Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Zum Buch:
Smilla führt mit ihrer kleinen Schwester Jera ein tristes Leben in der Eifel. Die Welt, wie wir sie kannten, gibt es seit einer verheerenden Katastrophe nicht mehr. Wo vorher Gesetze und Ordnung herrschten, treibt nun der grausame Clan der Verlorenen Jungssein Unwesen. Smilla weiß, dass es in dieser Welt keinen Platz für Liebe und Glück mehr gibt. Bis sie ihren einstigen Nachbarn Falk wiedertrifft …
Doch dann gerät Smilla selbst in eine Spirale aus Verrat und Lügen, die sie an allem zweifeln lässt, woran sie noch glaubte. Wem kann sie noch vertrauen, wenn es um das eigene Überleben geht? Und welche zwielichtige Rolle spielt Falk bei all den Ereignissen?
Ein spannungsgeladener Roman voll Leidenschaft und Philosophie, der uns dabei zu den wichtigen Fragen des Lebens führt.
Zur Autorin:
Jana Taysen wurde 1992 in Hagen geboren und lebt mit Freund und Hund im abenteuerlichen Köln. Dort arbeitet sie in einem Marktforschungsinstitut. Zuvor studierte sie English Studies und Medienwissenschaften im Bachelor und Markt- und Medienforschung im Master. Das Schreiben war schon von klein auf ein wichtiger Teil von Janas Leben und eine ihrer liebsten Freizeitbeschäftigungen. Sie liebt es, neue Welten und Charaktere zu erschaffen und selbst ganz und gar in die Geschichten abzutauchen.
Veröffentlicht im Kirschbuch Verlag,
ein Imprint der QualiFiction GmbH
Neß 1, 20457 Hamburg
September 2020
Copyright © 2022
by QualiFiction GmbH, Hamburg
Umschlaggestaltung: QualiFiction GmbH
Satz: QualiFiction GmbH
ISBN 9783948736071
1 Der Reisende
Smilla lag im Laub unten am See und dachte darüber nach, warum sie es schon wieder getan hatte. Sie dachte überhaupt oft nach, denn seitdem die Welt untergegangen war, hatte sie viel Zeit dafür.
Vielleicht war das der Grund, warum sie Karens Regeln gebrochen hatte – die ganze Zeit, die ihr zur Verfügung stand, und die Langeweile, die dieser Überfluss an Zeit mit sich brachte. Mit Unwissen konnte sie ihr Verhalten nicht entschuldigen, schließlich wusste sie genau, dass es verboten war, in der Talsperre zu schwimmen. Es war zu gefährlich, denn auf dem See konnte man sie nur zu leicht entdecken. Und sie durfte nicht entdeckt werden.
Smilla stand auf und zog sich an. Sie hob das Kaninchen auf, dessen Blut sie sich mit dem verbotenen Bad im See abgewaschen hatte, und band es kopfüber an den nächstgelegenen Ast. Es war einfacher, das Tier zu verarbeiten, solange der Körper noch warm war. Wartete man zu lange, wurden die Gliedmaßen steif und das Blut zu dick. Am Anfang hatte sie es nicht über sich gebracht, ihre Beute eigenhändig zu töten. Als wäre da eine unsichtbare Schwelle in ihrem Innern, die sie nicht hatte überschreiten können. Doch dann war diese Schwelle langsam verschwunden, denn sie war hinderlich geworden; ein Überbleibsel aus der Zeit, in der man nicht zu töten brauchte, weil das Fleisch in Unmengen und rosa gefärbt im Kühlregal auf einen wartete.
Sie zog Giorgios Jagdmesser aus dem Holster an ihrem Bein und schnitt das Fell an den Hinterläufen des Kaninchens ein. Wie man Kleinwild häutete, hatte sie in einem Buch gelesen, das sie nach dem Ausbruch der Plage aus der Stadtbücherei geklaut hatte. Alle hatten geklaut. Trotzdem schämte sie sich bis zu diesem Tage dafür. Aber Wissen war überlebenswichtig.
Smilla trennte das Fell weiter auf, bis zur Blume hoch. Ab da war es ganz leicht, die Haut vom Tier zu lösen. Fast, als würde man eine Banane schälen.
