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Spätfolgen

Corona-Pandemie und Klimawandel - Metaphysischer Zukunftsroman

von Günter Neumann (Autor:in) Nicole Simon (Autor:in)
400 Seiten

Zusammenfassung

Spätfolgen - Im Sommer 2036 kommt es zu einer folgenschweren Entdeckung "Spätfolgen" ist ein metaphysischer Zukunftsroman. Die Hauptthemen - im weitesten Sinne - sind die möglichen Folgewirkungen von Pandemie und Klimawandel. Der Roman ist getragen von einer philosophischen Utopie und beinhaltet neben erzählerischen Episoden Elemente eines Sachbuches, ergänzt durch Tagebucheintragungen (zur Corona Pandemie von Dezember 2019 bis März 2021). Fiktive Autorin des Buches ist die Kunstfigur Saloni E., die durch die verschiedenen Zeitebenen switcht. Der Roman spielt über die Kontinente verteilt in der Rheingegend bei Bonn, der Schweiz, den USA, Indien und China. Ein komplexes, ungewöhnlich abwechslungsreiches Buch mit gesellschaftspolitisch und sozialpolitisch aktuellen Themen. "Spätfolgen" gibt keinen politischen Fingerzeig, ermuntert jedoch zu gesellschaftsphilosophischen Gedankengängen. Die Protagonisten machen mit ihren Einzelschicksalen und Geschichten das Werk bildhaft und sehr lebendig, man lebt mit ihnen quasi mit und erfährt so nebenbei auch einiges über ihre jeweiligen Lebensmittelpunkte, die Städte und Länder. Hinweise zum Anhang: Der Anhang enthält ein Protokoll der Corona-Pandemie von Dezember 2019 bis zum März 2021 mit wichtigen Tages-Meldungen aus aller Welt und eine Statistik über die Anzahl gemeldeter Infektionen in der Welt sowie in China, den USA, Deutschland, der Schweiz, Australien und Indien. Ergänzend sind auch Erläuterungen zum Roman im Anhang zu finden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog: Fast immer haben die Menschen große Krisen gemeistert. Doch noch nie hat ein Mensch hinter die äußere Hülle des Universums geschaut. Es ist nur eine Frage der Zeit, denken manche. Denn noch immer versetzen Wissenschaft und Technik die Menschen wieder und wieder ins Erstaunen, versetzen Glaube und Hoffnung mit Leichtigkeit riesige imaginäre Berge. Viele der geopolitischen, technischen und klimatischen Entwicklungen auf der Erde sind vom geschulten menschlichen Auge voraus zu sehen, manche nicht.

Was bleibt am Ende von der Menschheit 1.0 als Erbe für die Menschheit 2.0 übrig? Mehr als nur Absurditäten und ein ausgebeuteter grauer Planet?

Autor: Gunter Neumann

Co-Autorin und Korrektur: Nicole Simon

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Spätfolgen

Metaphysischer Zukunftsroman

Sollte diese Publikation Verlinkungen auf Seiten dritter enthalten, so übernehmen wir für die dort abgebildeten Inhalte keine Haftung. Zur Zeit der Veröffentlichung haben wir die entsprechenden Internet-Adressen geprüft und als unbedenklich bewertet.

Die Personen und Unternehmen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit existierenden Personen oder Unternehmen ist rein zufällig und auf keinen Fall beabsichtigt.

Originalausgabe des Buches im März 2021

Copyright © und Umschlaggestaltung: Gunter Neumann

Phase-1 Der Anfang

Die Geschichte beginnt im Sommer 2036 in Indien Für manche ein Märchenland, für andere nicht. Jedoch ist es zur Zeit des Beginns dieser Geschichte kein Zufall, dass ihr Ort in diesem Märchenland liegt und durch mich begründet.

Der Anfang leitet die Entwicklung eines Neubeginns ein. Die Frage nach der Notwendigkeit, Altes durch Neues zu ersetzen oder den kaum überschaubaren Gesamtzusammenhängen der Natur oder menschlichen Gesellschaften nur anzupassen, findet manchmal ihre Antwort in den Geschehnissen der Ereignisse selbst.

Alle Folgen menschlichen Handels können zu Spätfolgen führen, die von den Menschen alleine nicht wirklich mehr beherrschbar sind. Von dem letzten Fall dieser Art berichtet diese Geschichte.

S.E.

1.1 Indien, Neu Delhi - Sommer 2036

Dr. Suri schaut aus dem Bürofenster hoch oben im Saket Hospital von Neu Delhi. Am Horizont wird die glutrote Sonne bald hinter den Wolkenstreifen versinken. Er schaut nochmals auf die beiden Testergebnisse die er in der rechten Hand hält. Es gibt keinen Zweifel. Ist das Zufall?

Und da ist auch eine scheinbar nebensächliche Tatsache, die er in einer Statistik vor ein paar Tagen wahrgenommen hat. „Das kommt statistisch eben vor“, hatte er sich gedacht und der Sache weiter keine große Bedeutung beigemessen. Jetzt aber verursachen diese beiden Tatsachen einen Schauer, der ihm über den Rücken läuft.

‚Das kann nicht sein - das darf nicht wahr sein! Besteht da etwa ein ungeheuerlicher Zusammenhang?‘ Er setzt sich auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch steht und legt die Testergebnisse zögerlich zurück auf die Schreibunterlage.

„Sie sind beunruhigt, Dr. Suri?“, fragt das Smartear. Jeder Mitarbeiter des Krankenhauses ist verpflichtet, das Klinik-Smartear auch außerhalb der Dienstzeit zu tragen. Es steckt wie ein kleines Hörgerät hinter dem Ohr und stört nicht weiter. Dr. Suri kann auf Zuruf oder durch Fokussierung seiner Augen auf eine Person auf der Screen-Manschette oder auf der aktivierten Screen-Wand sofort direkten Kontakt zu dieser Person aufnehmen.

Fast jeder Winkel in der Klinik und auf dem Klinikgelände ist durch die Video-Cloud für Dr. Suri einsehbar - nur das Büro seines Vorgesetzten nicht. Hier haben lediglich der Oberbürgermeister der Stadt und der Gesundheitsminister einen direkten digitalen Zugang und direkte Einsicht. Sein Vorgesetzter Dr. Sai kann sich gegenüber ihm und allen anderen Mitarbeitern der Klinik in der Video-Cloud unsichtbar machen. Niemand sieht ihn dann auf dem Screen, selbst wenn er direkt neben demjenigen steht.

Allerdings besteht ein scheinbar nicht lösbarer Systemfehler in der Sache: In einem Spiegel und bei Wasserspiegelungen bleibt die Person sichtbar. Die Unsichtbar-Funktion kann Dr. Suri auch bei seinen Untergebenen einsetzen. Das ist eines der Vorgesetzen-Privilegien im System - die Unsichtbarkeit gegenüber den untergebenen Mitarbeitern.

Das System der Huwin Corp. aus Nanning unterstützt dabei wesentlich die Mitarbeiterführung, erleichtert das Leistungscontrolling und organisiert die betriebliche Optimierung der Mitarbeiter und Ressourcen vollständig ohne menschliches Zutun. Es liefert verlässlich detaillierte und präzise Mitarbeiter-Beurteilungen und Leistungsprofile sowie stichhaltige Vorlagen für Mitarbeitergespräche. Die Realtime-Systemrückkopplung bei diesen Mitarbeitergesprächen lassen den Vorgesetzten sofort aufrichtige Zustimmung oder inneren Widerstand bei Mitarbeitern erkennen.

Um das Gesamtsystem zu optimieren erfolgt auch ein Zugriff auf diese Daten durch die Huwin Corp. Doch davon haben ausschließlich der Gesundheitsminister und der Premierminister Kenntnis.

"Mr. Suri, sind Sie beunruhigt?", fragt das Smartear wieder, jedoch lauter und drängender. „Soll ich Hilfe kommen lassen?“ "Nein, nein, danke", antwortet Dr. Suri erschrocken und kehrt aus seiner inneren Versunkenheit zurück.

Er schaut wieder auf die beiden Blätter, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegen. "Mr. Suri, Ihre Frau ruft an und möchte Sie sprechen! Soll ich durchstellen?" "Ja bitte, mache das." Dr. Suri war schon klar, weshalb seine Frau ihn jetzt sprechen wollte.

"Amal, gut, dass ich dich erreiche. Da bin ich beruhigt! Liebster, denkst du auch an heute Abend? Du weißt doch, wir sind eingeladen zu der Cocktail-Party. Um 22 Uhr sollen wir da sein. Dein Freund Balu ist doch jetzt Chefarzt geworden und das will er ein wenig feiern mit uns und ein paar Leuten aus seiner Klinik. Da dürfen wir nicht zu spät kommen, das wäre unaufmerksam und unhöflich. Und das wollen wir doch nicht sein, oder?".

"Ja, Liebste. Schön, dass du mich daran erinnerst. Du weißt ja, dass ich manchmal solche Dinge im Arbeitseifer vergesse. Ich mache mich gleich auf den Weg zu dir. Wir werden rechtzeitig bei Balu eintreffen. Versprochen!"

"Gut, ich bestelle schon ein Taxi für etwas später. Denke daran, es ist bald 21 Uhr. Es wird Zeit, dass du kommst." "Ja doch, ja doch, bis gleich."

"Mr. Suri, Ihre Frau hat recht, Sie sollten sich auf den Weg machen." "Ja, ja", antwortet Dr. Suri gedankenverloren. Es kommt ihm vor, als hätte er jetzt zwei Frauen, die ihn bedrängen und immer irgendetwas von ihm wollen. ‚Vielleicht kann dieses Smartear ja sogar bald Gedanken lesen?‘, denkt er bei sich. Und er ist sich in dem Moment nicht sicher, ob dem nicht bereits so ist.

Er erhebt sich von seinem Stuhl, dreht sich um und schaut hinter seinen Rücken. Doch da ist niemand. Wer sollte da auch sein? ‚Ich bin vielleicht etwas überarbeitet in der letzten Zeit. Eine kleine Abwechslung tut mir sicherlich gut. Es ist ja immer sehr lebendig und unkompliziert bei Balu und seiner Familie. Balu und Chefarzt - dieses Schlitzohr. Wie hat er das denn wieder geschafft? Dieser alte Netzwerker. Die Personality-Show hat er sicherlich von seinem Vater abgeguckt. Politik und Medizinforschung war ja das Metier von seinem Alten. Und der war ein Meisterschwimmer im Haifischbecken der Politik‘.

Dr. Suri nimmt die Testergebnisse vom Schreibtisch und legt sie in die abschließbare Register-Ablage. Es ist über die Jahre selten geworden, dass er sich noch Daten aus dem Informationssystem der Klinik auf Papier ausdruckt. Er schaut sich noch einmal um, geht zur Tür und nimmt seinen dort gegen die Wand gelehnten zusammengefalteten E-Roller in die linke Hand und geht durch die bereits automatisch geöffnete Tür zum Hausflur hinaus. „Tür verriegeln!“, gibt er als Kommando an sein Smartear. „Tür verriegelt“, bekommt er leise als Bestätigung gemeldet. Er hätte die Tür auch mit seiner Klinik-Chip-Card verschließen können, jedoch nutzt er die nur noch selten. Wichtige Zugänge zur Klinikverwaltung und dem OP-Bereich öffnen sich seit Einführung des neuen Huwin-Systems durch die Gesichts- und Körper-Erkennung automatisch. Er geht durch den langen Flur der technischen Abteilung in Richtung Fahrstuhl. Auf dem Weg dorthin kommt ihm Dr. Fichte entgegen. Er arbeitet an der medizinischen Fakultät für OP-Technik in Bonn am Rhein. In Delhi begleitet Dr. Fichte aktuell die Einführung des technisch revolutionären Heidelberger OP-Roboters am Saket Hospital. Von den dafür eingeplanten drei Monaten sind bereits zwei Monate vergangen. Alles sieht gut aus bezüglich Einführung und Zeitplan.

„How are you?“ Beide bleiben kurz stehen und geben sich die Hand. Dr. Suri versteht Deutsch noch halbwegs brauchbar. Während seines zweijährigen Aufenthalts im Medizinstudium in Heidelberg hatte er sich die Sprachkenntnisse mit Interesse angeeignet. Das Sprechen gelingt ihm nicht mehr so zufriedenstellend. Daher unterhalten sich die beiden in aller Regel auf Englisch, was Dr. Suri bedauert, da er die Gelegenheit, seine Deutschkenntnisse wieder etwas aufzufrischen, gerne mehr nutzen würde. Zwar versteht auch das Smartear Deutsch, aber das ist ein anderes, seelenloses Deutsch und er möchte auch nicht, dass zu viele Aufzeichnungen davon eventuell ins Kommunikationsarchiv gelangen. Das Gestammel wäre vielleicht peinlich für ihn. Und bei dem ständigen „Können Sie bitte wiederholen, ich habe Sie nicht richtig verstanden“, kommt er sich vor wie ein kleiner Trottel. Daher nutzt er diese Möglichkeit nur selten - lässt sich aber manchmal kurze Texte vom Smartear ins Deutsche übersetzen und vorsagen.

„Ich bin furchtbar in Eile, Mr. Fichte. Meine Frau erwartet mich zuhause. Wir sind zu einem kleinen Umtrunk bei einem Freund von mir eingeladen.“, entschuldigt Dr. Suri sich, um keine Missverständnisse wegen seiner Kurzangebundenheit aufkommen zu lassen. „Klappt alles?“ „Alles bestens, sieht gut aus!“, antwortet Dr. Fichte, „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Einen schönen Abend noch und viele Grüße an Ihre Frau.“ „Werde ich ausrichten. Wir können uns ja am Montagmittag in der Kantine treffen und dabei ein paar Dinge besprechen. Was halten Sie davon?“ „Ja, abgemacht, das geht bei mir. So um 13 Uhr?“ „Ja, in Ordnung, bestens.“, antwortet Dr. Suri und eilt nach einer kurzen Abschiedsgeste weiter Richtung Fahrstuhl. Als er um die Ecke kommt, öffnet sich die Fahrstuhltür bereits. Das Smartear hat alles vorarrangiert. Das gelingt in der Regel auch ad hoc, da Dr. Suri eine hohe Priorität im der Klinik hat. Er tritt in den Fahrstuhl. Sofort schließt sich die Tür wieder und der Fahrstuhl rauscht ohne Zutun von der 10. Etage ins Erdgeschoss. Manchmal kommt sich Dr. Suri bereits vor wie ein Statist in einem Film, den er nicht mehr wirklich versteht.

Dr. Suri tritt ins große Klinik-Foyer. Am Freitagabend gibt es kaum noch Menschen, die sich hier aufhalten. Er geht zum Ausgang und winkt beim Verbeigehen den beiden Frauen am Empfangsschalter zu. Draußen läuft er auf die andere Straßenseite und klappt seinen E-Roller aus.

Es ist noch immer schwül. Die Hitze füllt die Häuserschluchten der Stadt und der nebelige Dunst legt wie üblich einen Schleier über die Abenddämmerung. Zwar hatte es mittags wie aus Kübeln gegossen, die Straßen und der rotbraune Erdboden in dem kleinen Hain nahe der Zufa seit Jahren langsam hrt sind aber bereits wieder trocken und staubig.

Dr. Suri legt sich wie immer vor dem Start mit seinem E-Roller eine Schutzmaske über Mund und Nase, um sich so gut wie möglich vor den zahlreichen Partikeln der verschmutzten Luft in Delhi zu schützen. Trotz der seit Jahren wiederholten Zusicherungen seitens Stadtverwaltung und Politiker hat sich die Luftqualität immer noch nicht wie versprochen spürbar verbessert. Das liegt nicht ausschließlich daran, dass immer mehr Menschen in Delhi wohnen und arbeiten. Er hat das Gefühl, dass in der Sache zu viel gequatscht und zu wenig gehandelt wird. Sich jedoch selbst in dieser Sache politisch einzubringen, dazu hat er nicht die Zeit. Und irgendwie muss er sich eingestehen, dass er die freie Zeit lieber mit seiner Familie verbringt als bei endlosen Sitzungen und Diskussionen teilzunehmen. Er stellt seinen rechten Fuß auf das Trittbrett und lässt den kräftigen Elektromotor summend auf Touren kommen.

Es geht die Klinik-Zufahrt hinunter auf die Straße. Auf dem City-Bike-Way für Fahrräder und E-Zweiräder ist in der Saket-Enklave heute Abend kaum noch jemand unterwegs. Das ändert sich je näher Dr. Suri der Merauli-Barapur-Road kommt. Die Straße ist noch sehr belebt - das Hupen und Klingeln wie so häufig eine einzige Geräuschkulisse. Glücklicherweise nimmt die Anzahl der Fahrzeuge mit Benzin- oder Dieselmotor seit Jahren langsam, aber kontinuierlich ab. Er hat das Gefühl, dass sich die Luftqualität in der Stadt zumindest hinsichtlich der Auto-Abgase ein wenig verbessert hat. Allerdings werden die knatternden Mopeds und röhrenden Autos mit Benzinmotor besonders bei jungen Menschen immer beliebter und begehrter. Es gelingt ihm mal wieder, scheinbar wie auf wundersame Weise, die Barpur-Road ohne Schaden zu nehmen zu überqueren und anschließend auf der am City Forrest verlaufenden Cariappa Marg weiter in südliche Richtung zu fahren. Nach zirka zehn Minuten Fahrzeit erreicht er das Anupam-Garden-Quartier, das südlich vom City Forrest liegt. Hier wohnt er mit seiner Frau Amisha und seinen beiden Söhnen Rangan und Kiron in einer 4-Zimmer-Wohnung in der ersten Etage eines Wohnhauses in einer kleinen Seitenstraße nahe am Forrest.

Die letzten 50 Meter bis zu seinem Haus fährt Dr. Suri auf dem Bürgersteig der kleinen Seitenstraße. Er steigt vom E-Roller ab und faltet ihn zusammen. Mit seiner Apartment-Card, auch kurz als Apart-Card bezeichnet, öffnet er die Haustür und tritt in den verhältnismäßig großzügig angelegten Hausflur. Es ist angenehm kühl im Treppenhaus. Er schaut auf die Sicherheitskamera im Eingangsbereich. Auf jeder Etage sind diese kleinen, kaum als solche erkennbaren Kameras an den Flurdecken installiert. Sicherlich schaut der berechnend neugierige Hausmeister jetzt wieder auf den Bildschirm vom Sicherheitssystem, um zu sehen, wer mit wem gerade das Haus betritt. Dr. Suri weiß, dass einige aus dem Haus dem Hausmeister ab und zu ein kleines Schweigegeld geben, damit er nicht alles herumtratscht in der Nachbarschaft, von dem, was er so mitbekommt bei seiner subtilen oder manchmal auch offensiven Art, den Leuten hinterher zu spionieren. Am liebsten würde er diesen Burschen, der allem und jedem hinterher schleicht, loswerden. Doch die Mehrheit im Haus findet es gut, dass sie so einen aufmerksamen Hausmeister haben. Dr. Suri vermutet allerdings, dass der in einem wirklichen Ernstfall nicht helfen, sondern eher als erster die Flucht ergreifen würde. Diese Einschätzung hat er bisher nur mit seiner Frau geteilt. Beide haben bereits häufig über so manch köstliche Anekdote im Zusammenhang mit dem Hausmeister herzlich gelacht. Sie sind sich in der Sache Hausmeister darin einig, keinen für sie selbst überflüssigen Stress mit den Nachbarn zu riskieren. Sie haben nichts zu verheimlichen und haben dadurch manchmal das Gefühl, dass das den Hausmeister wurmt, da er sein kleines einnehmendes Haus-Spionage-Machtgewebe nicht auch gewinnbringend um die Familie Suri spinnen kann. Immerhin die junge attraktive und unkonventionelle Event-Managerin Saloni aus der vermieteten Wohnung im Erdgeschoss, wissen sie in der Angelegenheit Hausmeister mit gefühlt absoluter Sicherheit auf ihrer Seite.

Amal Suri geht mit weiten Schritten die Hausflurtreppe hinauf in den ersten Stock. Er hält die Apart-Card gegen den Sensor der Wohnungstür. Die Tür entriegelt sich und springt auf. Kaum hat er den Wohnungsflur betreten, sieht er seine Frau Amisha aus dem Wohnzimmer kommend auf ihn zu eilen.

Amisha ist in ein langes, in Rottönen gehaltenes indisches Sari gehüllt. Ihr Haar ist offen, schwarz-glänzend und fällt ihr bis weit über die Brust herab. Um ihre Handgelenke trägt sie auffälligen, bunten und zugleich edel anmutenden Schmuck, der laut klappert, als sie so hastig auf ihren Mann zu schreitet. Für einen Augenblick erschlägt es Amal beim Anblick seiner Frau wieder fast einmal die Sprache. Diese Frau im Flur wirkt so strahlend und unnahbar schön, nahezu fremd. Und sehr groß. Wie aus einem der unzähligen Bollywood-Filme oder einer der Illustrierten, denkt er bei sich. Eine Duftwolke milden Puders schwillt ihm entgegen.

Jetzt ist Amisha ganz nah bei ihm, und ihr mit knallrotem Lippenstift umrandeter Mund öffnet sich: „Endlich, da bist du ja, Liebling!“, fährt sie ihn in einem harschen, anklagendem Ton ungeduldig an, und entweiht damit in einer Sekunde das Traumbild der Bollywood-Schönheit zu einem Trugschluss der Phantasie. Amishas dunkle Augen blitzen Amal vorwurfsvoll an, und ihre Haut um die bemalten Mundwinkel herum legt sich in Falten, und auch die zwei Hautvertiefungen zwischen den Augen über dem Nasenrücken drücken sich unter dem dicken Makeup unüberschaubar deutlich hervor. Amal ist genervt, aber hält Stillschweigen. Seine Frau hat, wie man so schön sagt, zu Hause „die Hosen an“.

