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Ein perfider Plan - Projekt LoWei Plus

von Katharina Kohal (Autor:in)
258 Seiten

Zusammenfassung

Die Entwicklung einer Designerdroge, eine perfide Intrige und mehr als ein Verrat:
Oliver Schyllbach, Leiter eines kleinen pharmazeutischen Unternehmens, arbeitet seit Wochen an einem neuen Projekt. Doch offensichtlich hat er einen erbitterten Widersacher. Denn als er von einer Tagung zurückkehrt, sieht er sich plötzlich einer unerhörten Intrige ausgesetzt. Seine Abwesenheit wurde genutzt, um ihm nachhaltig zu schaden. Kriminalhauptkommissar Wiesmann nimmt die Ermittlungen auf.
Bald darauf gerät Schyllbachs Freundin Romy in Gefahr. Zunächst sind es nur Kleinigkeiten, die sie beunruhigen. Trotzdem vertraut sie sich Wiesmann an. Aber sie bezweifelt, dass er ihre Aussage ernst nimmt. Als die Bedrohung akut wird, sieht Romy nur einen Ausweg: Sie löst alle bisherigen Verbindungen und zieht weg. Obwohl sie alles sorgsam geplant und durchdacht hat, wird sie von den Ereignissen bald wieder eingeholt.
Fassungslos erkennt sie schließlich, wer hinter all den Bedrohungen steckt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Prolog

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie ihn. Doch, er war es. Es bestand kein Zweifel.

Diesen Augenblick hatte Romy gefürchtet. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, ihm hier zu begegnen. Sie spürte, wie kalter Schweiß auf ihre Stirn trat und ihr Puls zu rasen begann. Jetzt schaute er in ihre Richtung.

Ihr Blick fing seinen auf.


 

Nur ein Verdacht

Ein halbes Jahr zuvor saß Romy Caralus in der Küche ihrer kleinen Berliner Altbauwohnung am Frühstückstisch. Allein. Ohne Oliver.

Den gestrigen Abend hatte sie sich ganz anders vorgestellt. An diesen besonderen Tag wollte sie ihn nicht erinnern, und sie war sicher, dass er ihn nicht vergessen hatte. Warum sonst hätte er ihr im Labor zugeraunt: »Dann bis heute Abend, Schatz …«? Er hatte versprochen, pünktlich seine Arbeit zu beenden und zu ihr nach Hause zu kommen.

Obwohl sie nun seit genau zwei Jahren ein Paar waren, hatten Romy und Oliver Schyllbach noch immer getrennte Wohnungen. Er meinte, die räumliche Trennung hielte die Liebe frisch, und Romy war es bisher recht. Aber irgendwann, so wünschte sie es zumindest, würden sie wohl doch zusammenziehen.

Wie die Wochen zuvor hatte Oliver den gestrigen Tag bis in die Abendstunden hinein in seinem Labor im pharmazeutischen Unternehmen Schyllbach & Co. Labs verbracht. Er war der Leiter; das Co. stand für den stellvertretenden Geschäftsführer, Herrn Dr. Torsten Schröter. Der Schwerpunkt der Firma lag seit Jahren im Bereich der Pharmaforschung; die Suche nach neuen Wirkstoffkombinationen war ihr Spezialgebiet. Im Unternehmen waren, außer Schyllbach und Schröter, sechzehn weitere Mitarbeiter beschäftigt.

Irgendein Witzbold hatte einmal die Idee, das Co. und Labs zusammenzuziehen. Seitdem wurde die Firma von den Angestellten kurz und bündig Kollaps genannt – selbstverständlich nur, wenn die beiden Chefs außer Hörweite waren.

Gestern Abend nun hatte sich Romy viel Mühe mit dem Coq au Vin gegeben. Die Hähnchenteile schmorten in einem Sud aus Weißwein und Gewürzen in einer Kasserole, als sein Anruf kam: »Schatz, sei nicht böse. Aber ich schaffe es heute einfach nicht mehr. Ich bin hier mindestens noch eine Stunde im Labor beschäftigt. Du weißt ja, die Testreihen müssen nächste Woche raus. Also sei nicht traurig. Wir sehen uns dann morgen.« Romy wusste nicht mehr, was sie ihm geantwortet hatte. Auf jeden Fall holte sie das Hähnchen aus der Backröhre und warf alles komplett in den Müll. Die Flasche Chardonnay trank sie bis zur Hälfte aus, sank aufs Sofa und gab sich ihrem Selbstmitleid hin. Nicht das erste und mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal hatte Oliver sie versetzt. Romy begann, ihre Beziehung zu hinterfragen. Sie wusste, dass dies ungerecht und gefährlich war und sie damit gar nicht erst anfangen sollte. Doch zu oft schon war er in den letzten Wochen weit über seine normale Arbeitszeit hinaus im Labor geblieben. Klar, er trug als Leiter des Unternehmens die Verantwortung. Aber war er wirklich so unabkömmlich, oder lief da noch etwas anderes nebenher? Gab es womöglich eine andere Frau in seinem Leben?

Vor zwei Jahren hatte alles so romantisch angefangen. Romy arbeitete damals noch nicht lange im Unternehmen, als sie sich in Oliver Schyllbach verliebte. Es war seine charmante, souveräne Art, die sie von Anfang an einnahm. Außerdem gefiel er ihr rein äußerlich, und es störte sie nicht – wirklich fast gar nicht –, dass er zehn Jahre älter als sie war, dreiundvierzig war er damals. Dr. Schyllbach schenkte ihr anfangs nicht mehr Aufmerksamkeit, als den anderen Mitarbeiterinnen auch. Doch irgendwann fiel ihm ihre witzige und schlagfertige Art auf. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Oliver Schyllbach sich eingestand, dass er mehr als nur Sympathie für die aparte, intelligente Mitarbeiterin empfand. Und noch länger brauchte es, bis auch der Letzte im Kollaps bemerkte, dass da offensichtlich »etwas lief«. Anfangs versuchten beide, ihre Zuneigung zu verbergen, denn sicher war eine Liebe zwischen dem Chef und einer seiner Angestellten nicht die günstigste Konstellation. Und nicht zu Unrecht befürchteten sie, dass ihr Verhältnis unter den anderen Kollegen Ärger und Missverständnisse verursachen könnte. Aber beide verstanden es geschickt, Dienstliches und Privates zu trennen.

Nachdem Romy gestern Abend die halbe Flasche Chardonnay ausgetrunken, ihre Tränen weggewischt und die Nase geputzt hatte, griff sie zum Handy. Doch ihrem ersten Impuls, Lisa anzurufen, gab sie dann doch nicht nach. Sie war ihre engste Arbeitskollegin; mit ihr war sie auch privat befreundet. Aber es gab einen speziellen Grund, sich nicht ausgerechnet bei Lisa über ihren Kummer auszulassen: Romy und Oliver Schyllbach waren damals – unbemerkt von allen anderen im Kollaps – gerade frischverliebt, als eine weitere Mitarbeiterin hinzukam: es war Lisa. Sie war eine auffallend hübsche junge Frau mit einer tollen Figur. Selbst in einem schlichten Laborkittel zog sie die Blicke der männlichen Kollegen auf sich. Das dunkelblonde lange Haar hielt sie zu einem seitlichen Zopf geflochten, aus dem sich manchmal eine kleine Strähne löste und ihr vorwitzig in die Stirn fiel. Wenn das Sonnenlicht ihr Haar streifte, schimmerte es in einem sanften Kupferton. Lisas dunkle Augen konnten ihr Gegenüber je nach Situation warmherzig anschauen oder herausfordernd anblitzen. Sie war fast immer gut gelaunt, äußerst witzig und hatte mitunter eine scharfe Zunge. Zwischen ihr und Romy entwickelte sich bald eine kollegiale Freundschaft. Doch selbst Lisa gegenüber hatte Romy ihre heimliche Liebe zu Oliver verschwiegen. Als die Beziehung dann bekannt wurde, reagierte ihre Kollegin sichtlich betroffen. Zuerst vermutete Romy, dass sie ihr die Heimlichtuerei übelgenommen hätte. Doch bald darauf begann sie, Oliver und Lisa bei Dienstbesprechungen oder anderen Gelegenheiten verstohlen zu beobachten. Täuschte sie sich, oder mieden beide den Blickkontakt zueinander? Steckte womöglich mehr dahinter?

Auch wenn ihr freundschaftliches Verhältnis zu Lisa nicht nachhaltig darunter litt, so blieb doch ein leises Misstrauen seit jener Zeit zurück. Und dies war der Grund dafür, warum Romy sie gestern Abend nicht angerufen hatte.

Romy riss sich aus ihren Gedanken und sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit, aufzubrechen und zum Kollaps zu fahren. Den Rest ihres Tees ließ sie stehen und stellte das Frühstücksgeschirr in die Spüle. Hastig schaute sie nochmal in den Spiegel und ärgerte sich über ihre verquollenen Augen. Sie hätte gestern Abend nicht so heftig weinen dürfen.

Mit dem Auto brauchte sie höchstens eine halbe Stunde. Das Kollaps lag in einem weitläufigen Gewerbegebiet mit ausreichenden Parkmöglichkeiten für die Mitarbeiter der umliegenden Firmen und Büros.

Romy stellte ihr Auto ab und betrat kurz darauf ein zweigeschossiges Gebäude. Den Fahrstuhl ließ sie außer Acht, stattdessen nahm sie die Treppe bis ins obere Stockwerk, in dem sich die Räumlichkeiten des Unternehmens befanden. Vom Eingangsbereich, neben dem das Sekretariat und ein Aufenthaltsraum mit kleiner Küche lagen, ging ein langer Flur ab. Von diesem kam man in die Dienstzimmer der Mitarbeiter. Aber die Kernstücke des Unternehmens waren ein großes Labor für die laufenden Messungen und Tests und zwei kleinere, in denen die beiden Chefs, Schyllbach und Schröter, ungestört arbeiten konnten.

Rasch lief Romy am Sekretariat vorbei. Wie so oft war die Tür geschlossen, und so blieb es ihr erspart, Frau Brandner zu grüßen. Sie wusste, dass die Chefsekretärin sie nicht mochte – und ahnte auch, warum. Damals vor acht Jahren, gleich zu Beginn der Unternehmensgründung, hatte Oliver Schyllbach sie als Sekretärin eingestellt, und sie selbst betrachtete sich seitdem als gute Seele des Kollaps. Oft genug war sie bereit, auch über die normale Arbeitszeit hinaus länger zu bleiben. Frau Brandner war vier oder fünf Jahre älter als ihr Chef, und er schätzte sie als erfahrene und kompetente Mitarbeiterin. Sie erledigte den umfangreichen Schriftverkehr, stellte Anträge, holte Angebote ein, gab Bestellungen auf und kümmerte sich um die Abrechnungen. Den gemeinsamen Arbeitstag begannen Schyllbach und sie immer mit einer Tasse Kaffee. Es wurde zu einer Art Ritual, dass sie jedes Mal ein kleines Gebäckstück auf seine Untertasse legte, und er genoss es, ein wenig umsorgt zu werden. Selbst dann, als Schröter als »Co.« und weitere Mitarbeiter ins Schyllbach & Co. Labs hinzukamen, blieb es dabei: Oliver Schyllbach trank seinen Morgenkaffee gemeinsam mit Frau Brandner, und sie empfand es als Privileg, den Chef gleich früh am Morgen für ein paar Minuten ganz für sich allein zu haben.

Dann passierte es das erste Mal, dass Schyllbach verspätet kam und nur kurz mit einem verlegenen Lächeln bei ihr hereinschaute. Am nächsten Morgen und die folgenden Tage nahm er sich wieder Zeit und trank seinen Kaffee gemeinsam mit ihr. Ein paar Tage später entschuldigte er sich abermals; Oliver Schyllbach hatte bei Romy zu Hause gefrühstückt – aber das wusste Frau Brandner natürlich nicht. Bis sie zufällig sah, wie ihr Chef und Romy Caralus sich flüchtig küssten, bevor sie im Labor und er in seinem Dienstzimmer verschwand. Sie war enttäuscht und verletzt.

Am nächsten Morgen vermisste Schyllbach das Gebäckstück auf seiner Untertasse, und seine Sekretärin gab sich wortkarg und einsilbig.

»Frau Brandner, haben wir ein Problem miteinander?«, fragte er besorgt. »Bitte sagen Sie mir, wenn Sie etwas auf dem Herzen haben.« Doch sie verneinte. Nein, es sei alles in Ordnung, ein wenig Kopfschmerzen habe sie, aber sonst sei wirklich nichts.

Das war für ihn ein untrügliches Zeichen, dass doch etwas war. »Es ist Ihnen sicher nicht entgangen, dass ich Frau Caralus liebe. Ich wollte es Ihnen irgendwann sagen, dachte aber, es hätte noch Zeit. Das können Sie mir doch bitte nicht übelnehmen.«

Frau Brandner stand auf und fing an, auf ihrem Schreibtisch die Unterlagen zu sortieren. Leichthin meinte sie: »Natürlich nehme ich Ihnen das nicht übel. Ich gönne Ihnen Ihr Glück von ganzem Herzen und wünsche Ihnen nur, dass Sie von der jungen Mitarbeiterin nicht ausgenutzt werden.« Sie empfand wohl selbst, wie altjüngferlich und unglaubwürdig ihre Worte klangen.

»Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen.« Oliver hatte sich nun ebenfalls erhoben. »Ich werde schon auf mich aufpassen, aber das tun Sie ja offensichtlich auch«, fügte er lächelnd hinzu. Und bevor er das Zimmer verließ, versprach er: »Wir beide, Sie und ich, bleiben ein eingeschworenes Team. Aber hätten Sie morgen früh bitte wieder einen Keks zum Kaffee für mich …?«

Oliver hatte Romy diese Episode erzählt, aber nie sprach sie mit ihm über Lisas Reaktion auf das Bekanntwerden ihrer beider Beziehung.

Romy schaute kurz in das große Labor und sah Frau Dr. Hellwig darin hantieren. Sie schien sich voll auf die Messung zu konzentrieren und erwiderte Romys Gruß nur mit einem knappen Kopfnicken.