Ein Knacken zerriss die Stille. Sie ließ von dem Kaninchen ab und fuhr herum. Im Wald regte sich nichts. Smilla kniff die Augen zusammen. Vor der großen Plage hatte sie Kontaktlinsen getragen. In Momenten wie diesen fehlten sie ihr und sie musste allein auf ihre Instinkte vertrauen.
Sie hielt den Atem an und lauschte in den Wald hinein. Etwas raschelte im Laub. Eine Amsel? Eine Maus? Dafür war das Rascheln zu regelmäßig. Schritte. Hatte jemand sie beim Baden beobachtet? Hatte man sie entdeckt?
Adrenalin sprengte Smillas Starre. Sie kappte das Seil, an dem das Kaninchen vom Baum hing. Dann zog sie sich an einem Ast nach oben und kletterte in die Baumkrone. Wenn man auf einen Bären traf, sollte man sich tot stellen, schoss es ihr dabei durch den Kopf. Auf keinen Fall durfte man weglaufen oder auf einen Baum klettern. Das wusste sie aus einer Geschichte, die sie in der achten Klasse im Englischunterricht gelesen hatten. Nur, dass ihr dieses Wissen denkbar wenig half: In der Eifel gab es keine Bären. Dafür gab es Menschen und die waren manchmal noch schlimmer.
Smilla kauerte sich zusammen und versuchte, die Quelle des Geräusches auszumachen. Dann sah sie eine Gestalt zwischen den Bäumen oben am Hang. An der Statur und der Bewegung erkannte sie, dass es ein Mann war. Ihr Griff um das Messer wurde fester, ihr Herz schlug noch schneller.
Der Mann kam den Hang in ihre Richtung hinunter. Wenn er sie noch nicht bemerkt hatte, dann würden spätestens das Blut und der Kaninchenpelz am Fuß des Baumes verraten, dass sich in der Nähe noch jemand befand.
Smilla kniff die Augen enger zusammen, um mehr von der Gestalt zu erkennen. Außer den Menschen im Quartier kannte sie keine Überlebenden in dieser Gegend. Aber sie wusste von einigen. Und wenn das hier einer von ihnen war, würde sie sich etwas Gewitzteres einfallen lassen müssen, als auf einem Ast zu hocken und abzuwarten.
Der Mann war mittlerweile so weit herangekommen, dass sie sein Gesicht ausmachen konnte. Sein Haar hing in weißen Strähnen unter einer grünen Wollmütze hervor und seine Züge waren halb verdeckt von einem zotteligen, grauen Bart. Er war alt. Zu alt, um zu den Verlorenen Jungs zu gehören. Die nahmen keine Alten und Schwachen auf. Bei jedem zweiten Schritt verzog er das Gesicht und gab ein leises Zischen von sich. Er humpelte.
Kurz überlegte Smilla, ob sie aus ihrem Versteck springen und fortlaufen sollte. Mit einem verletzten Bein hatte er keine Chance, sie einzuholen. Doch dann beschloss sie, zu verharren. Schließlich wusste sie nicht, ob er irgendwelche Schusswaffen bei sich trug oder Messer werfen konnte. Vielleicht simulierte er auch bloß, damit sie sich in Sicherheit wog und eine leichtere Beute abgab.
Als er nur noch wenige Meter von ihrem Baum entfernt war, hielt der Mann inne. Er hatte das Kaninchenfell entdeckt. Schwerfällig bückte er sich, hob einen Stock auf und stupste das Fell an. Dann sah er auf. Er erblickte Smilla sofort.
Smillas Muskeln spannten sich in Angst an, als sich ihre Blicke trafen. Im selben Moment ergriff sie der übermächtige Wunsch, zu überleben. Sie würde sich mit jeder Faser ihres ausgehungerten Körpers gegen den Mann wehren. Innerlich wappnete sie sich für den Kampf. Auch wenn sie keinen Schimmer hatte, wie man kämpfte.
»Guten Tag«, sagte er, zog sich die Mütze vom Kopf und richtete sich langsam wieder auf. Smilla antwortete nicht, hielt seinem Blick aber stand.
