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Vampire Squad: File_001: Falscher Heiland

von Patricius de Corax (Autor:in)
310 Seiten
Reihe: Vampire Squad, Band 1

Zusammenfassung

Was wäre, wenn … Was wäre, wenn übernatürliche Wesen mitten unter uns leben und sich nicht länger mit ihrem Schattendasein zufriedengeben wollen? Genau diese Frage stellt sich eines Nachts auch dem Hamburger Hauptkommissar Mario Lorentz, der sich eigentlich nur mit einem Informanten treffen wollte, den sein Bruder ihm vermittelt hatte. Doch anstatt ihn mit brisanten Hinweisen zu versorgen, behauptet seine Kontaktperson mit einem mal nicht nur, selbst Vampir zu sein, sondern, um es auf die Spitze zu treiben, verlangt der Kerl auch noch, dass Mario ihm dabei hilft, die Stadt vor eben jenen gefährlichen Wesen zu schützen, die bisher unerkannt unter uns gelebt haben. Mario glaubt dem merkwürdigen Fremden zunächst kein Wort. Doch als er nach einem Notruf in einen Hinterhalt gerät, und dabei ein weiteres Mal auf den angeblichen Vampir trifft, erfährt er die Antwort auf die Frage „Was wäre, wenn“ am eigenen Leib.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Vampire Squad

File_001: Falscher Heiland
Patricius de Corax

Prolog

Ihr Menschen. Man könnte euch in eurer Naivität fast schon niedlich nennen. Tag für Tag steht ihr auf und geht zur Arbeit. Dann kommt ihr nach Hause, seid auf dem Heimweg vielleicht gerade noch einkaufen, oder mal eben auf ein Feierabendbierchen in der Eckkneipe gewesen und werft euch vor die Glotze, auf dass sie euch sogleich mit allem vermeintlich Wissenswerten berieseln möge.

Handlich zubereitet, leicht verdaulich.
Eben so, wie ihr euer Leben am liebsten habt.

Danach haut ihr euch ins Bett und legt euch schlafen, nur damit das Spielchen am nächsten Tag wieder von vorne beginnt. Die meisten von euch fühlen sich anscheinend sogar noch wohl in diesem Trott, in dem ihr schon lange nicht mehr selbst denken müsst, wenn ihr es nicht wollt. Ihr fühlt ihr euch sicher und geborgen.

Die Kriege, für die eure Art so bekannt ist,
sind stets weit genug weg, und Sorgen bereitet euch eigentlich nur das, was ihr nicht kennt.

Aber das war ja schon immer so.

Die meisten von euch glauben eh nur an das,
was sie auch sehen können, und selbst daran wird noch gezweifelt. Alles andere sind nur Spinnereien und Geschichten. Seemannsgarn, wie man hier bei uns in der Hansestadt sagen würde.
Aber aus diesem Garn ist längst genau der Strick geworden, der sich schon seit Ewigkeiten um euren Hals legt, und der sich nun so langsam zuzieht.

Denn all jene Wesen, an die ihr einst glaubtet,
die ihr dann aber wie eure alten Götter in das Reich der Mythen verbannt habt, wo sie dann in Vergessenheit gerieten, sind nicht nur durchaus real, sondern haben auch nicht vergessen, was eure Art den ihren im Laufe der Geschichte angetan hat.

Sie wollten friedlich unter euch leben, aber weil sie anders waren, habt ihr sie gejagt, gefangen und getötet.
Ihr habt ihnen so zugesetzt, dass sie gar nicht anders konnten, als sich in die Schatten des Untergrundes und der Abgeschiedenheit zu flüchten, wenn sie nicht ausgelöscht werden wollten.

Auch diese Wesen hatten so etwas wie Familien. Andere ihrer Art, die sie liebten. Kinder.

Und eben jene Kinder, und da schließt sich der Kreis auch wieder, haben sich eines geschworen: Rache.

Sie warteten Jahrzehnte, ja gar Jahrhunderte,
nur um auf den richtigen Moment zu warten.

Woher ich das alles weiß?

Nun, ich bin eines dieser Wesen.

Und der Grund, warum ich es euch erzähle,
ist, dass für einige von uns nun die Zeit gekommen ist,
aus den Schatten zu treten, und auf die Jagd zu gehen.

 

Aber auch wenn ihr es eigentlich nicht verdient habt, gibt es da jemanden unter uns, der euch helfen will.

 

Doch dafür braucht er die Hilfe von einem von euch.

Was sein muss

Es war schon später Abend, als eine Gestalt aus der Hausnummer Vier des Reihenhauses im Poelsweg trat. Um diese Zeit war unter der Woche kaum noch jemand unterwegs, sodass auch die kurze Straße menschenleer war. Nur auf der Querstraße rauschte ab und an ein Auto in Richtung der nahegelegenen Autobahn vorbei.

Es regnete in Strömen.

Und auch wenn kein normaler Mensch bei solch einem Wetter freiwillig das Haus verlassen würde,
schlug die Gestalt den Kragen hoch, schaute sich kurz um, und marschierte dann mit Händen in den Taschen los.

»Mireille, wir können uns keine weitere Verzögerung leisten.«

Leon, wie sich die Gestalt nannte, klang gereizt und gelangweilt zugleich. Er wusste nicht, wie oft er diese Diskussion in den letzten Tagen schon geführt hatte.
Dabei meinte sie es nur gut mit ihm. Das tat sie immer.

»Manchmal muss ein Einzelner ein Risiko eingehen, wenn er damit das Leben von vielen ...«

Ein tiefer Seufzer drang durch das Headset in seinen Ohren und unterbrach Leons Belehrung. Er konnte sich bildlich vorstellen, wie sie am anderen Ende der Leitung die Augen verdrehte und dem Rande eines Nervenzusammenbruchs immer näher rutschte.

»Du hättest zumindest mich als Verstärkung mitnehmen können.«

Er fuhr sich durchs regennasse Haar und wischte sich dabei eine Strähne aus dem Gesicht.