Petra Hellwig war fast an jedem Morgen die erste im Labor. Und immer drückte ihre Miene einen unausgesprochenen Vorwurf aus – eine Kritik, weil die anderen später als sie im Labor erschienen und zeitiger die Arbeit beendeten, oder eine Missbilligung, wenn die jungen Kollegen zum Kaffee im Aufenthaltsraum saßen und lachten. Vielleicht war ihre missmutige Miene auch eine Anklage gegen das Leben an sich, weil sie kaum daran teilhatte. Nie saß sie bei einer morgendlichen Tasse Kaffee oder zu Mittag mit in der Runde. Nur wenige wussten etwas Privates über sie, und zu niemandem aus dem Kollaps hatte sie über ihre Arbeit hinaus Kontakt. Nur mit Schyllbach und Schröter wechselte sie hin und wieder ein paar Worte; dabei ging es ausnahmslos um dienstliche Belange. Sie war eine herbe, distanzierte Frau mit einem verbitterten Zug um den Mund. Ihre Art war spröde und abweisend, manchmal fast beleidigend. Abgesehen von ihrer verdrossenen Miene sah Petra Hellwig durchaus ansprechend aus. Sie hatte eine sportliche Figur und einen flotten Haarschnitt, der vielleicht ein wenig zu kurz geraten war. Die Haarfarbe war Geschmackssache, ein intensiver Rotton, aufwändig gefärbt.

Romy schloss die Tür zum großen Labor wieder und lief in Richtung ihres Dienstzimmers.

»Guten Morgen, Frau Caralus!« Unwillkürlich zuckte Romy zusammen. Schröters Gruß klang wie eine Zurechtweisung. Sie mied ihn ebenso wie Frau Dr. Hellwig. Doch es gab einen wesentlichen Unterschied: Die Hellwig konnte sie ignorieren, ihn aber nicht. Als stellvertretender Geschäftsleiter war er ihr und den anderen Mitarbeitern gegenüber weisungsberechtigt. Schyllbach, Schröter und Frau Hellwig mochten ungefähr im gleichen Alter sein, doch so genau wusste das niemand von den jüngeren Kollegen. Aber sie alle waren sich einig darüber, dass der Chef am zugänglichsten von den dreien war und man den beiden anderen lieber aus dem Weg gehen sollte.

Romy betrat ihr Dienstzimmer und freute sich, dass Henriette schon da war. Mit ihr verstand sie sich fast ebenso gut wie mit Lisa. Als vorerst letzte neue Mitarbeiterin war sie vor einem halben Jahr hinzugekommen. Henriette Schönherr war eine etwas pummelige, phlegmatische Mittdreißigerin und lag altersmäßig im Durchschnitt des relativ jungen Teams um Schyllbach und Co. Sie war gutmütig und hilfsbereit, wirkte allerdings mitunter etwas naiv und neugierig. Manchmal empfand Romy auch Mitleid mit ihr. Henriette litt sichtlich unter ihren überflüssigen Pfunden und trug daher, um die Pölsterchen zu kaschieren, in ihrer Freizeit meist weite und dunkle T-Shirts. Am besten standen ihr eigentlich die Laborkittel. Ihre langen feldmausbraunen Haare hielt sie mit einem Gummiband im Nacken zusammen. Auf den ersten Blick wirkte Henriette wie eine in die Jahre gekommene Studentin.

Die beiden Kolleginnen begrüßten sich, und im gleichen Augenblick wirbelte Lisa Volkert herein, warf ihre Tasche in die Ecke und sprudelte auch schon los: »Ich hätte es doch beinahe wieder verschlafen! Jedenfalls war es der reine Zufall, dass ich noch rechtzeitig raus bin. Aber was ist denn mit dir los, Romy? Du hast ja ganz verquollene Augen.« Lisa nahm Romy bei den Schultern und schaute sie forschend an.

»Wahrscheinlich eine Art Allergie. Ich musste mich gestern Abend beherrschen, um nicht in den Augen zu reiben«, log sie.

Damit schien das Thema erst einmal beendet, und Lisa wandte sich gleich darauf an Henriette: »Die Hellwig tut schon wieder schwer beschäftigt und grüßt kaum zurück. Warst du heute schon vor ihr da?« Eine Antwort darauf erwartete sie gar nicht, sondern erzählte ununterbrochen weiter.

Unterdessen waren auch die anderen Mitarbeiter eingetrudelt und hantierten an den Geräten. Schröter riss die Tür zum großen Labor auf und wetterte: »Meine Damen und Herren, denken Sie doch bitte mal daran, in Zukunft rechtzeitig im Sekretariat zu melden, wenn Material nachbestellt werden muss! Ich möchte es nicht noch einmal erleben, dass ich in einen leeren Karton greife, wenn ich Proberöhrchen brauche!« Als er das Labor wieder verließ, schnitt Lisa hinter seinem Rücken eine Grimasse. Von seinen cholerischen Auftritten ließ sich kaum noch jemand beeindrucken. Ohnehin sah Schröter meistens finster aus, und wenn er doch einmal lächelte, so wirkte es hinterhältig und zynisch, wie ein diabolisches Grinsen. Das meinte zumindest Lisa, und Romy gab ihr Recht. Ebenso wie Schyllbach war auch Schröter arbeitsbesessen und blieb wie dieser oft bis in die späten Abendstunden hinein in seinem Labor, wenn es sein musste, auch samstags. Und das kam zu Romys großem Bedauern neuerdings auch bei Oliver immer häufiger vor. Henriette hatte sich schon neugierig erkundigt, ob sie das so in Ordnung fände. Romy waren diese Fragen äußerst unangenehm und wich ihnen generell aus.

Schyllbach selbst hatte sich an diesem Morgen noch nicht blicken lassen – auch das war Henriette aufgefallen. »Hast du eine Ahnung, woran er die ganzen Wochen so intensiv arbeitet?«, wollte sie jetzt wissen und fügte hinzu: »Es scheint ja etwas außer der Reihe zu sein, sozusagen Chefsache, sonst würde er sicher noch jemanden einspannen. Arbeitet er an einem vertraulichen Projekt? Vielleicht mit Schröter zusammen?« Eine Antwort darauf erhielt sie nicht. Ohnehin hätte Romy nichts darauf erwidern können, weil sie es selbst nicht wusste. Geflissentlich überhörte sie die Frage und widmete sich ihrer Messreihe. Doch innerlich war sie unruhig und nervös. Ständig musste sie an den gestrigen verkorksten Abend denken und war gespannt, wie sich Oliver ihr gegenüber verhalten würde.

»Der Kaffee ist fertig!«, rief Lisa. Außer Frau Hellwig unterbrachen alle gerne ihre Arbeit und gingen zum Aufenthaltsraum.

In diesem Moment kam Schyllbach aus dem Sekretariat. Als er Romy sah, zog er sie beiseite. »Sorry wegen gestern, mein Schatz, es ging wirklich nicht. Aber wie wäre es heute Abend?« Romy wollte sich schmollend abwenden. »Ich habe für zwanzig Uhr im Chez Arabelle einen Tisch bestellt«, fügte er rasch hinzu.

»Viel Spaß«, erwiderte sie schnippisch, um gleich darauf nachzugeben: »Überredet!«

Ihr Kummer von gestern Abend war augenblicklich verflogen. Er hatte es also nicht vergessen, nur eine Menge Arbeit um die Ohren. Wie konnte sie ihm das übelnehmen?

Lisa entging das kurze Intermezzo nicht. Und mit einem harmlosen Lächeln fragte sie beim Kaffee: »Na, ist die allergische Reaktion wieder abgeklungen? Deine Augen sehen schon wieder viel klarer aus. Sie glänzen förmlich!«

Gutgelaunt verbrachte Romy den Tag. Selbst Frau Hellwigs säuerliche Miene störte sie kaum noch.

 

Der Spätsommerabend war mild. Romy trug ihr dunkelblaues Kleid und die Sandaletten mit den hohen Absätzen. Wie versprochen hatte Oliver sie pünktlich zu Hause abgeholt. Den zehnminütigen Weg zum Chez Arabelle legten sie zu Fuß zurück.

Plötzlich blieb Romy stehen: »Anne! Es ist eine Ewigkeit her, dass wir uns gesehen haben! Wie geht es dir?«

»Danke, recht gut. Aber so ewig ist es nun auch wieder nicht her«, meinte Anne lachend. »Das letzte Mal haben wir uns beim Klassentreffen vor reichlich zwei Jahren gesehen. Und seitdem habe ich nichts mehr von dir gehört. Aber du siehst blendend aus!« Wohlwollend betrachtete sie ihre ehemalige Schulfreundin. »Arbeitest du noch in dem pharmazeutischen Unternehmen? Du hattest damals, glaube ich, gerade erst angefangen.« Etwas verlegen fiel Romy ein, dass sie Oliver ja noch gar nicht vorgestellt hatte. Er gab ihrer Freundin höflich lächelnd die Hand und trat wieder beiseite. Romy entging nicht, dass ihm die Unterbrechung nicht recht war. Er wirkte ungeduldig und nervös.

»Du hast dich auch nicht verändert, Anne. Wo arbeitest du jetzt eigentlich? Noch beim Verlag?«

Verstohlen schaute Oliver Schyllbach auf die Uhr. Ewig konnten sie sich hier nicht aufhalten. Der Tisch war für zwanzig Uhr bestellt, und sie lagen schon etwas über der Zeit. Nach weiteren fünf Minuten gab er Romy ein unmissverständliches Zeichen. Sie mussten nun endlich los. Eilig nannte sie ihrer wiedergefundenen Freundin ihre Handynummer, und beide verabschiedeten sich mit dem Versprechen, in Verbindung zu bleiben.

 

Enttäuschende Erkenntnisse

Seit dem letzten Abend im Chez Arabelle hatten sie sich kaum gesehen. Selbst im Kollaps nicht. Oliver Schyllbach kam ohnehin immer etwas später als die anderen, trank bei Frau Brandner seine Tasse Kaffee, traf sich danach meist zu einer kurzen Besprechung mit Schröter in dessen Dienstzimmer und verschwand dann sofort in seinem Labor. Die letzten drei Wochen hatte Romy oft allein verbracht. Sie wagte nicht, Lisa ständig in Beschlag zu nehmen. Das Problem mit Oliver wollte sie nicht anrühren. Und außerdem hatte Lisa einen Freund. Ein paarmal war Romy drauf und dran, sich mit Henriette zu verabreden, doch dazu fehlte ihr letztendlich die Lust. Ihr reichte es, wenn sie sich fast täglich im Labor sahen. Romy wurde schmerzlich bewusst, dass sie die letzten beiden Jahre wie in einer Blase gelebt hatte. Außer der Arbeit im Kollaps, hin und wieder einem Treffen nach Dienstschluss mit den Kollegen in einer der Kneipen und der gemeinsamen Zeit mit Oliver, die immer seltener wurde, gab es zurzeit kaum andere Kontakte oder Ereignisse in ihrem Leben. Mit ihrer Schwester Birgit telefonierte sie ab und zu. Sie war acht Jahre älter als Romy und lebte mit ihrer Familie schon seit langem in einem kleinen Ort in Thüringen. Früher war Romy oft bei ihr zu Besuch.

Anne kam ihr wieder in den Sinn. Sie war nicht von Anfang an auf Romys Gymnasium und auch nicht sofort ihre beste Freundin gewesen. Als sie in der elften Klasse hinzukam, gab es damals einen leisen Missklang zwischen ihnen, dessen Anlass aber längst in Vergessenheit geraten war. Oder beide waren klug genug, die Angelegenheit nie wieder zu erwähnen. Später, während der Studienzeit, hatten sie die Semesterferien und Wochenenden oft gemeinsam bei Romys Schwester in Thüringen verbracht. Mit Anne war es nie langweilig. Romy bewunderte ihre übermütige und charmante Art und fand ihre ehemalige Klassenkameradin äußerst unterhaltsam und attraktiv. Sie bedauerte, dass sie sich in den letzten Jahren etwas aus den Augen verloren hatten. Jede war mit sich und den eigenen Problemen beschäftigt. Anne war kurzzeitig verheiratet und bald wieder geschieden. Für einen Augenblick überlegte Romy, wie ihr Nachname war, nachdem sie geheiratet hatte. Dann fiel er ihr ein: Ja, Selbmann hieß sie jetzt wohl, wenn sie nach der Scheidung nicht wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte.

Anne Selbmann. Zwei Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Umso erfreuter war Romy, als sie sich zufällig wiedertrafen. Anne hatte ihre Handynummer, aber sie hatte bisher nicht angerufen.

Romy saß am Abend vor dem Fernseher, als ihr Handy klingelte. Oliver rief an! »Es geschehen noch Wunder!«, meldete sie sich und fügte vorwurfsvoll hinzu: »Ich dachte schon, dich gibt es gar nicht mehr in meinem Leben.«

Oliver lachte etwas verlegen: »Tut mir wirklich leid, Schatz. Aber die letzten Wochen waren ziemlich heftig. Du weißt ja, dass ich unter Zeitdruck stand.«

»Eigentlich weiß ich gar nichts«, konterte sie.

»Du musst auch nicht alles wissen.« Wieder lachte er und fragte rasch: »Wo bist du gerade?«

»Na wo schon, zu Hause.«

»Hast du Lust zu mir zu kommen? Ich habe noch eine Flasche Chardonnay im Kühlschrank. Und ich könnte Sushi bestellen.«

Romy überlegte nicht lange: »Ich komme.« In Windeseile zog sie sich um, packte ihr Handy mit Ladekabel und ein paar andere Kleinigkeiten in ihre Tasche und setzte sich ins Auto.

 

Am späten Abend dann meinte Oliver beiläufig: »Ach, übrigens, Schatz, übermorgen fliege ich zu einer Tagung nach Münster. Es muss sein. Außerdem hoffe ich dort auch neue Auftraggeber zu finden. Aber am Donnerstag nächste Woche bin ich wieder zurück.«

»Eine ganze Woche!«, klagte Romy und stellte lakonisch fest: »Na prima, dann sehen wir uns wohl auch dieses Wochenende nicht. Ein Wunder, dass du heute mal für mich Zeit hattest.« Oliver lächelte schuldbewusst und nahm sie in die Arme. In seiner Gegenwart schaffte sie es einfach nicht, ihm etwas übel zu nehmen.

 

 

Der Arbeitstag im Kollaps begann wie immer, und so nach und nach trudelten die Mitarbeiter ein. Frau Brandner war die erste, gleich darauf kam Frau Hellwig. Es war ein Tag wie jeder andere, nur der Chef des Unternehmens fehlte. Er war in den frühen Morgenstunden nach Münster geflogen, Schröter würde ihn zum Leidwesen aller Mitarbeiter vertreten.

Frau Brandner saß grübelnd über den Abrechnungen. Die Bestellungen der letzten Wochen und Monate passten einfach nicht zu den laufenden Messungen und Projekten. Die Reagenzien, die neuerdings bestellt wurden, waren andere, als die Mitarbeiter bisher zur Herstellung und zum Testen der Wirkstoffe verwendeten. Auch den erhöhten Verbrauch an Ampullen und Etiketten konnte sie sich nicht erklären. In dem Augenblick riss Schröter die Tür auf und knallte ihr eine neue Bestellung auf den Tisch.

»Was, schon wieder neue Filterspitzen? Wir hatten doch erst vorige Woche einen Karton bestellt«, wunderte sie sich.