»Mein Name ist Edwin. Dr. Edwin Habstedt. Ich komme aus Bayreuth und bin auf dem Weg nach Brüssel.« Er hielt seine Mütze mit beiden Händen vor der Brust und fummelte an einem losen Faden herum, während er sprach. Er wirkte unsicher, beinahe ängstlich.
»Ich bin vor vier Tagen von einem Hund angefallen worden. Meinen Proviant habe ich aufgebraucht. Und hiermit …« Seine Hand glitt nach unten und schob seinen Mantel zur Seite. Zerrissener Jeansstoff und getrocknetes Blut kamen zum Vorschein. »Hiermit kann ich kaum noch jagen. Vielleicht besitzen Sie die Güte, Ihr Abendbrot mit mir zu teilen?«
Smilla fixierte den Mann. Die Angst gebot ihr, sich nicht zu bewegen und nichts zu antworten. Doch in der hintersten Ecke ihres Bewusstseins empfand sie Mitleid für ihn. Er war alt. Er war allein. Und wenn es stimmte, was er sagte, dann war er auch noch verwundet. Aber Mitleid war eine gefährliche Sache, das wusste Smilla. Seine Behauptung konnte Teil einer List sein. Am Ende steckten doch die Verlorenen Jungs dahinter.
»Ich verstehe, dass Sie misstrauisch sind und dass Sie wahrscheinlich selbst nicht viel zum Teilen haben. Aber ich bitte Sie.« In seinem Blick lag etwas Flehendes und Smilla spürte, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog. Sie schürzte die Lippen, überlegte.
»Wie ist das mit dem Hund passiert?«, fragte sie dann, um ihn auf die Probe zu stellen. Wenn seine Geschichte ausgedacht war, würde er sich nun schnell glaubwürdige Details überlegen müssen, ohne sich in Widersprüche zu verstricken.
Edwin hob die Schultern. »Er stand plötzlich vor mir auf dem Weg. Ich bin umgedreht, weil ich ihm nicht das Gefühl geben wollte, eine Bedrohung zu sein. Da hat er sich von hinten in mein Bein verbissen.«
»Warum hat er wieder von Ihnen abgelassen?«
»Ich habe mich auf ihn fallen lassen und ihm mit einem Stein auf den Schädel geschlagen.«
»Haben Sie ihn getötet?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Wie können Sie nicht sicher sein?«
»Ich habe ihn davonlaufen lassen und ich weiß nicht, wie schwer ich ihn verletzt habe.«
So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte niemand anderes in der Umgebung entdecken. Keine lauernden Verlorenen Jungs und auch sonst keine Menschenseele. Die Angst, die sie eben noch erfüllt hatte, wich aus ihren Gliedern. Ob das Menschenkenntnis oder purer Naivität geschuldet war, vermochte Smilla nicht zu sagen.
»Ich bin nicht allein«, erwiderte Smilla dann und hoffte, weder zu drohend, noch zu ängstlich zu klingen. »Ich gehöre zu einer Gruppe nicht weit von hier.«
Edwin nickte knapp und sah hoffnungsvoll zu ihr auf. »Würden Sie mich dort mit hinnehmen?«
Smilla sank etwas in sich zusammen, als ihr klar wurde, dass sie den alten, verwundeten Mann würde enttäuschen müssen. Denn im Quartier hatten sie viele Regeln, die Smilla meistens auch befolgte. Eine davon, die wahrscheinlich wichtigste, schrieb vor, niemals Fremden den genauen Standort des Quartiers zu verraten.
»Ich fürchte, das kann ich nicht.«
Die Züge des alten Mannes erschlafften bei diesen Worten.
»Aber ich kann Ihnen eine Keule von meinem Kaninchen dalassen«, bot Smilla an.
Seine Miene hellte sich etwas auf. »Das wäre wunderbar.«
Smilla warf einen letzten Blick zum Hügelkamm, aber da sie auch dieses Mal keine lauernden Gefahren erspähte, kletterte sie vom Baum herab. Der Mann wich ein paar Schritte zurück, als sie auf den Laubboden sprang. Ob, um ihr zu zeigen, dass er keine Gefahr darstellte, oder weil er selbst auf der Hut war, wusste sie nicht.