»Ich bitte dich, das Thema hatten wir doch schon oft genug«, widersprach er ihr. »Wenn das klappen soll,
dann brauchen wir Leute mit Fähigkeiten, und auf die wir uns verlassen können. Wir brauchen ...«

»Ja ich weiß«, unterbrach sie ihn erneut.
»Wir brauchen ein Team. Es ist nur ... Ich mach mir halt Gedanken. Es hat Jahrhunderte gedauert, die Menschen glauben zu lassen, dass es keine übernatürlichen Wesen gibt, wenn man solche wie uns denn so nennen will.
Das alles nun aufs Spiel zu setzen ist ein großer Schritt. Nicht nur für dich, sondern für uns alle. Und du weißt, dass deine Idee nicht nur für gute Laune sorgt.«

Das wusste Leon selbst. Ja, sein Plan war riskant und unter den nichtmenschlichen Bewohnern Hamburgs alles andere als populär. Aber die Zeichen standen auf Krieg. Und dieser Krieg, sollte er ausbrechen, würde die Welt, wie sie sie kannten, auf ewig verändern.

»Welche Alternative hätten wir denn?
Die Menschen können und werden sich dem nicht alleine stellen können. Sie brauchen unsere Hilfe und wir brauchen ihre.«

»Okay.« Mireille versuchte zwar, beruhigt zu wirken, klang dabei aber mehr wie ein bockiges Kind.
»Aber wenn du dich nicht rechtzeitig meldest oder ich das Gefühl habe, dass irgendwas nicht stimmt ...«

»Ja ich weiß«, lachte er verhalten. »Dann reißt du mir den Arsch auf.«

»Na ja,« widersprach sie ihm, »eigentlich hatte ich was Anderes vor, aber dein Vorschlag ist auch nicht schlecht.«

Beim letzten Satz musste sogar sie schmunzeln,
das konnte Leon deutlich hören. Er war beruhigt,
dass sie sich so langsam aber sicher wieder zu beruhigen schien.

»Also?«, fragte sie ihn, »Haben wir einen Deal?«

»Den haben wir«, antwortete Leon und beschleunigte seinen Schritt, um die grüne Ampel noch zu erwischen.

»Apropos Deal«, fragte er fast schon beiläufig.
»Hat sich von der Blutbank schon jemand gemeldet?
Wir haben nur noch ungefähr zehn Liter.«

»Ich merk schon, du lässt dich nicht von diesem Treffen abbringen, oder?«

Sie war sich sicher die Antwort darauf schon zu kennen, legte aber trotzdem ein wenig Hoffnung in ihre Worte. Leon wusste, dass er sie nun eigentlich positiv bestärken musste, aber das konnte er nicht.

Würde er sie nun anlügen, dann wäre das,
als würde er ihre Sorgen nicht ernst nehmen.
Außerdem würde sie ihn so oder so durchschauen.
Sie war eine Hexe, die ihn seit mehreren Jahrhunderten kannte, selbstverständlich war er für sie wie ein offenes Buch. Zudem wusste er, dass sie dann erst recht sauer auf ihn werden würde, und er wollte es nicht riskieren,
eine Hexe zum Feind zu haben.

Vor allem nicht diese.

Also entschied Leon sich dazu, doch lieber bei der Wahrheit zu bleiben.

»Nein, aber das weißt du auch schon, sonst hättest du nicht gefragt.«

Leon überlegte kurz, ob er mit seiner Tonlage vielleicht nicht doch zu schroff gewesen war.
Aber dann schüttelte er innerlich den Kopf.
Nein, das konnte sie ab. Sie war auch kein Kind mehr.

»Hast ja recht«, gab sie kleinlaut zu.
»Also gut. Ich werd mich um den Nachschub kümmern. Ich will ja nicht, dass du verhungerst.«

Leon wollte erst etwas sagen, entschied sich dann aber doch dagegen und ließ Mireille weitersprechen.

»Für das Blut hab ich auch schon eine Idee.

Ein Spaziergang im Park

Der Park war voller, als Leon es erwartet hatte.
Immer wieder kamen ihm Menschen entgegen, von denen die meisten entweder von der Arbeit kamen oder sich gerade auf dem Weg dorthin befanden.
Zumindest vermutete er das.
Eine vernünftigere Erklärung, warum man sich gerade um diese Uhrzeit und vor allem bei diesem Wetter durch einen vollkommen dunklen Park lief, kam ihm einfach nicht in den Sinn.

Knirschende Schritte näherten sich ihm.
Aber anstatt wie die anderen zuvor an ihm vorbeizulaufen, blieben sie auf seiner Höhe stehen.

»Haben Sie zufällig Feuer für mich?
Meine Streichhölzer haben den Geist aufgegeben.«

Leon tat, als würde er seine Taschen abtasten.

»Ach verdammt. Ganz vergessen, ich hab vor einiger Zeit mit dem Rauchen aufgehört. Die Dinger hätten mich sonst noch umgebracht. Tut mir leid.«

Sein ebenfalls völlig durchnässtes Gegenüber versuchte, die Zigarette wieder in das zerknitterte Softpack zurückzuschieben.

Aber auch ihr hatten die schweren Regentropfen bereits stark zugesetzt.

Direkt am Filter brach die Zigarette in zwei Teile, wovon der größere Teil in die Pfütze vor den Füßen des schlanken, aber dennoch sportlich wirkenden Mannes,
den Leon auf maximal in der Mitte der Dreißiger befindlich schätzte, fiel.

»Vielleicht sollte ich das als Zeichen sehen und es mal mit dem Aufhören versuchen. Mal wieder.
Wäre dann Versuch Nummer Fünf oder Sechs«,
erklärte der Mann ihm.
»Ach verzeihen Sie, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Hauptkommissar Mario Lorentz, LKA.
Sie müssen Maximilian Leonhard ...«

»Nennen Sie mich doch einfach Leon«,
unterbrach Leon den Polizisten. »Ist kürzer.«

»Nun gut. Leon. Mein Bruder meinte, Sie wollen etwas mit mir besprechen?«

Der Hauptkommissar musste Leons verwirrten Blick mitbekommen haben, denn er sprach ihn unverhohlen darauf an.

»Ja, so reagieren viele, die uns beide kennen.
Ein Pfaffe und ein Bulle, das gibt es nicht allzu häufig in einer Familie.«

Auch wenn er recht hatte, sie hatten sich aus einem anderen Grunde getroffen.