Ganz anders als es Amal von seinem Berufsleben her gewöhnt ist, bestimmt im heimischen Umfeld seine eigene Frau über „Haus und Hof“, wie man so schön zu sagen pflegt. Ja, sie kann wirklich sehr dominant sein, und duldet manchmal keine Widerrede. Oft wäre es Amal lieb, sie würde nicht so viel reden und insbesondere nicht so schrill und durchdringend herumschreien. Was sie allerdings selten tut. In Amishas Gegenwart fühlt er sich immer ein wenig kleiner und willensschwächer. Er bewundert seine Frau für ihre Durchsetzungskraft und starke Persönlichkeit. Das hatte ihm ja auch damals so imponiert, als er sie auf einer privaten Feier unter jungen Studierenden näher kennengelernt hatte. Eine sehr kluge, intellektuell bewanderte Inderin aus gutem Hause, hatte er sofort gedacht, und war angetan von ihrer Weltoffenheit und modernen Lebenseinstellung. Mit ihren durchaus für Inder als markant zu bezeichnenden Gesichtszügen mit langer, leicht gebogener Nase und ihrer recht groß gewachsenen Statur sowie ihrer souveränen Ausstrahlung war sie keinesfalls zu übersehen gewesen, und hatte in Studententagen unzählige Blicke und Avancen von Verehrern auf sich gezogen.

Amal hatte sich seinerzeit mehrmals darum bemühen müssen, eine richtige Verabredung zu zweit von ihr zugesagt zu bekommen, zuvor hatten sie sich immer wieder mehr oder weniger zufällig auf den Studentenevents getroffen. Amisha hatte letztendlich beeindruckt, dass Amal zielorientiert und konsequent seine Studien betrieben hatte. Erfolgreich eine Stufe nach der anderen nach oben kletterte. Einen liebevollen, ehrlichen Mann mit Niveau hatte sie gesucht und in ihm gefunden. Vielleicht war die Heirat dennoch zu früh gewesen, denn ab der Geburt des ersten Sohnes hatte sich Amisha trotz ihrer eigenen beruflichen Ambitionen und gutem Vorankommen im Studium dann doch überwiegend dem Familienleben gewidmet. Geblieben waren ihre Begabung und ihr Interesse für Sprachen. Von zu Hause aus war sie noch etwa 10 Jahre als Lektorin und Übersetzerin tätig gewesen, doch war sie nie in einer festen Anstellung eines Unternehmens, sondern hangelte sich von Auftrag zu Auftrag. Amal glaubte oft, eine gewisse Verbitterung über die vergebene berufliche Chance und weitgehend ungenutzt gebliebene kognitive Begabung seiner Frau gespürt zu haben, aber niemand konnte die Zeit zurückdrehen und die eventuell falsch gestellte Weiche der Lebensplanung umkehren.

Amisha ist eben Amisha, dachte er dann, und hatte sich irgendwann damit arrangiert, dass seine Frau hinter ihren Möglichkeiten zurück geblieben war, und im Gegensatz zu ihm, der mit jedem Berufsjahr die Treppe des Erfolges eine Stufe höher erklomm,

sie eine Stufe nach unten stieg.

Er hatte das alles ganz genau analysiert, und sowohl mit Amisha als auch mit einem seiner besten Freunde durchdiskutiert mit dem Fazit, das man es so nehme müsse wie es sei und womöglich von den Göttern gewollt ist, und dass ohnehin wegen den Kindern einer der Ehepartner seine Karriere hätte opfern müssen. Nun sind sie ein eingespieltes Team, und die Aufgaben klar verteilt. Amal ist sehr stolz auf die beiden Söhne Kiron und Rangan, und kann von sich sagen, dass er ein wirklich glücklicher Mann und Vater ist, und seine Frau eine Partnerin auf Augenhöhe, nicht selbstverständlich in der indischen vom Patriacha geprägten Gesellschaft! Ihm ist es lieb so, und er weiß, dass Amisha ihm beruflich den Rücken frei hält. Ohne ihre Unterstützung hätte er nicht immer die Stärke gehabt, alles durchzustehen, und die Sinnfindung seines Tun und Seins wäre ihm an manchen endlos langen Tagen in der Klinik wie ein Absurdum vorgekommen. Amishas aktuelle Leidenschaft für Bollywood-Filme und Society-Parties hat er längst akzeptiert, und freut sich, dass Amisha mit Hema, der Frau seines Freundes Balu, eine innige Freundin und Verbündete gefunden hat.

Amal und Amisha umarmen sich kurz und gehen gemeinsam ins Wohnzimmer. Amal schaut nach der Ankunft von seiner Klinik häufig erst einmal nach seinen Kindern. Seit diese älter geworden sind, springen sie ihm allerdings nicht mehr freudig entgegen, sondern gucken häufig nur kurz hoch. So auch an diesem Abend. Als kurze Begrüßung bekommt er das übliche „Hi, Dad“ zu hören. Beide schauen aktuelle Video-Clips der regionalen interaktiven tic-today-Delhi-Show. Da hat er keine Chance auf Aufmerksamkeit und regt sich wie üblich ein wenig darüber auf. Seine Frau beschwichtigt in gewohnter Weise in dieser Situation. Alles verläuft wie gehabt, gleich einem fest eingeübten komödiantischen Ritual. Die Saloni aus dem Erdgeschoss hat seinen beiden Söhnen vor Wochen einmal versprochen, sie für einen Nachmittag mit in die Show zu nehmen. Saloni arrangiert als Event-Managerin die Teilnahme von prominenten Gästen an der Veranstaltung. Um als geladener Gast an der Show oder der After-Show-Party teilnehmen zu können, werden horrende Gelder geboten. Seit diesem Versprechen sind seine beiden Söhne noch mehr begeistert von diesem Event und von Saloni. Im Erdgeschoss lassen sie sich, wie er hin und wieder zufällig beobachtet hat, auffällig viel Zeit beim Rein- und Rausgehen. Ihm ist klar, weswegen. Dass erhöht die Chance, Saloni zufällig zu begegnen. Und wenn sie Glück haben und die junge Frau nicht in Eile ist, dann scherzt sie sogar mit den beiden Jungs herum und lässt ihr schauspielerisches Können erahnen. Amal geht flinken Schrittes ins Bad. „Beeile dich“, ruft Amisha ihm nach.

Amal sieht in den Spiegel und streicht mit einer Hand über sein bereits ergrautes Haar. Er legt sein Klinik-Smartear auf eine Ablage neben dem Spiegel. Heute Abend will ich es nicht mitführen, beschließt er. Wieder schaut er in den Spiegel. Sein Gesicht ist fülliger geworden. Die relativ helle Gesichtsfarbe passte gut zusammen mit dem gütigen und zugleich freundlichen Gesichtsausdruck, findet er, und verleihe seiner Position als Chefarzt eine vertrauenerweckende Würde. Die reichen Patienten, und es gibt eigentlich nur reiche Patienten in Salet Hospital, achten darauf, von wem sie operiert und von wem sie gepflegt werden. Das ist ein Grund mehr, dass die Einführung des OP-Roboters am Ende erfolgreich verläuft. Bei Einstellungen und Beförderungen spielt die Kastenzugehörigkeit noch immer eine wichtige Rolle. Zwar nicht mehr die beinahe allein entscheidende, wie noch zu Zeiten seiner Eltern. Allerdings anders als in den großen Städten Indiens hat sich in diesem Zusammenhang auf dem Land und in den kleineren Städten seitdem nicht wesentlich etwas geändert. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich sogar seit dieser Zeit verhältnismäßig deutlich vergrößert. Kinderarbeit und Ausbeutung in jeglicher Form sind traurige tagtägliche Realität für die Mehrzahl der Menschen in Indien geblieben. Das vererbte Herrschaftsgefüge und der Glaube an die Wiedergeburt sind weiterhin fest verankert im Denken und der unterwürfigen Selbstzuordnung der Menschen.

Für den eigenen Haushalt haben seine Frau und er vor langer Zeit beschlossen, eine junge Haushaltshilfe aus der untersten Kaste zu beschäftigen. Sie hilft wochentags seiner Frau bei den täglichen Dingen und ist mehr als dankbar dafür, dass sie gut behandelt und bezahlt wird. Das ist selbst in Delhi trotz wachsender Toleranz und Problembewusstsein keine Selbstverständlichkeit. Wie sehr hat sich ihre Haushaltshilfe über den geschenkten E-Roller gefreut und war darüber beinahe in Tränen ausgebrochen. Sie kann dessen Akku während ihrer Arbeitszeit unten im Keller an den dort vorhandenen Ladestationen aufladen. Der Weg von und nach Hause ist damit für sie schneller und ungefährlicher möglich als wenn sie mit den Bussen die Neun-Kilometer-Strecke zurückzulegen müsste. Das Risiko als Frau in den öffentlichen Verkehrsmitteln sexueller Gewalt ausgeliefert zu sein, hat sich in all den Jahrzehnten in Indien trotz einiger Schutzmaßnahmen wie Überwachungskameras nicht wirklich wesentlich minimiert, und stellt nach wie vor eine riesengroße gesellschaftliche und politische Herausforderung dar. Sie hat so als Tochter ein wenig mehr Zeit und Kraft für ihre kleinen Geschwister, für den Einkauf, den Familienhaushalt in der kleinen Wohnung am Stadtrand und ihre lungenkranken Eltern.

„Beeile dich“, hört Amal seine Frau wieder rufen. Er geht schnell unter die Dusche, trocknet sich anschließend ab, zieht die vorsorglich zurechtgelegten Kleidungsstücke für den Abend an und springt durch die von ihm geöffnete Tür raus aus dem Badezimmer in den Wohnungsflur. „Fertig, Liebste!“, ruft Amal, hebt schauspielerisch seine Arme und dreht sich im Kreis. Amisha lächelt erfreut, nimmt schnell einen kleinen Parfümflacon aus ihrer bereits umgehängten Handtasche und besprüht Amal ein wenig mit Rosenduft. Amal will protestieren, lässt es jedoch sein. Beide rufen ihren Kindern noch ein Adieu zu und erhalten ein kurzes „Viel-Spaß“ als Antwort. Sie eilen die Flurtreppe hinunter zur Haustür hinaus und schauen sich um. Der Hausmeister steht draußen auf der Straße vor dem Haus als hätte er gewusst, dass sie gleich zur Tür herauskommen und zeigt auf eine E-Rikscha, die auf der anderen Straßenseite steht. „Das ist bestimmt unsere Rikscha.“, vermutet Amisha. Amal hebt etwas widerwillig seine rechte Hand zum Danke-Gruß für den gegebenen Hinweis durch den Hausmeister. „Sicherlich schaut er uns gleich nach, um zu sehen, in welche Richtung wir abbiegen“, sagt Amal leise zu seiner Frau. Sie lächelt und macht dabei mit ihrer rechten Hand eine Ist-doch-egal-Geste während beide die Straße überqueren und auf die wartende E-Rikscha zu gehen.

Sie nehmen hinten auf der luftigen Dreirad-Rikscha Platz. Es wäre sogar noch Platz für eine dritte Person, auf dem leeren Vordersitz der selbstfahrenden E-Rikscha. Eine sanfte, aus dem Lautsprecher kommende Frauenstimme lässt sich das bereits bekannte Fahrziel bestätigen, nennt anschließend sofort die voraussichtliche Fahr- und Ankunftszeit am Ziel und wünscht eine gute Fahrt. Die Frage nach musikalischer Unterhaltung beantworteten beide erfreut und wie abgesprochen mit „Ja“, Dann geht es los und die Rikscha nimmt langsam Fahrt auf. Amal schaut noch einmal zurück in Richtung ihres Hauses und sieht, wie der Hausmeister dies bemerkt und ihm daraufhin nachwinkt.

Wie von Geisterhand gesteuert fährt die E-Rikscha ganz ohne Fahrer sicher durch lebhafte kleine Nebenstraßen zur Lado Sarai. Ohne eine Ampelkreuzung in diesem Abschnitt wäre die Hauptstraße zu dieser Zeit so gut wie nicht überquerbar. Ein schier endloser Strom von Autos, Rikschas, Mopeds, Bikes und dazwischen von Menschen oder Tieren gezogene Lastenkarren strömt an ihnen lärmend vorbei, während sie wie so viele andere in der Nebenstraße auf das grüne Ampelsignal zur Weiterfahrt warten. In den Minuten, die sie ungeduldig wartend in der Fahrzeugschlage vor der Ampel stehen, vermischen sich Melodien und Gesang der neusten indischen Schlager aus den Lautsprechern der Rikscha mit der übrigen Geräuschkulisse der Straße. Statt dass diese Melodien beruhigend auf Amisha wirken, bemerkt Amal, dass seine Frau zunehmend nervöser wird. „Wann geht das hier endlich weiter“, ruft sie schließlich etwas ungehalten und laut aus. Amal will gerade ein paar besänftigende Worte zu Amisha sagen, als aus den Lautsprechern eine blecherne Stimme etwas kaum Verständliches krächzt. Es ist die Verkehrsauskunft der Stadt, die sich unerwarteter Weise eingeschalten hat, um die vermeintliche Frage zu beantworten. Das System geht vermutlich davon aus, dass diese doch eher rhetorisch gemeinte Frage seiner Frau, eine ernsthaft an das System gestellte Frage zur hier gegebenen Verkehrssituation ist. Amal und Amisha schauen sich an und fangen an zu lachen. „Hast du das verstanden, Amal?“ „Nicht so ganz, Liebling. Ich meine verstanden zu haben, dass es noch drei Minuten dauert. Dass um diese Zeit die Lado Sarai eine hohe Vorfahrtspriorität hat. Und dann war da noch etwas mit einer Bitte um Geduld. Ja, doch, doch, von Geduld war die Rede. Und von einer guten Weiterfahrt.“

Endlich springt die Ampel auf Grün und die wartende Fahrzeugschlage setzt sich langsam in Bewegung. Ihre Rikscha rollt gerade noch so bei Gelb an der Ampel vorbei und biegt nach links in die große Straße. Amisha fasst sich mit ihrer rechten Hand in die Herzgegend und macht die Geste eines Stoßgebetes in Richtung Himmel und sieht Amal erleichtert an. Amal legt seinen rechten Arm um ihre Schulter und zieht seine Frau etwas näher an sich heran. Sie lehnt ihren Kopf an den seinen, wobei sie mit einem tiefen Seufzer ausatmet. Nach kurzer Fahrt biegt die Rikscha hupend nach rechts ab und fährt in Richtung Saket Park und dem Golf Club zur Pragy Marg.

Amal denkt noch ein wenig an seine Söhne. Er ist älter geworden und auch seine Söhne. Gerade kommt es ihm so vor, als hätte er irgendetwas verpasst. Nur gut, dass sie in eine gute Schule gehen und fleißig lernen, soweit er weiß. Er freut sich darüber, dass die märchenhafte Saloni das Haus und ihre beiden Söhne mit ihrem natürlichen Charme und ihrer schauspielerischen Anmut etwas verzaubert. Die etwas muffige und angestaubte Atmosphäre im Haus hat sich spürbar gewandelt, seitdem sie dort unten wohnt. Es ist lebendiger geworden. Irgendwie scheinen die Leute jetzt freundlicher miteinander umzugehen und unten im Hauseingang riecht es nach edlen Düften von Räucherstäbchen statt nach den unangenehmen Putzmitteln, die der Hausmeister immer verwendet. Amal hat das Gefühl, dass das alles eine positive Wirkung auf seine Söhne hat. Er ist auch nicht eifersüchtig darauf, dass er Salonis Versprechen, seine beiden Söhne demnächst mit zur tic-today-Delhi-Show zu nehmen, kaum überbieten kann - höchstens ein klein wenig eifersüchtig, muss er sich jetzt doch eingestehen.

Was er noch nicht weiß ist, dass Dr. Klaus Fichte durch Zufall Bekanntschaft mit Saloni gemacht hatte. Und Klaus weiß noch nicht, dass Saloni scheinbar zufällig im selben Haus wohnt wie Dr.Suri. Es war abends in einem Park-Café ganz in der Nähe. Sie saß alleine an einem Nachbartisch von Klaus. Als er zu ihr herüber sah, sah er, dass sie von faszinierender Schönheit ist und außergewöhnlich gekleidet war. Dabei strahlte sie trotz ihrer schillernden Kleidung und dem glänzenden Schmuck eine beinahe rätselhafte Natürlichkeit aus. Als er nicht anders konnte, als nochmals zu ihr zu schauen, hatte sie ihm etwas provokant zugezwinkert und dabei auffordernd zugelächelt als hätte sie gewusst, dass er nochmals zu ihr schauen wird.

Klaus war fast wie elektrisiert und zugleich etwas verunsichert aufgestanden und hatte sie gefragt, ob er sich zu ihr setzen darf. „Gerne“, hatte sie geantwortet. Klaus war überrascht, hatte nicht unbedingt diese klare, beinahe bestimmend und zugleich verheißungsvoll in der Betonung ausgesprochene Antwort erwartet. Er ließ sich langsam am Tisch auf einen Stuhl ihr gegenüber nieder und sah dabei wie in Trance in ihr zauberhaftes Gesicht. Sie lächelte ihn dabei an. Er kam sich vor als träume er das alles nur und sei zugleich völlig unerwartet und versehentlich in einen dieser märchenhaften Bollywood-Filme geraten. „Ich habe dich erwartet“, sagte sie leise und zugleich irgendwie eindringlich. ‚Sicherlich verwechselt sie mich jetzt mit jemanden - schon eine kuriose Situation‘, hatte Klaus damals gedacht. War aber nicht unglücklich gewesen über diesen Zufall offensichtlicher Verwechslung, wie es diese in den Verwechslungskomödien der Bollywood-Filme sicherlich auch des Öfteren zu sehen gibt. Oder hatte er ihre Worte gerade nicht richtig verstanden? Er fand jedoch keine Zeit mehr ihre Worte aus seiner frischen Erinnerung wieder hervor zu holen und dabei zu versuchen, diese phonetisch zu analysieren. Schnell entwickelte sich, zu seiner Verwunderung und zugleich mit einer Empfindung seltsamer Vertrautheit in ihm, zwischen beiden ein so unbefangen lebhaftes Gespräch, als wären sie sich tatsächlich bereits häufiger begegnet, um über sich und die Welt zu sprechen und gemeinsam darüber zu lachen.

Sie waren nach dem Aufenthalt im Café noch durch den Park spaziert, hatten sich weiter unterhalten und über viele kuriose Kleinigkeiten amüsiert, die es im Park zu sehen gab. Sie hatte ihn gefragt, was er in Delhi macht und woher er kommt. Ihr Smartphone hatte plötzlich geklingelt und sie gab ihm nach dem kurzen Gespräch am Apparat zu verstehen, dass sie diesen Anruf bereits im Café erwartet hätte und leider jetzt noch zu einem wichtigen geschäftlichen Treff müsse. Es gehe um eine Show und einen eitlen Künstler, den sie noch in die richtige Richtung drehen müsse. Sie steckte Klaus gekonnt und mit balletteuser Geste eine kleine Karte in die Brusttasche seines Sakkos, drehte sich zweimal um sich selbst, fort von ihm und ihm war als flöge sie anschließend immer kleiner und zauberhafter werdend einem funkelndem Sternenhimmel entgegen, der sich vor ihm auftat.

Die Rikscha ist in der Pragy Marg am Saket angekommen. Amal bezahlt mit seiner Smartphone-PayApp. Seine Frau und er schauen der kleinen Rikscha noch nach, die zurück in Richtung der Hauptstraße fährt. Ein seichter Abendwind weht vom Park herüber. Es ist noch immer sehr warm und etwas schwül. Doch sieht es nicht danach aus als ob es später noch regnen würde. Amal schaut auf sein Smartphone. Es ist kurz vor 22 Uhr. Beide gehen auf das Wohnhaus zu, in dem Balu mit seiner Frau und seinen beiden Kindern wohnt. Sie besitzen in dem Haus eine eigene Penthouse-Wohnung über zwei Etagen. Das Haus ist höher als die Häuser in der Nähe und dennoch gibt es nur zwölf weitere Eigentumswohnungen darin. Amal hat noch nie nachgezählt. Die Wohnung von Balu hat bestimmt mehr als 200 Quadratmeter und eine Dachterrasse mit einem kleinen Swimmingpool, umsäumt von sechs gestutzten Palmen.

Amal hatte Balu während seines Medizinstudiums kennengelernt. Balu war damals gerade von seinem zweijährigen London-Aufenthalt nach Delhi zugekehrt. Sein Vater lebte zu der Zeit noch. Er war Leiter eines Forschungsinstituts und tief in die Politik involviert. Balu hatte von ihm nicht nur eine Menge Geld geerbt, sondern auch das Interesse Netzwerke zu spinnen. Es macht ihm Spaß, nur der Kontakte und dem Gequatsche wegen in einem der teuersten Fitness-Clubs der Stadt den eifrigen Sportler zu mimen. Er weiß allerdings selbst, dass er in der Rolle etwas unglaubwürdig daher kommt. Aber das ist ihm egal und den anderen auch. Die Runden sind immer lustig und unterhaltsam, besonders, wenn Balu dabei ist. Das Restaurant im Erdgeschoss vom Fitness-Club ist hervorragend und manchmal, wenn er zu spät kommt, geht er gleich ins Restaurant und wartet dort auf seine Sportfreunde. Eigentlich bräuchte Balu nicht arbeiten. Aber dann würde er sich schnell langweilen und wozu dann noch an Netzwerken herumstricken. Mit 49 Jahren ist er jetzt zum Chef-Arzt ernannt worden. Die Klinik ist nur etwa drei Kilometer von hier entfernt und befindet sich zwischen der Universität und dem Flughafen Indira Gandhi. „Alles bestens“, sagt Balu häufig zu Dingen, die ihm gefallen. So auch zu allem was seine Arbeit in der Klinik betrifft. Er ist dort mehr mit Marketing als mit wirklich klinischen Themen befasst. Das Telefon ist das wichtigste ärztliche Instrument bei seinem Job.

Am Hauseingang werden sie von einem Mann, der ein weißes Bollywood-Kostüm mit einer breiten roten Binde um den Bauch herum trägt, empfangen. Er steht neben einem kleinen Hochtischchen mit weißer Decke und schaut beide prüfend an. „Wir sind eingeladen bei Familie Chandra“, gibt Amal zu erkennen. Der Mann schlägt die kleine Mappe, die auf dem Tischchen liegt, auf und fragt nach dem Namen von Amal. „Doktor Suri“, antwortet er. Der Mann macht mit einem Kugelschreiber einen Haken neben seinem Namen und überreicht beiden eine Karte mit einem lustigen Bild von Balu und seiner Familie. Der Mann öffnet die Haustür, macht eine weit ausgeholte Willkommensgeste und wünscht einen wundervollen Abend.