Smilla band das Kaninchen wieder an den Ast und begann, eine Keule abzutrennen.
»Sie sollten aber bis zur Dunkelheit warten, bis Sie ein Feuer machen. Der Rauch könnte Feinde anlocken.«
Dr. Edwin Habstedt stützte sich am Baum ab und setzte sich behutsam ins Laub.
»Ist die Sekte sogar hier aktiv?«
Smilla sah überrascht vom Kaninchen auf und Edwin direkt in die Augen. »Die Sekte? Nein. Ich dachte, die wären bloß erfunden.«
Edwin lachte grimmig. »Wer weiß, vielleicht waren sie das am Anfang sogar, aber mittlerweile haben sich genug Spinner zusammengefunden. Und das ganz ohne soziale Medien.«
»Und stimmt es, was man über sie sagt?«, wollte Smilla wissen, ohne den Blick vom Kaninchen zu wenden. »Dass sie glauben, Gott wäre schuld an der Plage, und dass sie Menschenopfer bringen, damit er sie erlöst?« Als ob das Leben nach der Plage ohne religiösen Fanatismus nicht schon anstrengend genug wäre.
»Ja, das kommt hin«, sagte Edwin. »Wenn Sie mit Feinden nicht die Sekte gemeint haben, wen meinen Sie dann?«
Smilla zerschnitt die letzte widerwillige Sehne am Hinterlauf des Kaninchens. »Die Verlorenen Jungs«, antwortete sie ihm dann. »Sie sind eine Fußballmannschaft aus Köln, die auf einem Ausflug in der Eifel war, als die Plage sich ausbreitete.«
»Kannibalen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Aber sie betreiben Menschenhandel und verfüttern übrig gebliebene Gefangene gerne an ihre Hunde.«
Edwin zog anerkennend die Augenbrauen hoch. »Na, das wäre in meinem Fall wirklich sehr ironisch.«
Smilla reichte Edwin ein Stück rohes Fleisch. Er bedankte sich und legte es behutsam auf einen Stein neben sich. Er atmete schwer und Smilla konnte Schweißperlen auf seinen Wangen glitzern sehen. Es schien ihm wirklich schlecht zu gehen. Ob sie ihn hier einfach so zurücklassen konnte?
»Ich bin übrigens Smilla. Wir können uns von mir aus auch duzen«, sagte sie dann.
Ein flüchtiges Lächeln spielte um Edwins Lippen. »Gerne. Es gibt kein Sie in Anarchie.« Er gluckste, offensichtlich zufrieden mit seinem kleinen Reim, und Smilla lächelte höflich. Er hatte ja recht. Bei den Umständen, unter denen sie lebten, erschien es wirklich albern, jemanden zu siezen. Dennoch hatte Smilla sich diese Umgangsform noch nicht abgewöhnt, wie so vieles, was vor der Plage gegolten und danach seine Gültigkeit verloren hatte.
Sie ließ sich vor ihm im Laub nieder. »Warum möchtest du nach Brüssel?«, wollte sie wissen.
Edwins Augen leuchteten auf. »Dort bauen sie alles wieder auf. Die Infrastruktur, die drei Gewalten, die Zivilisation.«
Smilla runzelte die Stirn. »Und woher weißt du das?« Es war nicht das erste Mal, dass jemand glaubte, irgendwo, weit, weit weg, wende sich alles wieder zum Guten. Jeder kannte irgendwen, der jemanden kannte, der am Wiederaufbau einer Regierung beteiligt oder von einem Hilfskonvoi mit Nahrung und Medikamenten versorgt worden sein wollte.
»Ich weiß es von einem Reisenden, der von Brüssel aus unterwegs war, um seine Familie dort hinzuholen«, antwortete Edwin.