»Sagen Sie, Herr Lorentz, oder soll ich lieber
Herr Hauptkommissar sagen?«

Der Angesprochene war gerade dabei,
die zerknüllte Zigarettenschachtel in den Mülleimer neben der Bank zu werfen. Anscheinend wollte er es wirklich ebenfalls versuchen.

»Ein Mann der Tat«, deutete Leon auf den Behälter, »gefällt mir«.

»Ich glaube, Sie hatten recht. Gesünder ist es und billiger ist es auch noch. Ach und bezüglich Ihrer Frage ...« Der frischgebackene Nichtraucher machte eine Pause, bevor er grinsend fortfuhr. »Nennen Sie mich doch einfach Mario. Ist kürzer.«

Der Regen wurde wieder stärker.

»Kommen Sie Mario, wir sollten unsere Unterredung andernorts weiterführen. Im Gegensatz zu mir können Sie sich bei diesem Wetter noch den Tod holen.«

Der Polizist war einverstanden, auch wenn er nicht so ganz verstand, was sein nächtlicher Gesprächspartner damit gemeint haben konnte.

»Ich habe auch schon eine Idee.
Wenn nichts dagegenspricht, eine gute Freundin hat hier in der Nähe ein kleines Geschäft. Bis auf den Zutritt zum Gebäude kann uns da niemand beobachten.«

Leon nickte.

»Okay Mario, dann gehen Sie mal vor. Haben Sie hier irgendwo geparkt oder sind Sie zu Fuß hier?«

Wenig später befanden sich beide auch schon in dem Hinterzimmer des besagten Geschäfts.

Der Laden befand sich fast direkt gegenüber der Straße, in der Leon wohnte und die in Mario immer wieder schemenhafte Erinnerungen hervorrief, auch wenn er diese nicht zuordnen konnte.

»Hätte ich das gewusst, dann hätten wir uns gleich hier getroffen.«

»Wie meinen Sie das?«

Mario legte das Handtuch, mit dem er sich gerade noch abgetrocknet hatte, auf die nur langsam warm werdende Heizung und versuchte, ein wenig Ordnung in seine strohblonden Haare zu bringen, die gerade in alle Richtungen abstanden.

»Ich wohne keine fünf Minuten von hier«,
erklärte Leon dem Polizisten, der mittlerweile in einer Jogginghose vor ihm stand. »Wir hätten uns also einiges erspart, wenn wir uns gleich hier verabredet hätten.
Ich will ja nicht, dass das unser letztes Treffen bleibt, nur, weil Sie eine Lungenentzündung dahinrafft.«

Leon nutzte die Gelegenheit, um den Beamten zu mustern. Für das, was er vorhatte, konnte er keine Schwächlinge gebrauchen, so leid es ihm auch tat.
Aber er war zufrieden.

Beim Landeskriminalamt schien man sich extrem fit zu halten, überlegte Leon anerkennend.

»Zweimal die Woche außerdienstlich Krav Maga«, entgegnete Mario, dem der prüfende Blick nicht entgangen war.

»Interessant«, antwortete Leon kühl. »Ich bin zwar nicht unsportlich, aber zu Lebzeiten hätte ich definitiv meine Probleme mit Ihnen gehabt.«

Marios Blick wurde ernst. Hatte man seinen Bruder genutzt, um ihn in eine Falle zu locken?

»Ich habe nicht vor, Sie anzugreifen«,
beschwichtigte Leon Mario, woraufhin sich dieser beruhigte und auch sichtlich an Körperspannung verlor.

»Verzeihung, ich hab nur gedacht ...
Na ja, bei dem Spruch ...«

»Ihre Reaktion ist nur menschlich.«

Mario, der sich gerade ein trockenes Shirt überstreifte, atmete auf.

»Sie ist nur nicht logisch begründet. Aber keine Angst, ich nehme es Ihnen nicht übel. Also bitte ...
Atmen Sie durch und machen Sie sich einen Kaffee,
wir haben noch einiges zu besprechen.«

»Wie jetzt, es war nicht logisch? Nach dem Spruch gerade eben?«

Leon versuchte, freundlich zu wirken, während er es dem noch immer misstrauischen Polizisten erklärte.

»Nun, ich hätte Sie zum Beispiel schon im Park angreifen können, wenn ich es gewollt hätte.
An einem Ort, der mir mehr Fluchtmöglichkeiten und Schutz vor Entdeckung bietet. Aber stattdessen sind wir nun hier, auf für mich unbekanntem Terrain.
Und war dieser Ort nicht auch Ihre Idee?«

»Schon gut, schon gut, ich gebe mich geschlagen.« Mario griff nach einem Becher und goss sich nun doch einen Kaffee ein, ließ Leon dabei aber nicht aus den Augen. »Wollen Sie sich nicht zumindest abtrocknen?
Ich kann mal schauen. Mit etwas Glück könnte Ihnen auch was von meinen Klamotten passen. Wenngleich sie vielleicht auch etwas lockerer sitzen und nicht so schick aussehen, wie Ihr Anzug und der Mantel es tun.«

Wieder schüttelte sich Leons Körper leicht,
und ein leicht brummendes Kichern entfuhr ihm.

»Was ist denn daran bitteschön so lustig?«,
fragte Mario entnervt.

Leon verstummte. Mit leicht geneigtem Kopf, hochgezogener rechter Augenbraue und aufeinandergepressten Lippen, deren Blässe Mario auch vorher schon auf die wetterlichen Umstände geschoben hatte, blickte er an dem Menschen vor sich hoch.

Die Augen, die auf dem sonst absolut selbstsicheren Freund und Helfer lagen, waren kalt und auf eine bizarre Art leer, und der starre Blick, der von ihnen ausging, schien Mario im wahrsten Sinne des Wortes zu durchlöchern. Ein kurzer aber umso stärkerer kalter Schauer jagte ihm über den Rücken und für einen kurzen Moment fragte er sich das zweite Mal, ob das Treffen nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen war.

Ein leises Lachen riss ihn aus seinen Gedanken.

Verdammt, dachte er still in sich rein, kann der nicht einmal lachen wie jeder andere Mensch auch?

»Wissen Sie Mario, so falsch haben Sie eben gar nicht gelegen. Ganz im Gegenteil. Wir waren wirklich schon nah am eigentlichen Thema dran.«

Fragend schaute der Hauptkommissar ihn an.