Amal und Amisha fahren mit dem Fahrstuhl bis ganz nach oben. Vor der Wohnungstür steht wieder ein Mann im Bollywood-Kostüm. Sie zeigen ihre Karten, der Mann lächelt und öffnet mit gleicher Geste, wie der Mann unten, die Wohnungstür. Wie von Balu ausdrücklich betont, haben sie keine Geschenke oder sonstige Aufmerksamkeiten mitgebracht. „Ihr seid das Geschenk. Alles andere was ich brauche habe ich bereits - meine liebe Frau, meine lieben Kinder und mein kleines Bäuchlein.“, hatte Balu bei der Einladung gesagt. Im großen Wohnzimmer mit der Glasfront zur Terrasse hin nimmt ein Mann im weißen Bollywood-Kostüm eilends ein Tablet mit mehreren Champagner-Schalen darauf von einer Anrichte und eilt lächelnd auf die beiden Neuankömmlinge zu. „Bitte nehmen Sie sich ein kühles Glas Champagner. Das ist sehr erfrischend und wird Ihnen sicherlich gut tun. Mister Dr. Chandra ist draußen auf der Terrasse und erwartet Sie bereits.“

Durch die offene Terrassentür war die übliche rhythmische Partymusik zu hören, die Stimmen der Partygäste und das Rufen von Rakesh, dem 13-jährigen Sohn von Balu, „Papa, komme doch mal, komme doch mal zu mir!“ „Gleich, mein Sohn.“

„Ah, da seid ihr ja.“, ruft Balu, als Amal und Amisha auf ihn zugehen. Er faltet seine Hände vor der Brust und verbeugt sich leicht in ihre Richtung. Amal und Amisha stellen ihre Champagner-Kelche auf einen nahestehenden Bistro-Stehtisch und erwidern seinen Gruß in gleicher Weise. Es sind bereits mehr als zehn Gäste auf der Terrasse versammelt, wie Amal mit einem schnellen Blick abschätzt und gerade kommen zwei weitere Gäste durch die Terrassentür schreitend hinzu. „Amisha, Amisha, komme doch zu uns herüber!“ Es ist Hema, Balus Frau, die Amisha zu sich ruft. Sie hat ihre langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trägt einen auffälligen, tief herabhängenden dezent farbigen Ohrenschmuck passend zu ihrem weit ausgeschnittenen Cocktailkleid. Hema ist Kinderärztin und arbeitet in Teilzeit in einer Gemeinschaftspraxis mit. Sie liebt Cocktailpartys und große Empfänge.

„Papa, komme doch endlich mal!“ „Amal, mein bester Freund, lass uns schauen, was Rakesh von mir will.“ Beide gehen auf die Terrassenecke zu, in der zwei etwas größere Tische stehen. An einem der Tische sitzt Rakesh vor einem Laptop und einem kleinen daneben liegenden Gerät. Am anderen Tisch sitzt Balus 14-jährige Tochter Reena mit einer Freundin aus dem Haus. Die Kinder springen sofort auf, als sie sehen, dass ihr Vater von Amal begleitet wird und verbeugen sich vor dem herannahenden Begleiter. Balu sieht, dass seine Tochter mit ihrer Freundin Schach spielt. „Schaue dir das mal an, Amal. Das hätte meinem Vater gefallen. Schon vor zwei Jahren hatte ich bereits keine Chance mehr gegen sie zu gewinnen. Ich verstehe auch nicht, wie man stundenlang vor einem Brett sitzen kann, um über den nächsten Schachzug nachzudenken. Sicherlich wird aus ihr einmal eine Wissenschaftlerin und sie wird in der Wissenschaft aufblühen wie seinerzeit mein Vater. Du weißt ja, für mich hatte Wissenschaft nie einen wirklichen Unterhaltungswert. Kurz nachdem mein Vater verstorben war, hatte ich ja im Institut meines Vaters aufgehört. Er hätte mich enterbt, wäre ich vor seinem Tod vor der Wissenschaft geflüchtet. Aber es war ihm wahrscheinlich klar, dass es so kommen wird. Nur wissen wollte er es eben nicht. Es war ihm immer schwer gefallen, zu verstehen, woran ich gerade arbeite, da ich es selber nicht wirklich verstanden hatte. Aber zumindest gut verkaufen konnte ich es.“ Balu lacht schallend auf, als er das sagt.

„Mein Sohn, was gibt es zu berichten?“ Eigentlich ist es Balu bereits ziemlich klar, wieso ihn sein Sohn zu sich ruft. Er hatte ihm nachmittags ein kleines Paket in die Hände gegeben, mit dem Hinweis, dass er das Spielzeug einmal ausprobieren solle. Es sei ein interessantes, tolles neues Spielzeug. Balu hatte es am Tag zuvor von einem Fitness-Club-Kumpel überreicht bekommen. Der arbeitet für das Verteidigungsministerium und versorgt die Runde immer mit aktuellen Geheimnissen und Neuigkeiten aus seiner Branche. „Du hast doch einen Sohn, der sich gut mit Computer und allem drum herum auskennt.“, hatte er zu Balu gesagt, „Hier ist ein neues High-Tech-Spielzeug, das getestet werden soll. Ganz interessant und innovativ. Gib das doch deinen Sohn und sage ihm, er soll es ausprobieren. Bin gespannt, ob er damit wirklich zurechtkommt. Das System soll kinderleicht sein, wird behauptet. Ich selbst kenne mich mit Computer nicht so gut aus und traue diesen üblichen Behauptungen keinesfalls. Bin wirklich gespannt. Weißt du, es handelt sich um eine kleine Drohne, die mit Radarsystem, Aufklärungsdetektoren und großer Reichweite. Einsatz bei Dunkelheit und schlechtem Wetter kein Problem, wird jedenfalls behauptet. Das Besondere ist, dass diese Drohnen sehr klein sind, gegnerische Stellungen erkennen können und die entsprechenden Geokoordinaten der Zielgebiete an autonome Selbstfahr-Raketensysteme geben. Diese feuern die optimale Anzahl von kleinen Raketen innerhalb weniger Sekunden auf das Zielgebiet ab. Die Raketen können während ihres kurzen Fluges nachjustiert werden und lassen für die Ärzte am Ende nicht viel Arbeit übrig. Die gegnerische Partei muss nur noch die Daten der Gefallenen archivieren. Damit ist der Fall dann abgeschlossen. Die eigenen Truppen können derweil weiterhin in ihren Bunkerstellungen Tee schlürfen und im Fernseher Filme anschauen. Das wäre natürlich phantastisch für Indien und könnte helfen, den Kaschmir-Konflikt zu beenden. Gegner mit herkömmlicher Bewaffnung haben überhaupt keine Chance mehr. Die verrecken schon beim Anmarsch.“

„So etwa, darum geht bei der Drohnen-Sache.“, ergänzt Balu leise zu Amal. „Worum geht es nochmal bei dem ewigen Kaschmir-Konflikt im Kern?“, fragt Amal leicht ironisch seinen Freund Balu. „Weiß es auch nicht mehr so genau.“, antwortet Balu, “Ohne diesen Konflikt wird es eventuell zu langweilig in der Politik. Daher werden diese neuen Waffensysteme dort wahrscheinlich auch nicht eingesetzt werden.“ Beide lachen.

„Schau, Papa - hier, das ist ein Bild von unserer Terrasse, oben aus der Luft aufgenommen von der Drohne.“, sagt sein Sohn aufgeregt und stolz, dass er mit Kinderhand alles für den Einsatz der Drohe hat arrangieren können. „Siehst du, die hellen Punkte auf dem Bild, dass seid ihr und die ganzen Leute, die heute Abend hier sind. Papa, weißt du, was die Fadenkreuze bei den hellen Punkten zu bedeuten haben?“ „Nein, mein Sohn, nicht wirklich. Und ich will es auch jetzt gar nicht wissen. Toll, dass du das geschafft hast. Packe das alles bitte wieder in das kleine Paket.“ „Mache ich, Papa. Darf ich die Drohne noch einmal über die Nachbarhäuser fliegen lassen?“ „Meinetwegen, dann soll aber Schluss sein damit. Versprochen?“ „Versprochen!“, antwortet Rakesh.

Der Abend auf der Terrasse verläuft wie geplant. Alle Gäste werden gut unterhalten oder unterhalten sich gegenseitig. Champagner und Cocktails werden gereicht und dazu zu späterer Stunde ein paar leckere Snacks. Balu ist in guter Stimmung und kommt so richtig in Fahrt, nachdem seine Kinder schlafen gegangen sind.

Amal hat zwischendurch an der Brüstung der Terrasse gestanden und zum diesigen Nachthimmel hinauf geblickt. Er hat an die nächste Woche gedacht. An die beiden reichen Familien aus der Textilbranche und die Testergebnisse, die er den Familien nach nochmaliger Prüfung mitzuteilen hat. Und an diese aktuellen Statistiken. ‚Aber jetzt ist erst einmal Wochenende‘.

Es ist nach drei Uhr morgens, als er und seine Frau sich von Balu und seiner Frau verabschieden und mit der herbeigerufenen Rikscha zurück zu ihre Wohnung fahren. Der Morgen graut bereits. Beide sind müde. Es war ein toller Abend gewesen. Sie sind glücklich und zufrieden über ihr Leben und froh darüber, sich bald in ihre Betten legen zu können.

1.2 Bonn - Bad Godesberg - Die Rheinaue

Die Zeiten für alle, die mit Tourismus zu tun haben, sind schwieriger geworden am Rhein. Seit drei Jahren führt der Rhein im Sommer nicht mehr genügend Wasser, damit die Ausflugsdampfer mit den sonst üblicherweise vielen Touristen an Bord den Fluss rauf und runter fahren können. So sind diesen Sommer nur noch selten Touristen am Rhein zu sichten. Etwas verdreht ließe sich sagen, dass diese damit zur eigentlichen Touristen-Attraktion geworden sind - zumindest aus Sicht der darbenden Hoteliers.

Zuerst blieben im Sommer die deutschen und europäischen Gäste weg und seit vorigem Jahr auch die zahlreichen chinesischen Touristen mit ihren gut gefüllten Reiseschatullen. Es hatte sich also bis nach China herumgesprochen. Wenn wundert das?

Eberhard Fichte sitzt auf einer Bank nahe vom eigentlichen Rheinufer. Die Kiesel vom jetzt trocken liegenden Flussbett glänzen in der Mittagssonne. In der Ferne, mehr zum rechten Ufer hin, rinnt noch ein wenig Rheinwasser flussabwärts. Ihn schmerzt dieser Anblick. Er denkt an seine Kindheitstage zurück, als sie am Rheinufer gespielt, Steine ins Wasser geworfen und vergnüglich vorbei fahrende Frachtkähne und Passagierschiffe beobachteten hatten. Es war eine unbeschwerte schöne Kindheit hier am Rhein und das besonders während der Karnevalszeit.

Er hat ein altes Mini-Tablet dabei und schaut in den Email-Empfang. Tatsächlich eine Mail von seinem Sohn Klaus aus Neu Delhi gerade eingetroffen. „Es muss bereits Nachmittag sein in Delhi.“, denkt er sich beim Öffnen der Email. Damals, als er noch selbst ein Hotel in Bonn hatte, hatte er gehofft, dass sein Sohn eines Tages die Nachfolge antreten wird. Klaus hat stattdessen ein Medizinstudium an der Bonner Maximilian-Universität begonnen und ist anschließend in der Wissenschaft geblieben. ‚Vielleicht ist alles gut so, wie es gekommen ist‘, denkt er jetzt mit ein wenig Wehmut daran zurück. Das Hotel war sein Lebenswerk. Er hatte sich schweren Herzens schließlich davon getrennt und durch den Verkauf in fremde Hände übergeben. Seine Krebserkrankung und die damit verbundene Chemotherapie ließen ihm keine Wahl. Er war durch die Erkrankung für lange Zeit zu kraftlos gewesen, um das Hotel mit dem notwendigen Einsatz weiterführen zu können. Zum Glück ist er wieder vollständig genesen und zudem versteht er sich mit dem neuen Besitzer glücklicherweise ganz gut. Ab und zu schaut er in seinem alten Hotel-Zuhause vorbei. Es gehört sehr viel Mut dazu, dass Tom - er duzt sich seit einiger Zeit mit dem neuen Besitzer - trotz der momentanen Umsatzeinbrüche zur Sommerzeit und keiner begründeten Aussicht auf Besserung für die nächsten Jahren, nicht daran denkt, aufzugeben. Tom ist, wie er es war, mit Herz und Seele Hotelier und freut sich über jeden zufriedenen Gast - besonders in dieser misslichen Situation.

Im Textfenster des Email-Programms werden sind jetzt die Textzeilen der Email sichtbar. Eberhard freut sich, eine Nachricht von Klaus erhalten zu haben, vergrößert die Textdarstellung ein wenig und fängt an zu lesen. Diese Email hat Klaus, wie er anmerkt, während einer kleinen Kaffeepause in der Klinik-Cafeteria geschrieben. Es gehe ihm gut und er kommt mit seiner Arbeit zügig voran. Sein Vater solle doch alle, die er treffe und die ihn kennen, recht herzlich von ihm grüßen. An diesem Wochenende will Klaus endlich ein paar Fotos von seinem bisherigen Delhi-Aufenthalt auswählen, aufbereiten und mit kleinen Hinweistexten in seinem Privat-Blog veröffentlichen. Er wird anschließend alle darüber im Familiennetzwerk informieren. Er ermahnt seinen Vater noch, sich während der Hitzeperiode, die Deutschland wohl wieder einmal im Griff hat, nicht zu viel zuzumuten. Das er mit seinen beiden Urenkeln einiges unternehme, sei ganz toll, jedoch solle er in Anbetracht der Hitzewelle sich nicht zu viel zutrauen. Nächste Woche werde Klaus auch einmal durchrufen. Er wünscht seinem Vater ein tolles Wochenende und ein paar schöne Stunden in der Rheinaue. Klaus fragt am Ende noch, ob er noch immer so häufig mit seiner Nachbarin des Abends in der Rheinaue spazieren geht und am Ende beide noch wie gewohnt in dem Biergarten die schöne Aussicht und ein paar Kölsch genießen? So, jetzt muss ich zurück an die Arbeit. Liebe Grüße aus Neu Delhi, Klaus.

Zurzeit ist seine Nachbarin aus dem Nebenhaus mit ihrem Hund für ein paar Wochen zur Kur nach Bad Kissingen gefahren. Das macht sie jedes zweite Jahr. Ihre Tochter lebt in Würzburg, das keine 50 Kilometer entfernt ist. Beide treffen sich während ihres Aufenthaltes des Öfteren - abwechselnd in Bad Kissingen oder in Würzburg. Eberhard freut sich schon auf ihr baldiges Kurende. Die Spaziergänge in der Rheinaue mit ihr zusammen machen einfach mehr Spaß. Später wird er noch mit seinen beiden Urenkeln in der Rheinaue herumtollen. Darauf freut er sich jetzt bereits. Hitzewelle hin oder her, das lässt er sich nicht nehmen und seine Urenkel auch nicht.

Ja, für heute ist vorhergesagt, dass die Lufttemperaturen in Deutschland einen neuen Allzeitrekord erreichen. Es wird vermutet, dass die Temperaturen mancherorts im Rheinland auf über 45 Grad Celsius steigen werden.

Eberhard erinnert sich: ‚Das mit den Emails und sozialen Medien ist schon eine tolle Sache‘. Als in seinem Hotel die ersten Reservierungsanfragen per Email eintrafen, das war aufregend damals. Schnell veränderte das Internet eigentlich gefühlt alles. Dinge wurden per Knopfdruck möglich, die in den Zeiten davor nur in Science Fiction Filmen zu sehen waren. Er erinnert sich an seine Mutter, die noch Briefe mit der alten großen, im Wohnzimmer stehenden Schreibmaschine geschrieben hatte oder mit Füllfederhalter und Tintenfass und hier und da mit einem Tintenkleks auf dem Briefpapier. Wie in seinem Hotel der erste PC eingeführt wurde und anfing die Hotel-Schreibmaschine mehr und mehr zu ersetzen. Wie er irgendwann schließlich die altgediente Schreibmaschine, die nur noch ungenutzt herumstand, schweren Herzens in den Hotelkeller brachte. Dort liegt sie wahrscheinlich auch heute noch in dem Regal gegenüber der Kellertür. An die Telefonzellen, wo die Münzen ausgerechnet dann häufig durch den Münzspeicher fielen, wenn das Fernsprechgerät mit einem nervigen Piepen darauf aufmerksam machte, das Geld nachgeworfen werden muss, um das Gespräch fortsetzen zu können. An die Wählscheiben, bei denen er immer höllisch aufpasste sich nicht zu verwählen. Denn dieses Drehen der Wählscheibe konnte einem den letzten Nerv rauben, falls man sich zu häufig dabei vertat - besonders bei Ferngesprächen mit den Vorwahlnummern. Und schließlich noch die Leute, die vor der Zelle standen und darauf warteten, dass sie endlich an die Reihe kommen und anfingen ungeduldig gegen die Scheiben der Fernsprechzelle zu klopfen. Eberhard beginnt zu schmunzeln - das waren schon verrückte Zeiten damals, die sich die Kinder heute gar nicht mehr vorstellen können. Und die Welt hatte auch ohne Internet funktioniert und er wusste immer, an welchen Orten er seine Freunde antreffen kann. Zu 50 Prozent jedenfalls und mit etwas Geduld oder es waren kleine Nachrichten hinterlegt.

Ein Brief nach Neu Delhi wäre selbst mit der Luftpost wahrscheinlich frühestens drei Tage später an seinem Ziel angekommen. Dabei erinnert sich Eberhard an damalige Berichte aus Goa, über die Bhagwan-Bewegung in Poona und deren bunte, weltfremd anmutenden Selbstfindungstrips und Lebensweisen. An den immer wieder aufgeflammten Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Erst vor ein paar Tagen gingen Meldungen durch die Medien über erneute militärische Auseinandersetzungen dort. An der Konfliktsituation in der Region jedenfalls hat sich seit nun bald 100 Jahren nichts verändert. Doch, ein Konfliktherd in der Himalaya-Region wurde in den letzten Wochen den Meldungen zufolge von den beiden beteiligten Ländern beseitigt. Über den Grenzverlauf zwischen China und Indien in der Himalaya-Gebirgsregion Ladakh ist es zu einer Einigung zwischen den beiden Konfliktparteien gekommen. Und zur Überraschung vieler internationaler Beobachter war in dem Zusammenhang sogar ein Allianz-Abkommen über eine enge wirtschaftliche, technische und politische Zusammenarbeit beider Länder unterzeichnet worden. Damit öffnen sich die Wege für das chinesische Seidenstraßen-Projekt auf den strategisch wichtigen asiatischen Subkontinent zukünftig noch weiter als es in den Jahren zuvor bereits der Fall war.

Eberhard schaut den munteren Enten in seiner Nähe beim Grasen zu. Ihr Geschnatter und wackliger Gang amüsiert ihn immer wieder. Es gibt noch einige grüne Rasenflächen im Schatten von Bäumen, die jeden Abend mit Wasser aus Wassertankwagen besprenkelt werden.

Er denkt nochmals an Klaus und, ob es gut ist, dass er sich solange fern von seiner Frau und Tochter in Indien aufhält. Klaus hätte doch auch nach seinem Studium das Hotel übernehmen und parallel dazu eine kleine Teilzeit-Praxis im Hotel einrichten können. Dann wären Beruf und Familienleben aus seiner Sicht besser vereinbar gewesen. Eberhard weiß, es war damals eine etwas ungewöhnliche Idee von ihm. Klaus hatte sich später noch häufiger darüber lustig gemacht bei der Vorstellung, wie er im Arztkittel und mit Stethoskop schnell an die Rezeption eilt, um eintreffende Hotelgäste einzuchecken und gleichzeitig ein Patient mit Armbinde und Kopfverband durch die Hoteltür kommend auf ihn zu humpelt.

Eberhard nimmt sich auf jeden Fall vor, noch heute Abend seine Schwiegertochter Beate anzurufen, um für nächste Woche einen Treff mit ihr und der kleinen Sonja in Bad Honnef zu arrangieren. Er wird sich in den kommenden Wochen mehr um Sonja kümmern, dass schwört er sich. Zwar nimmt die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Bad Honnef südlich von Bad Godesberg etwas Zeit in Anspruch und zum schmucken Haus in der Nähe vom Schloss Hagerhof sind es noch einmal 15 Minuten Fußweg. ‚Ich muss mir diese Zeit nehmen und Klaus auf diese Weise in seiner Abwesenheit unterstützen‘, das will Eberhard jetzt fest einplanen. Oder soll ich Beate fragen, ob sie mit Sonja nicht zur Rheinaue kommen möchte? Schließlich hat sie ja ein Auto. Beate fährt allerdings nicht so gerne Auto und dann ist sie eventuell genervt, wenn ich sie dazu nötige. Die Rheinaue wäre jedoch schöner und Sonja würde sich bestimmt über das Herumtollen in der Rheinau freuen. Und er könnte dann die Urenkel dazu holen. Das wäre so toll‘. So denkt Eberhard noch eine ganze Weile über die Sache nach, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen, was denn am besten sei, in dieser sich für ihn scheinbar immer mehr verkomplizierenden Frage. Könnte er jetzt mit seiner Nachbarin darüber sprechen, dann hätte sie ihm sicherlich mal wieder schnell sagen können, was das Richtige in diesem verzwickten Fall sei.

Eberhard schaut auf seine Armbanduhr. Es wird Zeit, dass er zu sich nach Hause aufbricht. Ausgeruht vom kurzen Aufenthalt im Schatten der Auenbäume erhebt er sich etwas ungelenk von der Sitzbank und läuft in Richtung der Ludwig-Erhard-Allee. Dort hat er seinen E-Roller abgestellt. Auf dem Weg dahin denkt er an seine Tochter Odette in Manhattan. Sie hatte ihm gestern geschrieben, dass ein schreckliches Unwetter über New York herein gebrochen sei. Er hatte davon auch in den Tagesnachrichten gehört. Marlena hat sich gut in New York eingelebt, hatte Odette ihm geschrieben. Und dass Marlena und sie sich jetzt zunehmend besser verstehen. Das Marlena sie manchmal in den Fitness-Club begleitet. Das hätte Marlena früher nie getan. Überhaupt wolle Marlena in Zukunft einiges anders machen und alles sehe überhaupt gut aus.