Smilla begutachtete ihre blutverschmierten Finger. Ihrer Erfahrung nach waren all diese Geschichten Märchen. Märchen, die man erfand, um nicht den Verstand zu verlieren, während man dabei zusah, wie die Menschheit langsam aber sicher ausstarb. »Wie kannst du dir sicher sein, dass das stimmt?«
Edwin zuckte die Schultern. »Woher weiß ich, dass es nicht stimmt?«
Die Sonne war inzwischen hinter dem Horizont verschwunden und das Tageslicht verlor mit jeder Sekunde an Kraft. Bald musste sie sich auf den Heimweg machen. Dann würde Edwin allein hier sitzen und darauf hoffen müssen, dass er die Nacht überlebte.
»Zeig mir deine Wunde«, sagte Smilla einem Impuls folgend und kroch auf allen vieren zu Edwin.
Er sah sie verwundert an, dann winkte er ab und zog seinen Mantel enger. »Nicht nötig, das wird schon wieder.«
»Zeig sie mir, ich verstehe einiges von Verletzungen.«
»Bist du Krankenschwester … gewesen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe bloß viele Verletzungen gesehen.«
Edwin zögerte, dann zog er den Mantel ein Stück hoch. »Es ist halb so wild«, brummte er.
Smilla beugte sich weiter hinunter. Ein übler Geruch stieg ihr entgegen. Daran, wie Menschen rochen, die sich nicht mehr jeden Morgen mit Duschgel und Shampoo reinigten, hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass ihre Haare fettig, ihre Nägel permanent schmutzig, ihre Achseln und ihre Scham wieder haarig waren. Aber Edwin roch nicht nur ungewaschen, er stank nach Fäulnis. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und schob den Fetzen Jeansstoff zur Seite, der die Wunde bedeckte. Das Fleisch darunter war zerfurcht wie ein frisch gepflügter Acker. Die offenen Stellen nässten und eiterten.
Smilla wich zurück. »Die Wunde muss versorgt werden, sonst bekommst du eine Sepsis.«
Ohne etwas zu erwidern, sah Edwin sie an. Dann nickte er knapp. »Ich weiß.«
Smilla biss sich auf die Unterlippe und überlegte. Keine Fremden im Quartier. Das war die Regel. Und sie verstand die Regel. Selbst wenn Edwin keine direkte Gefahr darstellte – er konnte sich bei den falschen Leuten verplappern oder gezwungen werden, ihren Standort zu verraten. Rauben und Plündern war für einen großen Teil der Überlebenden zum täglich Brot geworden. Aber was, wenn sie an seiner Stelle wäre? Dieser Gedanke plagte sie nicht zum ersten Mal. Sie war schon öfter in Situationen geraten, in denen sie hätte helfen können. Und jedes Mal hatte der Gedanke daran, wie sie sich in der Lage des anderen fühlen würde, es unerträglich gemacht, sich abzuwenden und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Und doch hatte sie genau das immer wieder tun müssen, um sich, ihre kleine Schwester und die anderen aus ihrer Gruppe nicht in Gefahr zu bringen. Aber diesmal konnte sie es nicht über sich bringen. Diesmal hatte sie schon sein Gesicht gesehen, seine Stimme vernommen und die Hoffnung darin gehört. Sie konnte nicht diejenige sein, die ihm diese Hoffnung wieder nahm.
Smilla stand auf und klopfte sich Laub und Erde von der Hose. »Komm mit«, sagte sie dann und reichte Edwin die Hand.
Einige Sekunden lang sah Edwin sie verwundert an. Dann hoben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln und er zog sich an Smillas Hand hoch. »Danke«, sagte er und vollführte eine unbeholfene Verbeugung. »Danke, Smilla.«
»Vergiss dein Abendessen nicht«, murmelte sie und deutete auf die Keule. Sie schnürte das Kaninchen vom Ast ab und wickelte sich die Schnur ums Handgelenk. Dann trat sie den Heimweg an und Edwin folgte ihr.
»Die anderen, mit denen du zusammenlebst – wie viele seid ihr?«, fragte Edwin nach einer Weile.
»Das wirst du schon sehen, wenn wir da sind.«
»Wie weit ist es bis dorthin?«
»Ein Stückchen.«
Edwin schien zu verstehen, dass Smilla hier draußen keine Details zu der Lage ihres Quartiers preisgeben wollte, denn er hörte auf, Fragen zu stellen.