Ungehalten entgegnete er: »Machen Sie einfach, was ich Ihnen sage.«

Die Bemerkung »Sie haben ja gar nichts gesagt, weder Bitte noch Danke«, verkniff sie sich. Stattdessen gab sie pikiert Schröters Bestellung auf und war froh, als er ihr Sekretariat wieder verließ. Gleich nach seiner Dienstreise würde sie Dr. Schyllbach auf die Unregelmäßigkeiten bei den Bestellungen und Schröters Verhalten ansprechen.

Doch diesen Gedanken verwarf sie bald wieder. Ihr Verhältnis zueinander war nicht mehr so vertraut wie zu Beginn der Unternehmensgründung. Im Geheimen gab sie Romy Caralus die Schuld daran. Seit er mit ihr zusammen war, gab es einen leisen Missklang in der Beziehung zwischen Frau Brandner und ihm. Sie tranken zwar fast jeden Morgen noch gemeinsam ihren Kaffee, aber es war nicht mehr das Gleiche wie zuvor. Die Vertrautheit der ersten Jahre hatte sich nie wieder eingestellt.

Frau Brandner war unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Konnte sie offen mit ihm sprechen und ihren Verdacht äußern? Sie wüsste zu gerne, was Schröter da in seinem Labor trieb. Oder deckte gar ihr Chef, Herr Dr. Schyllbach, irgendwelche anderen Aktivitäten? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Aber diese junge Freundin von ihm gefiel ihr nicht. Sie hatte Frau Caralus von Anfang an nicht gemocht, auch nicht, als sie und Dr. Schyllbach noch kein Paar waren. Hatte sie nicht immer befürchtet, dass Romy Caralus ihn nur ausnutzen würde? Für Frau Brandner war klar: Das gerissene Luder hatte sich den Chef geangelt, und er war leider darauf reingefallen. Sie überlegte weiter, wem sie sich mit ihren Bedenken bezüglich der auffälligen Bestellungen anvertrauen könnte. Frau Dr. Hellwig? Nein, auf keinen Fall. Die Abfuhr wollte sie sich ersparen. Henriette Schönherr war eigentlich ganz nett, zumindest grüßte sie immer mit einem freundlichen Lächeln. Aber war sie kompetent genug, um sich ein Urteil zu erlauben? Frau Brandner bezweifelte es. Trotzdem nahm sie sich vor, die junge Kollegin bei Gelegenheit mal anzusprechen.

 

Kurz nach sechzehn Uhr stellte Romy das Messgerät aus. Schluss für heute. Aber was sollte sie mit diesem angebrochenen Nachmittag anfangen? Sie würde Oliver eine Nachricht schreiben und fragen, ob er gut in Münster angekommen sei und wie es denn auf der Tagung so laufe, dachte sie mit einem kleinen Lächeln. Aber das wäre albern. Es sähe ja geradezu danach aus, als spioniere sie ihm hinterher. Trotzdem kramte sie ihr Smartphone aus der Tasche. Vielleicht hatte er ja zwischenzeitlich versucht, sie zu erreichen? Nein, natürlich nicht. Weder ein verpasster Anruf noch eine ungelesene Mitteilung. Aber Romy sah, dass ihr Akku fast leer war. Wieder mal typisch, dachte sie resigniert. Sie hatte vergessen, ihn aufzuladen. Gleich zu Hause würde sie daran denken.

Eine halbe Stunde später suchte sie in ihrer Wohnung nach dem Ladekabel. Es war nicht zu finden. Sie durchwühlte nochmal ihre Tasche und schüttete letztendlich den gesamten Inhalt auf ihren Couchtisch. Das Kabel war nicht dabei. Angestrengt überlegte sie, wann und wo sie es das letzte Mal benutzt hatte. Vorgestern in Olivers Wohnung! Sie hatte es, bevor sie zu ihm fuhr, noch schnell eingepackt und ihr Handy dann bei ihm aufgeladen. Das Kabel hatte sie mit Sicherheit bei ihm liegengelassen. Romy überlegte: Schon lange hatte sie einen Wohnungsschlüssel zu seiner Wohnung, ebenso wie er einen zu ihrer hatte. Aber es war eine stille Vereinbarung, dass keiner ohne den anderen die fremden Räume betrat, es sei denn, sie hatten es so abgesprochen. Aber was blieb ihr übrig? Sie brauchte dringend ihr Ladekabel.

Vor dem Haus, in dem Oliver wohnte, hielt sie einen Augenblick inne. Dann schloss sie die Haustür auf, stieg die beiden Stockwerke empor und zögerte dann abermals vor seiner Wohnungstür. Unnötigerweise klingelte sie und kam sich im gleichen Augenblick lächerlich dabei vor. Beherzt schloss sie auf und betrat die leere Wohnung. Wie eine Fremde sah sie sich darin um. Sie ging vom Wohnraum in das angrenzende Schlafzimmer, das er auch als Arbeitsraum nutzte. Wie erwartet steckte das Kabel noch in der Steckdose neben dem Schreibtisch. Erleichtert zog sie es heraus. Da sie nun schon einmal hier war, schaute sie ziellos über seinen Arbeitsplatz. Außer zwei Ordnern und einigen Schriftstücken lag nichts weiter darauf. Sie wusste, es stand ihr nicht zu, hier herumzuschnüffeln. Zumal in seiner Abwesenheit. Trotzdem hob sie vorsichtig einen kleinen Stapel Papiere an.

Da entdeckte sie eine Buchungsbestätigung. Sie kam von einem Wellnesshotel in Münster. Ja klar, die Tagung fand dort statt. Oliver liebte den Komfort, vor allem auch bei Dienstreisen. Warum also sollte er sich nicht etwas Luxuriöses für die paar Tage ausgesucht haben? Romy wollte die Buchungsbestätigung schon wieder zurück unter den Stapel legen, da fiel ihr Blick auf eine entscheidende Passage.

Und plötzlich fühlte sie sich wie vor den Kopf geschlagen. Oliver hatte eine Suite für zwei Personen gebucht, genau für das kommende Wochenende, das zwischen den Tagen seines dortigen Aufenthaltes lag. Hatte er vor, sie zu überraschen? Sollte sie nachkommen? Nein, dann hätte er sie schon längst darum gebeten. Romy entschloss sich, ihn sofort anzurufen und sich ahnungslos zu stellen. Nach dem fünften Klingelton nahm er den Anruf entgegen. Gebannt hörte sie ihm zu; er klang etwas übereifrig.

»Ja, Schatz, ich bin gut angekommen und wollte mich nachher sowieso bei dir melden. Das Wochenende? Du, das kann ich dir noch nicht sagen. Die Planung sieht ziemlich dicht aus. Am Samstagvormittag werden Poster vorgestellt, nach dem Mittagessen werden Kurzvorträge gehalten, am Abend findet ein Gesellschaftsabend statt, so eine Art Pflichtveranstaltung, mir graut schon davor, und am Sonntagvormittag hält ein Gastredner aus den USA einen Vortrag.« Romy wollte ihn unterbrechen, aber er sprach unbeirrt weiter: »Nachmittags gibt es eine kurze Stadtführung und danach wieder einen Workshop. Der Veranstalter hat viel mit uns vor. Entsprechend hoch war ja auch die Teilnehmergebühr. Du, Schatz, ich muss gleich wieder los. Wir rufen uns zwischendurch nochmal an, und spätestens am Donnerstag bin ich ja sowieso wieder zurück. Also mach’s gut, ja? Kuss und bis bald.«

Soweit zu dem Wochenende für zwei Personen. Ihre letzte Hoffnung, an die sie sich geklammert hatte, war zerschlagen. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie ein Kreisel. Für einen Moment erwog sie, unangekündigt im Hotel zu erscheinen. Aber was genau wollte sie dort? Ihn zur Rede stellen, eine Szene machen? Man würde ihn von der Rezeption aus anrufen und sie ankündigen. Mit Sicherheit ließe er sich verleugnen. Und wie weiter? Also müsste sie in der Lounge rumhängen und ihn abpassen. Nein, die Sache wäre zu peinlich, einfach unter ihrer Würde und sinnlos dazu.

So nach und nach wurde ihr das ganze Ausmaß der Situation bewusst. Hatte er vor, sie zu verlassen? Und sie selber? Wollte sie diese Beziehung noch?

Erst einmal musste sie raus aus seiner Wohnung. Sie schloss ab und eilte die Treppe hinunter. Hoffentlich hatte niemand sie gesehen. Ihr Auto ließ sie stehen, sie würde ein Stück laufen, um den Kopf frei zu bekommen. Wie sollte es jetzt für sie und Oliver weitergehen? Und das Fatale an der ganzen Situation war, dass er ihr Chef war. Eine Trennung von ihm zöge mit Sicherheit berufliche Konsequenzen nach sich. Sie würde nicht bei Schyllbach & Co. Labs weiterarbeiten. Abgesehen von ihrem persönlichen Kummer war sie völlig verunsichert. Wie sollte sie sich Oliver gegenüber verhalten? Wäre es klug, ihn wissen zu lassen, dass sie ihn durchschaute? Aber dann müsste sie ja zugeben, dass sie während seiner Abwesenheit in der Wohnung war und auf dem Schreibtisch herumgeschnüffelt hat.

 

Romy fand in dieser Nacht kaum Schlaf. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere. Mal nahm sie sich vor, ihn zur Rede zu stellen, dann verwarf sie den Gedanken wieder. Sie überlegte, wie sie ihm gegenüber begründen könnte, dass sie von seinem Seitensprung wusste. Ihm etwas vorspielen und behaupten, sie spüre, dass er sie betrog? Doch er würde den Spieß umdrehen und sie fragen, wie sie zu dieser Annahme käme. Er war so wortgewandt und selbstsicher. Für alles hätte er eine Erklärung. Und nur zu gerne würde sie ihm dann glauben.

Schließlich kam sie zu dem Schluss, die heutige Entdeckung vorerst mit keiner Silbe zu erwähnen. Sie würde abwarten, wie er sich ihr gegenüber verhielte. Gegebenenfalls könnte sie die Beziehung langsam auslaufen lassen, sich sprichwörtlich gesehen emotional »aus dem Staub machen«. Ja, das wäre wohl die einfachste Lösung. Aber so ohne weiteres würde ihr das nicht gelingen. Romy wusste aus Erfahrung, dass es ihm mit Leichtigkeit gelänge, sie wieder um den Finger zu wickeln.

Endlich, weit nach Mitternacht, fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

 

 

Kurz nach Frau Hellwig betrat Henriette das Labor und war sichtlich erleichtert, als Lisa wenig später hinzukam. Leise raunte sie ihr zu: »Ich muss dir nachher was erzählen, aber möglichst nicht, wenn Romy dabei ist.« Lisa schaute verwundert auf, blies die vorwitzige Haarsträhne aus ihrem Blickfeld und hob eine Augenbraue, ihr Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen. Unwillkürlich musste Henriette lachen. Als Frau Hellwig das Labor verließ, nutzte sie die Gelegenheit.

»Frau Brandner sprach gestern mit mir. Ihr ist aufgefallen, dass die Bestellungen in der letzten Zeit nicht zu den laufenden Forschungsarbeiten und Testreihen passen. Neuerdings werden Reagenzien bestellt, die bisher noch nie verwendet wurden, auch jede Menge Ampullen.« Sie schaute Lisa bedeutungsvoll an, bevor sie mit gesenkter Stimme fortfuhr: »Ich sage dir, irgendetwas stimmt hier nicht, da gehe ich jede Wette ein. Frau Brandner denkt vermutlich, es läge an Schröter. Aber ich sehe da ehrlich gesagt eher einen Zusammenhang mit den intensiven Laborarbeiten unseres Chefs. Sag aber bitte kein Wort zu Romy. Sie ist ja ohnehin genervt, weil Schyllbach kaum noch Zeit für sie hat. Oder meinst du, sie steckt da mit drin?« Lisa wurde jeglicher Antwort enthoben, denn in diesem Augenblick kam Romy etwas abgehetzt ins Labor.

»Mensch, heute habe ich es verschlafen.«

»Hast du gestern länger gemacht?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich habe in der vergangenen Nacht nur ziemlich schlecht geschlafen.«

Henriette warf Lisa einen vielsagenden Blick zu, aber die zuckte nur mit den Schultern.

 

Ein perfider Plan

Am darauffolgenden Morgen standen alle Stühle im Kollaps mit den Sitzflächen nach unten gekehrt auf den Tischen, weil die Reinigungsfirma in aller Frühe die Räume, Labore und den Flur gewischt hatte. Es war kein einladender Anblick, weder die hochgestellten Stühle noch das Resultat der Bodenreinigung. Auf dem Flur lagen in einer Ecke Flusen, an manchen Stellen sah es aus, als wäre der Dreck nur zusammengeschoben worden. Wahrscheinlich hatte wieder einmal das Personal gewechselt.

In einer Bodenritze an der Wand lag eine kleine Glasampulle. Sie war irgendwo heruntergefallen und wurde dann beim Säubern mit dem Wischmopp achtlos dorthin geschoben. Die Ampulle war etikettiert, und auf dem Etikett stand gut lesbar die Bezeichnung LoWei Plus. Sie enthielt eine klarflüssige Lösung. Spätestens bei der nächsten Bodenreinigung würde sie zuerst im Wischeimer und dann später im Ausguss verschwinden. Doch es sollte anders kommen.

 

Frau Hellwig schien an diesem Morgen besonders schlecht gelaunt. Auch wenn Romy ohnehin kein freundliches Wort von ihr erwartete, so trafen sie der eisige Blick und das beharrliche Schweigen heute besonders hart. Was mochte dieser übellaunigen Frau schon wieder nicht passen? Ebenso war mit Henriette nicht viel anzufangen. Romy hatte den Eindruck, dass sie nur mechanisch antwortete, wenn sie gefragt wurde. Aber nach Unterhaltung war Romy selbst nicht zumute. Nur mit großer Anstrengung gelang es ihr, die Enttäuschung über Oliver vor den anderen zu verbergen. Zumindest Lisa schien gutgelaunt zu sein. Plaudernd und über die Hellwig lästernd, als diese mal kurz das Labor verließ, bereitete sie routiniert ihre Messreihe vor. Keiner der Mitarbeiter wusste, ob Schröter im Haus war. An manchen Tagen war er schon vor um sieben in seinem Labor oder Dienstzimmer, mitunter kam er später, blieb dann aber meist bis in die Abendstunden hinein. Obwohl Oliver Schyllbach jetzt schon den zweiten Tag auf Dienstreise war und Schröter stellvertretend dessen Geschäfte übernahm, hatten ihn die Mitarbeiter des Kollaps bisher kaum gesehen. Ihnen konnte es nur recht sein. Jeder hatte seine konkreten Aufgaben, und der Laden schien momentan auch ohne einen Vorgesetzten zu laufen. Um nicht gänzlich isoliert in ihrem Sekretariat zu sitzen, ließ Frau Brandner neuerdings die Tür zu ihrem Zimmer einen Spalt breit offen. Auf diese Weise bekam sie nebenbei mit, wer morgens verspätet erschien oder überpünktlich den Arbeitsplatz verließ. Und ihr war es möglich, die Gespräche der anderen mitzuhören. Der Aufenthaltsraum lag praktischerweise gleich gegenüber. Ein Nachteil der offenen Tür war jedoch, dass sie zu spät bemerken würde, wenn Schröter in ihr Zimmer stürmte. Dieser Mensch verunsicherte sie in höchstem Maße.