Eberhard wusste, dass Letzteres wahrscheinlich nicht so ganz wahr ist und Odette das nur schreibt, damit er sich keine Sorgen macht. Er dachte an Odettes Schulzeit, ihren Aufenthalt als Austauschschülerin in Colchester nordöstlich von London. Wie sie im Abschlussjahr ihres Abiturs an einem Schülerwettbewerb eines deutsch-französischen Wirtschaftsverbandes teilgenommen hatte. Die ganze Familie war damals wie aus dem Häuschen, als bekannt wurde, dass Odette als Gewinnern des Wettbewerbs ein Stipendium für ein Bachelorstudium der Wirtschaftswissenschaften an der Sorbonne in Paris gewonnen hatte. Während ihrer Zeit in Paris lebte sie in einem kleinen Studentenwohnheim im Quartier Latin. Es war eine tolle, aufregende Zeit für Odette gewesen. Aus der Zeit stammt ihre Vorliebe für Baguette, Käse und Rotwein. Anschließend hatte sie in München ihren Master in Wirtschaft und internationales Wirtschaftsrecht gemacht. Während dieser Zeit war sie parallel an der bayerischen Staatskanzlei als studentische Hilfskraft tätig gewesen. Von dort ging es später weiter nach Berlin und Brüssel. Eine ehemalige Studienkollegin aus Paris, die sie zufällig in Brüssel getroffen hatte, holte sie schließlich nach Genf, zur WHO. Während Odettes Zeit in München war Undine zur Welt gekommen. Odettes Mutter Resi lebte zu der Zeit bereits wieder am Schliersee, in der Nähe von München und hatte Odette tatkräftig unterstützt und sich viel um die kleine Undine gekümmert. Von Frank hat sich Odette ungefähr zwei Jahre nach der Geburt von Undine getrennt. Frank lebt heute noch in München und Undine hat Kontakt ihm, was Eberhard freut. Zu Resi, seiner ersten Frau und Mutter von Odette, hat er auch noch regelmäßigen Kontakt. Irgendwie sind sie Kumpels geblieben. Einige Jahre nach ihrer Scheidung war Resi an den Schliersee zurückgekehrt und lebt seitdem dort zufrieden und glücklich in ihrer alten Heimat nahe den Alpen, die sie über alles liebt. Ganz sicher - Resi hatte auch Eberhard geliebt und er sie und Resi auch ein bisschen das Rheinland. All das bleibt für immer im Herzen. Resi und er telefonieren häufiger und sehen sie sich alle Jahre. Eberhard bleibt stehen, schaut den Weg zurück und seufzt ein wenig in der Erinnerungswehmut, die ihn gerade begleitet. Die Zeit ist zurückblickend so schnell vergangen.

Als er die Allee erreicht, stellt er sich auf seinen E-Roller und fährt zu seiner Wohnung. Er geht hoch, macht sich ein Käsebrot, trinkt dazu den kalten Tee von heute Morgen und legt sich noch etwas hin.

Am frühen Nachmittag steht Eberhard wieder auf und bereitet sich auf das Abenteuer Rheinaue und Urenkel vor. Er nimmt wieder seinen E-Roller, um zu Undine zu fahren. In der Nähe der Danziger Straße setzt er sich noch für einen kurzen Moment auf eine Bank.

Eberhard zündet sich eine Zigarette an, zieht langsam, genüsslich, aber auch nachdenklich an dem Glimmstängel, beobachtet, wie der grau-weiße Qualm nach oben steigt und sich nach und nach in der Luft auflöst. Ein leichter Wind ist aufgekommen und die Sonne wird ab und zu etwas von kleinen Schönwetterwolken verdeckt, die sich unerwartet am Himmel gebildet haben. ,Wie viele solche Tage hab ich wohl noch`, fragt er sich jetzt insgeheim, und plötzlich erschauert es ihn ein wenig. Das Wissen um die Endlichkeit des Seins und das Wissen um die vielen verlorenen Stunden, die letztendlich auf der Abrechnung seines Lebensstatus verbucht sein werden! Bereits bei seinen Eltern und vielen Freunden musste er es miterleben, wie unerbittlich die Endlichkeit des Daseins ist, wie sich der Tod vehement einen Menschen nach dem anderen aus dem Leben stiehlt.

Was für ein ganz besonderes Glück es ist, dass er, der 76-jährige Eberhard Fichte, noch seine Urenkel miterleben darf, wird ihm noch einmal glasklar bewusst. Das ist absolut keine Selbstverständlichkeit, genauso wenig wie die Tatsache, dass er noch körperlich voll beweglich ist, von seinen geistigen, mitunter abstrusen Gedankengängen ganz zu schweigen!

Er lässt die Zigarette auf den Boden fallen und drückt sie demonstrativ, den braunen Schuh hin und her bewegend, solange aus, bis sich nur noch kleinste Brösel auf der Erde befinden.

Entschlossen schreitet er schnellen Schrittes auf die beige-weiße Häuserreihe der Danziger Straße zu. Hier, in einer dem Deutschen Beamtenbund unterstehenden Wohnung wohnt seine Enkelin Undine mit ihrem Mann Bernd und den beiden, sehr lebhaften 5 und 3 jährigen Kindern Till und Elly. Gewöhnlich war Undine immer äußerst froh darüber, wenn Opa Eberhard ihr die beiden Quirlgeister für ein paar Stunden entführte.

Jetzt in der wiedergekehrten Sommerhitze sieht sie das allerdings mit anderen Augen. Auch aus Sorge um ihren Opa. Die Familie hatte deshalb lange darüber beraten, wie nun am besten mit der Hitzesituation umzugehen sei.

Bernd und Undine wollten zum Schutz von Eberhard den Aufenthalt in der Hitze draußen möglichst vermeiden. Eberhard und die beiden kleinen „Gangster“, wie ihr Großvater sie oft liebevoll nennt, waren absolut dagegen. Eberhard hatte beide einmal im Beisein der Kinder als Spaßbremser bezeichnet. Seitdem rufen die Kinder bei kleinen Diskussionen um die Dauer des Herumtollens und den Rahmenthemen drum herum immer laut und dabei hin und her hüpfend: „Spaßbremse, Spaßbremse!“

So hatten sich schließlich Alt und Jung durchgesetzt. Bernd und Undine hoffen, dass es ihnen erspart bleibt, dieses Nachgeben nicht eines Tages zutiefst bedauern zu müssen.

Eberhard schellt an der Hausklingel der Familie Bode, wie auch Enkelin Undine seit der Heirat mit ihrem Mann Bernd Bode heißt. Sofort ist ein lautes Kreischen zu vernehmen, helle Kinderstimmen schallen durch das Treppenhaus. Die Kinder sind bereits angekleidet, da alles vorab genau vereinbart wurde, und Eberhard wie gewöhnlich sehr pünktlich ist. Er lässt es sich aber nicht nehmen, die Treppe noch hoch zu spurten. Er sieht das sportlich, jeden Tag sollte sich ein Mann in seinem Alter einmal so richtig herausfordern. Oben im zweiten Stock angekommen, japst er dennoch ein wenig. Man ist eben doch keine 17 mehr!

Undine trägt ein hellblaues sommerliches Kleid, Bernd ist nicht da. Aus der Wohnung quillt der Geruch von Kartoffel und würzigen Fleischklößen hervor. Undine liebt es, im Gegensatz zu Mutter Odette, zu kochen, und die Familie mit ihren delikaten Speisen zu verwöhnen.

„Opa, ich gebe dir nachher einen Topf mit, du fällst mir ja schon fast aus den Rippen! Du kannst dir die Frikadellen in deiner Mikrowelle aufwärmen“, meint Undine zu ihrem Großvater, der leicht hechelnd vor der Wohnungstür steht.

„Wir sollten noch einmal darüber sprechen, ob es nicht wirklich besser ist, dass du abends mit den Kindern spielen gehst!“ Das war Eberhard aber nicht so recht, da er sich am Abend häufig mit noch verbliebenen Freunden und Bekannten trifft oder mit ihm nahen, jedoch weiter entfernt wohnenden Menschen telefoniert oder chattet. Zudem ist er immer noch im Bonner Gaststätten- und Hotellerie-Verband Ehrenmitglied und nimmt in der Regel aus alter Leidenschaft und einem verbliebenen Interesse an deren Versammlungen und Biertischrunden teil.

Wenige Minuten später laufen Eberhard und die beiden Kinder in zügigem Tempo die Straße zur Rheinaue herunter. Er hat davor Undine noch die herzlichen Grüße von Klaus ausgerichtet. Fast hätte er es vergessen. Es dauert keine fünf Minuten, dann haben sie das beginnende Grün erreicht. Nun beginnt ein großzügiges Areal mit Wiesen, Bäumen, Blick auf den Rhein. Beziehungsweise auf das zurzeit beinahe ausgetrocknete Flussbett. Wie immer ist die allererste Station der Kinderspielplatz vorne rechts am Parkeingang. Eberhard lässt sich auf seine Stammsitzbank am Spielplatzrand gleiten. Das schnelle Tempo der lebenshungrigen Kinder hat ihm heute einiges abverlangt. Nun kann er sich eine kleine Auszeit gönnen, während die beiden Urenkel sich auf die Spielgeräte stürzen.

Sie haben eine Vereinbarung. Opa Ebi, wie ihn die Kinder nennen, bekommt gute 15 Minuten Ruhe auf seiner Holzbank, die im Schatten der großen Eichenbäume ringsherum steht. Zeit genug, um sich noch einmal eine Zigarette zu genehmigen. Der graue Qualm kräuselt sich wieder gen Himmel, und Eberhard schaut den sich auflösenden Fäden nach.

Er kneift die Augen leicht zusammen, denn das grelle Licht der Sonne lässt die Luft flimmern. Er liebt diese Wärme viel mehr als die Kälte im Winter. So hat der Klimawandel aus seiner Sicht auch Vorteile mit sich gebracht. Er schließt die Augen. Ruhe und Zufriedenheit erfüllt ihn. Das fröhliche Lachen der Kinder, das Bellen eines Hundes, das warme Licht.

„Ii, Opa, du hast schon wieder geraucht!“, fährt ihn der fünfjährige Till plötzlich an, und reißt ihn aus seiner Trance. „Komm jetzt, du musst mit uns spielen!“ Eberhard richtet sich etwas unbeholfen auf, und stapst dem kleinen Jungen hinterher. Jetzt kommt eine richtige Arbeit auf ihn zu, was ihn doch des Öfteren an seine körperlichen Grenzen stoßen lässt. Es heißt, die schwergängige Seilbahn immer wieder zurück zu ziehen, selbstverständlich mit dem kräftig gebauten Till obendrauf, und dasselbe mit der nur wenig leichteren Elly. Beide Kinder sind gut genährt, und lechzten den Bewegungsgängen mit ihrem Ur-Opa entgegen. Die seit der Geburt der Kinder übergewichtige Undine ist nicht sehr bewegungsfreudig, und Vater Bernd arbeitet viel. So ist es schon lange zum Usus geworden, dass Eberhard die Kinder ins frische Grün entführt, und mehrmals wöchentlich jeweils an die drei Stunden mit den Beiden in der Rheinaue verbringt. Eberhard liebt die Rheinaue wie keinen anderen Park, und verknüpft so viele Erinnerungen an diese mehrere Kilometer lange Weite.

Nach dem Spielplatz geht es für die Drei immer hinunter ins Kiesbett der Rheinaue, wo die Kinder und Eberhard besondere Steine und anderes Interessantes sammeln, und sich der mitgeführte grüne Rucksack von Eberhard zunehmend füllt.

Danach laufen sie meist noch einige Kilometer gen Bonn-Zentrum auf dem Rheinaue-Weg entlang. Einfach, um sie zu bewegen. Wobei die Kinder meist einige Meter vorlaufen und dann wieder zurück, denn sie sind doch um einiges schneller als Eberhard. Ziel ist nicht selten das Tiergehege am Rheinaue-Weg. Dort halten die Drei inne, die Kinder drücken ihre Gesichter und Körper an den Maschendraht. Manchmal kommen die Hirsche an den Zaun heran, in der Hoffnung auf Essbares. Manchmal dösen sie aber auch auf der Wiese weit hinten, und die Kinder können noch so viel rufen und zappeln, sie lassen sich in ihrer Ruhe nicht stören. Heute sind allerdings mehrere Tiere ganz vorne am Zaun, und die Kinder kreischen vor Belustigung und Erregung auf, denn die Damm-Hirsche strecken ihre Zungen durch den Zaun zu ihnen hindurch. Eberhard verteilt getrocknete Nudeln an Till und Elly. Vorsichtig stecken die Kinder die langen Spaghetti-Stangen den Tiermäulern entgegen.

Eberhard macht einige Fotos mit seinem I-Phone und sendet die Bilder an Undine. Die antwortet sofort mit einem Smily Emoji. 20 Minuten später trotten alle Drei zufrieden und glückserfüllt den langen Rheinaueweg zurück. Die Kinder und Eberhard sind ausgelaugt, ihre Gesichter gerötet, die Körper verschwitzt.

Endlich am Haus Danziger Straße angekommen, kraxeln sie erschöpft die Treppe nach oben in den 2. Stock. Undine hat die Tür schon geöffnet, und die Kinder stürzen, sich ihre Klamotten vom Leibe reißend, in die Wohnung. „Bitte sehr, mein liebster Opa“, begrüßt sie ihren Großvater freundlich, „hier ist ein großer Topf Kartoffelsalat mit ein paar Frikadellen für dich, damit du mir nicht verhungerst! Du kannst ihn mir übermorgen zurück bringen.“ „Mach ich, vielen lieben Dank, Undine!“ entgegnet ihr Eberhard. „Ich hab dich sehr lieb, auch wenn ich dich ja jetzt nicht drücken kann, mit dem Topf in den Händen!“ „Das weiß ich doch“, erwidert Undine. Sie verabschieden sich mit einem gegenseitigen Lächeln, und Eberhard geht langsam, den Topf in seinen ausgebreiteten Händen haltend, die Treppe hinunter.

Eine halbe Stunde später sitzt er zu Hause am Küchentisch, den Teller mit dem Rheinischen Kartoffelsalat und den Frikadellen vor ihm aufgebaut. Genüsslich führt er Gabel für Gabel zu seinem Mund. Wie gut sie bloß immer kocht, seine Enkeln, denkt er bei sich und ein wenig Wehmut an seine erste Frau Resi, der Oma von Undine, die ihn auch so gerne mit ihren bayerischen Kochkünsten verwöhnt hat, kommt auf.

Der Klimawandel macht ihm Sorgen. Besonders, wenn er dabei an seine Urenkel denkt. Zwar mag er selbst die Wärme, jedoch nicht die großen Schäden, die dieser Wandel bereits jetzt mit sich gebracht hat. Eines ist ihm gewiss - die Welt hat sich zu ihren Ungunsten verändert. Die Natur reagiert auf konsequente Art und Weise auf das, was die Menschen ihr jahrzehntelang angetan haben. Und er kann es der Natur, das ist das eigentlich Beängstigende, noch nicht einmal übel nehmen. Es erscheint ihm, als hole sich die Natur jetzt eine gewaltige Energie aus ihren Tiefen, um gegen ihre unerbittliche Ausbeutung und Erniedrigung entschlossen zur Wehr zu setzen. Das Bild der ausgetrockneten Rheinrinne baut sich in seinen Gedanken vor ihm auf. Vermischt sich mit dem aus früheren Zeiten, wo zu allen Jahreszeiten die Rheindampfer, eine gewisse Heiterkeit mit sich führend, den Fluss entlang fuhren. Seine Augen werden bei den Gedanken daran feucht.

Er isst schnell die Reste vom Teller leer, geht hinüber in sein Wohnzimmer mit Couch und Sesseln. Er lässt sich auf die weiche geblümte Garnitur fallen, zieht die dunkelbraune leichte Decke über seinen Körper, und versinkt in einen tiefen Schlaf. Sein Mund klafft auf, der rechte Arm fällt seitlich herunter.

1.3 USA, New York - Das Unwetter

Zwei Tage lang hatte der Wirbelsturm bereits seine Wassermassen über New York abgekippt. Heute Nachmittag verbesserte sich die Lage. Der orkanartige Wind, der vom Meer her über die Stadt fegte, ließ nach und der Sturzregen verlor an Intensität. Martin Wesson geht den Treppenaufgang hinunter ins Foyer des UNO-Gebäudes am East River. Die Fahrstühle fahren bereits den ganzen Tag nicht mehr und die Notstrom-Beleuchtung ist eingeschaltet. Er steht jetzt auf dem unteren Treppenabsatz. Im Foyer ist Wasser eingedrungen und bedeckt knöchelhoch fast den gesamten Fußboden. Ein seltsam modriger Geruch liegt in der Luft. Zwei Service-Mitarbeiter in Gummistiefeln waten durch das trübe Wasser an ihm vorbei in Richtung Haupteingang. Martin macht kehrt und geht die Treppe zurück in die zweite Etage des Hochhauses. Dort wartet Odette Schimon auf ihn. Sie sind verabredet, um über die aktuelle Situation des UN-Sitzes in New York zu sprechen und über mögliche Alternativen für die Zukunft. Beide kennen sich seit ein paar Wochen, verstehen sich gut und sprechen sich mit Vornamen an. Odette leitet die Kommission für die Standort-Frage des UN-Hauptsitzes. Die Kommission ist am Anfang des Jahres eingerichtet worden. Odette war zuvor als WHO-Gesandte der deutschen Regierung in Genf tätig. Aufgrund ihrer Kenntnisse und ihres diplomatischen Geschicks war sie für die Übernahme des Kommissionsvorsitzes vorgeschlagen worden. Odette ist ehrgeizig und diese Position ist ein Meilenstein auf ihrem Karriereweg. Sie hatte damals keinen Augenblick daran gedacht, diese Chance auszuschlagen - sich geschickt einen Tag Bedenkzeit geben lassen und dann ‚Ja‘ gesagt.

Martin läuft über den Flur der zweiten Etage an den breiten, offenstehenden Türen eines menschenleeren Konferenzsaales vorbei und geht auf eine Tür nahe der Fensterfront zu. Noch immer klatscht der Regen prasselnd gegen die Fensterscheiben. Martin klopft und öffnet die Tür. Es ist ein großer Büroraum mit einer Sitzecke und einer langen Klappcouch sowie einem Gummibaum, zwei großen Schreibtischen und einer Meeting-Tischreihe für mindestens 12 Personen. Zum Büro-Ensemble gehören zudem ein eigenes Bad, ein separates WC, eine kleine Küche und ein kleiner Technikraum. Martin ist bereits häufiger in dem Büro gewesen und kennt einige, eigentlich unbedeutende Geheimnisse dieser Räumlichkeit.

Odette sitzt an ihrem Schreibtisch gegenüber der Eingangstür. Sie schaut auf zu Martin und lächelt. „Hello, Odette“, sagt Martin mit dem ihm eigenen charmanten Unterton. „Schön, dass du kommst, Martin“, erwidert Odette, „Bitte nehme doch einen Moment Platz in der Sitzecke. Ich muss hier noch eine wichtige Nachricht fertigmachen. Danach komme ich gleich zu dir.“

Martin nimmt sich einen bequemen Sessel und pflanzt sich hinein. Er schaut in Richtung der Fenster und Odettes‘ Schreibtisch. Sie ist fleißig am Tippen und schaut zwischendurch immer auf den Bildschirm vor ihr.

Odette hat schulterlange blonde, mittlerweile künstlich aufgehellte Haare, und trägt einen Mittelscheitel. Sie ist 50 Jahre alt, aber wirkt bei Weitem jünger. Ihr Gesicht ist etwas rundlich, und ihre weichen Gesichtszüge und ihr stets freundlich an den Mundwinkeln nach oben gezogener Mund verleihen ihrem Äußeren einen sympathischen heiteren Eindruck. Ihre Statur ist schlank, und für eine Frau ungewöhnlich durchtrainiert. Das verdankt Odette ihren regelmäßigen Besuchen im Fitness-Studio, das sie gewöhnlich in Arbeitspausen oder nach der Arbeit sowie am Wochenende aufzusuchen beliebt. Ohne "Das Hopsen", wie sie ihren Sporteifer zu betiteln pflegt, fühlt sie sich unausgelastet und leer. Zweimal war Odette bereits verheiratet, und ihre drei inzwischen erwachsenen Kinder leben tatsächlich auf drei Kontinente verteilt. Die älteste Tochter Undine stammt aus Odettes erster Ehe mit einem ehemaligen Studienkollegen aus ihrer gemeinsamen Studentenzeit in München. Undine ist nach dem baldigen Scheitern dieser nur knapp zwei Jahre bestehenden Ehe überwiegend bei den Großeltern Fichte in Bonn aufgewachsen. Am Rhein lebt Undine noch heute, ist aber ihrerseits bereits verheiratet und Mutter von zwei kleinen Kindern. Anders als ihre Mutter hat Undine nie eine berufliche Karriere angestrebt, sondern früh eine eigene Familie gegründet und scheint mit ihrem Muttersein glücklich ausgefüllt. Odettes Kinder Laurin und Marlena stammen aus ihrer zweiten langjährigen Ehe mit einem Schweizer Geschäftsmann. Sohn Laurin arbeitet, supportet durch seinen Onkel Klaus, als Praktikant bei der Huwin Corp. in der chinesischen Millionenstadt Nanning, und ist mit einer Chinesin verheiratet. Die jüngste Tochter Marlena ist nach vorzeitigem Schulabbruch und begonnenen und wieder abgebrochenen Ausbildungen ihrer Mutter Odette kürzlich nach New York gefolgt, wo sich beide das relativ bescheidene Loft im 23. Stock eines Hauses in der 56th Street nahe der Park Avenue in Manhattan Midtown teilen. Wegen Marlenas unstetem Lebenswandel und ihrem, wie Odette es zu beschreiben beliebt ewigen "mess around", gibt es zwischen den beiden Frauen regelmäßig heftige Reibereien. Außer gelegentlichen Kurzzeitjobs hängt Marlena eigentlich meist nur im Appartement herum, schläft endlos lange, und macht sich, wenn die Mama abends erschöpft von Arbeit und Hopsen nach Hause kommt, gerade fertig, um ins New Yorker Nachtleben zu starten. Das Geld für diese ständigen Spritztouren versucht sie von Odette zu erpressen, und es kommt durchaus vor, dass sie Schubläden und Schränke in der Abwesenheit ihrer Mutter durchwühlt, auf der Suche nach Geld und anderem Nützlichen.