»Erzähl mir von dir«, sagte Smilla über ihre Schulter, als ihr das Schweigen unangenehm wurde. »Hast du Familie?«
»Ja«, antwortete Edwin außer Atem.
Smilla drosselte ihr Tempo.
»Einen Sohn.«
»Wo ist er?«
»Er ist tot.«
»Das tut mir leid.«
Edwin seufzte. »Er war eines der ersten Opfer der Plage. Damals hätte ich alles getan, um an seiner Stelle zu sterben. Aber jetzt denke ich, so musste er wenigstens das Chaos und die Panik nicht mehr miterleben.«
Smilla erinnerte sich nur zu gut an die Panik. An das Chaos. Die Plage war vor etwas mehr als vier Jahren in Nordamerika ausgebrochen und hatte sich in rasender Geschwindigkeit auf die ganze Welt ausgeweitet. Die Inkubationszeit war kurz, der Tod folgte schon wenige Stunden nach Ausbruch der Krankheit. Alles ging so schnell, dass Forschung und Pharmaindustrie keine Zeit geblieben war, ein Gegenmittel zu entwickeln. Wo die Plage hergekommen war, blieb ebenso ungeklärt. Smilla waren in den letzten Jahren zahlreiche Theorien zu Ohren gekommen: Die einen glaubten an einen urzeitlichen Virus, den der Klimawandel aus dem Permafrostboden Alaskas befreit hatte. Andere meinten, die Krankheit entstamme einer Biowaffe der Nordkoreaner. Wieder andere hielten das Ganze für Gottes Zorn.
Grausam genug, um Ausdruck von Gottes Zorn sein zu können, war die Plage allemal. Doch viel grausamer war, was der Notstand mit den Menschen gemacht hatte. Sie waren misstrauisch, egoistisch und hartherzig geworden. Alle hatten sich nur noch sich selbst verpflichtet gefühlt. Aber die Plage hatte nicht nur das Mitgefühl der Menschen füreinander ausgelöscht. Je mehr Menschen gestorben waren, je weiter die Panik angewachsen war, desto schneller waren auch die Revolutionen der Menschheit verschwunden: Demokratie, Gesetz, Pharmazie, Strom, Industrie, Internet, Digitalisierung – die Liste war Tag für Tag länger geworden, bis das gesamte System zusammengebrochen war. Am Ende blieben nur leere Gebäude, geplünderte Läden und ein paar ratlose Überlebende zurück. Und Smilla war eine von ihnen. Die, die überlebt hatten, schienen immun gegen die Plage zu sein, denn Smilla hatte schon seit Jahren von niemandem mehr gehört, den die Plage erwischt hatte. Außerdem hatte sie die Hand ihrer erkrankten Mutter gehalten, ihr beim Sterben zugesehen und sich trotzdem nicht angesteckt.
»Hast du Familie?«, gab Edwin die Frage schließlich zurück.
»Meine Schwester Jera. Meine Mutter ist an der Plage gestorben. Und mein Vater war geschäftlich in der Nähe von Calais, als es losging. Um genau zu sein, sind wir nur in der Eifel gelandet, weil wir uns aufmachen wollten, ihn zu suchen«, erklärte Smilla.
»Ihn suchen?« In Edwins Stimme schwang Verwunderung mit. Wie so viele andere hielt er es vermutlich für äußerst unwahrscheinlich, dass ihr Vater noch lebte. Manchmal tat Smilla das auch. Nachts, wenn es dunkel wurde und die Welt noch viel gefährlicher wirkte, als sie ohnehin schon war.
»Wir kommen ursprünglich aus Köln, Jera und ich. Wir haben dort ein Jahr gewartet, dass er zurückkommt. Aber dann wurde es zu gefährlich für uns. Zwei Mädchen ohne Gruppe, ohne Unterstützung et cetera. Wir wollten los, um ihn zu suchen.«
»Und wie seid ihr dann hier, irgendwo im nirgendwo, gelandet?«
»Ich hatte die Reise unterschätzt. Wir waren völlig ausgehungert und hatten beide Fieber, als wir hier im Wald auf die Gruppe getroffen sind, bei der wir nun leben.«
»Sie haben euch aufgenommen«, schlussfolgerte Edwin.