 

∞∞∞∞∞∞∞∞∞∞∞∞ 

Leise öffnete sich die Tür des kleinen Archivraumes. Eine Gestalt schob sich durch den Türspalt und hielt inne. Alles war still und stockdunkel. Unglücklicherweise hatte Schröter an diesem Tag bis in die späten Abendstunden hinein gearbeitet. Erst vor ein paar Minuten hatte er das Gebäude verlassen. Vom langen Ausharren in dem kleinen, mit Regalen vollgestellten Raum schmerzte ihr ganzer Körper, ihre Beine waren eingeschlafen und kribbelten höchst unangenehm. Und die Blase drückte zusehends. Auf der Toilette wagte sie nicht, zu spülen. Um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, nutzte sie die Taschenlampenfunktion ihres Handys. Dann öffnete sie die Tür zu Oliver Schyllbachs Labor und schaute sich vorsichtig um.

An den Wänden standen offene Regale und einige verschließbare Schränke. In dem Moment, als sie nach dem Schlüsselkasten suchte, hörte sie zu ihrem großen Entsetzen die Eingangstür zu den Räumlichkeiten des Kollaps. Sofort schaltete sie das Licht ihres Handys aus. Es konnte nur Schröter sein, der irgendetwas vergessen hatte und zurückkam. Er hatte doch hoffentlich nicht den Lichtschein vom Parkplatz aus gesehen? Voller Panik suchte sie nach einem geeigneten Versteck. Ihr fiel nichts Besseres ein, als in aller Eile unter den Labortisch und dort in die hinterste Ecke zu kriechen – weit weg von der Tür. Bald darauf betrat jemand den Raum und schaltete die helle Deckenbeleuchtung an. Sie sah Männerschuhe in Richtung der Regale gehen. Mit äußerster Anstrengung zwang sie sich zur Ruhe und hoffte nur, dass er ihre Atmung und ihren rasenden Puls nicht wahrnahm. Die Zeit kam ihr endlos vor. Noch immer suchte Schröter – es konnte nur er sein – in den Regalen. Dann hielt er plötzlich inne. Rasch öffnete er einen Karton und entnahm etwas. Als er sich endlich entfernte, das Licht löschte und das Labor verließ, blieb sie geduckt und reglos unter dem Labortisch sitzen. Erst nach einer Viertelstunde kroch sie vorsichtig hervor und schlich zu Tür. Der Gang lag im Dunkeln. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Finsternis: vollkommene Stille. Zurück im Labor spähte sie durch die halb zugezogenen Lamellen auf den spärlich beleuchteten Parkplatz. Er war leer; weit und breit war kein Auto zu sehen. Jetzt konnte sie sich erneut ihrer Suche widmen. Sie war festentschlossen, Oliver Schyllbachs wochenlangen und vor den Mitarbeitern geheim gehaltenen Aktivitäten auf den Grund zu gehen. Sie sah sich um. Wenn es etwas gab, das für alle anderen tabu war, dann hatte er es mit Sicherheit in einem der abgeschlossenen Schränke untergebracht, so waren ihre Gedanken.

Gleich neben der Tür befanden sich ein Verbands- und ein Schlüsselkasten. Sie entnahm ein kleines Schlüsselbund und probierte die Schlüssel einen nach dem anderen an den Schrankschlössern aus. Bald fand sie den passenden für den ersten Schrank. Zum Durchsuchen der untergebrachten Flaschen und Packungen zog sie Laborhandschuhe an. Doch sie entdeckte nichts Außergewöhnliches. Nachdem sie den Schrank wieder verschlossen hatte, suchte sie den passenden Schlüssel für den nächsten. Aber auch hier wurde sie nicht fündig.

Nach einer Stunde war sie beim letzten Schrank angelangt. Enttäuscht schloss sie ihn zehn Minuten später wieder ab und hängte den Schlüsselbund zurück in den Kasten. Nichts. Sollte sie sich so getäuscht haben? Nein, auf keinen Fall. Alle Indizien deuteten darauf hin, dass er an einem geheim gehaltenen Projekt arbeitete, schon wochenlang und augenscheinlich mit Erfolg. Sonst bliebe er nicht so beharrlich an der Sache dran. Und sie würde der Angelegenheit nachgehen und letztendlich zu einem Ergebnis kommen. Womöglich forschte er auf illegalem Terrain? Ihre Augen suchten den Raum ab. Momentan war sie ratlos, wo sie noch nachschauen könnte. Mit Sicherheit nicht in den offenen Regalen. Sie waren frei zugängig und zur Unterbringung von Pipetten, Reagenzgläsern und anderem Verbrauchsmaterial vorgesehen. Doch möglicherweise hatte er ja genau das bedacht: Hier würde niemand etwas Außergewöhnliches vermuten. Mit neuer Energie und Hoffnung suchte sie jetzt Regal für Regal ab und stieg auf eine Leiter hinauf, um auch in die obersten Fächer zu schauen.

In einem von ihnen fiel ihr oben in der hintersten Ecke eine Box auf, sie stand verborgen hinter einem leeren Karton. Vorsichtig zog sie die Packung hervor und öffnete sie. In ihr lag eine unüberschaubare Menge an Ampullen, und alle waren mit der Aufschrift LoWei Plus versehen. Die Kapazität einer einzelnen betrug 0,25 ml, gefüllt waren sie mit einer klarflüssigen Lösung. Behutsam schob sie die Box wieder zurück und stieg die Leiterstufen hinab. Unten angekommen atmete sie tief durch. Jetzt musste sie unbedingt herausbekommen, was es mit den Ampullen und der unbekannten Bezeichnung auf sich hatte. Sie schaute sich aufmerksam um. Aber im Labor fand sie keine Unterlagen. Sein Dienstzimmer! Sie schlich auf den Gang und lauschte wieder in die Dunkelheit. Alles war still. In seinem Zimmer schaltete sie den Rechner an. Zu ihrem Glück war er nicht mit einem Passwort gesichert – wie leichtsinnig von ihm. Gezielt suchte sie nach dem Stichwort LoWei Plus. Und siehe da, unter diesem Begriff fand sie eine umfangreiche Datei.

Sie begann zu lesen und traute ihren Augen kaum: Oliver Schyllbach hatte eine Designerdroge entwickelt. Das ursprüngliche Ziel war die Herstellung eines Mittels zur Gewichtsreduktion. Die Buchstaben LoWei waren eine Abkürzung und leiteten sich von den Worten Lose Weight her. Das Plus bedeutete, dass es einen weiteren Effekt gab – und der war der springende Punkt. Ursprünglich war vorgesehen, den Kunden ein hochwirksames Mittel anzubieten, mit dem sie schon nach kurzer Anwendung Gewicht verlieren. Aber zusätzlich, praktisch so nebenbei, hatte sich herausgestellt, dass das Mittel vor allem aufputscht und beim Verbraucher euphorische Zustände hervorruft. LoWei Plus war demnach ein Rauschmittel mit euphorisierender Wirkung, das zuverlässig und schnell zur Gewichtsabnahme führte.

Sie las weiter, dass es bereits Verhandlungen zum Verkauf der Droge gab und Oliver Schyllbach sich in den nächsten Tagen bei einem Interessenten, einem Herrn Lohmann, melden würde.

Das eben Gelesene stimmte sie sehr nachdenklich. Der vorgeblich so integre Dr. Oliver Schyllbach, Chef des Unternehmens Schyllbach & Co. Labs, hatte demnach stillschweigend ein Rauschmittel hergestellt und bot es zum Verkauf an. Dann straffte sie die Schultern und überflog im Eiltempo den Rest des Textes. Die Herstellung und die Zusammensetzung der Droge wurden detailliert beschrieben. Sie schloss die Datei und klickte auf sein E-Mail-Fach. Wie leichtfertig von ihm, dass er das Passwort gespeichert hatte, und ein Leichtes für sie, die E-Mails der letzten drei Wochen zu lesen. Dabei stieß sie auf eine interessante Nachricht. Gesendet wurde sie von Oliver Schyllbach an den besagten Herrn Lohmann. In der E-Mail teilte er mit, dass die Untersuchungen zum Produkt fast abgeschlossen seien und er die Bankverbindung für die Überweisung der vereinbarten Summe in Höhe von 1.600.000 € demnächst bekannt gäbe. Nach Eingang des Betrages würde er dann die Ware wie abgesprochen per Kurier an die zuvor genannte Anschrift verschicken.

In ihr reifte ein perfider Plan. Um ihn auszuführen, musste sie die Zeit nutzen, solange er nicht vor Ort war. Erst in der nächsten Woche am Donnerstag käme er von der Tagung zurück. Trotzdem war Eile und umsichtiges, entschlossenes Handeln geboten.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Anordnung der Garderobenfächer in der Gemäldegalerie. Die Spinde waren mannshoch. In Erinnerung hatte sie, dass sie zuletzt ein Fach belegt hatte, das unauffällig in der Mitte lag. Angestrengt dachte sie nach, welche Nummer es hatte. Und ihr fiel ein, dass es die 42 war.

In Oliver Schyllbachs Namen schrieb sie jetzt:

 

Sehr geehrter Herr Lohmann,

die Untersuchungen wurden erfolgreich abgeschlossen, aber organisatorisch hat sich eine unvorhergesehene Änderung ergeben. Anstelle einer Banküberweisung soll der genannte Betrag in bar am kommenden Mittwoch um 11 Uhr im Bildermuseum in Berlin im Garderobenfach 42 hinterlegt werden. Den Schlüssel legen Sie bitte obenauf über das Fach. Ab 14 Uhr finden Sie in dem Garderobenfach die gewünschte Ware. Diese Änderung der Modalitäten ist zwingend erforderlich. Kontaktieren Sie mich auf keinen Fall per E-Mail! Nach erfolgreicher Übergabe melde ich mich bei Ihnen.

Mit freundlichen Grüßen

Oliver Schyllbach

 

Und senden! Vorsorglich löschte sie die gerade verschickte E-Mail im Ausgangspostfach ebenso wie alle anderen Mails, die den Schriftwechsel zu LoWei Plus betrafen. Es waren nur drei. Sie vergaß auch nicht, den virtuellen Papierkorb zu leeren, und entfernte alle verräterischen Spuren, die sie bei der Suche hinterlassen hatte. Doch es blieb die Unsicherheit, etwas übersehen zu haben. Dann schaltete sie den Rechner aus, verließ das Zimmer und ging in sein Labor zurück. Sie musste jetzt schnell handeln. Eilig stieg sie die Leiter empor, bis sie das obere Fach des Regals erreichte, griff nach der Box mit dem verfänglichen Inhalt und entnahm die Ampullen. In einem unauffälligen leeren Karton, der davor gestanden hatte, brachte sie alles unter. Die Leiter stellte sie zurück, verließ mit ihrem brisanten Diebesgut das Labor und schloss die Etage ab.

In weniger als einer Minute hatte sie den Ausgang des Gebäudes erreicht und schaute sich nach allen Seiten um. Unterdessen war es nach Mitternacht; außer ihr war keine Menschenseele unterwegs. Dann eilte sie mit hastigen Schritten über den leeren Parkplatz. Noch nie kam ihr der Weg so lang vor. Endlich erreichte sie die Hauptstraße. Per Handy rief sie ein Taxi und merkte, als die Spannung langsam von ihr abfiel, wie erschöpft sie war. Jetzt war ihr dringendster Wunsch, nach Hause zu kommen, zu duschen und wenigsten ein paar Stunden zu schlafen. Am nächsten Tag, gleich nach Dienstschluss, würde sie ein Schließfach bei der Bank mieten.

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Die Kaffeemaschine röchelte, der Kaffee war gleich durch. Henriette saß schlaff und mit müden Augen vor ihrer Tasse. Romy kam hinzu, ergriff die Kaffeekanne und goss ihnen ein.

Mit einem kurzen Blick zu Henriette fragte sie: »Was ist denn mit dir los?«

»Nichts ist los. Ich habe einfach schlecht geschlafen und seit heute Morgen Halsschmerzen. Ich befürchte bald, mich hat’s erwischt.« Ihre Stimme klang heiser.

»Na, dann bleib ich dir mal lieber fern.« Romy nahm ihre Tasse und ging zurück ins Labor. Nach kurzer Zeit erschien Frau Dr. Hellwig. Mit einem Lächeln nickte sie Romy zu. Übertroffen wurde deren unerwartete Freundlichkeit durch Lisas überaus guter Laune.

Romy meinte lakonisch: »Jetzt fehlte eigentlich nur noch, dass Schröter hereinkäme und uns allen eine Gehaltserhöhung ankündigen würde.«

Das Gegenteil geschah: Er erschien mürrisch wie immer und forderte alle zu einer kurzen Besprechung in sein Dienstzimmer auf.

»Meine Damen und Herren, es gibt leider unangenehme Neuigkeiten«, fing er an, nachdem sich alle in seinem Zimmer eingefunden hatten. »Aber vielleicht ist es ja gar keine Neuigkeit für Sie. Die derzeitige Lage am Markt erfordert jetzt eine besondere Flexibilität von uns allen. Das Unternehmen steht momentan finanziell nicht gerade rosig da.« Er registrierte die Unruhe, die sich ausbreitete. Unbeirrt fuhr er fort: »Und zu allem Übel ist auch noch ein entscheidender Auftraggeber abgesprungen.« Nun holte er zum entscheidenden Schlag aus. »Ich bitte Sie daher um Verständnis, dass die Gehälter bis auf weiteres um zehn Prozent gekürzt werden. Das betrifft selbstverständlich und vor allem auch Herrn Dr. Schyllbachs und mein Gehalt.« Er ließ das eben Verkündete ein paar Sekunden nachwirken, um dann mit einem jovialen Lächeln zu erklären: »Sobald sich die Auftragslage gebessert hat, werden die Gehälter wieder in bisheriger Höhe gezahlt. Ich danke für Ihr Verständnis.«

Romy glaubte, sich verhört zu haben, Henriette wirkte noch angeschlagener als zuvor, Lisa war nicht mehr ganz so gutgelaunt und Frau Dr. Hellwigs Freundlichkeit ließ sichtbar nach.

»Halt, Torsten, warum wird das jetzt in Abwesenheit von Oliver Schyllbach verkündet?«, fragte sie in forschem Ton.