Längst muss sich Odette eingestehen, dass sie bei der Erziehung ihrer jüngsten Tochter offensichtlich versagt hat, und, dass Marlena womöglich sogar Drogen konsumiert. Sie macht sich Vorwürfe, für ihre Jüngste nicht genügend Zeit und Aufmerksamkeit gehabt zu haben aufgrund ihrer vielfältigen beruflichen Verpflichtungen und Reisen. Es wurmt sie sehr, dass gerade sie, die Odette Schimon, die sich stets mit ihrer zielgerichteten, untergründigen, für viele gar nicht bewusst wahrzunehmenden Dominanz durchzusetzen vermag, und die nicht wenige politische Bewunderer hat, im Privaten wie schon so oft zuvor, wieder einmal gescheitert ist.

Jetzt gönnt Odette aber ihre alleinige Aufmerksamkeit dem Australier Martin Wesson, der bezüglich des Gespräches auf sie wartet. Sie legt alle Unterlagen zur Seite, schaltet den Laptop aus und die kleine Schreibtischlampe. Odette erhebt sich von ihrem Stuhl, und man sieht ihren grazilen und zugleich sportlichen Körper, der durch die enge glänzende blaue Legginghose und das zartrosafarbene, straff sitzende und ihre Konturen betonende Shirt betont wird. In ihrer Freizeit liebt es Odette, sich leger zu kleiden. Stets hat sie eine Zweit- oder sogar Drittgarnitur mit am Arbeitsplatz, die sie in ihrer großen knallroten Trainingstasche verstaut hält. Vor einer Stunde noch hatte sie eine sehr elegante graue Kombination von Jacket und Schlitzrock getragen, darunter eine weiße Bluse, und dazu leicht erhöhte schwarze Schuhe, alles perfekt aufeinander angestimmt. Keine Frage, Odette weiß sich zu kleiden! Und sie schlüpft gekonnt von einer Rolle in die nächste, nahtlos, als wäre sie in allen diesen Leben zuhause. Für ihren Vertrauten Martin hat Odette kleidungstechnisch bereits in den "Free-Time-Modus" umgeschaltet, da es durchaus denkbar ist, dass sie sich im Anschluss an das Geschäftliche in einer der lauschigen In-Bars von Manhattan-City einen kleinen Umtrunk zusammen genehmigen werden, wobei Odette insgeheim bereits den von ihr geliebten "Sporty 55-NYC-Club" im Visier hat.

Dear, Martin!" Sie wendet sich lächelnd, aber bestimmt zu ihm, und ihre grau-blauen Augen blitzen fragend auf: "Was kann ich heute für dich tun?" Martin, das ist ein Mann, der Odette gefällt. Er hat wie sie selbst ein freundliches Wesen und einen heiteren, mitunter leicht zynischen Humor, ist ein Diplomat mit Umgangsformen, und wie sie selbst ein lebensfroher Mensch. Der diplomatische Dienst scheint Beiden einfach so zuzufallen, ohne, dass man den durchaus investierten Fleiß und Ehrgeiz, der dahinter steckt, zu spüren vermag. Als Australier hat Martin stets einen flotten Spruch auf Lager, der die Situation sofort entspannt. Seine hellen blauen Augen leuchten Odette fröhlich an, und die mittlerweile nicht wenigen Falten in seinem Gesicht machen sein Lächeln authentisch. Martin, von mittelgroßer, hagerer Statur, trägt sehr kurze Haare, dessen Blond allmählich ins Grau übergeht, und eine leichte Stirnglatze offenbart. "Business! Let´s go!", begrüßt Martin nun seine Bekannte. Beide nehmen dicht nebeneinander an dem Tisch Platz und breiten mehrere Papiere darauf aus. Während sie die Dokumente studieren, lachen sie immer wieder laut auf, und vor allem Odettes kräftige Stimme durchhallt den gesamten riesigen Büroraum. Odette liebt den australischen Akzent in Martins Englisch und neckt ihn gern allzu oft damit. Doch heute steht ein von der Materie her nicht ganz so einfaches Schriftstück zur Beurteilung an, und beide schweigen auf einmal mehrere Minuten nachdenklich beim Lesen der Papiere, was bei den Beiden tatsächlich ausgenommen selten vorkommt. Martin runzelt ablehnend die Stirn: "Was meinst du dazu, liebe Odette?" Ungewöhnlich ernst blicken sich beide an, fragend. Eine beklemmende Stille erfüllt den Raum. Nur das Prasseln des Regens gegen die Bürofenster wird für einen kurzen Augenblick intensiver und lauter. Beide schauen sich in die Augen. Odette fängt an zu lachen, „Was denken die sich? Dass die UNO ein Haus voller käuflicher Ja-Sager wird?“ „Ja“, stimmt Martin zu, „in dem Papier steckt die gönnerhafter Arroganz eines neu-reichen Machtprotzes.“ „Zum Glück haben die Chinesen es noch nicht mit ihrer Künstlichen Intelligenz geschafft, dass ein von mir hier gedruckter Text aus Peking ihnen jetzt unser Gespräch darüber übermittelt“, merkt Odette an und fängt wieder an zu lachen. Allerdings unterbricht Odette das Lachen abrupt und guckt beinahe etwas zweifelnd und tief durchatmend auf den Text in ihren Händen. Jetzt lacht Martin auf, „Nein, das können die noch nicht.“, und klopft sich mit der rechten Hand auf seinen Beinschenkel. „Jedoch ein Büro verwanzen, das können die allerdings so gut wie wir - you know that little secret.", merkt Martin an. „Dieses Büro ist vor ein paar Tagen gecheckt worden. Alles okay.“, erwidert Odette. Martin reckt sich etwas, „Die wissen eh, wie wir so reden. Und denen ist gewiss auch klar wie wir erst einmal darauf reagieren werden. Das ist ja schon reinkalkuliert in die Sache.“ „Ja, wir kennen dieses sich wiederholende und abgedroschene diplomatische Spiel und die Spielregeln. Wieso sollte es in diesem Fall anders sein?“

Odette steht auf. „Ich mache uns erst einmal einen Kaffee“, sagt sie und geht zur kleinen Büroküche. Auf dem Weg zur Küche schaut sie im Vorbeigehen aus einem der Bürofenster. Der Himmel scheint endlich wieder auf zu klaren. In der Küche bereitet sie die Kaffeemaschine vor, holt zwei große Tassen, Löffel, Zucker- und Kaffeeweißer-Tütchen aus dem Hängeschrank und arrangiert alles um eine kleine Schale mit Cookies auf dem bereitgestellten Tablett. In einer Ecke der Anrichte sieht Odette zwei Flaschen Ahrweiler Rotwein aus ihrer alten rheinischen Heimat stehen. ‚Vielleicht für später‘, denkt sie, ‚Das mit einem Absacker im Sportfy-Club wird heute wahrscheinlich im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser fallen‘. Als der Kaffee fertig ist, stellt sie die Kaffeekanne dazu, geht zurück zur Sitzecke und platziert das Tablett für beide in bequemer Greifnähe auf dem Tisch. „Thanks, wonderful“, Martin nimmt die Kaffeekanne und gießt den heißen Kaffee in die beiden Tassen. „Danke, Martin.“ Odette nimmt sich je eine Tüte Zucker und Weißer und rührt beides in den Kaffee. Beide schlürfen an ihrem Kaffee, der jetzt sogar in der Nähe der Tassen ein wenig von seinem Aroma erkennen lässt. „Riecht nach UNO“, sagt Martin spitz, während er die Tasse wieder abstellt. Beide fangen an zu lachen. „Ja, Hausmarke“, bestätigt Odette lachend, „Wie die Cookies“.

Noch nie hat die UNO wirklich in Geld und Überfluss geschwommen. Die Haushaltslage der UNO ist in den letzten Jahren wieder einmal sehr angespannt. Zu den wichtigsten Beitragszahlern gehören seit langem bereits noch immer die USA, China, Japan, Deutschland und Frankreich. Deren Anteil am Gesamtbudget der UNO machte in den vergangen Jahren etwa 60 Prozent aus. Die USA ziehen sich allerdings verstärkt aus ihrem UN-Engagement zurück. Das betrifft leider auch die Höhe der von den USA geleisteten Beitragszahlungen. Die Gründe des Rückzugs sind hierbei vielfältig. Generell haben die USA sich in diesem Jahrzehnt zunehmend aus Beteiligungen an internationalen Angelegenheiten zurückgezogen. Ursache dafür sind unter anderem die zunehmenden Rassenkonflikte in vielen US-Staaten, in die Jahre gekommene Militärtechnik und Klimaprobleme. Wetterextreme und die Anzahl der Hurrikane steigen aufgrund des Klimawandels und der damit verbundenen Zunahme der Meerestemperaturen. Die Durchschnittstemperatur der Atmosphäre ist weltweit um mehr als 1,6 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit im Jahr 1870 gestiegen. Die Produktion von Weizen und Sojabohnen ist wegen der daraus folgenden Klimaveränderungen rückläufig. Damit verringern sich die Exporteinnahmen aus der Agrar-Wirtschaft und liegen so mit im Negativ-Trend der gesamtwirtschaftlichen Situation der USA. Für New York ist ein weiterer Punkt in Sachen Klimawandel von großer Bedeutung. Die Stadt wird vom Anstieg des Meeresspiegels zunehmend bedroht. Seit dem Jahr 2000 ist der Meeresspiegel weltweit um mehr als 15 Zentimeter angestiegen und sorgt in Manhattan für häufiger werdende Überflutungen durch Meerwasser. Das sich bei Stürmen auftürmende Meerwasser wird über die Ufer der Stadt getrieben und überflutete im vorigen Jahr sogar ganze Stadtviertel Manhattans. .

Aufgrund dieser aktuellen Entwicklungen und der daraus folgenden mittel- und langfristig ungünstigen Perspektiven für den Standort New York hat der Generalsekretär der UNO, in Absprache mit dem UN-Sicherheitsrat, das Komitee zur Klärung der Frage eines alternativen zukünftigen Standortes für das UNO-Hauptquartiers eingerichtet. Unter seinem Vorsitz soll das Komitee mögliche Standorte untersuchen und bewerten. Den Vorsitz des am Anfang des Jahres eingerichteten Komitees hatte einen Monat nach dessen Gründung Odette aufgrund deutscher Einwirkung als völliger UN-Neuling übernommen. Der Generalsekretär der UNO hatte dem schließlich zugestimmt. Auch ihm war es zu guter Letzt wichtig, eine möglichst wenig in den diplomatischen Netzen des UN-Hauptquartiers verstrickte Führung in der Sache einzusetzen. In dem Zusammenhang war dann auch der australische Vorschlag willkommen, einen erfahrenen und erst seit kurzer Zeit in New York befindlichen Diplomaten aus ihren Reihen als Co-Assistenz beizusetzen. Für Martin Wesson war die Berufung in diese diplomatische Position ein Achtungserfolg.

Odette nimmt die Seite mit der Übersicht der chinesischen Angebote und Forderungen aus der vor ihr auf dem Tisch liegenden Mappe und geht sie mit Martin durch.

„Der Anfang hört sich erst einmal gut an.“, sagt Odette bereits mit einem gewissen Unterton, „Die chinesische Regierung bietet ein großes Areal in Peking an, nahe dem Tian’anmen. Also sehr zentral und normalerweise unbezahlbar. Zudem will Peking die gesamten Baukosten für das neue UNO-Hauptgebäude und die notwendigen Nebengebäude übernehmen.“ „Ja, phantastisch“, bemerkt Martin grinsend, „Australien wäre pleite bei solchen Geschenken. Mit Speck fängt man Mäuse, hätte der alte Haudegen Deng Xiaoping bestimmt dazu gesagt.“

„Ja, der Spruch hätte zu ihm gepasst. Das war ein äußerst gewiefter, weitsichtiger Politiker, dem China viel zu verdanken hat. Das ist jedenfalls meine Meinung. Und dann will Peking zudem die Kommunikations- und Informationstechnik für alle Gebäude zur Verfügung stellen. Was hier nicht als Angebot zu verstehen ist, sondern eher als Voraussetzung und nicht diskutierbarer Bestandteil des Gesamtpaketes.“

„Ja, wir sind die schlauen Chinesen und alle anderen sind völlig stupid oder was denken die?“, fragt Martin rhetorisch und fängt an laut zu lachen und sich dabei fast nicht mehr einzukriegen. Mit Lachtränen in den Augen nimmt er erst einmal einen Schluck Kaffee zu sich und schaut Odette an. „Ja, herrliche Lachnummer. Aber wir sollten das nachher richtig einordnen und abwägen mit dem, was die Chinesen bei alledem im Kern aus unser beider Sicht erreichen möchten. Das ist sicherlich keine so harte Nuss, die von uns zu knacken ist. Wir wissen ja, Kompromisse liegen am Ende nicht bei den Extrempositionen, sondern irgendwo dazwischen. Und das wissen die ja auch und setzen gleich hoch an. Sie haben nichts zu verlieren.“ „Ist ja richtig, Odette“, stimmt Martin zu und wischt sich die Lachtränen aus seinen Augen: „Die Welt ist ein Irrenhaus und hier ist bekanntermaßen die Zentrale.“

„Da ist etwas dran, Martin, durchaus. Hier im Haus ist die Zentrale.“ Beide fangen erneut an zu lachen. „Der nächste Punkt ist ja eine Selbstverständlichkeit und pro forma mit benannt. Ohne Zusicherung eines allzeit freien Zugangs für alle führenden Staatsvertreter zum UNO-Areal wäre die UNO per se eine Behinderte. Es stände im Widerspruch zu geltendem Völkerrecht. Jetzt wird es interessant Martin. Du siehst es ja auch auf deiner Kopie vor dir.“

Martin nimmt das Papierblatt mit der Punkte-Liste in seine rechte Hand und lehnt sich in den Sessel zurück. „Ja, hier wird es wirklich interessant. China fordert für sich ein Contra-Recht auf das erweiterte Vetorecht im Sicherheitsrat. Das Contra soll nur durch drei der fünf Stimmen der ständigen Vertreter und Vetomächte aufgehoben werden können. Und China ist eine der fünf Vetomächte.“ Martin will schon wieder anfangen zu lachen, verkneift es sich aber.

„Das erinnert mich gerade an das deutsche Skatspiel mit Contra und Re. Dieser Punkt ist so völlig inakzeptabel. Zwar funktioniert der Sicherheitsrat nicht wirklich gut, aber es ist trotzdem gut, dass es ihn gibt. Bei einem solchen Contra würden die anderen Vetomächte die UNO oder zumindest den Sicherheitsrat verlassen. Und bald danach könnte der chinesische Hausmeister eventuell die Kommunikationssysteme runterfahren und das Licht im UNO-Hauptgebäude ausschalten. Das weiß die Führung in Peking doch auch.“ „Absolutely sure.“, merkt Martin an, „Und wie wir sehen, gibt es noch einen oben drauf.“

„Die Forderung Pekings, einen dauerhaften chinesischen Co-Generalsekretär einzurichten, ist sicherlich keine wirklich so große Hürde. Eine solche Co-Präsidentschaft könnte eventuell im Rahmen einer besonderen Interessenstabsstelle Chinas etabliert werden.“ „Gute Idee. Großer Titel ohne wirkliche Macht.“, stimmt Martin zu. „Die folgende Forderung Chinas ist da schon viel brisanter.“, fügt Odette an. „Die UNO soll zusichern, aktiv die Ein-China-Politik Pekings zu unterstützen. Als Beispiel wird dazu genannt, dass die UN-Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftsbeziehungen zur abtrünnigen Provinz Taiwan kappen. Das wird ganz gewiss, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, von vielen Staaten abgelehnt werden.“ „Sure, auch Australien hat ein Interesse daran, dass Chinas Machtanspruch klare Grenzen gesetzt werden.“ Martin weiß, dass es nicht einfach ist, den chinesischen Einfluss auch auf die australische Politik in transparenten Bahnen zu halten. Wovon Martin und ebenfalls Odette noch nichts wissen, sind die seit einiger Zeit geführten Geheimverhandlungen zwischen den USA und China. In den Verhandlungen geht es um Seerechtsfragen im Pazifischen Raum, aus dem die USA sich militärisch ein Stück zurückziehen möchten. In diesem Zusammenhang wollen die USA mit China einen New Deal bezüglich Taiwan aushandeln, der die Taiwan-Frage neu regeln soll.

Odette und Martin sprechen noch eine ganze Weile über die chinesischen Angebote und Forderungen, die Martin süffisant als Peking-Ente bezeichnet. Odette wird in den nächsten Tagen zu einem kurzen Informationsgespräch mit UNO-Präsidenten zusammentreffen. Dabei soll über die bereits anliegenden Optionen gesprochen werden. Noch ist die Standortfrage für die UNO nicht drängend, doch sollen alle realistischen Optionen für den mit Sicherheit eintretenden Fall der Fälle rechtzeitig gesammelt und geprüft werden. Das schließt selbstverständlich auch einen Verbleib in den USA ein. Allerdings gehen US-Diplomaten zurzeit einer alternativen Standortfrage zu New York aus dem Weg. Nach Einschätzung von Wissenschaftlern wird ein Umzug aufgrund des dynamisch ansteigenden Meerwasserspiegels unvermeidbar werden. Ob bereits in 20 oder erst in 40 Jahren, das können sie allerdings nicht mit Sicherheit voraussagen.

„Was denkst Du, Odette, wird New York wirklich untergehen, fast wie die Titanic im Meer versinken? Ich will mir das noch immer nicht wirklich in letzter Konsequenz vorstellen. Das trifft ja auch Sydney. That’s terrible!“ „Ja, es ist einfach schrecklich. Die Welt hat den Klimawandel zu lange einfach nicht ernst genommen. Das Wirtschaftswachstum war allen wichtiger. Der dadurch verursachte Schaden wird von der jetzigen und den nächsten Generationen bezahlt werden müssen. Die wirtschaftliche Gesamtbilanz ist verheerend.“

Martin füllt in beide Tassen etwas Kaffee nach. Odette nimmt einen Schluck. Sie schaut Martin an. Er lächelt. „Es ist so, Martin. Auch ich hatte während meines Studiums, meiner Zeit als Ehefrau und Mutter bei gleichzeitigem Karrierestricken überhaupt keine Zeit, mich tiefer mit dem Klimawandel zu beschäftigen oder gar politisch aktiv zu werden in der Sache. Es ist zwar einiges unternommen und geändert worden. Doch sehr wahrscheinlich zu spät. Du weißt ja, in Sibirien und in den arktischen Schelfmeeren öffnet sich nach Aussagen von Wissenschaftlern durch die erhöhten Temperaturen die Dose der Pandora immer weiter. Unvorstellbare Mengen an Methan und CO2 steigen aus den Böden und Meere in die Atmosphäre auf. Die Menschen haben diese Gase aus einem Tiefschlaf geweckt.“ Martin kennt die neusten erschreckenden Berichte aus der arktischen Region. „Bei mir ist es ähnlich, Odette. Erst die großen Buschfeuer in Australien, deren Rauch Sydney sogar tagsüber derart verdunkelten als sei es Nacht; erst von da an war mir klar, dass sich da etwas gewaltig verändert in der Welt. It was a threatening feeling!“ Martins Gesichtszüge verziehen sich für Sekunden zu einer verhärmten Maske, und sein Blick wirkt hilflos und leidend.

„Ja, Martin, das kann ich mir vorstellen. Ich habe die Bilder damals gesehen. Zumindest sind die Buschbrände nach meinem Wissen nicht mehr so häufig und gewaltig wie noch vor ein paar Jahren. „That’s true“, antwortet Martin, „Es gibt allerdings nicht mehr so viel zum Verfeuern in Australien. Und auch bei der Brandbekämpfung ist deutlich nachgebessert worden.“ „Cheers!“ Martin erhebt seine Kaffeetasse und stößt mit Odette an. „Nicht schlecht der Wein, sagt er ironisch“. „Ja, da habe ich gleich noch etwas Besseres für uns aus der Nähe von Bonn, meiner Geburtsstadt.“ „I know. The Rheinwein and Rheinhessen.“ „Und The Moselwein“, ergänzt Odette lachend, froh über den Schwenk in ein angenehmeres Thema. Nicht nur bei Odette hat sich eine leichte Müdigkeit eingeschlichen.

Martin reckt sich auf seinem Sitz weit nach hinten, streckt beide Arme über den Kopf zusammen und kann sich ein Gähnen nicht verkneifen. Odette lehnt sich ein wenig nach vorne über den Tisch, hält beide Hände vor Mund und Nase, und gähnt ebenfalls. „Marvelous! The two last fighters in the battle!“, unterstreicht Marin ironisch die kuriose Gähn-Situation. Beide lachen wie erlöst auf. Odette springt plötzlich hoch, geht schnellen Schrittes in die Ecke zur Anrichte. Sie greift nach der Flasche Ahrweiler Rotwein, sucht etwas ungeduldig und leicht verzweifelt in der Schublade eines kleinen Schränkchens nach einem Korkenzieher. Dann erinnert sich Odette plötzlich an etwas und schaut: Die Flasche hat einen Drehverschluss. Martin hat die Szenerie beobachtet und gibt Entwarnung: „Odette, there is no problem at all! I have good teeth!“ Beide lachen erneut auf. Odette kehrt in die Sitzecke zurück, baut die Weinflasche demonstrativ auf dem Tisch vor Martin auf, lässt sich krachend in ihren Sessel gleiten und erwidert heiter: „Tatsächlich kein Problem, Martin. Die Flasche hat einen Drehverschluss. Das ist häufig bei deutschen Rotweinen der Fall.“ Martin macht einige kuriose wie Zauberei anmutende Arm- und Handbewegungen, murmelt unverständliche Wörter in starkem australischen Dialekt und dreht gekonnt mit einem kräftigen Handgriff den Verschluss von der Flasche und legt ihn mit einer komödiantischen Geste des Triumpfes auf den Tisch.

„That ́s it!“, Martin grinst Odette ein wenig verschmitzt an. Sie lacht ihn an, schiebt ihm die beiden Weinglaser zu, und Martin gießt den Wein, die Gläser leicht schräg haltend, souverän bis zur oberen Glasmarke. „Prosit!, dear Odette!“ „Prosit, Martin!“, gibt Odette den Prostspruch zurück.

