach sie deren Namen aus: Katharina … Vernichtet, niedergetreten, vergewaltigt, ermordet, genau wie die junge Frau, die jetzt im Kühlraum des Beerdigungsunternehmens auf ihre zarten Hände wartete.

„Die ganze Welt ist kalt, Katharina, eiskalt“, flüsterte eine Stimme ihr ins Ohr. „Mom wird gleich einen kleinen Strauß Schneeglöckchen auf dein Grab werfen. Was ist mit dir geschehen? Muss meine Mutter durch dein Fehlverhalten womöglich die ganze Last tragen und gegen die Bilder kämpfen, die in ihr hochkommen, wenn sie sich daran erinnert, wie du gestorben bist?“

Katharina schüttelte sich. Sie entschied sich ihre Mutter nicht zu stören und blickte ein letztes Mal hinüber zu der Grabstelle. Doch sie war nirgends mehr zu sehen.


Kapitel 8

Starnberg, November 2016

Ihre Welt versank in Dunkelheit, als Katharina die Tür aufschloss und das Beerdigungsinstitut von Lukas Käfer betrat. Sie hörte ihren leisen, kontrollierten Atem, als wollte sie auf diese Weise ihre finsteren Gedanken abschütteln: Meine Mutter hat ein Geheimnis!

Katharina versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Mom hat sich wie eine Verrückte aufgeführt.

Vielleicht gab es da tief unter der Erde etwas, das ihre Mutter in den Wahnsinn trieb? Aber sie selbst machte ja auch irre Dinge und sie war sicher nicht verrückt.

Sie sah sich um. Ein schlichtes Bild mit einem Muschelmotiv hing an der weißen Wand, ein einfacher Schreibtisch aus Nussbaum stand rechts in einer Ecke, ein grauer Teppichboden dämpfte die Schritte der Besucher.

Die Schreibtischlampe unterstrich mit ihrem kalten Licht die neutrale Atmosphäre des elegant eingerichteten Büros. Sie konnte ein Frösteln nicht unterdrücken, als sie einige Urnen auf dem Schreibtisch bemerkte. Sie hasste die Asche der Toten. Eine Leiche in der kalten Erde ihrer Verwesung zu überlassen, fühlte sich für sie richtig an, eine Einäscherung nicht. Nach einer gewissen Zeit blieben nur die von Würmern gereinigten, weißen Skelettknochen übrig. So sollte es sein.

Sie ging durch einen langen, fensterlosen, nur vom trüben Licht einiger Glühbirnen erhellten Gang, der zum Kühlraum führte. Ihre Schritte hallten von den kahlen Wänden wider. Vor einer unscheinbaren, aber massiven Stahltür blieb sie stehen. Ihr Herz pochte vor Aufregung, als sie den Raum der Toten betrat.

Der Kühlraum war gewiss kein Ort für ängstliche Menschen. Für die meisten repräsentierte er das Gruselkabinett schlechthin, doch für Katharina war er nur ihr Arbeitsplatz, an dem sie mittels Thanatopraxie den Körper eines Verstorbenen derart vorbereitete, dass seine Angehörigen unbesorgt von ihm Abschied nehmen konnten.

Im Raum der Toten war sauber hier und es roch immer nach Desinfektionsmitteln. Heute jedoch hing ein Hauch von Formaldehyd in der Luft. Es musste an der soeben eingetroffenen Leiche liegen, die gestern Nachmittag von der Rechtsmedizin zur Beerdigung freigegeben worden war. Lukas Käfer hatte sie bereits aus dem Kühlfach geholt und für sie auf den Stahltisch gelegt. Auf dem Beistelltisch lagen Waschlappen, Plastikschüssel, Theaterschminke und diverse Pinsel bereit. An ihrem Fuß hing ein rosafarbener Zettel: Lea Berger.

Katharina brachte sich vor dem Tisch in Position und zog mit einem Ruck das Laken von Leas Körper. Sie zuckte kurz zusammen beim Anblick des wunderschönen, jungen Mädchens, dessen Oberkörper eine hässliche Obduktionsnaht vom Schlüssel- bis zum Schambein, verunstaltete. Sie zog ihre Nasenflügel hoch, schnupperte. Der Körper verströmte nicht den geringsten Geruch, als wäre ihr junges Fleisch für solche Ausdünstungen noch zu rein. Ihre Haut war so glatt, als wäre sie soeben der Badewanne entstiegen. An ihren Armen, Knien und Fußgelenken jedoch waren tiefe Schrunden zu erkennen, die auf eine Fesselung hinwiesen. Ihr blutleerer Körper war kalt und der Hauch von Formaldehyd, den Katharina gleich wahrgenommen hatte, haftete nur dem Laken an.