»Weil Oliver Schyllbach nun mal auf Dienstreise ist und nicht gleichzeitig hier sein kann«, erwiderte er bissig.

»Ist die Lage denn wirklich so prekär? Hat es nicht Zeit, bis er wieder zurück ist?«

Insgeheim bewunderte Romy Frau Dr. Hellwigs Mut und Hartnäckigkeit. Sie selbst hätte diese offene Konfrontation mit Schröter nie gewagt.

Der reagierte jetzt ungehalten. »Hat es nicht. Sonst hätte ich diese Besprechung nicht einberufen. So, von meiner Seite aus gibt es nichts weiter. Bleibst du noch einen Moment hier, Petra?« Der Satz klang weder nach einer Frage noch nach einer Bitte. Es war eine Anweisung. Die anderen verließen schweigend das Zimmer. Lisa blieb einen Augenblick vor Schröters Tür stehen und lauschte. Aber was darinnen besprochen wurde, konnte sie akustisch nicht verstehen. Auf jeden Fall klang es nach einem handfesten Streit. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, sich von der Tür zu entfernen, denn im nächsten Augenblick stürmte Frau Hellwig wutentbrannt heraus.

 

Der Tag schleppte sich bis zum Dienstschluss dahin, und Lisa war froh, als sie sich von den anderen verabschieden konnte. Nein, von der miesen Stimmung und Henriettes Erkältung würde sie sich nicht anstecken lassen, sie freute sich auf das bevorstehende Wochenende.

Ganz anders empfand Romy. Dieses einsame Wochenende fürchtete sie.

Wie so oft in den letzten Wochen, wenn Oliver auch an den Samstagen arbeitete, hatte sie vormittags die Wohnung aufgeräumt und sich dann in das Einkaufsgetümmel der Innenstadt gestürzt. Aber wie sollte sie den trostlosen Abend überstehen?

Letzten Endes verbrachte sie ihn vorm Fernseher.

Am Sonntag fühlte sie sich noch miserabler. Normalerweise frühstückten sie an diesem freien Tag gemeinsam und ausgiebig und entschieden dann, was sie unternehmen würden: je nach Wetter und Jahreszeit einen Ausflug, eine Radtour, einen Kino- oder Museumsbesuch. Manchmal trafen sie sich auch mit Freunden. Ihr fiel auf, dass es vorrangig seine aus alten Studienzeiten waren.

Deprimiert hing sie am späten Sonntagnachmittag in ihrer Wohnung herum und gab sich trüben Gedanken hin. Lustlos zappte sie sich durch alte Filme und Serien, doch sie hatte keine Freude dabei und konnte sich nicht konzentrieren. Hätte sie doch nach Münster fahren und sich vor Ort von Olivers Untreue überzeugen und ihn kompromittieren sollen? Doch wozu Geld, Zeit und Nerven in ein aussichtsloses Unterfangen investieren, wenn letztendlich nur Peinlichkeiten und Enttäuschung auf sie warteten. Nein, ihr Stolz und ihre Selbstachtung verbaten ihr, ihm nachzureisen. Sie hatte mit ihm abgeschlossen, es war unwiederbringlich aus. Entgegen ihrem festen Vorsatz, der gemeinsamen Zeit mit ihm nicht nachzutrauern, kamen ihr die Tränen. Wieder war sie in Versuchung, sich ihrem Selbstmitleid hinzugeben. Sie dachte an die letzte Nacht, die sie kurz vor seiner Dienstreise zusammen verbrachten. Alle Zweifel, dass er sie nicht mehr begehrte, waren da verflogen.

Jetzt im Nachhinein musste sie annehmen, dass er schon in Vorfreude auf das bevorstehende Wochenende mit der Anderen war. Der Gedanke daran war ihr unerträglich. Doch bald wich dieses hilflose Gefühl der erlittenen Demütigung wieder einer kalten Wut: auf ihn und auf ihre eigene Naivität.

Ihr fehlte eindeutig eine Freundin. Sollte sie jetzt Lisa anrufen? Unentschlossen holte sie ihr Handy hervor und drückte auf Lisas Nummer. Aber noch bevor das erste Rufzeichen ertönte, brach sie die Verbindung ab. Nein, nicht Lisa, und Henriette erst recht nicht. Anne fiel ihr wieder ein, doch deren Nummer hatte sie nicht, und sie hatte sich bisher nicht gemeldet.

 

Auch andere verbrachten ein einsames Wochenende.

»Na, Lust auf ein Bierchen?« Aber das hatte Petra Hellwig nicht, zumindest nicht mit dem Typ aus dem Fitnessstudio. Sie vermutete nicht zu Unrecht, dass er vom Chef der Muckibude auf sie angesetzt wurde. Mit geübtem Blick hatte dieser schon bald herausgefunden, dass Frau Dr. Petra Hellwig offensichtlich alleinstehend und möglicherweise einsam war. Warum sonst würde sie regelmäßig an den Sonntagnachmittagen hier auftauchen? Natürlich nicht nur an diesen freien Tagen, aber sonntags eben immer. Sie hatte augenscheinlich nichts Besseres vor und wollte dem Pärchen- und Familienbetrieb da draußen aus dem Weg gehen.

Petra Hellwig rang sich ein dürres Lächeln ab und schüttelte den Kopf. »Danke, nein.« Sie schaute auf die Uhr. Das für sie stets trübselige Wochenende hatte sie fast hinter sich gebracht, es war schon siebzehn Uhr. Sie wollte sich nicht immer in ihrer Wohnung verkriechen, obwohl sie sich da bestens zu beschäftigen wusste.

Seit ihre Beziehung damals zerbrach, war sie allein. Verbittert und misstrauisch geworden, hatte sie sich nie wieder gebunden. Einen Ausgleich suchte sie in der Arbeit. Aber den fand sie im Kollaps nicht. Weder die dortige Tätigkeit im Labor noch die Kollegen sagten ihr zu. Sie fühlte sich eindeutig unterfordert, missachtet und von Torsten Schröter und Oliver Schyllbach schwer enttäuscht. Vor Jahren hatten sie ihr zwar in einer schwierigen Zeit geholfen und sie im Unternehmen aufgenommen, aber dies geschah nicht ganz uneigennützig. Das hatte Petra Hellwig längst erkannt. Letztendlich wurde sie unter ihrer Qualifikation beschäftigt und als »Mess- und Prüfknecht« ausgenutzt. So zumindest empfand sie ihre derzeitige Situation, die schon Jahre andauerte. Zudem ließen sowohl Schyllbach als auch Schröter sie unterschwellig spüren, dass sie von ihnen abhängig war und indirekt in ihrer Schuld stand.

Im Gleichmaß der Tretbewegungen am Crosstrainer reagierte sich Petra Hellwig ab. Sie stellte mit grimmiger Genugtuung fest, dass sie dabei im Rhythmus der Rotation kraftvoll nach unten trat.

 

∞∞∞∞∞∞∞∞∞∞∞∞

An diesem Mittwochmorgen ging ihr nichts von der Hand. Obwohl sie alles genau durchdacht hatte, war sie nervös. Kurz vor zwölf Uhr verließ sie das Gebäude. Es fiel nicht weiter auf, denn die Mittagspause wurde hin und wieder genutzt, um Privates zu erledigen.

Ihr erster Weg führte sie zur Bank. Dort nahm sie aus dem Schließfach das Paket mit den Ampullen und packte es in die mitgebrachte große Sporttasche. Halb eins war sie vor Ort. Um nicht aufzufallen, kaufte sie an der Kasse eine Eintrittskarte. Verstohlen schaute sie sich um. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie womöglich in eine Falle tappte. Was würde geschehen, wenn es sich gar nicht um einen Interessenten für die Ampullen, sondern um einen verdeckten Ermittler handelte, dem sie die E-Mail geschrieben hatte? Äußerlich gelassen, aber mit erhöhtem Puls schlenderte sie in den Garderobenbereich. Am Fach mit der Nummer 42 lief sie erst einmal vorbei. Sie nahm das übernächste Fach, schloss auf und legte ihre Jacke und die Sporttasche hinein. Dann ging sie langsam zurück, an der 42 vorbei, griff wie beiläufig oben auf den Garderobenschrank und ertastete dort tatsächlich den Schlüssel. Sie wagte nicht, sofort das Fach aufzuschließen. Stattdessen lief sie wieder in den Eingangsbereich und gab sich den Anschein, als warte sie auf jemanden. Ziellos blätterte sie in einem der dort ausliegenden Kataloge. Dabei wanderte ihr Blick unauffällig durch den Raum. Wie gerufen kam laut lärmend eine Schulklasse herein. Jetzt oder nie! Entschlossen legte sie den Prospekt beiseite und lief mit zügigen Schritten in den Garderobenbereich zurück, holte aus ihrem Fach die Sporttasche heraus und trat zum übernächsten Spind, Nummer 42. Ihre Hand zitterte, als sie ihn aufschloss. Im Fach lag ein brauner Lederkoffer.

Hastig schaute sie sich nach beiden Seiten um und zog die mitgebrachten Laborhandschuhe über. Dann beugte sie sich in das Garderobenfach hinein, öffnete vorsichtig den Koffer und überprüfte dessen Inhalt. In ihm lagen 32 Banderolen zu je 100 Scheinen á 500 €. Nie zuvor hatte sie eine derart große Menge Bargeld gesehen. Doch sie fasste sich schnell, holte aus ihrer Sporttasche das Paket mit den Ampullen und legte es ins Fach. Dabei sah sie immer wieder rasch auf, um sicher zu sein, dass sie nicht beobachtet wurde. Dem Lederkoffer entnahm sie die Banderolen und steckte sie in die Sporttasche. Wie erwartet war sie ziemlich schwer. Darüber, wie viele Kilo genau eine Million und Sechshunderttausend Euro wogen, hatte sie keine Vorstellung. Doch ihr blieb keine Zeit, einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden – sie musste sich beeilen. Den Koffer ließ sie im Garderobenschrank, schloss ab und legte den Schlüssel wieder obenauf an die gleiche Stelle zurück. 

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Der Zugriff

Der Donnerstagmorgen begann wie immer, aber alle waren ein wenig geschäftiger als sonst. Den Morgenkaffee trank man etwas zügiger und kehrte bald darauf an den Arbeitsplatz im Labor zurück. Oliver Schyllbach würde bald eintreffen; gestern am späten Nachmittag ging die Tagung in Münster zu Ende. Die Mitarbeiter befürchteten zwar keine mahnenden Worte des Chefs, das nicht. Nein, sein Missfallen drückte er in der Regel subtiler aus. Mitunter waren es nur ein erstaunter Blick oder ein enttäuschtes Lächeln, die einen unausgesprochenen Vorwurf erkennen ließen.

Es war kurz vor um neun, gleich würde er kommen. Und sicher wie immer schwungvoll, bestens gelaunt und mit einem souveränen Lächeln.

Und genauso war es. Kurz nach neun Uhr schaute Oliver Schyllbach ins Labor, voller Elan, offensichtlich gut erholt, grüßte freundlich in die Runde und gab Romy einen Kuss. Er verhielt sich ihr gegenüber völlig ungezwungen, so als wäre seinerseits alles in bester Ordnung. Sie dagegen fühlte sich sehr zu ihrem Ärger befangen und verlegen. Doch das schien er nicht zu bemerken, sondern ging zu Frau Brandner ins Sekretariat. So, wie er es erwartet hatte, stand schon der Kaffee bereit, und auf seinem Teller lag ein kleines Gebäckstück. Sie begrüßte ihn freundlich aber ein wenig reservierter als gewöhnlich.

»Na, Frau Brandner, was gibt’s Neues? Lief der Laden auch ohne mich?« Sie antwortete nicht gleich, sondern ordnete ein paar Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Leicht belustigt und mit hochgezogenen Brauen beobachtete Schyllbach ihre Geschäftigkeit.

»Nun rücken Sie schon damit heraus. Was bedrückt Sie?«

»Ach, ich weiß nicht. Kaum sind Sie mal eine Woche weg, schon gibt es Ärger.« Oliver Schyllbach schwieg und wartete. »Herr Dr. Schröter hat dieser Tage verkündet, dass die Gehälter erst einmal um zehn Prozent gekürzt werden sollen. Dass die Auftragslage zurzeit nicht gerade rosig ist, sehe ich ja selber. Aber jetzt gleich so drastische Maßnahmen zu ergreifen … War das mit Ihnen abgesprochen?« Sie war noch immer mit den Papieren auf ihrem Schreibtisch beschäftigt.

»Nun setzen Sie sich doch erstmal einen Moment mit an den Tisch und trinken mit mir eine Tasse Kaffee. Sie verbreiten hier eine Unruhe ...«, meinte er lächelnd. Frau Brandner nahm zögernd Platz. »Herr Schröter und ich haben in den Tagen vor meiner Dienstreise etliches besprochen. Auch über unbequeme Maßnahmen mussten wir reden. Aber es gibt für alles eine Lösung, Frau Brandner. Nun machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich gehe jetzt sowieso gleich zu Herrn Schröter. Gibt es noch etwas Dringendes, was wir beide bereden müssten?« Er schaute sie aufmunternd an. Aber sie wich seinem Blick aus und schüttelte den Kopf.

Schon die ganze Zeit, während er bei ihr im Zimmer saß, hatte er eine leichte Veränderung in ihrem Wesen bemerkt, eine Art Verunsicherung. Er konnte nicht benennen, was es war. Aber er spürte mehr als zuvor die leichte Entfremdung zwischen ihnen. Was war es nur, was in ihrem Blick lag? Misstrauen? Eine unbestimmte Erwartung? Als ihrerseits keine weitere Erklärung kam, trank er seinen Kaffee aus und erhob sich.

»Ja, dann bis später, Frau Brandner. Ich schaue jetzt erst einmal bei Herrn Schröter vorbei. Mal sehen, was er mir zu berichten hat.« Schyllbach verließ das Zimmer.

Eine halbe Stunde später meldeten sich im Sekretariat zwei Herren. Es waren Beamte der Kriminalpolizei. Sie zeigten ihre Dienstausweise und fragten nach dem Geschäftsführer, Herrn Dr. Schyllbach.

»Ach, das passt jetzt gerade überhaupt nicht. Der Chef kam gerade von einer Dienstreise zurück, und es ist noch sehr viel aufzuarbeiten«, entgegnete Frau Brandner. Sie wollte sich wieder ihrer Arbeit widmen, aber der resolutere der beiden, es war Kriminalhauptkommissar Wiesmann, schritt auf ihren Schreibtisch zu und stützte sich mit den Händen auf der Platte ab.