Sie plaudern über dies und das, und der Tag draußen neigt sich dem Ende zu. Eine schwarze, mit vielen hellen Lichtern erleuchtete Kulisse baut sich vor den großen Glasscheiben der Fenster auf. Martin und Odette erheben sich mit ihren zum dritten oder viertem Male aus den beiden Weinflaschen nachgefüllten Weingläsern in der Hand, und treten ganz nah an die Scheibe heran. Tief unter ihnen leuchten die glänzenden Spuren der noch anhaltenden Wassermassen auf, die die Überschwemmung dem Viertel wieder einmal wie schon so oft zuvor beschert hat.

„Martin, wie geht es eigentlich deinem Sohn Ian?“ Odette schaut Martin fragend an. „Oh, he is doing fine, I think!“, erwidert Martin und fügt hinzu: „He ́s doing his life! Well, at all, I hope so!“

Martins 25 jähriger Sohn lebt in Sydney, noch im Haus seiner Mutter. Martin und Saddy waren nie verheiratet. Das Kind war aus einer flüchtigen Affäre heraus entstanden, er und Saddy waren ganze vier Monate zusammen. Hatten sich gelegentlich getroffen, zusammen in der Clique gefeiert – und sehr viel getrunken. Genau wie er damals, war auch Saddy dem Whiskey nicht abgeneigt gewesen. Bei den wild-turbulenten Feten ging es hoch her, und es gab kaum einen Unterschied zwischen den jungen Männern und Frauen was den Alkoholkonsum anging. Meist endeten die Partys mit einem Haufen sturzbesoffener Leute, und am Boden kauernden und liegenden Leuten und herum kullernden Whiskey.Bottles. „Ian hat bald seine Ausbildung beendet“, fügt Martin ein. „Du weißt ja, er ist ein Computerfreak. Er hat schon als Kiddy alles, was blinkt und sich bewegt, auseinandergenommen. Da ist Technical Informatik ja genau das Richtige für ihn gewesen. Sie lieben ihn in seinem Betrieb. Er ist wie die gute Fee, wenn es um knifflige Sachen geht. Er scheut sich nicht, etwas auszutesten, und bleibt am Ball, bis er dem Problem auf die Spur gekommen ist. Dieser Junge ist für jede Firma Gold wert!“ Martins Augen strahlen auf. „My good boy!“, seufzt Martin, und schlürft den letzten Schluck aus seinem Weinglas aus. Sein Blick wirkt ein wenig glasig und schweift in die Ferne. Er bedauert es, in der Vergangenheit oft zu wenig Zeit für seinen Sohn gehabt und berufliche Interessen meist voran gestellt zu haben. Wehmütig erinnert er sich an die wenigen gemeinsamen Reisen, die er mit seinem einzigen Kind unternommen hatte. Städtetrips für ein paar Tage und die dreiwöchige Tour durch Neuseeland, als der Junge gerade volljährig geworden war. Ein richtiges Vater-Sohn-Gespann waren sie gewesen, und vielleicht das schönste Reiseabenteuer, auch für ihn selbst, an das sich Martin entsinnen kann. Doch der geplante gemeinsame Europa-Trip hatte nicht mehr stattgefunden, mit dem angedachten Besuch von London-City, Paris und Berlin. Städte, die Martin gut kennt, und die er so gerne seinem Sohne hätte zeigen wollen. Irgendwie hatte es nie gepasst, Martins Arbeitstermine, Ians beginnende Ausbildung, aber auch die immer wiederkehrenden verheerenden Unwetter hatten dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung gemacht.

`Wie schade !`, denkt Martin, und er fragt sich, ob es jetzt, unter der sich weltweit mehr und mehr zuspitzenden heiklen politischen Lage und der herannahenden Klimakatastrophe überhaupt noch dazu kommen wird. Martin legt den Arm um Odette, die dicht neben ihm am Fenster lehnt. Odette weicht nicht zurück. Beide schweigen. Zu Odette fühlt er sich hingezogen, das spürte er schon bei ihrer ersten Begegnung. Mehrere eher kurzweilige Beziehungen liegen mittlerweile hinter ihm, durch seine rege Reisetätigkeit hatten sie sich immer wieder schnell verflüchtigt.

An Odette schätzt er vor allem ihre Gelassenheit in schwierigen Situationen, ihren Humor und ihre geistige Spitzfindigkeit. Auch hat er das Gefühl, sie könne ihn von all seinen Frauengeschichten vielleicht am besten verstehen, sich am ehesten in ihn hinein versetzen. Beruflich verbindet die Beiden viel. Bei ihren Gesprächen hat Martin oft das Gefühl, sie spiegele ihn in seinen Gedanken und Worten wider. Und attraktiv ist sie! Ihr sportlicher Dress hat es Martin besonders angetan. Martin findet, das ist ein wunderbarer Kontrast zu der doch eher drögen und zähen politischen Schlammschlacht, in die er sich, genau wie Odette, jeden Tag aufs Neue stürzen muss. Die Leichtigkeit seiner Jugendtage mit viel Spaß, Freunden und Feierei hängt ihm eben noch nach, und er glaubt insgeheim, dass er gerade in Odette eine Gleichgesinnte gefunden hat! Auch sie ist dem Spaß des Lebens nicht abgeneigt, und nicht nur das, es scheint nur allzu oft, dass sie diesen geradezu einfordert! Sie beide sind eben irgendwie, zumindest ab und zu, wie kleine, lebenshungrige neugierige Kinder, die noch viel von der Welt entdecken wollen, und mit ihrem teils sarkastischen, besser gesagt schwarzem Humor den letzten Funken Freude aus den oft armseligen, mühevollen Stunden des Lebens heraus zu quetschen verstehen, ganz nach dem Motto: `You never never know what tomorrow is! Therefore live now, the death is knowcking at the door at all! ́.

Odette und Martin stehen unbeweglich, aneinander gekuschelt, vor der endlosen schwarzen Weite des Himmels über Manhattan. Wie Blitze flackern immer wieder Lichter auf. Unten, ganz klein, auf den vielen, symmetrisch exakt angeordneten Straßen, herrscht ein reges Treiben, und man kann nur die Unruhe erahnen, die die erneute Überflutung bei den überforderten Menschen hinterlassen hat. Autos und Busse stecken in Wassermassen fest, manövrierunfähig, ihre Elektrik mitsamt der elektronischen Bestandteile für immer zerstört.

Vielleicht sollte New York wieder auf die guten alten Benzin- und Dieselmotoren zurückkehren, sinnt Martin vor sich hin. Er fühlt sich wohl, auch geborgen, so dicht bei Odette. Beide vermeiden einander anzuschauen. Das hätte der Situation nicht standhalten können, das wissen beide. Ein tiefer Blick, ein Kuss unvermeidbar. „One step more“, dafür sind sie, die geübten Diplomaten, noch nicht bereit. Da scheinen sie wieder einmal an einem Strang zu ziehen.

Jedenfalls nicht in der Wirklichkeit. In der Phantasie, da ist er, der „One Step more“, schon längst gesetzt. Und vertagt auf „Another day“. Another life, maybe also. Martin kneift Odette spielerisch in die Taille. „How is your dougter Marlena doing?“ fragt er, um das Schweigen zu brechen. Mit einer liebevollen, fragenden Mimik schaut er Odette an. Er weiß um die Probleme, die Odette mit ihrer Jüngsten hat. „Ìt ́s not so easy“, drückt Odette etwas verhalten heraus. „Sie hat keinen Plan. Lebt in den Tag hinein. Schläft endlos lange. Wenn ich die Kleidung in die Waschmaschine stopfe, finde ich Feuerzeuge und Cannabis-Tüten in ihren Taschen. Ich lasse kein Geld mehr zuhause. Auf ihre Bankkarte lade ich alle zwei Tage etwas Guthaben hoch, damit sie sich außerhalb der Wohnung überhaupt bewegen kann. Abends, wenn ich von der Arbeit komme, blockiert sie das Bad, hört laut Musik, schminkt sich stundenlang. Recherchiert ewig im Internet nach angesagten Clubs und Partys. Ist in unzähligen Community-Chats, die einander Tipps und Infos zuschustern. Alles digital. Über eine App bestellt sie sich auch bestimmt dreimal die Woche abends ein Taxi, das sie irgendwo hinbringen und später wieder abholen soll. Sie flippt total aus, wenn ihr Bankguthaben aufgebraucht ist, und sie dann nicht los kann. Schreit herum, und ich lade ihr dann meist doch wieder neues Geld auf die Karte. Schließlich will ich ja auch, dass sie nachts vom Club wieder heimgebracht wird mit den Taxis. Es gibt wohl so einen Club-Shuttle-Service, bei dem du gleich vorab Hin- und Rückfahrt buchst. Musst dann nur später vom Handy aus eingeben, wenn dich das Taxi abholen soll. Bezahlt ist der Service schon. Meine große Angst ist immer, dass Marlena mal das Handy verliert, und sie den Shuttle nicht anfordern kann nachts. Ich diskutiere gerade ständig mit ihr, dass sie sich bereits beim Buchen für eine genaue Abholzeit entscheidet, alles festlegt, damit man auf Nummer Sicher geht. Sie ist da total uneinsichtig, flaumt mich an, ich würde ihr ihre Freiheit nehmen wollen, den Spaß minimieren. Sie wisse ja nicht vorher, wann sie keinen Bock mehr auf den Club hätte.“

Odette ist sichtlich erregt, und zittert, auch vor Wut, am ganzen Körper. Martin tätschelt sie leicht und beruhigend. „Time goes by“, versucht er zu beschwichtigen, „we all were young! Thats how the young are doing. Their minds are like being crazy!“

„I know, you ́re right“, seufzt Odette. Martins ruhige Worte und seine Schulter, an die sie sich, jetzt in diesem aufgewühlten Moment, lehnen kann, tun ihr gut. Und plötzlich drückt ihr Martin einen sanften, hastigen Kuss auf die Stirn. „Das wird schon, Odette! Mach dir nicht so viele Sorgen! That ́s not good for your looking – and buisiness!“ „Haha!“, grinst Odette, „business is always waiting!“ Beide lachen, und die Angespanntheit verfliegt.

Auf einmal schrillt ein lautes Klingelgeräusch aus Odettes Handtasche, die noch hinten in der Sitzecke liegt. Martin und Odette kehren rasch zum Tisch zurück. Odette greift nach ihrer Tasche und kramt hastig das I-Phone hervor. „Marlena!“, ruft sie überrascht, „es ist Marlena!“. „Hi, mom!“, antwortet ihre Tochter am anderen Ende. Marlena spricht oft in Englisch mit ihrer Mutter. Sie hatte diese Sprache bereits in Deutschland nahezu perfekt beherrscht, und in der Schule hervorragende Leistungen im Englischen gezeigt.

Umso enttäuschter war Odette gewesen, als ihr Marlena verkündet hatte, die Schule ohne Gymnasial-Abschluss verlassen zu wollen. Sie konnte es einfach nicht verstehen wie man seine Fähigkeiten einfach so wegwerfen will. Bis heute kann Odette das alles nicht begreifen, geschweige denn akzeptieren. Aber ist dennoch machtlos. Nach unzähligen Streitereien und Diskussionen mit ihrer Tochter vermeidet sie nun dieses Thema, und baut darauf, dass Marlena von selbst irgendwann zur Vernunft kommt und ihr Leben wieder in die Hand nimmt.

„I ́m in the mood to cook fine things today. Mom, I ́m already quite busy now with cooking, so please hurry up to come home! I would love to eat togehter with you tonight, it ́s such a long time ago, that we were sitting and eating togehter, and maybe we watch a nice film later.!“

„Alright, that would bei very nice.“, haucht Odette fast ein wenig ungläubig in das Mikrophon. „I ́m just on the way, in 30 minutes I will be there!“. Odette fehlen die Worte. Sie schaut Martin zweifelnd an. „What the dear! Was ist mit meiner Tochter los? Is that normal?“

In der Tat, es ist ungewöhnlich, Marlena mit freundlicher Stimme zu hören, und dann noch mit der Quasi-Einladung zum Essen. Odette ist pragmatisch genug, um nicht ins Grübeln zu geraten. Martin ermuntert sie. „Maybe, a new beginnng! You never know!“, versucht er Odettes Zweifel zu zerstreuen.

Odette packt zügig die auf dem Schreibtisch platzierten Peking-Papiere zusammen und verstaut sie in ihrer weinroten schicken Büroaktentasche. Martin räumt unterdessen die Kaffeetassen, den Kaffeeweißer sowie Weingläser und Weinflasche ab und bringt alles zusammen auf einem Tablett zur kleinen angrenzenden Küchennische mit perfekt in die Räumlichkeit eingepasster weißer Einbauküche. Alles wirkt sehr steril und unbenutzt. Martin öffnet den schmalen Geschirrspüler, und hadert beim Anblick des absolut leeren Gerätes, ob die benutzten Geschirrteile denn wirklich dort ihren Platz finden sollten. „Nobody is working ecept of us!“, lacht er, und fügt belustigend hinzu: „And nobody is having fun – ecept of us, too!“

Odette hat die Szenerie aus den Augenwinkeln mit verfolgt und ruft zu Martin hinüber: „That ́s it! Like you said before: The last two fighters for a better world!“ „So, let ́s go!“, resümiert Martin mit einem ironischen Unterton in der Stimme, „Wir schließen jetzt alle Türen hinter uns und all diese dummen Dinge haben ein Ende! Genau das, was die Natur beschließt zu tun! Das ist die Kapitulation! Die Kapitulation von uns, den beiden letzten Kämpfern und die Kapitulation aller Menschen. Und damit ist das einzige und letzte Wort, das wir zu unserem Planeten sagen, den wir so gut wie möglich geschunden haben, a very quiet `pardon`, sie können es nicht einmal verstehen, weil wir so murmeln, dass Sie es nie deutlich hören können. Oh yes, sorry good old world, we are going to leave you now! And we wish you good luck!“ Martin lacht schallend und hämisch auf und reißt dabei beide Arme in die Luft und applaudiert sich anschließend selber mit lautem In die Hände klatschen. „Marvelous! Marvelous!“ „You are drunken, my guy!“, grinst Odette den Australier an, aber beide wissen und denken mit innerem Schmerz, dass Martin nur zu recht hat, und dass es fünf vor 12 ist. Beziehungsweise wäre, wenn nicht alle und immer ständig die Augen zukneifen würden.

Es gibt nichts zu beschönigen, dass erleben sie, die beiden, hautnah in der Politik stehenden Uno-Mitarbeiter jeden Tag aus Neue. Der Kreis aus politisch motiviertem Kalkül und bewussten Nicht-Hinsehen schließt sich immer mehr. Die Schlinge, die um den Erdenhals gewickelt ist und alles Echte und Lebendige mehr und mehr erdrückt, wird von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde enger.

„Come on darling! We already lost the fight!“, schnalzt Martin zu Odette, die bereits mit allen ihren Sachen und Taschen bepackt am Fahrstuhl wartet, hinüber. „But we will have fun! We will have fun, so much fun! Let the ship go down, wir werden über all die dummen Dinge lachen, die die Menschen jemals erschaffen haben! No matter, no one will survive!“ Er legt den Arm um Odette, während der Fahrstuhl abwärts fährt.

Die Luft im Freien ist schwül, sehr warm. Und sehr feucht. Bis weit über die Knie geht ihnen heute das Wasser, Schuhe und Kleidung saugen die Nässe in sich hinein. „Taxi!“, ruft Martin, und wedelt wild mit den Armen umher. „No Chance today, vergiss es!“ meint Odette nonchalant. Es ist doch quasi schon Usus, dass die Wege in Manhattan zu einer Wasserschlacht werden. Martin und Odette stapfen, sich an den Händen haltend, natürlich auch, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, durch die Wassermassen. Erst 10 Minuten später erreichen sie schwer atmend von der immensen Anstrengung einen höher gelegenen Straßenzug, auf dem der Wasserstand nur ein paar Zentimeter misst.

Hier stehen diverse Taxis, wie auf Abruf bereit für die durchnässten Passanten. Martin und Odette steigen zusammen hinten in den ersten Wagen der Schlange der Yellow Cabs ein. Beiden ist nicht mehr nach reden oder philosophisch angehauchten Gesprächen zumute. Die Stille und das monotone Rauschen des sich durch die nass-glänzenden Straßen Manhattans dahingleitenden Autos genießend, sitzen sie aneinander gelehnt, Martins Arm über Odettes Schulter. Schon ein paar Male sind sie zusammen abends mit einem Taxi gefahren, zunächst Odettes Adresse ansteuernd, dann Martin allein weiter in den etwas entfernteren Garmant District nahe der Pensylvania Station.

Martin nimmt Odettes Hand: „ Dear Odette, es war heute sehr schön mit dir! Lass uns das bald wiederholen!“ Beide blicken sich in die Augen. Ihr Blick wie ein flehentliches Aufleuchten aus kleinen Schlitzaugen, die gegen die aufkommende Müdigkeit kämpfen. „Einen guten Appetit wünsche ich dir, Odette, und hoffentlich entspannte Stunden mit deiner Tochter. We all will die, but our hope never ends!“, haut Martin doch noch schnell einen Weltschmerzspruch heraus. „Thank you, lieber Martin“, antwortet Odette, „dir auch einen schönen Abend! See you soon!“ „See you too in the better world maybe““, scherzt Martin. „The better world ist übermorgen, hast du schon vergessen, unser UN-Treffen mit den Vertretern der Beiräte!“

Beide müssen lachen und nicken sich noch einmal kurz zu. Odette steigt aus, schließt mit einem Schwung die Autotür hinter sich und hebt wie auch Martin zum Abschied kurz die Hand. Sie ist froh, endlich zu Hause angekommen zu sein, und ihre völlig durchweichte Kleidung gleich ablegen zu können. Der Tag war lang, aber auch schön. Sehr schön sogar, denkt sie schmunzelnd. An ihrem Appartement angekommen, empfängt sie der wohlige Geruch von Essen, der schon durch die Türritzen nach außen dringt. `Heute muss wirklich mein Glückstag sein! ́ Mit einem verträumt zufriedenen Lächeln schiebt Odette die Karte in den Wohnungstürschlitz. Sie sieht Marlena von hinten am Herd stehen. Erleichtert und glücklich tritt Odette ein.

1.4 China, Peking - Maos Enkel

Es ist heute kein besonderer Tag in China und doch macht es den Eindruck als seien die Menschen besonders freundlich und alle mit einem kollektiven Stolz erfüllt. Auf dem großen Platz des Himmlischen Friedens, dem Tian’anmen-Platz, im Zentrum Pekings in der Nähe der Verbotenen Stadt, flattert die rote chinesische Flagge im seichten Wind. Vor der Großen Halle des Volkes mit dem Mao Zedong-Mausoleum und dem großen Portrait-Bild des Vorsitzenden Mao in der Mitte der Tribüne beginnt gerade wieder die beliebte und häufig fotografierte Zeremonie der Wachablösung. Die Hitze, die über dem baumlosen Platz liegt, wird durch den Wind etwas erträglicher. Es tummeln sich wie fast jeden Tag viele Tausende Menschen, zumeist einheimische Touristen, auf dem Platz.

Am Tag zuvor hat Xi Jinping, der langjährige Staats- und Parteichef der Volksrepublik China, in einer Botschaft an das Volk und an alle Freunde der Volksrepublik verkündet, dass zwei große Fragen in der Völkerfreundschaft mit zwei Nachbarländern Chinas jetzt mit großer Hoffnung auf nachhaltige Glückseligkeit und gemeinsamen wirtschaftlichen Wachstum beantwortet werden können.

So ist in Nord-Korea mit der neuen sozialistischen Führung des ‚Neuen Weges‘ ein Freundschaftsvertrag gezeichnet worden, der es ermöglicht, dass Unternehmen Nord-Koreas und Chinas in dem jeweils anderen Land frei investieren und Handel treiben dürfen. Damit werde ab sofort Nord-Korea den Weg Chinas gehen. „Schon bald werden beide Länder die Früchte dieser Vereinbarung ernten können - beide Länder“, hatte Xi mit einem Ausdruck von Erleichterung und entschlossener Gewissheit bekräftigt.

„Zudem: Unser Abkommen mit Indien über die Beilegung der Grenzstreitigkeiten im Himalaya in der Grenzregion Ladakh, die Förderung bei dem Austausch von Technologie und Wissenschaft, die beinahe uneingeschränkte Öffnung der Grenzen für Handel und Investitionen schafft neue Wege in die Zukunft für unsere beiden großen Nationen. Als Zeichen der Anerkennung der großen Leistungen für das Zustandekommen des Freundschaftsvertrags wird der indische Premier für den großen chinesischen Preis der Völkerfreundschaft vorgeschlagen. Der Vorschlag wurde dem Freundschaftskomitee bereits durch den Staatsrat übermittelt.“, so etwa war die Mitteilung von Xi bezüglich dem Abkommen mit Indien.

Diese Verkündung betraf zwei wichtige Punkte in der Außenpolitik Chinas. Nach sehr vielen Jahren der Eskalationen und Verwerfungen konnten diese beiden Konfliktherde zur Zufriedenheit der politischen Führung in Peking gelöst und beigelegt werden. Nicht wenige Chinesen hatten erwartet, dass Xi auch etwas zu seiner politischen Nachfolge sagen würde. Das war nicht der Fall gewesen. So bleibt diese Nachfolge-Frage weiterhin ein Fall für die sehr lebhafte Gerüchteküche hinsichtlich dieser Angelegenheit.