Sie muss in meinem Alter sein.

Katharina fiel auf, dass Lea ihr sehr ähnlich sah: das lange, blonde Haar, der zierliche Körperbau, die feinen Gesichtszüge. Sie hob mit ihrem Finger eines der Augenlider. Lea hatte dunkelblaue, fast schwarze Augen – genau wie sie.

Für einen Moment schloss Katharina ihre Augen und holte kaum wahrnehmbar Luft. Dann streckte sie eine Hand nach der Toten aus und wurde eins mit ihr, entrückt in der Oase des Todes. Die Gesetze von Zeit und Raum galten nicht mehr. Alles drehte sich mit ihr. In blitzartigen Sequenzen lief der Akt ihres Todes vor ihrem inneren Auge ab.

Lea liegt auf einer Pritsche in einem Keller. Ihr Mörder hat vorher häufiger vom Angesicht des Todes geträumt. Es ist das schmerzverzerrte Gesicht der jungen Frau, die er demnächst töten wird. Er hört, wie ihr Atem sich verheddert, hört ihre qualvollen Schreie, die sein Herz höherschlagen und ihn in der Nacht aufwachen lassen. Er ist dann verschwitzt, sein Kissen ist nass, die Bettdecke zeigt ihm seine Träume, irgendetwas mit Tod, Nässe.

Jetzt liegt Lea gefesselt, geknebelt und entkleidet da. Auch der Mann ist nackt. Mit seinem Zeigefinger streicht er behutsam über ihre Haut, so zart wie mit einer Feder. Er zittert vor Erregung, spürt, wie die Wellen kommen und ihn wegspülen. Verkrampft hält er die Luft an, bis er glaubt, zu zerplatzen. Er speit den Atem aus; die animalische Intimität seines Röchelns beruhigt ihn.

Lea schließt die Augen. Sie will den Mann nicht ansehen. Ihre Augenlider zucken.

Seine Blicke brennen sich in Leas Fleisch. Er umschließt ihre Taille mit beiden Händen und hält sie fest.

Lea öffnet ihre Augen.

Der Mann beugte sich vor und leckt ihre Brüste. Er beißt zu. Schmerz und blankes Entsetzen sind in Leas aufgerissenen Augen zu sehen. Sein Blick wandert zurück zu den Abdrücken seiner Zähne auf ihrer blassen Haut. Noch ist kein Blut zu sehen, sein Biss war sanft. Erst lecken, dann beißen, jetzt ein wenig fester. Dann kommen die Tränen, nur wenige, ein stiller Protest. Er labt sich an ihrem Salz. Ein Teil von ihm will nicht aufhören, Leas Schönheit zu bewundern, doch ein anderer, entscheidenderer Teil von ihm liebt die Wahrheit. Und die ist hässlich. Eine Begierde, dunkel und mächtig, erfasst ihn wie eine Welle: Töte sie!

Er hört sie stöhnen, lang, nicht enden wollend. Lea harmoniert mit seinem misstönenden Geheul. Es ist dämonisch. Er beugt sich noch einmal hinab und bringt den Mund an ihr Ohr. Er flüstert ihr etwas zu und legt die Macht seines ganzen Ichs in seine Stimme, seinen eigenen Schmerz. Dann wird er zum Engel mit bleiernen Flügeln.

Er zuckt ein wenig, als er das erste Mal mit dem Messer auf Lea einsticht. Ihre Haut platzt auf, ein roter Fleck erblüht auf ihrer Haut, wie eine Rose. Der Fleck ist wunderbar. Ein zweiter, erbarmungsloser Stich in Leas Unterleib, ein dritter in den Bauch. Ihr Blut spritzt aus den Wunden, trifft rot auf sein Gesicht und seine Brust. Die Wärme gleitet an seiner Wange hinab, tropft auf den Boden. Klebt an seinen Fersen.

Er legt das Messer beiseite. Sprüht Leas Scham mit Rasierschaum ein, rasiert sie, schneidet sie, tupft das Blut mit weißem Toilettenpapier ab. Dann dringt er in sie ein, defloriert ihr Hymen. Badet in Rot. Er kann das Blut riechen. Streckt seine Zunge heraus, schmeckt die eisenhaltige Trübe. Alles vor seinen Augen verfärbt sich. Sie beide bluten aus Wunden, die nicht heilen wollen.

Er umarmt sie ein letztes Mal. Machtgier durchströmt ihn warm und schwer wie dunkler Wein. Immer wieder sagt er ihr, dass er der Stärkere von ihnen ist.