Leicht vorgebeugt und mit dem Gesicht höchstens vierzig Zentimeter von ihrem entfernt, stellte er klar: »Vielleicht habe ich mich ja missverständlich ausgedrückt. Auf jeden Fall haben Sie mich falsch verstanden. Das ist keine Bitte, sondern eine Aufforderung, der Sie nachzukommen haben. Sie führen uns jetzt zu Herrn Schyllbach.«

Mit pikierter Miene erhob sie sich und ging voraus. An seiner Tür klopfte sie und meldete lakonisch: »Es tut mir leid, Herr Dr. Schyllbach, aber Sie haben schon früh am Morgen Besuch.«

Wenn er in diesem Augenblick unangenehm überrascht war, so zeigte er es nicht. Höflich bat er Kriminalhauptkommissar Wiesmann und dessen Begleiter am Besuchertisch Platz zu nehmen.

»Herr Dr. Schyllbach, wir müssen einer Meldung nachgehen. Heute früh erhielten wir dieses Schreiben.« Wiesmann legte ihm ein Schriftstück vor. Es handelte sich um eine anonyme Mitteilung und war an die Staatsanwaltschaft adressiert. In ihm formulierte der Absender den Verdacht, dass im Unternehmen illegal Drogen hergestellt wurden. Beigefügt im Umschlag war eine sorgsam verpackte Ampulle mit der Aufschrift LoWei Plus.

Einen Augenblick lang starrte Oliver Schyllbach verständnislos darauf. Dann meinte er gelassen: »Vermutlich wieder eine Intrige von einem Konkurrenten. Leider gibt es Neider.« Er schmunzelte über sein Bonmot. Wiesmann lächelte nicht.

»Haben Sie eine Vorstellung, wer es verfasst haben könnte?«

»Wie gesagt, es kann nur von einem Konkurrenten kommen. Unser Unternehmen ist in Fachkreisen recht bekannt, und es hat im Forschungs- und Entwicklungssektor einen sehr guten Ruf.« Und ein wenig übereilt fügte er hinzu, dass er und sein Team sich nichts vorzuwerfen hätten.

»Genau, und damit jeder Verdacht von vornherein im Keim erstickt wird, werden wir umgehend eine Durchsuchung vornehmen.« Diesmal legte Hauptkommissar Wiesmann einen Durchsuchungsbeschluss vor.

Schyllbach studierte einen Moment lang fassungslos das Schriftstück, dann versuchte er es abermals mit einem Scherz und protestierte lächelnd. Aber Wiesmann schien gegen jeglichen Charme immun. Er gab seinem Mitarbeiter ein Zeichen, und kurz darauf betraten fünf weitere Beamte die Räumlichkeiten des Unternehmens.

»Außerdem müssen wir alle Computer beschlagnahmen, Ihre und die Ihrer Mitarbeiter. Es wird nicht lange dauern.«

»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!«

»Leider doch, Herr Dr. Schyllbach.« Wiesmann gelang zumindest eine bedauernde Miene.

 

In Windeseile hatte sich herumgesprochen, dass die Kripo im Haus war. Henriette warf Lisa einen vielsagenden Blick zu. »Ich habe es ja kommen sehen. Hier stimmt was nicht.«

»Meine Damen und Herren, halten Sie sich bitte für weitere Befragungen zur Verfügung. Wir rufen Sie dann einzeln auf.« Lisa schaute den Beamten entgeistert an, Romy war leichenblass und Henriette lief puterrot an. Nur Frau Hellwig arbeitete seelenruhig im Labor weiter.

Da die Vernehmungen parallel liefen, wurden die Mitarbeiter nacheinander in den Aufenthaltsraum oder ins Sekretariat gerufen.

Frau Brandner wusste nicht so recht wohin mit sich. Weder in ihrem Zimmer noch im Aufenthaltsraum konnte sie bleiben. Ins Labor zu den anderen Kollegen mochte sie nicht gehen – sie gehörte nicht dazu. So nahm sie auf einem Besucherstuhl im Eingangsbereich Platz. Selten zuvor hatte sie sich so unwohl und verunsichert gefühlt wie gerade jetzt.

 

Die Vernehmungen brachten bisher kaum neue Erkenntnisse. Niemand aus dem Unternehmen wollte etwas Außergewöhnliches gesehen oder Verdächtiges bemerkt haben. Nein, der Begriff LoWei Plus war nicht bekannt.

Vier Stunden später wurden die Computer zurückgebracht – alle, außer der von Schyllbach. Wiesmann bestellte ihn ins Sekretariat.

»Herr Dr. Schyllbach, gegen Sie liegt ein dringender Tatverdacht wegen illegaler Drogenherstellung und Vertrieb eines Rauschmittels vor.«

»Das ist unmöglich!«, rief Schyllbach, jetzt schon sichtlich angeschlagen.

»Wir müssen Sie bitten, uns zu begleiten. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Alles was Sie aussagen, kann gegen Sie verwendet werden.«

Diesen Spruch kannte er bislang nur aus TV-Sendungen. Fassungslos und wie festgenagelt hockte er im Sessel. Es war genau der Platz, an dem er heute Morgen Frau Brandner gegenübersaß und mit ihr eine Tasse Kaffee getrunken hatte. Irritiert fuhr er sich mit der Hand über die Augen. Sein Wunsch, dies alles möge nur ein bösartiger Traum sein, erfüllte sich nicht.

»Herr Dr. Schyllbach, bitte, machen Sie es sich und uns nicht noch schwerer. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden.«

Ein paar Mitarbeiter, die sich auf dem Flur aufhielten, schauten betreten zu Boden, als Oliver Schyllbach in Begleitung der Beamten das Gebäude verließ. Frau Brandner stand wie versteinert im Eingangsbereich. Mit regloser Miene sah sie ihrem Chef nach.

Im Hinausgehen drehte Wiesmann sich noch einmal um: »Bitte bleiben Sie alle vor Ort, und halten Sie sich auch für die nächsten Stunden zur Verfügung.«

Im Kommissariat wurde Schyllbach mit der ganzen Misere konfrontiert.

»In Ihrem Labor fanden wir diese leere Box.« Wiesmann hatte sie bringen lassen und beobachtete sein Gegenüber ein paar Sekunden lang, bevor er fortfuhr: »Das heißt, sie war nicht ganz leer. Zwei Ampullen hatten Sie wohl vergessen. Sie sind mit der Bezeichnung LoWei Plus beschriftet, genau wie jene, die der anonymen Anzeige beigefügt war. Der Inhalt der Ampullen wird gerade in unseren Laboren analysiert.« Wieder wartete er einen Augenblick auf Schyllbachs Reaktion. Als diese ausblieb, holte er zum entscheidenden Schlag aus: »Auf Ihrem Rechner haben wir zu dem Begriff LoWei Plus eine umfangreiche Datei gefunden, deren Aussage das Ergebnis unserer Analyse vorwegnimmt: Es handelt sich demnach eindeutig um ein Rauschmittel. Der Absender des Schreibens hat mit seinem Verdacht also recht.« Bevor sich Schyllbach dazu äußern konnte, fragte er scharf: »An wen haben Sie die anderen Ampullen, die sich ursprünglich in der Box befanden, weitergegeben beziehungsweise verkauft?«

Schyllbach schien sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Heftiger, als es sonst seine Art war, entgegnete er: »Ich habe nichts verkauft! Keine einzige Ampulle!« Im nächsten Moment hatte er sich wieder gefasst. »Ich versichere Ihnen, dass ich die Ampullen nicht verkauft habe.« In dozierendem Ton erklärte er: »Sehen Sie, die Sache ist folgendermaßen: Seit geraumer Zeit betreibe ich Forschungsarbeiten zur Entwicklung eines hochwirksamen Medikamentes zur Gewichtsreduktion. Die Sache zog sich über Monate hin. Und als ich schließlich erste Ergebnisse erzielt hatte, kontaktierte mich ein potentieller Interessent. Sein Name ist Dr. Lohmann. Er hat eine leitende Funktion im Bereich Vermarktung von Arzneimitteln in einem Pharmaunternehmen.«

Wiesmann unterbrach ihn: »Den Namen Lohmann haben wir in Ihrer Datei gefunden. Wie heißt das Unternehmen?«

»Das ist mir leider nicht bekannt. Ich habe Herrn Lohmann auch nicht persönlich kennengelernt. Er meldete sich per E-Mail und bat mich, ihn zu informieren, wenn ich mit den Abschlusstests fertig wäre.«

»Dann geben Sie uns wenigstens seine E-Mail-Adresse.«

»Die weiß ich natürlich nicht aus dem Kopf. Aber Ihre Kollegen müssten sie unter meinem E-Mail-Account gefunden haben.«

»Dort haben wir keinen Schriftverkehr zum Vorgang LoWei Plus entdeckt, also auch keine Adresse«, erwiderte Wiesmann knapp.

Schyllbach sah jetzt ratlos aus. »Ich bin mir aber sicher, dass ich ihm geschrieben und von ihm auch mindestens zwei Mitteilungen erhalten habe.« Es folgte ein kurzes Schweigen, und Oliver Schyllbach grübelte, wieso die Beamten hierzu nichts gefunden hatten.

»Dann sagen Sie mir zumindest, was Sie diesem Lohmann mitgeteilt haben.«

Wiesmann schien jetzt sichtlich ungehalten, deshalb beeilte sich Schyllbach, zu erklären: »Ich habe ihm geschrieben, dass ich mich zu gegebenem Zeitpunkt mit ihm in Verbindung setzen werde, und zwar dann, wenn alle Tests erfolgreich verlaufen wären.«

»Und nach Ihrer Meinung war das nicht der Fall?«

Er schüttelte den Kopf. »Bei weiteren Untersuchungen stellte ich fest, dass sich eine von mir unbeabsichtigte komplexe Verbindung bei der Kombination der Substanzen ergab. Es entstand ein Mittel, dessen Wirkung auf den menschlichen Organismus denen bekannter Rauschmittel entspricht. LoWei Plus enthält somit stark wirksame psychotrope Substanzen, die nach der Einnahme veränderte Bewusstseinszustände hervorrufen können. In welchem Maße dies geschieht, kann ich noch nicht genau sagen. Hierzu sind umfangreiche Tests erforderlich, die bislang noch nicht durchgeführt wurden.« Er beendete seine Ausführungen mit den Worten: »Sie sehen also, dass ein Verkauf nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht in meiner Absicht liegen kann. Die Ampullen sind nicht mehr in meinem Besitz, und ich habe sie auch nicht verkauft. Jemand anderes muss sie entnommen und dann eine einzelne Ampulle zusammen mit der anonymen Anzeige an die Staatsanwaltschaft geschickt haben. Ich werde mich ja wohl nicht selbst anzeigen. Schon allein aus diesem Grund ist ersichtlich, dass sie in fremde Hände gelangt sind.« Mit einem gewinnenden Lächeln sah er Wiesmann an. An dessen Gesichtsausdruck konnte er nicht erkennen, wie seine Erläuterungen ankamen.

Ungerührt meinte dieser: »Das ist ein weiterer Punkt, den wir noch klären müssen. Und selbstverständlich werden wir überprüfen, ob es einen Herrn Lohmann gibt und herausfinden, für wen er arbeitet.« Es entstand eine kurze Pause. Für einen Augenblick empfand Schyllbach ein aufkommendes Gefühl der Hilflosigkeit. Ihm wurde bewusst, dass offensichtlich jemand geschickt gegen ihn intrigierte.

Wiesmann sprach den Gedanken aus, der Oliver Schyllbach ebenfalls gekommen war, und fragte: »Wer sind Ihre engsten Mitarbeiter? Soweit ich weiß, ist Dr. Schröter der stellvertretende Geschäftsführer. Gehört auch Frau Dr. Hellwig zur Geschäftsleitung des Unternehmens?«

»Nein, nur Herr Dr. Schröter.«

»Ich nehme an, die beiden Pharmazeuten sind an den Forschungsarbeiten zu LoWei Plus beteiligt beziehungsweise über das Projekt informiert?«

»Nein, ich habe sie nicht mit einbezogen.« Er sah Wiesmanns Befremden und erklärte nachdrücklich: »Mir als Leiter des Unternehmens und auch Herrn Dr. Schröter steht es frei, neben den laufenden Aufträgen auch eigene Projekte zu verfolgen. Wir müssen uns nicht gegenseitig darüber informieren.«

Wiesmann notierte etwas und erkundigte sich dann: »Hat Frau Dr. Hellwig ebenfalls diese Freiheiten?«

Mit einem leichten Zögern erwiderte er: »Weitestgehend ja. Aber soweit mir bekannt ist, nutzt sie diese noch zu wenig. Wir werden sie demnächst wohl etwas von den Routineuntersuchungen entlasten, sodass ihr mehr Zeit zur Nutzung ihrer fachlichen Kapazität bleibt. Ich dachte auch bereits an ein eigenes Labor für sie. Die Zufriedenheit unserer Mitarbeiter liegt Herrn Schröter und mir sehr am Herzen.« Schyllbach lehnte sich in seinem Stuhl zurück und bemühte sich, dabei entspannt zu wirken.

»Und trotzdem muss es ein Mitarbeiter Ihres Unternehmens gewesen sein, der uns dieses Schreiben zukommen ließ«, entgegnete Wiesmann. »Wie erklären Sie sich das? Haben Sie eine Vorstellung, wer die Anzeige erstattet haben könnte?«

Es dauerte ein paar Augenblicke, bevor Schyllbach antwortete. »Nein, ich habe keine Vorstellung, wer so etwas fertiggebracht hat. Diese Intrige trifft mich wie ein Schlag. Denn es handelt sich ja eindeutig um eine Intrige. Der Absender der Anzeige hat sich nicht die Mühe gemacht, das Gespräch mit mir zu suchen, sondern feige aus der Anonymität heraus gehandelt. Er konnte kein Hintergrundwissen dazu haben.«

»Offensichtlich doch. Die Bezeichnung LoWei Plus war demjenigen ein Begriff, und ebenso der Umstand, dass es sich hierbei um ein Rauschmittel handelt.« Wiesmanns Miene war jetzt eisig und sein Ton unerbittlich. »Nein Herr Schyllbach, Ihre Schilderung überzeugt mich nicht. Bis zur Klärung des Sachverhaltes, wer die Ampullen genommen hat und wer dieser ominöse Herr Lohmann ist, müssen wir Sie wegen Gefahr in Verzug vorläufig festnehmen.«

Wiesmann erhob sich schwerfällig; Schyllbach blieb wie vom Donner gerührt auf seinem Platz.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein!« Schweigen. »Welche Gefahr sehen Sie denn in mir?!« Als er einsah, dass alle Argumente und Fragen in dieser Situation nicht weiterhalfen, richtete er sich auf und bekundete: »Ich möchte jetzt mit meinem Anwalt sprechen.«

»Das steht Ihnen selbstverständlich frei.«

 

Offene Fragen

Die Stimmung im Kollaps war bedrückt und angespannt. Keiner sagte ein Wort.