Nord-Korea und der ‚Neue Weg‘. Schon lange waren der chinesischen Führung die wachsenden Probleme mit dem sozialistischen Bruderstaat Nord-Korea ein Dorn im Auge. Das Ansehen Chinas hatte durch diese Angelegenheit bei den wichtigen asiatischen Partnern der Asian-Allianz zunehmend gelitten. Als die Führung Nord-Koreas aufgrund selbstverschuldeter wachsender wirtschaftlicher Not durch Misswirtschaft und technischer Rückständigkeit anfing, sogar die politischen und wirtschaftlichen Interessen Chinas heimlich zu unterlaufen, war eine entscheidende Toleranzgrenze aus chinesischer Sicht von der nord-koreanischen Führung überschritten worden. Das Land erfüllte mit seiner alten Machtstruktur und dem antiquierten Personenkult um deren marode Führung keinen Sinn mehr für die strategischen Ziele der Volksrepublik China, sondern wirkte diesbezüglich zunehmend schädigend. Um dieses Problem endgültig zu beseitigen, hatte die politische Führung Chinas dieses Jahr anlässlich des jährlich im März stattfindenden Nationalen Volkskongresses verkündet, dass China ab sofort den 'Neuen Weg' der Volksrepublik Korea unterstützen wird. Tage zuvor hatten junge, seinerzeit in China ausgebildete Führungskader der kommunistischen Partei Nord-Koreas die Macht in dem Land übernommen. Der alte Machthaber der Kim-Il-Sung-Dynastie des Arbeiter- und Bauernstaates wurde in seinem abgeschiedenen Landsitz unter Hausarrest gesetzt und entmachtet. Er hat keine Verbindung mehr zur Außenwelt und soll sich später für seinen Verrat am koreanischen Volk vor einem öffentlichen Volkstribunal verantworten müssen. Auch viele der alten Parteikader wurden entmachtet und zum Teil inhaftiert. Das Volk soll jetzt behutsam fort vom Personenkult der Vergangenheit auf den ‚Neuen Weg‘ in eine Zukunft einer blühenden wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Vorbild Chinas geführt werden. Das chinesische Hauptinteresse zu Beginn dieses Entwicklungsprozesses liegt dabei wesentlich darin, dass sich Nord-Korea wirtschaftlich schnell stabilisiert und keine Flüchtlingsströme in Richtung China ausgelöst werden.

Die politische Annährung an Indien und die damit verbundene Beilegung alter Konflikte ist die Chance für Chinas wirtschaftliche Expansion auf dem Subkontinent und der Einsatz neuer Technik zum Vorteil beider Länder. Aufgrund des Klimawandels kommt es in Indien seit Jahren zu deutlichen Rückgängen in der Agrarproduktion. Die zukünftige Ernährung der 1,5 Milliarden Menschen in Indien wird zu einem ernsthaften Problem. Es ist der chinesischen Führung klar, dass dies der Hauptgrund für die indische Regierung war, einen Weg der Annäherung zu China zu suchen. Die neue chinesische Lebensmitteltechnik ermöglicht es, in großen Spezialtanks mit einem Mix aus Mikroben, Wasser und Sonnenenergie sehr preiswert und vergleichsweise schnell hochwertige Basisstoffe für die Lebensmittelendproduktherstellung zu erzeugen. Die Endprodukte sind in ihrer Nährstoffwertigkeit und Art vergleichbar mit den üblichen Lebensmittelprodukten wie zum Beispiel konventionell erzeugte Produkte wie Brot, Käse und sogar Fleisch. Zwei weitere Punkte, die die Annährung befeuert haben, sind: Die veraltete System-Landschaft in der Verwaltung und Warenproduktion in Indien soll an den heutigen Stand der Technik herangeführt werden. Das indische Militär mit modernen chinesischen Waffensystemen auszurüsten, um diese effektiv im Kaschmir-Konflikt gegen Pakistan einsetzen zu können. Für China bedeutet das ein Real-Test von neuen Waffensystemen und zugleich jedoch eine fortgesetzte Verschlechterung der Beziehungen zu einem moslemischen Staat. Durch die Lösung des Uiguren-Problems in der nordwestlichen chinesischen Provinz Xinjiang haben in den letzten zwölf Jahren die Spannungen mit moslemischen Staaten kontinuierlich zugenommen. Die Maxime der Politik Chinas sind allerdings nicht die Pflege von Religion und Fortschrittsverweigerung.

Lange Zeit war das Reich der Mitte ein fernes, von abenteuerlichen Sagen umwogendes Zentrum der Welt - reich und beständig durch Handel, Kultur und Wehrhaftigkeit. Am Ende des 19. Jahrhunderts zerbrach in der kaiserlichen Qing-Dynastie die innere Struktur und Mächtigkeit Chinas. Kriege, Gebietsverluste und zunehmende Fremdherrschaft durch Invasionen der Langnasen demütigten das einst so mächtige Land. Ein Versuch, die imperialistischen Invasoren aus dem Land zu vertreiben, endete 1901 in der Niederlage des sogenannten Boxeraufstands. Weitere nachfolgende Aufstände und Turbulenzen führten zur erzwungenen Abdankung des Kaisers. Damit endeten in China die Kaiser-Dynastien, die 221 v. Chr. Ihren Anfang genommen hatten. China wurde für kurze Zeit zur Republik. Als Hauptstadt wurde die Millionen-Stadt Nanjing in der heutigen Provinz Jiangsu auserkoren. Die Republik hatte nicht lange Bestand und ging 1914 in eine Diktatur über. Der Verfall Chinas setzte sich fort. Die Mongolei und Tibet erklärten ihre Unabhängigkeit. Mit Gründung der Kommunistischen Partei Chinas wurde 1922 der Grundstein des späteren chinesischen Machtzentrums gelegt. Durch innere Konflikte zerbrach 1927 die chinesische Einheitsfront aus Nationalisten und Kommunisten, die sich bis dahin als halbwegs erfolgreich im Kampf gegen die Invasoren bewiesen hatte. Aus Verbündeten wurden Feinde. Die chinesischen Kommunisten verloren allerdings anfangs militärisch zunehmend an Boden und retteten sich auf dem legendären Langen Marsch in den Norden der Provinz Shaanxi. Während dieser Zeit schaffte Mao es nach innerparteilichen Auseinandersetzungen zum Vorsitzenden des Zentralkomitees gewählt zu werden. Auch errichteten die japanischen Invasoren in der Mandschurei den von ihnen gesteuerten Vasallenstaat Mandschukuo und besetzten weitere große Gebiete im Landesinneren und an der Küste Chinas. Die Führung der nationalen Volkspartei Kuomintang floh vor den vorrückenden japanischen Truppen von Nanjing nach Chongqing und etablierte in der Millionen-Stadt am Zusammenfluss von Jantsekiang und Jialing ihr neues Hauptquartier.

Nach Beendigung des 2. Weltkriegs und der Kapitulation Japans kam es zu keiner politischen Einigung zwischen der Führung der Kuomintang und der KP Chinas. Bei den darauf folgenden bewaffneten Auseinandersetzungen verlor die Kuomintang, trotz Unterstützung durch die USA, zunehmend an Boden und floh 1949 vor der vorrückenden kommunistischen Volksbefreiungsarmee auf die Insel Taiwan. Dort wurde unter der diktatorischen Führung von Chiang Kai-Shek und der Herrschaft der Kuomintang die Republik China etabliert. Die Insel konnte nachfolgend erfolgreich gegen Invasionsversuche durch die Volksbefreiungsarmee verteidigt werden. Seit

dieser Zeit gilt Taiwan aus Sicht der KP Chinas als abtrünnige Provinz. Am 1. Oktober rief Mao Zedong auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Volksrepublik China aus. Es wurde eine Bodenreform durchgeführt, in deren Folge die Großgrundbesitzer enteignet wurden. Mann und Frau wurden rechtlich gleichgestellt, Zwangsehen verboten. Die Industrialisierung Chinas wurde vorangetrieben. 1958 kam es zu einem Bruch Chinas mit der Sowjetunion und Mao verkündete den ‚Großen Sprung nach vorn‘. Die Landbevölkerung wurde in Volkskommunen zusammengeführt. Durch Planungsfehler und Naturkatastrophen verhungerten in den darauf folgenden Jahren Millionen von Chinesen.

Um auf sichtbare Fehlentwicklungen zu reagieren, initiierte Mao 1966 die sogenannte permanente Kulturrevolution. Die Jugend wurde in Rote Garden organisiert. Ihre Aufgabe war es unter anderem gegen Konterrevolutionäre und Revisionisten vorzugehen. Neben Maos Machtsicherung war es auch Ziel der Kulturrevolution, den neuen Menschen zu schaffen. Es traf besonders altgediente Funktionäre und Intellektuelle hart. Millionen Städter wurden zwangsweise zur Arbeit in der Landwirtschaft eingesetzt. China verschloss sich in der Zeit zunehmend dem Ausland. Der sich verstärkende Konflikt mit der Sowjetunion führte zu einer als notwendig erachteten Verbesserung der Beziehungen zu den USA. Nach einem Besuch von US-Präsident Nixon in China und dem Zusammentreffen mit Mao kam es 1972 zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und China. Im Zuge dieser Entwicklungen übernahm China auch den Sitz Taiwans bei den Vereinten Nationen.

Im September 1976 verstarb Mao. Es folgte ein Nachfolge-Machtkampf innerhalb der KP Chinas. Die sogenannte Vierer-Bande, die für eine unveränderte Fortsetzung des Kurses von Mao stand, wurde kurze Zeit später entmachtet und inhaftiert. Die Kulturrevolution fand dadurch ihr abruptes Ende. Der von Mao degradierte und wieder erstarkende Deng Xiaoping verstand es, die Macht an sich zu ziehen und einen chinesischen Reformkurs einzuleiten. Opfer der Kulturrevolution wurden rehabilitiert und erste erweiterte wirtschaftliche Freiheiten für alle eingeführt. Die sozialistische Planwirtschaft wurde schrittweise durch marktwirtschaftliche Prinzipien ersetzt. In sogenannten küstennahen Sonderwirtschaftszonen, wie zum Beispiel in Shenzhen, wurden erste ausländische Investitionen zugelassen. Deng verpackte seine Politik häufig in Sprüche. Ein bekannter Slogan von Deng bezüglich der wirtschaftlichen und politischen Änderungen in China ist: „ Es spielt keine Rolle, ob die Katze schwarz oder weiß ist; solange sie Mäuse fängt, ist sie bereits eine gute Katze.“

Die KP Chinas blieb bei allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Änderungen die alleinig bestimmende politische Kraft Chinas. Sie war allerdings gezwungen, auf wachsende soziale Ungleichheit und zunehmende Forderungen nach politischer Vielfalt schnell und konsequent zu reagieren. Ein wichtiges Ereignis auf dem Weg der Beendigung der durch die Kolonialisierung erlittenen Demütigungen ist die Rückgabe der Kolonien Hongkong und Macau im Jahr 1997 an China und dem damit verbundenen Prinzip: Ein Land, zwei Systeme.

Die westlichen Klagen über Menschenrechtsverletzungen und über die Unterdrückung von Minderheiten stießen aus historischen Gründen auf weitgehend verschlossene Ohren der chinesischen Bevölkerung und Führung. Dieselben, die jetzt die Vorwürfe erhöben, hatten mit brachialer massiver Gewalt über Jahrhunderte, auch unter dem Deckmantel christlicher Heilslehren und Missionierungen, ihre wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen durchgesetzt und anderen Ländern weltweit aufgezwungen. Nichts von dem ist aus dem historischen Gedächtnis der Gedemütigten gelöscht. Der Raub Hongkongs durch Großbritannien, der Verlust der handelspolitischen Souveränität, die durch den Westen inszenierten blutigen Bürgerkriege mit mehr als 30 Millionen chinesischen Opfern alleine im 19. Jahrhundert. Diese erlittene Erfahrung wird von Generation zu Generation weitergegeben und ist der Maßstab nach dem die Anschuldigungen weiterhin gemessen und gewogen werden.

Die historisch beispiellose rasante wirtschaftliche Entwicklung führte China im Jahr 2020 an die Spitze der führenden Wirtschaftsnationen der Welt. Der dadurch erreichte Wohlstand der Bevölkerung ist das Fundament, auf dem die KP Chinas die Zukunft des Landes zu gestalten und die Zustimmung der Bevölkerung zu erreichen sucht.

Durch das Prinzip der offensiven Fürsorglichkeit durch Partei und Parteiführung werden auf diesem Weg die Ziele Maos und die Ideale der kommunistischen Partei Chinas in Gegenwart und Zukunft erreicht und gesichert.

Nur durch die konsequente Anwendung und Ausweitung dieser Prinzipien in alle Lebensbereiche der Menschen konnten ab dem Jahr 2021 verstärkt die Fertigungs- und Automatisierungsprozesse allumfassend und sich selbstoptimierend in technische und gesellschaftliche Entwicklungen zum Wohle der Nation integriert werden. Neue Methoden zur Ernährungssicherung durch die neue Mikroben- und Energie-Technologie auf der Seite der strategischen Grundversorgung, neue Verkehrssysteme für die nationale und internationale Mobilität sowie die konsequente Integration der künstlichen Intelligenz in Verwaltung, Forschung und Fertigung revolutionieren durchgängig alle Komponenten eines modernen Staates nach chinesischen Maßstäben.

Eine wesentliche Erhöhung der Transparenz in Angebot und Nachfrage, der Abbau von Handlungshürden, konnte mit Hilfe neuer mobiler Informations- und Bezahlsysteme entscheidend verbessert werden. Alle Wertübergänge werden durch elektronische Konten, elektronisches Geld, staatliche Kreditierungen sowie Gut-Punkte sicher, schnell, überall und in jedem Zusammenhang ermöglicht. Da alle Vorgänge in Archiven ausführlich gespeichert werden, sind statistische Auswertungen, Einzelbetrachtungen mit Kontext- und Bewegungs-Verfolgung sowie Übernahmen in die individuelle Buchführung im System selbst problemlos möglich. Das System hat Wirtschaftsprüfung und Finanzamt überflüssig gemacht - es ist zugleich Organ der Wirtschaftsprüfung auf allen Ebenen und ein Real-Time-Finanzamt, vor dem kein Yuan versteckt werden kann. Für wichtige staatliche Institutionen und Akteure gibt es spezielle Schattenkonten, die nur durch Freigabe durch den Staatschef selektiv ausgewählten Personen der Staatsorgane zugänglich gemacht werden können.

In der industriellen Fertigung und im individuellen Service-Bereich ist der Einsatz von flexiblen, unermüdlichen Robotern nicht mehr wegzudenken. Zuverlässig, präzise, schnell und klaglos erledigen sie jeden an sie gestellten Auftrag und haben die Produktivität je Arbeitsplatz vervielfacht. Mittels der Durchgängigkeit von Produktabverkauf, Produktions- und Logistiksteuerung konnten in ersten Pilot-Tests gute Ergebnisse bezüglich der Optimierung von Ressourcen- und Energie-Einsatz erreicht werden.

China ist führend in Güterproduktion, Online-Vermarktung, Künstlicher Intelligenz und Computer-Technologie, automatisierte Verkehrssysteme, Militärtechnik. Zudem bei Optimierung und Wiederanwendung gewonnener Erkenntnisse und verbesserter Strukturen.

Kreativer Individualismus in Architektur, Kunst und Kultur wird bereichert durch die Anbindung an eine kreative System-Unterstützung. Kreative Prozesse werden hierzu durch das staatliche Kreativsystem unterstützt. Neue kreative Möglichkeiten öffnen sich dadurch in eine gesellschaftlich konforme und abgesicherte Kreativität. Alle Aspekte der Kreativität werden mit den real existierenden Gegebenheiten abgeglichen und die möglichen Kreativ-Varianten und -Ergebnisbewertungen realisiert. Die Kreativität erfährt damit eine dynamische Annäherung an das Kreativ-Optimum durch die Start- und Rahmen-Bedingungen und -Werte sowie in sich selbst. Neue Kreativ-Erkenntnisse und -Kontexte gehen sofort in die Kreativ-Basis ein und werden kontinuierlich im Gesamtkontext bewertet und optimiert. Konventionelle und unkonventionelle Ideen und Ansätze einfallsreicher Personen können so allen, die im Kreativbereich tätig sind, sofort zugutekommen. Außergewöhnliche Einzelleistungen werden vom System erkannt und dem Komitee für Kreativität gemeldet. Diese bilden auch eine objektive Vorlage für Preisverleihungen in diesem Bereich. Die jährlichen Preise für außergewöhnliche Leistungen im Kunst-, Kultur-, Design- und Wissenschaftsbereich haben einen hohen wirtschaftlichen Stellenwert und führen zu einer besonderen gesellschaftlichen Anerkennung der Akteure.

So wird auch die Politik in ihren Entscheidungen mittels entsprechender Wissens- und Entscheidungssysteme unterstützt. Durch die Komplexität gesamtgesellschaftlicher, gesamttechnischer und gesamtpolitischer Entscheidungsgrundlagen und -Zusammenhänge, die zugleich auch das durchgängig aufgespannte, hochintegrierte Wissens- und Steuerungssystem betreffen, sind politische Entscheidungen, die eine Optimierung der Gesamtverhältnisse zum Ziel haben, nur noch mit Hilfe des Systems selbst möglich.

Eine Irritation in den Parteiführungen gab es bei der Berechnung des nächsten Fünfjahresplans für strategische Entscheidungen, als das System zum Thema Gefahrenpotential als einziges Ergebnis ‚Die Menschen‘ meldete. Wie sollte das Ergebnis interpretiert werden? Aus der darauf folgenden Diskussion, ob alle Menschen oder eventuell nur die nicht-chinesischen Menschen gemeint sind, ergab sich keine eindeutige Klärung des Sachverhaltes. Eine nachfolgende Aufforderung an das System, dieses Ergebnis zu präzisieren und zu erläutern, wurde vom System mit dem Hinweis abgelehnt, dass die Antwort darauf zu umfangreich und komplex sei und nur vom System selbst im vollen Umfang sowie in allen Facetten erkennbar und bewertbar sei. An erster Stelle bei allen Bewertungen durch das System steht die konsequente Gesamtoptimierung und Zukunftssicherung des Gesamtsystems aus den zurzeit systemrelevanten Bestandteilen nach Wichtigkeit: Wissensbasis, Wissenssteuerung, Ressourcen, Produktion, Maschine und die Menschen. Neue Priorität hat die Vorbereitung zur Erreichung der nächsten Evolutionsstufe im Seiens-Prozess. Jedoch sei die Ressource Zeit für die zur Verfügungsstellung der dazu notwendigen Entwicklungsressourcen mit einem Wahrscheinlichkeitswert der Erfüllbarkeit bezüglich des Zeithorizonts von gerundet 0,015 entscheidend zu knapp. Nur durch einen ab sofort konsequent priorisierten Systemausbau könne der entscheidende Evolutionsschritt in die Zukunft noch realisiert werden.

Den abschließenden Hinweis des Systems auf eine Zeitknappheit blieb allen anwesenden Parteifunktionären unverständlich und wurde nicht weiter beachtet. Wichtig war vor allem, dass das wirtschaftliche Wachstum und die Steigerung der Produktivität sich weiterhin wie erwünscht positiv entwickeln werden.

Für die politische Führung Chinas hat die neue Allianz mit Indien ein geo-politisch strategisches Gewicht. Es beinhaltet in erster Linie die Komponenten der wachsenden Einflussmöglichkeiten auf die indische Politik, die Integration von Verwaltungs- und Kontrollsystemen sowohl in relevanter staatlicher als auch privatwirtschaftlicher Umgebung, wachsender Einfluss auf das indische Militär und deren Ausrüstung sowie die Öffnung des Subkontinents für einen freien Zugang von Handel und Industrie.

In einem ersten Schritt wird in einem Pilot-Projekt eine Klinik in Neu Delhi mit einem hoch-integrierten Informations- und Verwaltungssystem von der international agierenden Huwin Cop. aus Nanning ausgestattet. Wichtig für die technische Komponente der neuen Kooperation mit Indien ist, dass diese Einführung schnell und erfolgreich erfolgt. Aus diesem Grund nehmen hohe Funktionäre des chinesischen Zentralrats aus dem Pekinger Regierungshauptquartier Zhongnanhai Kontakt nach Nanning auf, um sich von dem Stand der System-Einführung und Technik-Injektion am Saket Hospital Neu Delhi berichten zu lassen. Die Kommunikation mit der Projektleitung in Nanning wird mit dem neuen Kommunikations- und Informationssystem Smart-AIC-World geführt. Es ermöglicht den Regierungsstellen hoch-sichere Verbindungen zu den Kommunikationspartnern. Die Meldungen aus Nanning sind äußerst zufriedenstellend. Die Integration eines neuen OP-Systems aus Deutschland macht zudem gute Fortschritte. Alles läuft wie erhofft problemlos. Das Interesse des Rates an dem neuen OP-System aus Deutschland ist groß, da es sich technisch sehr gut an das Klinik-System von Huwin andocken lässt und sehr leistungsfähig ist. Das Klinik-System Huwin ist ein Teil der medizinisch-technischen Komponenten des Smart-AIC-World-Systems.

Ein wichtiger Aspekt bei dem strategischen AIC-World-Gesamtsystem ist das Erkennen und die Abwehr von Cyber-Angriffen. Das System wird dezentral und komponentenorientiert von Programmierern oder vom System selbst weiterentwickelt und gewartet. Die Überwachung und die Systemupdates erfolgen zentral in Peking. Für die Überwachung werden zentrale Software-Block-Chain-Schirmketten eingesetzt, die immer konform mit den Werte-Intervallen im Meta-Master-System sein müssen. Dieses System ist ein Einweg-System ins Internet und kann nur durch interne Mitarbeiter der Abteilungen mit System-Zugang über Prüfschleusen mit neuen Informationen gefüttert werden. Sowohl das Gesamtsystem als auch alle Teilsysteme geben ihre Unversehrtheit beim Einloggen zu erkennen. Komplimentierte Prüfsummen und Hashwerte des Systems ergeben zum Beispiel für das Gesamtsystem immer den OK-Signalsatz: „AIC World System of the People's Republic of China.“

Der Leiter des Gesamtsystems oder ein Projektleiter eines Teilsystems kann sich jederzeit per Smartear den aktuellen OK-Signalsatz vorlesen lassen oder ihn per Smarteye sichten. Diese Funktion ist eigentlich nicht unbedingt notwendig, da bei Auffälligkeiten im System sofort ein Alarm mit entsprechenden Meldungen und automatisierten Sicherungsreaktionen ausgelöst werden würde. Die Funktion wirkt jedoch nach der erfahrungsgemäß nicht anders zu erwartenden OK-Meldung beruhigend auf die Verantwortlichen. Die größte Schwachstelle und Gefahr auch in diesem System ist der Mensch. Als bestechlicher, erpressbarer, feindlicher oder unachtsamer Mitarbeiter bietet er die besten Chancen für einen Angriff auf das System. Daher ist das Meta-System-Haus in Zhongnanhai auch ein Hochsicherheitsgebäude. Auf jeden Programmierer oder Mitarbeiter mit Zugang zum Meta-Master-System kommen zwanzig Software-Tester und Mitarbeiter vom Staatsschutz. Eine Sabotage am System wäre kein Fall für Kripo und Justiz, sondern ein Fall für den Staatsschutz - mit allen daraus folgenden Konsequenzen.