Lea ist still. Sie ist keine Heulsuse mehr. Ihre Augen sind geschlossen, kein Zucken hinter den Lidern …

Die Welt schoss wieder auf Katharina zu. Sie kam hart auf, taumelte. Auf der Stelle zog sie ihre Hand zurück. Ihre Streifzüge durch die teuflische Welt von Täter und Opfer bereiteten ihr nicht immer Vergnügen.

Katharina hatte Leas schmerzverzerrtes Gesicht deutlich vor Augen gehabt. Das Gesicht des Täters war jedoch von Nebel umhüllt gewesen. Sie war sich sicher, dass Lea nicht sein einziges Opfer war und dass sie den Täter eines Tages deutlicher vor Augen haben würde. So war es immer.

„Ein junges Leben auszulöschen, das noch nicht begonnen hat, ist eine Todsünde“, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Katharina hatte nach diesen Worten in sich hineingehorcht und festgestellt, dass sie anders darüber dachte. War der Tod nach einem brutalen Akt von Gewalt nicht vielmehr eine Erlösung?, fragte sie sich. Wenn ein Opfer überlebte, trug es sein ganzes Leben lang die Last der Erinnerung an die körperlichen und seelischen Qualen. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen.

Katharina nahm den Waschlappen, befeuchtete ihn und begann mit der Körperreinigung. Lea hatte einst einen schönen und makellosen Körper gehabt, bis auf den winzigen Leberfleck über dem Ellbogen, hinten auf dem linken Arm. Ihre Wunden, die der Täter Lea zugefügt hatte, waren von der Rechtsmedizin bereits sorgfältig gereinigt worden.

Nachdem sie die Leiche gewaschen hatte, blickte sie eine Weile auf Leas zierlichen Körper hinab, ihre kleinen festen Brüste mit den Bissspuren, das lange seidenweiche Haar. Katharina verspürte den Drang, noch einmal ein Messer in die Öffnungen gleiten zu lassen, weil sie wissen wollte, ob nach einer Obduktion noch Blut im Körper vorhanden war.

Ein ruchloser Drang, dachte sie. Eine zwanghafte Lust, der sie nicht entkommen konnte. Ihr wurde bewusst, dass ihre Lust sie früher oder später zu Handlungen zwingen würde, über die sie danach nicht nachdenken wollte. Wozu auch? Aus Angst vor Entdeckung? Sie verspürte weder hier noch woanders Angst.

Katharina zog Lea ein hellblaues Kleid an, das Leas Vater vorbeigebracht hatte, und schminkte sie. Als sie fertig war, sah Lea wunderschön aus. Sie strich ihr ein letztes Mal übers Gesicht, küsste ihre Stirn.

Plötzlich verspürte sie Unbehagen. Irgendetwas stimmte nicht. Aber was? Ihr Herz galoppierte. Sie nahm Leas Hand und schloss noch einmal die Augen. Ihr Körper wurde sehr leicht und sie war gefangen in einem grotesken Albtraum. Aber ihrem Gehirn wollte es einfach nicht gelingen, einen Sinn hinter dem Geschehen zu erkennen.

Sie ließ Leas Hand los und betrat wieder die Realität. Fast hätte sie die Kontrolle verloren. Sie hatte gesehen, wie Ärger Wut wich, und aus Zorn maliziöser Hass wurde. In dieser Deutlichkeit hatte sie das Böse noch nie vor Augen gehabt. Zitternd drehte sie sich um und ließ Lea allein zurück.


Kapitel 9

Starnberg, November 2016

In der Kapelle nahm sie am äußersten Ende einer Reihe von Klappstühlen Platz. Tief in ihrem Inneren spürte Katharina das Zittern, von dem sie gehofft hatte, es würde nachlassen, wenn sie sich einen Moment hinsetzte und sich sammelte.

Lukas Käfer betrat in Begleitung eines Ehepaars die Kapelle. Sie blickte auf, sah ihn an und nickte. So wusste er, dass Lea gewaschen und geschminkt war.

Die Eheleute blieben plötzlich stehen und sahen sich unruhig um. Katharina hörte, wie sie mit Herrn Käfer sprachen. Im bleichen, fluoreszierenden Licht der Kapelle wirkten sie unendlich traurig. Für einen Moment schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf die flüsternden Geräusche. Sie konnte nicht hören, was Leas Eltern sagten, aber sie ahnte, worum es ging. Wenige Minuten später gingen sie schluchzend an ihr vorbei.

Lukas Käfer kam auf sie zu. „Das waren die Eltern des Mordopfers. Sie schaffen es noch nicht, sich ihre Tochter anzusehen.“

„Sie werden wiederkommen, Herr Käfer“, antwortete sie. „Sie sieht so friedlich aus und so wunderschön.“

Lukas Käfer dankte ihr mit einem stillen Blick. Doch dann siegte seine Neugierde. Er hob die Augenbrauen. „Konntest du sehen, was mit ihr geschehen ist, Katharina?“

Sie nickte.