Lisa brach als erste das Schweigen. »Das kann doch alles nicht wahr sein, hier muss ein Irrtum vorliegen.«

»Sie haben ja selbst gesehen, dass es offenbar kein Irrtum ist!«, erwiderte Frau Hellwig bissig und verließ das Labor.

Ein paar Minuten später stand Schröter in ihrem Dienstzimmer. »Was, um Himmels Willen, geht hier in dem Laden vor? Und was weißt du darüber?« Er setzte sich an den kleinen Tisch. Herausfordernd stand sie ihm gegenüber; sie hatte nicht Platz genommen.

»Genau das wollte ich dich auch fragen, Torsten. Es kann dir doch nicht entgangen sein, dass hier noch etwas anderes lief!«

»Was soll das heißen, Petra? Unterstellst du mir jetzt, dass ich mit Oliver gemeinsam ein linkes Ding durchgezogen habe?«

»Wäre das so abwegig? Vorstellen könnt ich’s mir.«

Für einen Augenblick schien Schröter die Beherrschung zu verlieren: »Das gleiche könnte ich von dir behaupten! Hast du etwas von seinen Aktivitäten mitbekommen oder nicht? Setz dich bitte, du raubst mir den letzten Nerv!«

Widerwillig nahm sie Platz und lenkte ein: »Das bringt momentan überhaupt nichts, wenn wir beide uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen.«

Schröter rollte genervt mit den Augen: »Dann unterlass die blödsinnigen Provokationen! Also noch einmal von vorn: Fiel dir in letzter Zeit irgendetwas auf? Gab es aus deiner Sicht irgendwelche Unregelmäßigkeiten?«

Sie musste nicht lange überlegen: »Vor ein paar Wochen, als Frau Brandner mal nicht da war, kam eine Lieferung. Ich nahm sie entgegen und stellte sie in den Lagerraum. Von der Zulieferfirma hatte ich bis dahin noch nie was gehört. Als ich ein, zwei Tage später etwas aus dem Lager holen wollte, war der Karton weg. Und rate mal, wo ich ihn dann gesehen habe.«

»Du warst also in seinem Labor?«

»Das ist ja nicht verboten.«

»Was hattest du dort in seiner Abwesenheit zu suchen?«

Empört sprang sie auf. »Jetzt reicht es aber. Ist das hier auch ein Verhör, oder was? Und wieso nimmst du an, dass ich in seiner Abwesenheit drin war?«

Schröter ignorierte die Gegenfrage. »Hast du gesehen, was genau die Firma geliefert hatte?«

»Ja, habe ich«, kam es schnippisch zurück.

Er war jetzt ebenfalls aufgestanden und kam auf sie zu. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück und erklärte: »Es waren alles Reagenzien, die nichts mit den laufenden Untersuchungen zu tun haben.«

Sie wollte das Zimmer verlassen, aber Schröter hielt sie zurück. Er klang gefährlich leise, als er fragte: »Hast du das auch diesem Wiesmann erzählt?«

»Was denkst du denn!« Dann ließ sie ihn einfach stehen und ging.

 

Im großen Laborraum begannen die Mutmaßungen: »Wer wohl die Anzeige erstattet hat?«

»Keine Ahnung. Aber der- oder diejenige muss schon etwas Konkretes in der Hand gehabt haben. So mir nichts dir nichts kommt die Kripo nicht ins Haus.« In dieser Art liefen die Gespräche weiter, bis Wiesmann erneut auftauchte. Zuerst wurde Dr. Torsten Schröter in den Aufenthaltsraum bestellt. Der Kommissar vernahm ihn diesmal persönlich. Interessiert betrachtete er sein Gegenüber.

»Ihnen als stellvertretender Geschäftsführer dürfte wohl kaum entgangen sein, was hier so in den Laboren geschieht.«

»Ich bin nicht allgegenwärtig. Und was der Chef treibt, ist seine Sache.«

»Wie stehen Sie zu Herrn Dr. Schyllbach?« Schröter war drauf und dran, wieder aufzubrausen, beherrschte sich aber im letzten Moment.

»Wie soll ich schon zu ihm stehen? Er ist der Leiter des Unternehmens und ich der stellvertretende Geschäftsführer. Die Fronten sind geklärt.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Also gut, wir kennen uns seit Jahren und der Laden läuft ganz passabel. Ich habe keinen Grund, in seinem Labor rumzuschnüffeln und zu schauen, was er so treibt, wenn Sie das meinen.«

Einerseits missfiel Wiesmann der rüde Ton, andererseits entband er ihn von jeglicher Höflichkeit seinerseits. Die direkte Art entsprach ohnehin seinem Naturell. »Sie wollen mir also wirklich weismachen, dass Sie keine Ahnung davon haben, was hier in dem Unternehmen so getrieben wird? Das wäre ja in höchstem Maße unverantwortlich!« Interessiert beobachtete Wiesmann, wie Schröters Verstimmung wuchs. In zynischem Ton blaffte er, dass er nicht Schyllbachs Betreuer sei und daher nicht ständig dessen Aktivitäten beobachte, aber die konkreten Aufgaben aller Mitarbeiter sehr wohl im Auge habe. Ebenso wie der Chef kümmere auch er sich um die Belange des Unternehmens. Von Verantwortungslosigkeit könne demnach keine Rede sein.

Wiesmann sah, dass er hier momentan nicht weiterkam und beendete die Vernehmung. Im Hinausgehen ließ Schröter eine pampige Bemerkung fallen. Deutlich waren die Worte »Reine Zeitverschwendung« zu verstehen.

Irgendwann war Romy an der Reihe und betrat den Aufenthaltsraum. An Kaffeekochen war an diesem Tag nicht mehr zu denken. Wiesmann schien ihre Gedanken zu erraten oder ihren verstohlenen Blick in Richtung der Kaffeemaschine bemerkt zu haben.

»Sie können ruhig ein paar Tassen Kaffee kochen. Ich mach einen Moment Pause.« Verunsichert schaute sie ihn an, beeilte sich dann aber, die Maschine zu füllen. Und bald darauf war das vertraute Röcheln des Kaffeeautomaten zu hören. Romy nahm Wiesmann gegenüber Platz.

»Frau Caralus, Sie sind seit zwei Jahren mit Herrn Schyllbach befreundet.« Auf ihren irritierten Blick hin ergänzte er: »Woher ich das weiß, spielt keine Rolle. Was wussten Sie über seine Tätigkeiten hier im Unternehmen? Sicher sprach er mit Ihnen auch privat über seine Projekte.«

Doch Romy schüttelte den Kopf. »Wir unterhielten uns kaum über die Arbeit. Wie ich Ihrem Kollegen bereits sagte, wusste ich nicht, woran er gerade forscht.« Schweigend wartete sie auf die nächsten Fragen. Nein, viel gemeinsame Zeit hatten sie in den letzten Wochen nicht miteinander verbracht. Ja, natürlich fiel ihr das auf, und sie war darüber etwas enttäuscht, dachte sich aber nichts weiter dabei. Und nein, sie hatte dieser Tage keine Auffälligkeiten bemerkt, weder in seinem Verhalten noch in den dienstlichen Aktivitäten. Aber sie sei überzeugt, dass er sich nichts zu Schulden kommen ließ.

Wiesmann war unzufrieden, die Vernehmung hätte er sich sparen können. Es war ja klar, dass die Dame ihren Liebsten nicht gerade belasten würde, waren seine Gedanken. Trotzdem glaubte er, in ihrem Verhalten eine Widersprüchlichkeit zu bemerken, etwas Unbestimmtes, das der Situation nicht ganz entsprach. Er kam nicht darauf, was es sein könnte.

»Danke, das wär’s im Moment. Halten Sie sich aber bitte für weitere Fragen zur Verfügung.« Erleichtert erhob sie sich und ging zur Tür. »Ach, Frau Caralus ...« Erschrocken drehte sie sich um. »Der Kaffee!«

Zum ersten Mal sah sie ihn lächeln. Eilig nahm sie die Kanne, stellte Untertassen und Tassen auf ein Tablett und goss auch für ihn ein.

»Nehmen Sie Milch dazu?«

»Ohne.« Romy brachte ihm den Kaffee und verließ mit Kanne und Tablett dann rasch den Raum. Wiesmann nahm einen Schluck und sah seine Notizen durch. Bei Schröter blieb er hängen. Jetzt, da der Chef in Untersuchungshaft saß, würde er die Geschäfte leiten, und wahrscheinlich fiele ihm das nicht leicht. Im Gegensatz zu dem geschmeidigen und eloquenten Schyllbach wirkte er rüde und poltrig. Wie würde er auf potentielle Geschäftspartner zugehen? Hatte er auch eine angenehmere Seite? Eine verbindlichere? Vermutlich war er Oliver Schyllbach in vielerlei Hinsicht unterlegen und von ihm abhängig. Dieser hatte das Unternehmen aufgebaut und geführt. Und irgendwie passte das Delikt nicht so recht zu dessen Persönlichkeit. Etwas an der Sache war unstimmig. Wiesmann trank den Rest seines Kaffees aus. Dabei kam ihm eine neue Erkenntnis: Er wusste jetzt, warum ihm Frau Caralus’ Verhalten seltsam vorkam. Sie schien von der Festnahme ihres Freundes in gewisser Weise unberührt. Der Umstand, dass er schwer belastet wurde, hatte sie augenscheinlich nicht erschüttert. Oder sie hatte sich gut im Griff. Unterschwellig war sie nervös. Und es war nicht auszuschließen, dass Schyllbach Romy Caralus entgegen seiner und ihrer Aussage in die Entwicklung der Droge einbezogen hatte. Wiesmann hielt das sogar für sehr wahrscheinlich.

Vom langen Sitzen schmerzte ihm der Rücken, er stand auf und lief ein wenig umher. Dabei kam ihm der Gedanke, dass die andere Mitarbeiterin, Frau Lisa Volkert, wesentlich verstörter auf ihn wirkte, als Frau Caralus selbst. Er hatte den Eindruck, als sei sie ständig auf der Hut, wie auf dem Sprung. In ihren Aussagen blieb sie vorsichtig und zurückhaltend. Wusste sie etwas über das Projekt LoWei Plus, dass sie zu verheimlichen suchte? An dieser Stelle würde er noch einmal nachhaken. Ganz im Gegensatz zu Frau Volkert gab sich die pummelige junge Frau mit dem Pferdeschwanz aufgeschlossen und kooperativ. Von ihr hatte Wiesmann denn auch erfahren, dass Romy Caralus und Oliver Schyllbach ein Paar waren. Diese Auskunft rutschte ihr vermutlich versehentlich heraus. Auf jeden Fall schwieg Henriette Schönherr daraufhin betreten. Aber nicht lange, ihr Mitteilungsdrang überwog. So wusste sie auch zu berichten, dass es in den letzten Wochen einen erhöhten Bedarf an Laborverbrauchsmaterial gab. Die Quelle, woher sie diese Information hatte, sei ihr angeblich entfallen.

Wiesmann nahm wieder Platz und schaute in seine Unterlagen. Bisher hatten ihm die Vernehmungen wenig gebracht. Schyllbach saß mittlerweile in Untersuchungshaft. Und er blieb hartnäckig bei der Version, von dem Verkauf nichts gewusst zu haben. Klar, so hatte ihn sein Anwalt instruiert. In Wiesmanns Augen sah die Lage für ihn so bescheiden aus, dass seiner Ansicht nach nur ein Geständnis infrage käme. Alle Indizien sprachen gegen ihn. Trotzdem blieben Zweifel. Sollte Oliver Schyllbach, wie er steif und fest behauptete, die Ampullen nicht selbst aus der Box genommen und verkauft haben, sähe die Sache schon anders aus. Dann hätte er einen gefährlichen Widersacher. Es gäbe jemanden in seinem Unternehmen, der ihn komplett ruinieren und ausschalten wollte. Die anonyme Anzeige sprach dafür. Plötzlich kam Wiesmann ein neuer Gedanke. Könnte es sein, dass dieser ominöse Herr Dr. Lohmann, wenn er tatsächlich existierte, in Wahrheit kein Interessent, sondern ein Konkurrent war und die Absicht hatte, dem Unternehmen zu schaden? Oliver Schyllbachs erste Reaktion war ja die Bemerkung, dass es Neider gäbe. Merkwürdig war, dass sich im E-Mail-Verkehr keinerlei Hinweise zu dem Vorgang LoWei Plus und zu Lohmann finden ließen. Wiesmann riss sich aus seinen Überlegungen und sah auf die Uhr, er musste weitermachen. Wen hatte er noch nicht vernommen? Frau Dr. Hellwig. Sein Kollege hatte ihm bereits von dieser eigensinnigen Dame berichtet. Wiesmann grinste. Es wäre doch gelacht, wenn er mit ihr nicht zurechtkäme. Wesentlich unangenehmer waren ihm allzu beflissene, übereifrige Zeugen. Mit ihnen konnte er wenig anfangen, sie nervten ihn einfach.

Er rief im Sekretariat an: »Schicken Sie Frau Dr. Hellwig zu mir.« Frau Brandners spitzes »Wie Sie wünschen« hörte er nicht mehr, er hatte bereits aufgelegt. Wiesmann setzte sich zurecht. Wenn die Dame das Zimmer betrat, würde er, den Blick auf seine Unterlagen gerichtet, nur kurz aufschauen und ihr mit einer knappen Geste einen Platz zuweisen. Gleich zu Beginn sollte Frau Dr. Hellwig zu spüren bekommen, wer hier das Sagen hatte. Er wartete und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte. Mensch, wie lange dauerte das denn! Es klopfte. Na endlich. Frau Brandner betrat den Raum.

»Frau Dr. Hellwig lässt ausrichten, dass sie mitten in einer Messreihe steckt und den Versuch unmöglich abbrechen kann. So ungefähr in einer dreiviertel Stunde wäre sie bereit.«

Innerlich kochte Wiesmann. Diese Abfuhr war eindeutig ein Affront! Resolut packte er seine Sachen zusammen und bekundete: »Ich kann nicht länger warten. Sie soll morgen punkt neun Uhr im Kommissariat erscheinen. Sagen Sie ihr das. Es ist eine Vorladung!« Er griff nach seiner Jacke und verließ aufgebracht den Raum und wenige Augenblicke später das Gebäude.

 

 

Am darauffolgenden Tag lief fast alles wie gewohnt weiter. Doch Kleinigkeiten deuteten darauf hin, dass die Situation äußerst angespannt war. Romy hatte den Eindruck, dass sich alle aus dem Weg gingen. Es wurde kaum ein privates Wort gewechselt. In der Kaffeepause setzte sie sich zu Lisa. Beide schwiegen.