»Sie wollten doch wissen, warum ich mir noch immer keine trockene Kleidung angezogen habe, oder nicht?«

»Ich will halt nicht, dass Sie sich den Tod holen«, verteidigte sich Mario.

»Sehen Sie, genau das ist der Fehler Ihrer Gleichung.«

»Öhm wie jetzt?«

Leons Miene erstarrte wieder zu einem angedeuteten, aber dennoch eiskalten Lächeln.

»Wie soll jemand sterben, der schon längst tot ist?«

Das ist hier die Frage

»Gott wird uns alle mit offenen Armen empfangen. Auch die Sünder unter uns, da wir alle nicht frei von Sünde sind. Seinen einzigen Sohn opferte er, um uns den Weg zum Paradies zu bereiten, und so wollen auch wir Opfer bringen, Jesus für das seine zu danken.
Danken wir Gott, dem Allmächtigen dafür, dass er uns seinen Sohn sandte. Dafür wollen wir danken.
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen!«

Die Gemeinde erwiderte das Amen und nach einer kurzen Verabschiedung, inklusive der obligatorischen Bitte zur Füllung der Kollekte, leerte sich das beeindruckende Kirchenschiff.

Pater Lorentz, seit einigen Jahren Pastor der St. Petrikirche in der Nähe des Hamburger Rathauses,
ging in sein Büro und hängte seinen Talar an den Haken.

»Sag mal, du glaubst die ganzen Geschichten,
die du da erzählst nicht wirklich, oder?«

Pater Lorentz, der bürgerlich Christoph Lorentz hieß, konnte zwar nicht sehen, wer da in seinem Bürostuhl saß, aber das musste er auch nicht. Ihm fiel nur eine Person ein, die dreist genug war, um einfach so in das Büro des Pastors einzudringen. Außerdem hatte er die Stimme längst erkannt.

»Mario. Was führt dich zu mir? Und doch,
ich glaube an das, was ich predige. Was für ein schlechter Hirte wäre ich, glaubte ich nicht die Worte, die ich an meine Schäfchen richte.«

Er hielt kurz inne.

»Aber ich glaube nicht daran, dass du deswegen gekommen bist. Also, weswegen bist du hier?«

Der Stuhl drehte sich und tatsächlich saß darauf Mario. Aber gute Laune sah irgendwie anders aus.

»Lassen wir die gespielten Höflichkeiten doch mal beiseite, Chris.«

Der Ton in seiner Stimme bestätigte den Eindruck.

Er war wirklich nicht in der Stimmung für Smalltalk.

Einen Seitenhieb konnte der Polizist sich trotzdem nicht nehmen lassen.

»Verschlossene Räume in einem Hause Gottes,
in dem einen zu jeder Zeit alle Türen offenstehen?
Den Trick musst du mir erst einmal erklären.«

Mario hielt kurz inne, um tief Luft zu holen.

»Aber du hast recht. Ich bin nicht gekommen,
um zu streiten oder um Glaubensfragen zu diskutieren. Aber das wusstest du sicherlich auch so schon.«

Er stand auf und ging zu seinem Bruder,
der inzwischen nur noch eine schwarze Hose und ein schlichtes, ebenfalls schwarzes Hemd trug.

»Das gestern, was zum Teufel sollte das?«

Noch bevor Christoph reagieren konnte, fuhr er fort.

»Ja ich weiß, dass Fluchen bei euch nicht gern gehört wird. Aber das gestern. Erst muss ich bei bestem Hamburger Monsunregen in einem dunklen Park umherlatschen und dann erzählt mir der Kerl auch noch was von Hexen und Vampiren und was weiß ich nicht was?«

»Nun«, versuchte Christoph, ihn zu unterbrechen.

»Nein«, redete Mario einfach weiter, »Ich bin noch nicht fertig. Weißt du, was der Kerl noch gesagt hat?
Der hat doch glatt behauptet ...«

»Dass er selbst ein Vampir ist? Nun, mein lieber Bruder, was ich nun sage, meine ich durchaus ernst.
Das war keine Behauptung, das ist eine Tatsache.
Der arme Kerl ist wahrhaftig zu ewigem Leben verdammt.
Eigentlich eine Ausgeburt des Bösen und doch handelt er gütiger als manch einer, der sich Christ nennt.
Wobei mir einfällt ...«

Eindringlich blickte der Pastor seinem Bruder in die Augen, bevor er zu einer kurzen Moralpredigt ansetzte.

»Dich habe ich übrigens auch schon lange nicht mehr in unseren Reihen gesehen.«

Mario blickte zu Boden und suchte nach passenden Worten. Er wollte sich nicht mit seinem Bruder streiten, schließlich hatten sie nur noch einander. Ihre Eltern waren bei einem Unfall gestorben, als er noch keine drei Jahre alt war. Recht schnell waren sie in eine Bereitschaftspflegefamilie gekommen, die sie am liebsten auch adoptiert hätte. Aber um ihnen nicht auch noch die letzte Verbindung zu ihren Eltern zu nehmen, hatte man es damals bei einer dauerhaften Vormundschaft belassen.

Das weitere Leben der beiden Brüder hätte unterschiedlicher nicht sein können.
Während Christoph die Antworten auf seine Fragen im Glauben zu finden versuchte, hatte Mario sich der Suche nach Fakten verschrieben, was ihn letzten Endes in eine hohe Position beim Landeskriminalamt gebracht hatte.

In der Regel kamen sie beide auch, trotz ihrer unterschiedlichen Wege, sehr gut miteinander aus.

An manchen Tagen sagten sie sogar, dass ihre Berufe gar nicht so verschieden waren. Dass sie, wie Mario es Leon auch schon erklärt hatte, beide versuchten, verirrte Schafe wieder auf den rechten Weg zu bringen und der Unterschied nur in der Wahl ihrer Werkzeuge lag.

»Willst du mir damit sagen, dass der Kerl, den du mir als vertrauenswürdigen und brandheißen Informanten verkauft hast, tot ist und irgendwie doch noch lebt?«

Stumm und mit sichtlichem Unwohlsein nickte Christoph seinem erregten Bruder zu.