»Ja«, sagte Smilla und merkte, dass sie selbst ein wenig überrascht klang. Es gab nicht mehr viele Menschen, die es auf sich genommen hätten, zwei zusätzliche hungrige Mägen zu füllen. Jera und sie hatten Glück gehabt, dass sie auf genau solche Menschen getroffen waren.
»Also habt ihr aufgehört, nach eurem Vater zu suchen?« Edwin blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Smilla blieb ebenfalls stehen. »Ihn zu suchen war von Anfang an nichts als eine Verzweiflungstat. Wenn er überlebt hat – wie hoch sind die Chancen, dass er die ganze Zeit über in Calais geblieben ist?« Sie winkte Edwin zu sich, um ihm zu bedeuten, dass er sich wieder in Bewegung setzen sollte. »Nicht sehr hoch«, beantwortete sie sich dann ihre eigene Frage und lief weiter.
Edwin ächzte hinter ihr. »Hier in den Wäldern zu bleiben ist sicher das Beste für euch. Es ist wirklich ungemütlich geworden, vor allem in den Städten. Ich habe auf meinem Weg viel gesehen und kaum etwas davon war erfreulich.«
Sie kamen an einen schmalen Bachlauf mit einer Brücke. Smilla streckte einen Arm aus, um Edwin daran zu hindern, sie zu betreten. »Auf der Brücke hinterlassen wir Spuren. Ich springe lieber über den Bach.«
Sie setzte einen Fuß auf einen Stein in der Mitte des Stroms und hüpfte hinüber. Dann reichte sie Edwin die Hand, um ihm übers Wasser zu helfen.
Eine halbe Stunde später gelangten sie auf die Dreiborner Hochfläche. In der Abenddämmerung wirkten die verblühten Ginsterbüsche und das gilbende Gras sanft wie ein Pastellgemälde.
»Ah, hier sind wir«, sagte Edwin mit einem Blick in die Ferne. »Da drüben ist die Ordensburg Vogelsang, nicht wahr?« Er deutete in den Dunst über den Bergen am Horizont.
»Genau«, bestätigte Smilla. »Warst du mal dort?«
»Ja, aber das ist über zwanzig Jahre her. Damals lebte meine Frau noch. Sie kam gerne zum Wandern in die Eifel. Hatte eine Cousine in Monschau.«
Eine weitere Viertelstunde verstrich. Es war mittlerweile dunkel und nur die Sterne, die vereinzelt zwischen den Wolken aufblinkten, ermöglichten es, in der Finsternis etwas zu erkennen. Hinter den Ginsterbüschen wurden Umrisse sichtbar, die sich kantig und geradlinig von der umgebenden Natur abhoben. Sie waren nur noch wenige Dutzend Meter vom Quartier entfernt.
Smilla blieb stehen und wandte sich zu Edwin um. «Eine Sache noch«, sagte sie. Bei dem Gedanken an Karen und die anderen wurde ihr heiß und flau. «Ich bringe mich gerade selbst in ziemlich große Schwierigkeiten, indem ich dich zu unserem Quartier führe. Du musst mir versprechen, dass du zu niemandem auch nur eine Silbe über uns verlierst. Nicht über unsere Gruppe und auch nicht über unseren Standort.«
Edwin sah sie aus ernsten Augen an. Dann nickte er.
»Versprich es«, forderte Smilla. Sie musste die Worte aus seinem Mund hören, auch wenn Worte in dieser Welt ungefähr so viel Bedeutung hatten wie das Leben einer Eintagsfliege.
»Ich schwöre es dir sogar«, sagte Edwin. »Von mir erfährt niemand irgendetwas.«
»Gut.« Smilla setzte sich wieder in Bewegung. »Da vorn ist es nämlich auch schon.«
»Aber das ist doch nicht Wollseifen, oder?«, fragte Edwin, als sie die ersten würfelhaften Bauten passierten, die den belgischen Militärs einst als Kulisse für Kampfübungen gedient hatten.