Er sah sie voller Mitgefühl an. „Arme Katharina!“

Wieder nickte sie. Wenn er wüsste …

„Das zweite Gesicht zu haben, ist nicht immer berauschend, Herr Käfer.“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Es war eine finstere Gestalt, aber ich habe sie nur verschwommen gesehen. Und er wird es wieder tun.“

„Er?“

„Ich glaube, es war ein Mann, aber wie gesagt …“

Lukas Käfer nahm seine schwarz geränderte Brille ab und säuberte sie mit einem weißen Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche. „Vielleicht solltest du zur Polizei gehen, Katharina.“

Jetzt musste sie laut lachen. „Die halten mich doch für verrückt, Herr Käfer. Das wissen Sie doch.“

Käfer setzte seine Brille wieder auf, lachte und zeigte dabei seine vom Zigarettenrauch vergilbten Zähne. „Vermutlich. Es sind aber auch selten dämliche Idioten auf dem Revier.“ Er nahm seine Brieftasche aus seiner Jacke und reichte ihr einen Einhunderteuroschein.

Katharina protestierte, doch Käfer winkte ab. „Ich hatte noch nie so eine hervorragende Assistentin.“

„Vielen Dank, Herr Käfer.“ Sie schaffte es nicht, ihre Gedanken zum Stillstand zu bringen. Sie wollte nach Hause und nachsehen, ob alles in Ordnung war. „Ich muss los. Meine Eltern warten mit dem Essen auf mich.“

Käfer nickte. „Bis nächste Woche, mein Kind.“

Draußen erwartete sie der frühe Abend wie eine stille, finstere Bedrohung. Der Regen bedeckte ihr Gesicht mit eisigen Küssen. Windböen erhoben sich.

Ihre Jacke wärmte sie kaum, aber es war ihre innere Unruhe, die Katharina schaudern ließ. Sie spürte, dass etwas Schreckliches geschehen würde, aber sie hatte keine deutliche Vision und konnte es an nichts Konkretem festmachen; an keiner unmittelbaren Bedrohung, nicht einmal an einem bestimmten Verdacht.

Aber seit sie das Mädchen auf dem Stahltisch hatte liegen sehen, war das so. Beim Schminken ihres Gesichts war es gewesen als würde sie ihr undeutliche Worte ins Ohr flüstern: einen Namen, eine Warnung?

Vielleicht war die Ähnlichkeit mit ihr selbst die Ursache für Katharinas beklemmendes Gefühl. Sie erweckte Erinnerungen an Schatten und Gespenster aus ihrer eigenen Vergangenheit, die sie seit Jahren versuchte zu verdrängen. Immer war sie bemüht, innerhalb ihres Alltags ein größtmögliches Maß an Ordnung zu bewahren, seit ihre Mutter angefangen hatte, lange Spaziergänge zu machen und manchmal zu viel trank, und ihre Eltern sich deswegen häufiger stritten.

Katharina nahm ihr Smartphone und wählte die Rufnummer ihres Vaters, doch er hatte das Telefon ausgeschaltet. Das war gut, denn dann war ihr Vater bereits zuhause. Und wenn er zuhause war, herrschte Ordnung.

Als sie auf ihr Fahrrad stieg, wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf einen Mann gelenkt. Er stand bei der Kapelle unter einer Laterne regungslos da und beobachtete sie. Sie war es gewohnt, dass Männer sie anstarrten. Wer wusste schon, wie lange er dort in der Dunkelheit dagestanden hatte. Wie ein Schatten. Aber nichts an seiner Körperhaltung machte Katharina nervös oder beunruhigte sie. Vielleicht lag es daran, dass er so vollkommen entspannt wirkte.

Als sie an ihm vorbeiradelte, lächelte er und sprach leise ihren Namen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739401874
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Dezember)
Schlagworte
Grauen Geheimnis Thriller Betrug Sterben Psychopath Wahn Leselust Eiskalt Psychothriller

Autor

  • Astrid Korten (Autor:in)

Das Spezialgebiet der Autorin sind Thriller, Psychothriller und Romane. Über ihr bevorzugtes Genre, die Spannung, sagt Astrid Korten: „Psychopathen faszinieren mich. Sie leben außerhalb der Norm und meinen, über dem Gesetz zu stehen. Meine Feder kann genauso furchtbar und gnadenlos böse sein.“ Ihre Thriller erreichten alle die Top-Ten Bestsellerlisten vieler Ebook-Plattformen und wurden in USA mehrfach ausgezeichnet.
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Titel: Lilith