»Und ich Idiot dachte immer, Jesus wäre der Einzige, der diesen Trick draufhatte«, fuhr Mario fort. »Wobei ich ja immer noch der Meinung bin, dass seine Auferstehung eine Art Metapher darstellt. Aber was Anderes.
Hat nicht die Kirche damals festgelegt, dass sowas wie Vampire und Hexen reiner Aberglaube sind? War es nicht sogar der damalige Papst, der die Einstellung der Verfolgungen verfügt hatte?«

Sein Bruder lächelte zum ersten Mal, seitdem sie sich getroffen hatten.

»Weißt du, Mario, die Wege des Herrn sind mindestens ebenso unergründlich, wie er auch unfehlbar ist. Wir, die wir sein Wort leben und in die Welt tragen,
wir sind Menschen und nicht annähernd ohne Makel.
Aber ja, du hast recht. Die Kirche hat die Vampire in das Reich der Mythen verbannt. Wobei Verbannung da nicht so ganz das richtige Wort ist. Gezielte Desinformation trifft es da schon eher. Nanu? Überrascht?«

Christoph war der fragende Blick seines Bruders nicht entgangen. Aber er konnte sich eine weitere Spitze nicht nehmen lassen, dafür waren sich die beiden Brüder einfach zu ähnlich.

»Du dachtest doch nicht etwa, dass ihr von der Polizei da das Patent darauf habt? Die Jungs von der katholischen und wir Evangelen, wir haben da dann doch ein paar Jahre mehr Übung drin. Auch wenn das nicht unbedingt etwas ist, was einen mit Stolz erfüllen sollte.«

Mario fuhr sich durch die Haare und grübelte.
Das alles klang viel zu konstruiert, um wahr sein zu können.


Zugleich war es aber paradoxerweise zu logisch,
um nicht stimmen zu können.

»Das alles ist doch verrückt«, regte der Polizist sich auf. »Total bekloppt. Wir sind hier doch nicht bei Blade. Ich meine, wir reden hier von Vampiren.
Von verdammten untoten und unsterblichen Wesen,
die einem zum Frühstück das Blut aus den Adern saugen. Kreaturen, die Menschen ihrem Willen unterwerfen und für ihre Zwecke missbrauchen. Lieg ich da so ungefähr richtig mit, dass es das ist, was du mit Vampire meinst?«

Das Zischen einer Coladose riss Mario aus seinem Monolog. Während Mario dabei war, sich halb in Rage zu reden, hatte Christoph die Zeit genutzt, um sich aus dem Aktenschrank etwas zu trinken zu holen.

»Bitte?«, fragte er leicht überrascht, als wäre er nicht davon ausgegangen, so früh wieder zu Wort zu kommen.

Mit weit geöffneten Augen und einem riesigen Fragezeichen im Gesicht schaute Mario seinen Bruder an. Anscheinend hatte er nicht mit dieser Reaktion gerechnet.

»Na vielen Dank für deine Aufmerksamkeit.«

Doch Christoph, ganz der Bruder,
überging Marios Entrüstung gekonnt.

»Wolltest du etwa auch was? Ich bin davon ausgegangen, dass du dich schon selbst bedient hast,
wie sonst auch.«

Um den Bogen aber nicht zu überspannen,
lenkte er dann doch ein, und kehrte wieder zum eigentlichen Thema zurück.

»Ja so ungefähr liegst du da richtig. Wobei das mit der Beeinflussung des Geistes allerdings mehr von mental begabten Wesen, also von Hexen und dergleichen ausgeht.«

Aus Gewohnheit griff sich Mario an die Brusttasche seines Hemdes. Er brauchte jetzt dringend eine Zigarette. Aber seine Finger griffen ins Leere.

»Verdammt, die habe ich gestern im Park ja in die Tonne gedrückt.«

»Du weißt doch, dass Rauchen in Kirchengebäuden nicht gestattet ist«, belehrte Christoph den Polizisten. »Außerdem bringen die einen eh nur um.«

»Den Spruch hab ich gestern schon gehört.
Habt ihr euch etwa abgesprochen?«

Christoph wusste nicht, was gemeint war und schaute seinen Bruder auch dementsprechend an.

»Wie meinen?«

»Genau das, was ich gesagt habe«,
antwortete Mario, als hätte er es wissen müssen.
»Dein angeblicher Vampir hat mir im Park den gleichen Spruch gedrückt.«

»Na bitte«, grinste der Geistliche frech. »Dann war der Abend schon mal nicht umsonst.«

Doch da war Mario anderer Meinung.

»Schön wär’s. Nachdem wir im Park bis auf die Knochen nass geworden sind, haben wir das Treffen in Sabrinas Laden verlegt. Aber das hätten wir uns auch sparen können. Denn kurz nachdem ich mir trockene Klamotten angezogen und ihm auch welche angeboten hatte, erzählt der mir doch glatt, dass ihm das nichts ausmacht, weil er ja eh schon tot ist.«

»Und lass mich raten«, wurde er von Christoph unterbrochen. »Du hast ihm nicht geglaubt und hast ihn rausgeschmissen.«

»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«

Er verstand noch immer nicht, was daran falsch war.

»Ich meine«, versuchte er weiterhin, sich zu verteidigen, »ich sag ja nichts dagegen, wenn andere daran glauben. Und ich gebe auch gerne zu, dass es Dinge auf dieser Welt gibt, die wir noch eine ganze Weile nicht verstehen werden. Vielleicht gibt es auch sowas wie Vampire, was weiß ich.«

Er holte kurz Luft.

»Aber wenn da jemand vor dir steht und dir erzählt, dass er einer dieser Vampire ist, dann ist das normalerweise etwas, wo man lächelt, nickt und denjenigen dann spätestens eine Minute darauf in die Geschlossene einweisen lässt.«

»Das klingt nach einem großen Aber«,
gab Christoph zu bedenken.

»Ist es auch«, erwiderte Mario fast schon trotzig.

»Und? Was ist der Grund dafür? Warum hast du ihn rausgeworfen, anstatt zu versuchen, ihn in die Geschlossene nach Ochsenzoll zu verfrachten?«

Mario räusperte sich. Es fiel ihm ziemlich schwer,
das was er da gerade sagen wollte, auch selbst zu glauben.