Schließlich meinte Romy bedrückt: »Die Stimmung ist hier zurzeit echt mies, findest du das nicht auch?«

Lisa sah nicht einmal auf. »Was hast du denn erwartet? Irgendjemand hat die Anzeige erstattet und keiner weiß, wer es gewesen ist.«

»Stimmt. Und du hast sicher auch in der Presse gelesen, was über das Kollaps geschrieben wird. Von einem Drogenskandal ist die Rede! Und wenn ich den ungehobelten verschrobenen Schröter sehe, kann ich mir kaum vorstellen, wie er den Laden hier schmeißen will.«

Lisa zuckte nur mit den Schultern. Dann fragte sie unvermittelt: »Wie geht es jetzt eigentlich mit Oliver und dir weiter? Wirst du dich von ihm trennen?«

»Ich weiß einfach nicht, was jetzt mit uns beiden werden soll«, meinte sie ausweichend. Wieder folgte ein Schweigen. Um es zu beenden und auf ein anderes Thema zu kommen, fragte Romy: »Wo steckt eigentlich die Hellwig? Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen. Hat sie frei?«

»Keine Ahnung. Ich vermisse sie nicht.« Abrupt stand Lisa auf und stellte ihre Kaffeetasse in die Spüle.

Romy fiel die ungewöhnliche Wortkargheit ihrer Kollegin auf; sie unternahm einen letzten Versuch, das Gespräch in Gang zu halten. »Vielleicht hat Wiesmann sie ja ins Kommissariat vorgeladen, und sie kommt deshalb vorher gar nicht erst hier vorbei.«

»Schon möglich.«

 

Und so war es denn auch. Wiesmann saß in seinem Dienstzimmer im Kommissariat und schaute auf die Uhr. Es war bereits nach um neun. Gerade, als er wutentbrannt über mögliche weitere Maßnahmen nachdachte, kam ein Mitarbeiter herein und meldete, dass Frau Dr. Hellwig jetzt da sei.

»Richten Sie ihr aus, dass ich noch mindestens eine Viertelstunde beschäftigt bin. Ich rufe Sie an, wenn ich fertig bin.« Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. So, jetzt würde er die Dame erst einmal warten lassen.

Die Viertelstunde könnte er normalerweise problemlos überbrücken, aber im Moment fühlte er sich neben der Spur. Gedankenverloren trat er ans Fenster und schaute hinaus. Nach drei Minuten sah er wieder auf die Uhr. Doch er war noch nicht bereit, sie hereinrufen zu lassen. Jetzt sollte sie warten. Er ging zurück zum Schreibtisch und überflog noch einmal die Unterlagen. Frau Dr. Petra Hellwig, fünfundvierzig Jahre alt, ledig, Promotion an der Freien Universität Berlin, seit knapp acht Jahren bei Schyllbach & Co. Labs beschäftigt. Demnach war sie schon kurz nach der Unternehmensgründung mit hinzugekommen. Doch offensichtlich hatte Schyllbach nie erwogen, sie in die Geschäftsleitung mit einzubeziehen. Und soweit Wiesmann informiert war, hatte Frau Dr. Hellwig bisher weder ein separates Labor noch die Freiheiten und zeitlichen Möglichkeiten, über die Routineuntersuchungen hinaus an eigenständigen Projekten zu forschen. Schyllbach selber hatte bei der Vernehmung betont, dass ihm die Zufriedenheit der Mitarbeiter am Herzen läge. Angenommen, Frau Hellwig war nicht zufrieden, so könnte diese Frustration möglicherweise ein Grund sein … In dem Moment klopfte es energisch an der Tür, und ohne auf ein »Herein« zu warten, trat eine resolute rothaarige Frau ins Zimmer.

»Sie hatten mich für Punkt neun Uhr bestellt, und jetzt ist es zwanzig nach neun!«

Wiesmann blieb äußerlich gelassen. So, wie er es sich vorgenommen hatte, wies er ihr mit einer knappen Geste einen Stuhl zu. Er konnte froh darüber sein, dass er in dem Moment, als sie unangekündigt hereinplatzte, nicht gerade müßig am Fenster stand. Wie war es ihr eigentlich gelungen, an seinem Mitarbeiter vorbei zu ihm vorzudringen? Mit strengem Blick begann er die Vernehmung.

»Sie sind seit nunmehr fast acht Jahren bei Schyllbach & Co. Labs beschäftigt.«

»So ist es.«

»Sind Sie mit Ihrer Tätigkeit in dem Unternehmen zufrieden?«

»Wenn nicht, hätte ich mir was anderes gesucht.«

»Nun, das ist ja nicht unbedingt eine Sache des Wollens, sondern auch der Möglichkeiten«, warf Wiesmann ein.

»Ich hätte etwas gefunden.«

»Wie kam es zu der Zusammenarbeit zwischen Herrn Schyllbach und Ihnen?«

»Ich hatte mich beworben.«

»Schon klar, ich meinte, kannten Sie Herrn Schyllbach vorher persönlich?«

»Ja.«

Wiesmanns Geduld schien erschöpft. In sarkastischem Ton forderte er: »Ich möchte Ihren Redefluss ja nur ungern unterbrechen, aber könnten Sie das etwas ausführlicher erläutern, zum Beispiel woher Sie ihn kennen, ob Sie mit ihm befreundet sind usw. Es hält nur unnötig auf, wenn ich Ihnen alles aus der Nase ziehen muss. Sie haben es doch so eilig, oder?« Er glaubte, einen amüsierten Zug um ihre Mundwinkel zu erkennen. Eigentlich sah sie gar nicht übel aus, er fand sie sogar recht attraktiv; die sportliche Figur und ihre herbe Ausstrahlung sprachen ihn an. Sein Kollege hatte allerdings untertrieben. Sie schien nicht nur eigensinnig, sondern regelrecht starrköpfig zu sein.

Unwillig erklärte sie: »Oliver Schyllbach und ich waren im gleichen Studienjahr; und nein, wir sind nicht befreundet.«

»Wann bemerkten Sie zum ersten Mal, dass Herr Schyllbach nebenher noch etwas anderes, illegales betrieb?«

»Ich habe nicht behauptet, dass ich etwas bemerkt hätte«, stellte sie klar.

»Stimmt, das haben Sie nicht gesagt. Aber Sie müssen es vermutet haben. Spätestens bei der Entgegennahme der Lieferung.« Frau Hellwig sah ihn mit eisigem Blick an und schwieg. »Halten Sie es für möglich, dass nebenbei und völlig unbeabsichtigt bei der Herstellung eines Mittels zur Gewichtsreduktion ein Rauschmittel entstehen kann?«

»Durchaus.« Dann schwieg sie wieder.

»Nun, unsere Spezialisten sind da anderer Meinung.«

»Warum fragen Sie dann mich

»Ich wollte Ihre Meinung dazu hören.«

»Und testen, wie glaubwürdig ich als Zeugin bin?« Wiesmann gab keine Antwort darauf. Nach zwei, drei Sekunden hakte sie nach: »Sie halten mich für unglaubwürdig.«

»Na endlich kommt mal so was ähnliches wie ein Dialog zustande.« Er grinste und fuhr fort: »Ihre Aussage, dass Sie eine unbeabsichtigte Nebenwirkung dieser Art für möglich halten, ist zumindest anfechtbar. Ihnen als promovierter Pharmazeutin nehme ich das einfach nicht ab.«

»Es ist nicht mein Fachgebiet.«

»Warum haben Sie dann nicht mit einem schlichten Ich weiß es nicht geantwortet?«

»Ich weiß es nicht.«

Wieder musste er grinsen. Dann fragte er fast beiläufig: »Wissen Sie, was ich annehme?«

»Woher soll ich das wissen?« Seinem forschenden Blick hielt sie stand.

»Richtig, woher sollen Sie das wissen. Aber ich schätze Sie als intelligent genug ein, um selber Schlüsse zu ziehen.« Wieder entstand eine kurze Pause, bevor Wiesmann fortfuhr: »Ich wage die Behauptung, dass Sie spätestens bei der Lieferung der ungewöhnlichen Reagenzien den Braten gerochen haben. Sie sprachen Herrn Schyllbach daraufhin an und schlugen ihm dann einen Deal vor. Sie verlangten, dass er Sie mit einbeziehe und an dem Gewinn beteilige, und als er das ablehnte, zeigten Sie ihn an.«

Jetzt zumindest schien Frau Dr. Hellwig für einen Augenblick fassungslos. »Wie kommen Sie auf diese abwegige Idee?!«

»Das habe ich Ihnen doch gerade erklärt. Und ich halte sie keineswegs für abwegig. Stammt die Anzeige von Ihnen?«

»Nein.«

»Frau Dr. Hellwig, Sie wissen, dass eine anonyme Anzeige nicht strafbar ist. Also noch einmal: Haben Sie das Schreiben an die Staatsanwaltschaft geschickt?« Wiesmann beugte sich leicht vor und verschränkte die Arme auf der Schreibtischplatte. Er sah sie direkt an und schaute in grüne, kühlblickende Augen.

»Die Anzeige ist nicht von mir«, beharrte sie.

»Wer könnte Schyllbach dann Ihrer Meinung nach angezeigt haben?«

»Es könnte jeder im Unternehmen gewesen sein.«

»Nein, nicht jeder. Es muss jemand gewesen sein, der entsprechendes Fachwissen und etwas gegen Herrn Schyllbach hat. Noch einmal zu meiner Frage: Wer von den anderen Mitarbeitern könnte aus Ihrer Sicht die Anzeige erstattet haben?«

»Woher soll ich das wissen? Und da Sie mich ohnehin für unglaubwürdig halten, ist meine Antwort auf Ihre Frage irrelevant.«

Die Dame war noch schwieriger, als Wiesmann sich das vorgestellt hatte. Erbost bekundete er: »Danke, die Befragung ist aus meiner Sicht beendet. Sie können gehen.« Sofort erhob sie sich und verließ grußlos den Raum.

Ein paar Minuten lang saß Wiesmann reglos da. Wie war es möglich, dass die Vernehmung so daneben ging? Was lief schief? Klar, er hatte sie absichtlich warten lassen und später mit seiner Behauptung, sie hätte Schyllbach angezeigt, unangemessen provoziert. Aber mit ihren unwilligen und wenig hilfreichen Antworten hatte sie ihn einfach zur Weißglut gebracht. So etwas durfte ihm nicht noch einmal passieren.

In dem Moment kam sein Mitarbeiter herein. »Herr Kriminalhauptkommissar, Sie wollten mich nach einer Viertelstunde anrufen. Die ist jetzt schon lange um. Und die Zeugin Frau Dr. Hellwig ist offensichtlich nicht mehr da.«

Wiesmann winkte müde ab. »Danke, die Sache hat sich erledigt.«

 

Freundinnen

Gegen Feierabend packte Romy ihre Sachen zusammen und holte die Jacke aus dem Schrank. Wie gern würde sie jetzt mit einer vertrauten Person über ihre Situation reden, über ihre Enttäuschung und Ängste. Aber im Kollaps gab es zurzeit niemanden, mit dem sie sprechen konnte, weder mit Lisa noch mit Henriette. Keiner von beiden würde sie anvertrauen, dass Oliver sie betrog. So war es eine willkommene Überraschung, als Anne anrief.

»Du, was ist denn bei euch los! Ich habe es in der Zeitung gelesen. Wollen wir uns heute Abend treffen?«

»Sehr gerne, Anne, aber unter einer Bedingung: Die Themen Drogenskandal und Oliver werden nicht länger als fünf Minuten besprochen. Ich bin es so leid! Wie wäre es, wenn du heute Abend auf ein Glas Wein zu mir kämest?« Sie nannte Anne ihre Adresse.

»Um Himmelswillen, wo liegt das denn? In dem Stadtteil kenne ich mich absolut nicht aus.«

»Pass auf, wir machen einen zentralen Treff aus, und ich nehme dich auf der Heimfahrt mit dem Auto mit. Ich fahre jetzt gleich los.«

 

Eine Stunde später saßen sich die beiden Freundinnen in Romys Wohnung gegenüber.

»Tut mir leid«, begann Anne, »ich wollte mich eigentlich schon viel früher bei dir melden. Aber du weißt ja, wie das ist. Die Zeit vergeht so rasend schnell, und bei mir war auch immer etwas los.«

Wieder einmal nahm Romy wahr, wie attraktiv ihre ehemalige Schulfreundin war. Das dunkle, leicht gelockte Haar trug sie halblang, und es sah immer ein wenig zerzaust aus. Wenn sie lachte, und Anne lachte oft und laut und herzlich, schüttelte sie dabei übermütig ihre Locken. In einem reizvollen Kontrast zu dem dunklen Haar standen ihre blaugrauen Augen. Sicher ein Erbe ihrer irischen Großmutter, meinte Anne einmal im Spaß.

Das alles betrachtete Romy ohne Neid. Die beiden Schulfreundinnen fielen durch ihr ziemlich gegensätzliches Äußeres auf. Anne war groß und schlank, Romy hingegen eher zierlich. Sie hatte lange blonde Haare; und ungewöhnlich hierzu waren ihre braunen Augen – Augen wie dunkler Bernstein. Im Scherz meinten ihre Mitschüler damals, dass die beiden Freundinnen sie wohl vertauscht hätten.

Jetzt saß Anne ihr also gegenüber, und Romy war glücklich. »Ich hatte mich wirklich riesig gefreut, als wir uns zufällig trafen. Erzähl erst einmal, was du so getrieben hast.« Und Anne berichtete, wie sie die letzten Wochen verbracht hatte, von ihren Sorgen im Verlag und erwähnte beiläufig, dass sie sich verliebt hätte.

Romy stichelte sofort: »Typisch, Anne und die Männer! Sag mal ehrlich: Wie viele hast du in deinem Leben schon unglücklich gemacht?«

Aber Anne lachte nur: »Keine Ahnung. Ich würde es dir auch nicht verraten.«

Doch Romy gab sich nicht zufrieden. »Erzähl schon: Sieht er gut aus? Wo hast du ihn kennengelernt? Ist es etwas Ernstes?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739459769
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Beziehungsstress Freundschaften Gewichtsreduktion Wohlfühlkrimi Enttäuschungen Spannung Designerdroge Liebeskummer Konflikte Krimi Ermittler Cosy Crime Whodunnit Thriller

Autor

  • Katharina Kohal (Autor:in)

Eine Prise Humor, ein Schuss Romantik und mitunter ein Hauch Fernweh sind die Zutaten für ihre Kriminalromane. Katharina Kohal lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Mit dem Eintritt in den Ruhestand entdeckte sie ihre Lust am Schreiben neu und veröffentlichte seither:
„Ein fast perfektes Team“, „Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus“, „Mehr als ein Delikt“, „Eine mörderische Tour“, „Cyber Chess mit tödlicher Rochade“ und „Verstörende Erinnerung“.

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Titel: Ein perfider Plan - Projekt LoWei Plus