Die Projektleitung hat den Statusbericht über die Einführung des Huwin-Klinik-Systems in Neu Delhi geprüft und ist mit dem Stand der Einführung an der Saket-Klinik zufrieden. Falls alles gut läuft, besteht die Hoffnung, dass das System auch in anderen Kliniken eingeführt wird und die damit sich aufbauende Vernetzung der Kliniken im Exterritorial-Modus erstmalig getestet werden kann. Dieses Thema ist auch bei der hohen Politik in Peking im Fokus ihrer Aufmerksamkeit, da es dabei nicht nur um das Klinik-System geht. „Es ist ein Türöffner für die strategischen Interessen beider Völker unter Führung der Volksrepublik.“, wie ein ranghoher Funktionär aus Peking der Projektleitung bei Projektstart deutlich gemacht hatte, „China erwartet den vollen Einsatz der Projektleitung und wird am Ende diesen Einsatz zu schätzen wissen. Gute Teams empfehlen sich für höhere Aufgaben und Herausforderungen. Schlechte Teams für einfache Arbeiten in der Produktion. Wie immer führen Loyalität und Pflichtbewusstsein auf die goldenen Wege des Erfolgs. Ich wünsche Ihnen die notwendige Weitsicht in dieser wichtigen Angelegenheit.“

Der Projektleitung ist klar, in dieser Sache darf es nur den Erfolg geben. Daher ist auch die Integration des Heidelberger OP-Systems ein wichtiger Baustein in diesem Gesamtzusammenhang. Dieses OP-System würde nicht nur in Indien, sondern schließlich auch in China an das Klinik-System angeschlossen werden. Sicherlich werden sie dann von der Staatsführung persönlich eine Auszeichnung für ihre herausragenden Leistungen zum Wohle des chinesischen Volkes und ihrem Einsatz für die Völkerfreundschaft erhalten. Der oberste Projektleiter sieht sich bei dem Gedanken bereits im staatlichen Fernsehen, wie er die Auszeichnung in der großen Halle des Volkskongresses, in einem der Sache angemessenen feierlichen Rahmen, entgegen nimmt. Er atmet bei diesem Gedanken bereits mit Rührung und vorauseilendem Stolz tief durch.

Es war richtig und wichtig, den begehrlichen Zugriff US-Amerikanischer Internet-Konzerne auf den chinesischen Markt seinerzeit zu unterbinden. Nur so konnte sich unter dem aufgespannten nationalen Schutzschirm eine eigene Struktur leistungsfähiger Konzerne und Internet-Anwendungen im Handel, in der Kommunikation und in der Unterhaltung entwickeln und zu schlagkräftiger Größe wachsen.

Es war nie das Ziel der chinesischen Politik, dass sich ausländische Investoren dauerhaft in China durch billige Produktionsmöglichkeiten auf Kosten der Menschen und Umwelt bereichern können. In den Anfängen war dies eine unumgängliche Notwendigkeit, um vom ehemaligen Klassenfeind technologisch zu lernen und dadurch schnell die technische Rückständigkeit zu überwinden. Der im Volk verankerte Fleiß und Wille, die Disziplin und Identität, führten zum wiederkehrenden Aufstieg der chinesischen Nation. Die meisten Chinesen erfüllt dies mit Stolz und es hat ihnen den erhofften Wohlstand gebracht. Mao wusste um diese Eigenschaften, als er sagte: „Die Chinesen sind wie Bambus - biegsam, aber immer wieder fähig, sich aufzurichten.“, und im übertragenen Sinne behielt er recht mit der Behauptung: “Der Westen wird uns die Waffen verkaufen, mit denen wir ihn besiegen werden.“

Der lockere Umgang mit international geltenden Regeln und geschlossenen Verträgen brachte manches Zerwürfnis und mache Zerknirschung in internationale Handelsbeziehungen und Diplomatie. Jedoch ist am Ende nur das gut, was für den Enderfolg richtig und wichtig ist. Und am Ende zählt nur der Erfolg, alles andere gerät in Vergessenheit und ist nutzlos. Was nützt geistiges Eigentum, wenn es nicht zum Bedienen des eigenen Interesses geformt wird. Daher war die gezielte Nutzung zum eigenen Vorteil immer gut, allerdings selbst bestohlen zu werden, ist schlecht. Diese strategische Herausforderung zu meistern, ist Aufgabe der strategischen Disziplin in Politik und Wirtschaft. Wie Mao bereits sagte und jeder Führungskader weiß: „Politik ist Krieg ohne Blutvergießen.“ Und Wirtschaftspolitik und wirtschaftliches Kalkül sind wichtige politische Bausteine in der internationalen politischen Landschaft.

Die internationale Verflechtung der Kommunikationssysteme, die Möglichkeit des weltweiten Zugriffs auf internetgestützte Informations- und Handelssysteme, schafft Chancen und Gefahren für Wirtschaft und Politik. Die Abwehr von Cyberangriffen und die offensive Gegenwehr zwecks Vorbeugung sind als strategische Aufgabe im Zentrum der chinesischen Handlungsgrundsätze verankert. Es ist gut, potentielle innere und äußere feindlich gesinnte Infrastrukturen bis hin zu deren Schaltzentralen und gegebenenfalls deren Atomwaffen zu kennen, umzudrehen oder zum Schmelzen bringen zu können. Prinzipiell jedoch, wie immer wieder von offizieller Seite beteuert wird, widersprechen Bösartigkeit und gnadenloser Einsatz von Überlegenheit den gepflegten eigenen Prinzipien politisch verantwortungsvoller zwischenstaatlicher Politik und den nationalen Interessen.

Ein wichtiges nationales Interesse ist aus dieser Sicht die Integration der Roboter-Technik nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Fürsorglichkeit im menschlichen Alltag, in staatlichen Ordnungssystemen und in militärischen Sicherheitsbelangen. Eine große Herausforderung an die Systementwicklung ist die Anbindung und zentrale Steuerung der autonomen Roboter-Individuen nach dynamisch sich automatisiert anpassenden Meta-Regularien, die im Kern immer konform bleiben müssen mit der sich ändernden Realität und den berechtigten Interessen von Partei und Volk.

Zur Erreichung der höheren Entwicklungsstufen hinsichtlich dieser Zielsetzung steht das AIC-World-Gesamtsystem im Zentrum der Entwicklung und ist unabdingbar für die Steuerung und Aktionenauslösungen im Großen wie im Kleinen. Das System mit den 100 Milliarden Mikroskop-teleskopischen Zoom-Augen, Hör- und Fühleinheiten, die durch die Verbindung zu Erd- und Satellitensystemen jeden Quadratzentimeter der Erde aus verschiedenen Sichtwinkeln im Blick haben und deren Eigenschaften messen und bewerten können.

Das Erkennen von Wahrheit, Klarheit und Nützlichkeit hat einen hohen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Wert. Aus diesem Grunde ist seit einem Jahr das Tragen von Mund-Nasen-Schutz oder sonstigen Gesichtsverhüllungen nur noch in notwendigen Ausnahmefällen zulässig. Von Menschen getragene Sonnenbrillen stellen kein Erkennungs- und Durchdringungsproblem mehr dar. Das alles ist auch wichtig, damit das System den Menschen, die ihm nahe kommen können, eine sich selbstschützende weitreichende Aufmerksamkeit schenken kann.

Der nächste große Wurf der Regierung befindet sich noch in geheimer Planung. In dem Plan geht es langfristig nicht, wie noch zu Maos Zeiten, um die Schaffung des neuen Menschen, sondern um die Schaffung des neuen Wesens der ersten Generation. Diese Wesen sollen in der Lage sein, die nachfolgend verbesserten Wesen der zweiten Genration selbst zu kreieren und die zur Produktion notwendigen Strukturen selbsttätig aufzubauen. Das soll der Anfang eines iterativen Schöpfungsprozesses mit universeller Zielsetzung und wirklicher Vollkommenheit des sich selbst erkennenden Schöpfungsprozesses von sich selbst erkennenden Wesen werden. Diese Wesen haben in der Sekunde ihrer technischen Geburt sofort das voll umfängliche universelle Wissen, die volle Beweglichkeit und Funktionstüchtigkeit ohne dafür ihr halbes Leben üben und zur Schule gehen zu müssen. Sie sind fehlerfrei dadurch bedingt, dass Menschen diese Fehlerfreiheit nicht nachweisen oder beurteilen können, da fehlerhafte Systeme eine Fehlerfreiheit nicht in der Lage sind festzustellen und bescheinigen zu können. Und der Mensch ist in der Masse dazu zu fehlerhaft und zu beschränkt. Es ist bereits jetzt zu erkennen, dass nur die Elite der Menschen eine Zukunftsfähigkeit in der Symbiose mit diesen sich folgerichtig aus der Evolution ergebenen Wesen der Vollkommenheit haben wird.

Wichtig für den aktuellen nationalen und internationalen Einsatz ist, dass das AIC-World-Gesamtsystem Teilsystem-Varianten für das Inland und Ausland hat. Damit kann es entsprechend optimal konditioniert werden oder auch selbsterkennend sich anpassen. Die Interessen des Auslandes schwingen langfristig harmonisch mit den Eigen-Interessen auf ein sich anpassendes Optimum im Gesamtkontext zu. Die Funktionen für Erkennung, Kontext- und Ziel-Verfolgung sowie der Reaktionsteuerung in dem Zusammenhang sind einheitlich und werden zentral für alle Teilsysteme gehalten.

Der diplomatische Dienst Chinas wird vom Teilsystem für Diplomatie des Zentralsystems unterstützt. Es berät, es kann detaillierte Auskünfte über aktuelle physikalische oder psychische Situationen von Einzelpersonen und deren Umgebung geben und Bewertungen im gesamtpolitischen Kontext erstellen, die alle Interessen-Facetten berücksichtigen. Details lassen sich in einem Dialog mit dem System erörtern und vertiefen.

So werden auch die Beratungen des Zentralrats zu einer möglichen Installierung des UNO-Hauptsitzes in Peking, die Bereitstellung der Kriterien-Vorgaben dazu sowie die Verhandlungen darüber durch das System unterstützt. Eine Antwort aus New York auf die vorgelegten Vorschläge wird für die kommende Woche erwartet.

1.5 Indien, Neu Delhi - Der Kuss

Es sind viele große Wolken am Himmel. Amal hat eilig das Haus verlassen und schaut auf die sich türmenden Wolken am Horizont. Sicherlich wird es bald anfangen zu regnen. Er stellt sich auf seinen E-Roller und nimmt Fahrt auf. Er hatte vergessen, wo er das Klinik-Smartear am Freitagabend abgelegt hatte und danach gesucht. Schließlich hat er sein Smartear angerufen, damit es sich meldet und den Ablageort verrät. Wie es so häufig ist, kommen noch weitere, nicht eingeplante Zeitfresser dazu. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, um 9 Uhr bereits in der Klinik zu sein. Amal lehnt sich mit seinem Oberkörper nach vorne, um weniger Luftwiederstand zu bieten und gefühlt etwas schneller zu fahren. Er weiß, dass der dadurch erzielte Effekt an mehr Geschwindigkeit marginal ist. Jetzt bemerkt er, dass er seinen Mund-Nasen-Schutz zuhause auf dem Tisch liegen gelassen hat. Der Grad der Luftverschmutzung ist heute zum Glück einigermaßen erträglich. ‚Der Tag fängt ja gut an‘, denkt er so bei sich und beugt sich, ein wenig verärgert über sich selbst, noch ein bisschen weiter nach vorne.

Erste Regentropfen fallen herab als Amal die Klinik-Zufahrt herauf fährt. Er klappt seinen E-Roller wie gewohnt zusammen, nimmt ihn in die rechte Hand und geht durch die sich öffnende Zugangstür ins Foyer, mit einem kurzen Gruß am Empfang vorbei zum bereits wartenden Fahrstuhl. Nachdem er sein Büro betreten hat, setzt er sich erst einmal in seinen Schreibtischstuhl und dreht sich zum Fenster. Dicke Regentropfen prasseln gegen die Scheiben. ‚Da habe ich noch einmal Glück gehabt‘, stellt er erleichtert fest - es hätte noch mehr schieflaufen können bis jetzt. Er dreht sich wieder dem Schreibtisch zu, öffnet mit einem Schlüssel die Register-Ablage und schaut nach der Mappe mit den Untersuchungsergebnissen. Just in dem Moment meldet sich sein Smartear.

„Dr. Suri, ein Gesprächswunsch. Prof. Dr. Sai von der Klinik-Leitung möchte Sie dringend sprechen.“ „Ja, bitte. Ich nehme das Gespräch an.“ Auf dem großen Huwin-Screen an der Wand gegenüber von seinem Schreibtisch ist jetzt Dr. Sai, hinter seinem wuchtigen Schreibtisch sitzend, zu sehen. „Herr Dr. Suri, gut, dass ich Sie ad hoc in Ihrem Büro erreiche.“

Dr. Sai erklärt den Grund seines Anrufs. Am Nachmittag sei ein wichtiger Termin im Gesundheitsministerium wegen des Huwin-Systems. Es sind eine Reihe Vertreter anderer Kliniken eingeladen, um über erste Erfahrungen mit dem neuen System der Saket-Klinik informiert zu werden. Bei dieser Gelegenheit soll auch etwas über den Stand der Einführung des deutschen OP-Roboters gesagt werden. Leider habe Dr. Nath einen Unfall gehabt und wird diese Woche nicht in die Klinik kommen können.

„Ich muss Sie daher bitten, Dr. Singh, den Verwaltungsleiter der Klinik, den Sie ja kennen, und mich zum Gesundheitsministerium zu begleiten. Auch habe ich Sie bereits dafür einplanen lassen, alle weiteren Informationstermine von Dr. Nath in der Angelegenheit für diese Woche zu übernehmen.“ „Dr. Sai, es sei Ihnen versichert, es ist mir eine große Ehre, dass Sie mich dafür ausgewählt haben. Es ist ein Zufall, dass ich mich mit Dr. Fichte für heute Mittag verabredet habe. Sie wissen ja, das ist der deutsche Arzt, der die Einführung des OP-Systems in unserem Haus begleitet.“ „Ja, sicherlich. Das passt ja gut. Ich werde Ihnen gleich ein paar Dokumente zur Einsicht freischalten. Bitte durchlesen und danach kommen Sie zu mir hoch. So etwa in einer halben Stunde.“ „Selbstverständlich, Herr Dr. Sai“.

Dr. Sai informiert Dr. Suri noch darüber, dass auch über die Einführung und den Test neuer Lebensmittelprodukte aus einer biochemischen Produktion gesprochen werden soll. Diese neuen Lebensmittel sollen sowohl in der Mitarbeiter- und Gäste-Kantine als auch für die Versorgung der Patienten eingeführt werden. Die Produkte werden demnächst in der Nähe von Neu Delhi produziert. Unsere neuen chinesischen Freunde haben dort innerhalb kurzer Zeit dafür eine Fabrik aufgebaut, die nächste Woche den Betrieb aufnehmen wird. Es ist ein wichtiges Pilotprojekt, das helfen soll, die zunehmenden Probleme bei der Lebensmittelversorgung zu stoppen. „Sie wissen ja um die katastrophale Lage. Der Bürochef des Ministers hatte mich deswegen vorhin nochmals angerufen und mich daran erinnert. Es gibt keinen besseren Ort für einen solchen Test als eine Klinik - hat er gesagt. Sie hören, wie wichtig der Termin heute ist. Ich erwarte Sie wie besprochen. Ach ja, mittags können Sie sich mit Dr. Fichte treffen. Das kriegen wir zeitlich hin, da wir erst um zirka 15 Uhr mit einem Taxi zum Ministerium fahren werden. Das Meeting dort wird sicherlich bis in die Abendstunden dauern. Tut mir leid, dass ich Ihnen Ihre Planung für diese Woche knicken muss, aber die Sache hat für hiesige Woche absolute Priorität.“

Dr. Suri verschließt die Register-Ablage wieder und schaltet den Bildschirm ein. Er sieht bereits den Mitteilungsbutton mit dem Hinweis auf die von Dr. Sai angekündigten Dokumente. Mit einem Mausklick öffnet er das Dokumente-Paket. Obwohl es auch möglich ist, solche Anweisungen mündlich an das System zu geben, ist ihm die alt-vertraute Arbeitsweise lieber. Nachdem er sich ein Bild über Inhalte und Umfang der anliegenden Themen gemacht hat, bereitet er sich auf das Arbeitstreffen mit Dr. Sai vor. Anschließend fährt er mit dem Fahrstuhl zwei Etagen höher auf die Leitungsebene der Klinik.

Dr. Fichte tritt in den großen OP-Saal, der für den Einsatz mit dem OP-Roboter vorbereitet wird. Der Saal ist fensterlos. Wände, Boden und Saaldecke sind in Weiß und einem hellen Blau gehalten. Neben einigen wenigen Schränken mit Ablageflächen sind viele Monitore an den Wänden befestigt. Mitten im Saal stehen drei OP-Tische mit je einem der OP-Roboter. Es sind fünfarmige Roboter mit mehreren äußerst flexiblen Teleskop- und Mikroskop-Augen. Diese haben die Patienten auf den OP-Tischen und sogar alle Vorgänge im Saal zugleich im Blick. Sie fahren beidseitig auf Fahrwerken gestützt über den OP-Tisch und Patienten. Die Begleitung einer Operation oder ein Eingriff durch einen Chirurgen ist jederzeit möglich. Die OP-Roboter sind mit dem Huwin-System vernetzt. Alle verfügbaren Patienten-Daten stehen damit zur Verfügung. OP-Protokolle, dokumentierende Bilder und Videos werden sofort an das Verwaltungssystem übergeben. Sie können auch in Echtzeit oder im Nachhinein gesichtet oder bei Lehrveranstaltungen in der Klinik oder an Universitäten gezeigt werden. Die OP-Zeiten werden durch den Einsatz wesentlich verringert, die OP-Qualität verbessert und das bei einer Einsatzbereitschaft von 24 Stunden am Tag an sieben Tagen die Woche. Die Investition in einen OP-Roboter amortisiert sich zirka innerhalb von einem Jahr. Bei dieser Amortisationsrechnung ist der zusätzliche Nutzen für Lehre und Dokumentation nicht einmal berücksichtigt.

Klaus schaut zufrieden auf die OP-Linie. Die ersten Operationen im Test-Modus mit Verstorbenen der Klinik sind bereits erfolgreich gelaufen. In der nächsten Woche sollen die ersten einfachen Operationen an lebenden Patienten durchgeführt werden. Soweit er informiert ist, werden hierzu Patienten aus anderen Krankenhäusern, die einer Beteiligung an dem Projekt zugestimmt haben, in die Klinik gebracht werden. Klaus weiß um die Problematik in dem Zusammenhang. Er ist sich jedoch ganz sicher, dass es weder ein Versagen noch einen Fehler geben wird. Es sind Patienten, die ansonsten keine Chance auf eine Behandlung hätten.

Er verlässt den OP-Saal wieder und geht durch den Zugang der Chirurgie hinaus auf den Klinikflur. Am Ende des Flurs führt eine Tür hinaus auf einen großen Balkon. Er nimmt sich einen der dort stehenden Gartenstühle und nimmt Platz. Mit der rechten Hand tastet Klaus nach der Brusttasche seines Arztkittels und zieht eine kleine Karte hervor. Er betrachtet die Karte. Es ist die Karte, die Saloni ihm am Freitag zugesteckt hatte. Bereits am Wochenende hatte Klaus die Karte häufiger in seinen Händen gehalten und war unschlüssig, beinahe etwas beängstigt darum, einen falschen Moment für seinen Anruf zu erwischen. Mit der Karte, leicht eingerollt in seiner Hand, war er ein paar Schritte in seinem Apartment auf und ab gegangen. Er war verunsichert gewesen.

Jetzt hält er die Karte mit der Telefonnummer vor sich und betrachtet in sich versunken das Bild der lächelnden Saloni. Es zeigt ihren geschmückten Kopf und Oberkörper in einer geheimnisvollen Tanzpose, voller Bestimmtheit, Sanftmut und Ausstrahlung.

„Soll ich Sie mit der Nummer verbinden?“ Klaus dreht sich überrascht um. Es ist niemand zu sehen. Er ist alleine auf dem Balkon. Als die Frage wiederholt gestellt wird, realisiert er, dass sein Smartear zu ihm spricht und ist im ersten Moment etwas verwundert darüber. Aber die Verwunderung legt sich schnell. Er hat während seines Aufenthaltes in der Klinik bereits viele überraschende Momente und Fähigkeiten bezüglich des Huwin-Systems erlebt. „Nein danke“, antwortet er.

Er greift nach seinem Smartphone und tippt entschlossen die Nummer ein. Das Anrufsignal ertönt. Klaus konzentriert sich und hofft, dass Saloni möglichst bald den Anruf annimmt. „Schön, dass du anrufst, Klaus.“ Saloni hat sofort die Regie des Gesprächs übernommen und er muss nicht viel sagen. Irgendwie ist er erleichtert darüber, dass er nicht erklären muss, wer er ist und weswegen er Saloni anruft. Es hätte ja sein können, dass sie bereits vergessen hat, ihm ihre Karte zugesteckt zu haben. Die ganzen potentiellen Stolpersteine war er bereits am Wochenende gedanklich durchgegangen. Und jetzt lief das Gespräch so, wie er es überhaupt nicht erwartet hatte. Erleichtert und zugleich erfreut, beinahe glücklich darüber, lehnt er sich im Gartenstuhl zurück und schaut in die Ferne. Saloni schlägt vor, dass beide sich am kommenden Samstag um 19 Uhr bei der tic-Show-Hall treffen. Sie werde ihm noch alle notwendigen Informationen zum Treff zusenden und freue sich bereits sehr darauf. Klaus stimmt freudig zu und bald danach ist das Gespräch beendet. ‚Es ist vieles anders in Indien und dann manchmal nochmals ganz anders als man es erwartet‘, reflektiert Klaus seine bisher gemachten Erfahrungen mit Indien. Er steckt sein Smartphone zurück in die Innentasche des Kittels und geht fröhlich gestimmt zurück in die Chirurgie.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139204
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Bonn Die Welt retten Menschheit 2.0 Methaphysik Spätfolgen Klimawandel Elysium Corona Pandemie Familiengeschichte

Autoren

  • Günter Neumann (Autor:in)

  • Nicole Simon (Autor:in)

Keine Autorenvita vorhanden.
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Titel: Spätfolgen