»Nun, so blöd wie es klingt, ich habe es ihm abgekauft. Hast du eine Ahnung, wie bescheuert man sich vorkommt, wenn man das Gefühl hat, an etwas zu glauben,
wovon man im gleichen Moment der Meinung ist,
dass es das eigentlich nicht gibt?«

»Willkommen in meiner Welt«, antworte Christoph mit ausgebreiteten Armen. »Jetzt schau nicht so wie ne Kuh, wenn’s donnert. Als Pastor glaubst du auch nicht alles, darfst du auch nicht. In der Bibel und anderen Schriften steht eindeutig, was sein kann und was nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Aber was ist, wenn jene Menschen, die einst die Schriften geschrieben und übersetzt haben, Fehler gemacht haben?«

»Oder wenn die Richtlinien und Verbote von Anfang an nur dazu gedacht waren, zu verschleiern, meinst du?
So wie das Verbot, Vampire zu verfolgen, weil sie ja gar nicht existieren?«

Christoph grinste, als hätte er gerade etwas gewonnen.

»Siehst du. Ich wusste doch, dass du irgendwann anfangen würdest, die richtigen Fragen zu stellen.«

Erste Erfolge

»Und?«, fragte Mireille, wobei das Grinsen in ihrem Gesicht verriet, dass sie die Antwort auf ihre kommende Frage schon längst wusste. »Wie ist es gelaufen?«

Leon schnaubte verächtlich. Die süffisante Art,
mit der die Hexe ihn gefragt hatte, war von ihm nicht unbemerkt geblieben.

Und so war es für ihn auch ein Leichtes gewesen,
auf den wahren Grund ihrer Frage zu kommen.

Genau dieses Gesicht war es, das er schon am gestrigen Abend vor seinem geistigen Auge gehabt hatte. Nun war es Realität. Und er hasste es, wenn sie ihm auf diese Art zeigte, dass sie recht hatte.

»Du hast doch sicher wieder irgendeinen Spruch gewirkt und weißt schon längst Bescheid.«

»Mein Lieber, wir kennen uns inzwischen lange genug. Um dich zu lesen, brauche ich keine Magie mehr, da reichen zwei halbwegs gesunde Augen.«

Leons Blick weitete sich. »Seine Reaktion, als ich ihm erzählt habe, dass es Vampire und ähnliche Wesen gibt? Verständlich, menschlich, aber dennoch überzogen.«

»Du hast ihm nicht zufällig auch von mir erzählt, oder?«

»Du solltest mich wirklich besser kennen, Mireille.« Man konnte hören, dass Leon seine Empörung ebenso wenig ernst meinte wie Mireille ihre Frage.
Die beiden wussten genau, was sie am jeweils anderen hatten und dass sie sich absolut aufeinander verlassen konnten.

Mireille würde ihr Leben für Leon opfern und er seines für sie. Wobei Letzteres zugegebenermaßen nur noch sprichwörtlich möglich war, schließlich war er schon tot.

»Nein«, sie musste bei dem gespielten Vorwurf fast schon selbst lachen, »ich will mich nicht über dich lustig machen. Wirklich nicht. Großes Hexen-Ehrenwo ...«

Mireille unterbrach den Satz, als würde sie selbst grad merken, wie vertrauenswürdig die Kombination der beiden Worte Hexe und Ehrenwort klang.

Doch ebenso schnell, wie sie sich selbst abgewürgt hatte, fuhr sie mit ihrem Satz auch fort.

»Ach, lassen wir das. Nein, ich will es nicht,
aber du lässt mir ja, wie so oft, keine andere Wahl.«

Mireille hatte es echt drauf, ihn innerhalb weniger Momente verbal zu demontieren, ohne dass er ihr ernsthaft böse sein konnte.

Jeden anderen hätte er allerdings zumindest verbal in seine Schranken verwiesen.

»Und?«, unterbrach sie seine Gedanken.
Noch immer lag dieser Hauch von Hohn,
Spott und Siegesgewissheit in ihrer Stimme. »Hast du?«

»Nein habe ich nicht. Ich wollte ihm ja nur von der Welt neben der seinen und der drohenden Gefahr für die Menschheit erzählen, und ihn nicht zu Tode ängstigen.«

Beleidigt verschränkte Mireille die Arme.

»Der Punkt geht dann wohl an mich«,
murmelte Leon leise. Dass er Mario wirklich eine Heidenangst eingejagt hatte, musste sie ja nicht wissen.

»Nein, mal im Ernst«, hakte Mireille nach.
»Wie ist der Abend gelaufen? War es echt so schlimm?«

»Es geht eigentlich.« Leon antwortete, ohne dabei von den Zeitungen aufzublicken, die er, wie jeden Tag,
nach Meldungen absuchte, die auf ungewöhnliche Aktivitäten hindeuten konnten.

Was zur Hölle

»Na super. Vermutlicher dreifacher Mord auf dem alten Bahngelände in Wilhelmsburg. Mir bleibt diese Woche aber auch nichts erspart.«

Als ihn der Anruf mit dem Einsatzbefehl erreicht hatte, hatte Mario den Beamten am anderen Ende der Leitung noch gefragt, was er damit zu tun hätte, da solche Dinge doch eigentlich von der Vier bearbeitet wurden.

Er bekam eine spontane, wie auch für ihn schlüssige Antwort. Fast schon zu spontan, hatte Mario für einen kurzen Moment gedacht. Eine vernünftige Antwort war man ihm aber schuldig geblieben.

»Anweisung von oben. Ist nun mal so«, hatte man ihm gesagt, und Mario hatte entschieden, das nicht weiter zu hinterfragen.

Als er am vermeintlichen Tatort ankam, war bereits alles abgesperrt.

»Tut mir leid, Sie dürfen hier nicht durch.«

Der noch recht junge Schutzpolizist, der ihn aufhalten wollte, wirkte ein wenig unsicher.

Der ist doch grad erst von der Schule, ging es Mario durch den Kopf.

»Hauptkommissar Lorentz, LKA«,
antwortete er knapp und zeigte seinem überrascht blickenden Kollegen seinen Ausweis.

Nach einer kurzen, aber gründlichen Prüfung ließ er ihn passieren.

Irgendwie tat der Frischling ihm schon leid,
schließlich hatten sie alle mal klein angefangen.
Auch Mario konnte sich noch an seinen ersten großen Einsatz dieser Art erinnern, und wie ihm damals die Düse gegangen war. Auch er hatte seinen Auftrag damals absolut korrekt ausführen wollen und hatte deswegen sogar den Senator nicht durchgelassen, weil er ihn einfach nicht erkannt hatte.

»So viel Zeit muss sein«, murmelte er und ging noch einmal kurz zu dem Kollegen zurück, der sich gerade mit den ersten ankommenden Journalisten herumschlagen musste.

»Meine Herrschaften, dieser Bereich darf derzeit nicht betreten werden. Sie werden über die üblichen Kanäle informiert, sobald erste Erkenntnisse vorliegen.
Hey. Sie dahinten, runter vom Zaun!«

Automatisch ging Marios Blick in die Richtung,
in die sein Kollege die Aufforderung gerufen hatte.
Dort versuchte doch tatsächlich ein übereifriges Exemplar der Gattung Hörnichtgern, sich über den Industriezaun zu quälen.

Was taten diese angeblichen Qualitätsjournalisten nicht alles, um als einer der Ersten berichten zu können.

Am besten noch mit Foto von Tatort und Leiche.

Wut kochte in Mario hoch.
Nicht nur, dass er Katastrophentourismus menschlich zum Kotzen fand, solche Arschlöcher behinderten die Polizei und Rettungskräfte auch noch regelmäßig bei der Arbeit.
Und das gefährdete nicht nur eventuelle Opfer,
sondern auch die Gesundheit dieser Sensationsgeier.

»Sagen Sie, sind Sie taub?«

Fragend wandte er sich an seinen Kollegen,
der noch immer alle Hände mit den Fotographen zu tun hatte.

Warum steht er eigentlich alleine hier?

»Schaffst du das?«

Der Junge nickte, wirkte dabei aber, als wüsste er nicht, wie lange noch.

Dass Mario ihn duzte, lag einfach daran, dass der arme Kerl nun jeden Zuspruch brauchte, den er bekommen konnte.

»Okay. Dann halt du hier die Stellung,
ich kümmer mich um den Kerl. Und Sie halten sich an die Anweisungen des Kollegen, sonst haben wir hier gleich ein Problem. Verstanden?«

Die letzten Worte hatten den Reportern gegolten,
die sich gerade allerdings mit dem Fotografieren über den Streifenwagen hinweg zufriedengaben.

Sauer rannte der Hauptkommissar auf die Stelle im Zaun zu, an welcher der Angerufene auch das zweite Bein über den Zaun zog. Seine Kamera baumelte dabei dermaßen am Hals entlang, dass Mario hoffte, sie würde ihm runterfallen oder zumindest so an den Zaun schlagen, dass ihm das teuer wirkende Objektiv abschlug.

Doch der Zaunkletterer, der sich gerade fallen ließ, gekonnt aufkam und in der Hocke seine Kamera prüfte, war anscheinend nicht bereit, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.

»So ein Mist aber auch«, presste er zwischen den Zähnen hervor, während er die Distanz zwischen ihnen beiden immer weiter verringerte. Wäre doch gelacht,
wenn er den Kerl nicht bekommen würde.

Sekunden später stand er vor dem Fotographen.
Es war ein relativ schmächtiger Kerl, der aber, wenn man das Schuhwerk betrachtete, so eine Aktion nicht das erste Mal durchzog.

Der Kerl musste wirklich taub sein.
Zumindest keimte dieser Gedanke in ihm auf,
als ihm dieser beim Versuch loszulaufen vor die Brust und in die Arme lief.

»Na wo wollen wir denn hin? Haben wir meinen Kollegen eben etwa nicht gehört?«

Eine Antwort bekam er erst einmal nicht. Starr wie ein Reh vor dem Scheinwerfer eines heranrasenden Autos stand der Möchtegern-Reporter vor ihm und starrte an ihm hoch.

»Wir sind also nicht nur taub, sondern auch noch stumm? Gut, meinetwegen«, sprach Mario weiter.
Er hatte für solche Spielchen aber keine Zeit, weswegen er den Mann mit den zerzausten Haaren am Arm griff und zu dem Tor schob, durch das er eben selbst gerade noch auf das Gelände gekommen war.

Doch jetzt, wo es für ihn wieder nach draußen gehen sollte, kam plötzlich doch noch Leben in den Zaunkönig.

»Hey, lassen Sie mich los. Sie dürfen mich nicht einfach hier rauswerfen. Wir leben in einem freien Land. Schon einmal was von Pressefreiheit gehört?«

Aber Mario verstärkte seinen Griff nur noch und schob den Kerl immer weiter in Richtung Ausgang.
So langsam wurde das Ganze nervig.

»Aua, das tut weh. Ich bin von der Presse. Ich darf hier sein. Das Gesetz erlaubt es mir«, zeterte der Kerl und schien das sogar noch zu glauben. Inzwischen zappelte er auch so sehr, dass es dem sonst recht geduldigen Polizisten zu viel wurde.

Ruckartig blieb Mario stehen und riss den Typen so schnell um die eigene Achse, dass er erst einmal der umherschwingenden Kamera ausweichen musste.

»Pass mal auf, Rumpelstilzchen. Und pass gut auf, denn ich werde es nur einmal sagen. Klar?«

Mario wartete aber nicht erst auf eine Antwort, sondern setzte einfach nach.

»Wenn Sie in den letzten Sekunden nicht von Zaunkönig auf Matlock umgeschult haben,
möchte ich Ihnen eine kurze Nachhilfe im Strafrecht erteilen. Das was Sie da gerade anstellen oder besser gesagt angestellt haben, verstößt minimum gegen die Paragraphen 113, sowie 123 Strafgesetzbuch.
Wissen Sie, was Hausfriedensbruch und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte für Sie bedeuten?«

Noch immer keine Reaktion.

»Hab ich mir fast gedacht. Das bedeutet im Ernstfall, dass Sie Ihre Bilder die nächsten Jahre nur noch mit Stift und Papier machen. Wollen Sie das?«

Marios Gegenüber war nun wieder vollkommen still. Statt zu antworten, schüttelte er nur hektisch den Kopf und wirkte dabei wie ein Häufchen Elend.

»Gut. Dann sehen Sie zu, dass Sie hinter der Absperrung bleiben. Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, fahren Sie ein. Verstanden?«

Mit diesen Worten stieß er den Fotographen am Streifenwagen vorbei direkt in die Arme eines anderen Fotographen, der die Szene anscheinend gerade aufzeichnete.

Sein eben noch unsicher wirkender Kollege stand dort inzwischen mit Händen in den Hüften und beobachtete die immer weiterwachsende Menge an Menschen.
So langsam schien er sich wirklich in seine Rolle eingefunden zu haben, zumindest wirkte er selbstsicherer als noch wenige Momente zuvor.

»Gute Arbeit, Kollege. Lassen Sie sich nicht verunsichern, vor allem nicht durch solche Blutsauger, denen die nächste Story auf dem Titelblatt wichtiger ist als ihre eigene Mutter.«

Sein Kollege lächelte dankbar. Sein Namensschild und die Schulterklappen mit jeweils zwei blauen Sternen wiesen ihn als Polizeimeister R. Holgreich aus.

Na ja, vielleicht ist er doch schon etwas länger von der Schule.

Sein Körper straffte sich und die Brust trat ein wenig hervor.

»Vielen Dank«, entgegnete er mit Stolz und Verlegenheit in der Stimme. »Aber ich bin Polizist und kein Zoowärter. Wenn sich die Geier also noch weiter vermehren, dann werd ich hier Unterstützung brauchen.«

Mario musste schmunzeln. Er mochte den Jungen,
der ihn an eine frühere Ausgabe von sich selbst erinnerte.

Aber er hatte recht. So eine Meute von Reportern in Schach zu halten konnte auch einen gestandenen Polizisten in den Wahnsinn treiben.

»Ich werde Ihnen jemanden schicken lassen,
oder haben Sie schon Verstärkung angefordert?«

»Nein, ich war gerade auf dem Heimweg, als ich einen Anruf aus der Leitstelle erhielt und mich sofort auf den Weg machte. Es sind aber weitere Einsatzmittel auf dem Weg.«

Das beruhigte den LKA Beamten.

»Gut, ich lass Ihnen aber solange trotzdem ...«

Schreie hallten über das hinter ihnen liegende Gelände.

In einer Bewegung hatte sich Mario umgedreht und nach der Waffe gegriffen. Was zur Hölle war hier los?

»Das kommt doch von den Hallen dahinten«,
rief der Polizeimeister hinter ihm. »Da sind die Kollegen vom PK Vierundvierzig. Die waren die Ersten hier und wollten den Tatort bis zum Eintreffen der Mordkommission sichern.«

Verdammt, wenn die Kollegen schon da sind, warum ist der Junge allein hier vorne?

Er alleine hatte doch selbst schon eine halbe Stunde gebraucht, um durch die Stadt zu rasen.

Aber auch wenn das alles keinen Sinn ergab,
er musste handeln. Im schlimmsten Fall ging es hier um das Leben von Kollegen.

»Sie bleiben hier, und lassen niemanden rein.
Ich will nicht, dass die Zivilisten uns auch noch in der Schussbahn umherkrabbeln. Nehmen Sie notfalls jeden fest, der auch nur im Ansatz daran denkt, sich heute noch den Pulitzer zu verdienen. Und funken Sie die Leitstelle an, wo die verdammte Verstärkung bleibt!«

Mit den letzten Worten hatte Mario seine Waffe gezogen und war losgelaufen.

»Keine Sorge«, rief ihm eine Gestalt mit boshafter Miene und der Stimme des jungen Polizisten hinterher.

Doch, um das zu hören, war der Hauptkommissar schon zu weit weg.

Langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, drehte sich der angebliche Polizeimeister zu den inzwischen vollkommen ruhigen Reportern um.

»Ihr könnt gehen.«

Seine Stimme klang herablassend und gar nicht mehr wie der unsichere Jüngling zuvor.

Sein Blick richtete sich wieder in die Richtung,
in die Mario verschwunden war.

Seine Augen glichen nun nur noch tiefen schwarzen Löchern und auch sonst war nichts Menschliches an ihm geblieben. Er war irgendwie unwirklich.

»Dir folgt niemand. Sie erwarten dich schon.«

Schnell hinterher

Am anderen Ende der Stadt trat Leon gerade aus der Haustür und ging hektischen Schrittes auf sein Auto zu.

»Okay Enter, was hast du für mich?«

Der Vampir wollte keine Zeit verlieren.

Irgendetwas sagte ihm, dass sein gerade erst neugewonnener Verbündeter in diesem Moment dabei war, sich in Gefahr zu begeben.

Er stieg in seinen schwarzen BMW M6,
startete den Motor und trat das Gaspedal durch.
Der Bolide mit dem unscheinbaren Tuningschriftzug auf der Heckklappe dankte Leon die Aktion mit einem Brüllen, das die gesamte Häuserreihe senkrecht in den Betten stehen lassen musste und jagte los.

Aber wohin sollte er fahren? Er lenkte die 800 Pferde erst einmal in Richtung Innenstadt. Um diese Zeit war zum Glück nicht mehr allzu viel Verkehr.
Hoffentlich waren heute keine Kontrollen auf den Straßen.

»Was ich für dich habe? Alter, ihr beide habt mich doch gestalkt, nicht ich euch.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783981943023
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Hexen Kirche Verrat Hexe Dämonen Hamburg Spezialeinheit Vampir Polizei Fantasy düster dark Horror

Autor

  • Patricius de Corax (Autor:in)

Geboren wurde Patricius de Corax im Jahre 1982 im Sternzeichen Skorpion und in der Hafenstadt Hamburg. Seine erste Geschichte schrieb er schon in der ersten oder zweiten Klasse. Mit »File_001: Falscher Heiland«, gelang ihm im Dezember 2017 endlich das von sich selbst so lang erwartete Debüt, dem er 2020 die überarbeitete Fassung folgen ließ. Die nächsten Projekte liegen bereits in seiner geistigen Ablage. Aktuelles zu ihm ist auf den gängigen Social Media Plattformen zu finden.
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Titel: Vampire Squad: File_001: Falscher Heiland