»Doch, ist es«, sagte Smilla. Sie bogen vom Pfad ab, der durch das Dorf führte. Dann stiegen sie eine Senke hinab, in der hinter knorrigen Nadelgewächsen der Eingang zum Quartier verborgen lag. Sie hatten bewusst kein Tor oder Ähnliches vor den Zugang des Bunkers gebaut, damit niemand auf die Idee kam, hier wäre etwas zu holen. Das Stahlgitter, das den Eingang einst versperrt hatte, war achtlos auf den Boden geworfen worden, und Gräser und Moose wucherten in einem stetig dichter werdenden Netz darüber. Smilla tauchte in die Finsternis der Bunkergänge ein und stieg die Treppe ins Erdreich hinab. Bis dorthin reichte nicht einmal das Licht der Sterne.
Auf der Hälfte der Treppe bemerkte sie, dass Edwins Schritte hinter ihr verstummt waren. Sie hielt an, wandte sich um und erkannte seine Silhouette im Eingang. »Es sind zweiundzwanzig Stufen. Alle intakt, nur etwas rutschig«, rief Smilla ihm zu. Manchmal vergaß sie, wie viel Überwindung es beim ersten Mal kostete, blind in das schwarze Nichts unter ihnen zu treten.
»Okay«, sagte Edwin in ersticktem Tonfall, bewegte sich aber keinen Zentimeter. Smilla erkannte Angst in seiner Stimme. Sie verstand ihn nur zu gut. In der Welt nach der Plage wusste man nie, wem man trauen konnte. Je freundlicher und entgegenkommender jemand war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er nichts Gutes im Schilde führte. Sie selbst würde unter keinen Umständen jemandem in einen finsteren Gang folgen – so viel stand fest.
»Oder vielleicht wartest du besser dort oben«, sagte sie also, um Edwin aus seiner innerlichen Zwickmühle zu helfen. »Ich gebe eben das Kaninchen ab und frage nach Verbandszeug. Dann komme ich wieder.«
»Ist gut.« Edwin wich zurück unter den freien Himmel.
Mit eiligen Schritten lief Smilla den Gang entlang und bog nach rechts ab, wo weitere glitschige Stufen tiefer in die Erde führten. Am Fuß der Treppe erstreckte sich ein Flur mit drei Türen auf jeder Seite. Hinter der zweiten Tür links war der Bunker eingestürzt. So sollte es zumindest aussehen, wenn jemand mit genug Licht und Mut hier herunter kam. In Wirklichkeit aber war der Gang nicht eingestürzt. Karen und ihre Familie hatten Bauschutt und Erde herein gekarrt und aufgetürmt, um es so aussehen zu lassen. Der Gesteinsbrocken in der rechten oberen Ecke war aus Styropor und ließ sich ohne Probleme aus dem Schutthaufen herausschieben. Durch das entstehende Loch gelangte man ins Quartier.
Smilla erklomm den Schutthaufen und duckte sich durch den geheimen Eingang. Auf der anderen Seite war das Geröll mit Beton und Holzbalken gesichert und eine unebene Treppe führte zurück auf festen Boden. Smilla schob gerade den falschen Gesteinsbrocken wieder an seinen Platz, als sie Schritte im Flur hinter sich hörte.
»Da bist du ja endlich«, erklang Karens Stimme.
Smilla wandte sich um und warf Karen ein flüchtiges Lächeln zu. Vor einem Jahr hatte ihr Haar noch erdbeerblond geglänzt, mittlerweile war sie fast gänzlich ergraut.
»Hast du nichts gefangen?«
»Doch, aber –«
»Sehr gut, her damit. Die anderen rücken mir schon auf die Pelle.«
Karen streckte die Hand aus und Smilla reichte ihr das Kaninchen. Mit gerunzelter Stirn musterte ihre Anführerin den dreibeinigen Kadaver. »Du hast doch nicht etwa schon davon gegessen, oder?«
Smilla schüttelte den Kopf. »Aber ich habe jemandem etwas davon abgegeben.«
Karen sah von dem verstümmelten Kaninchen auf. »Du hast was?«
Smilla schluckte beim Anblick von Karens entgeisterter Miene.
»Ja, einem alten Mann, der auf dem Weg nach Brüssel ist. Er ist verletzt und hat mich um Hil–«
»Du willst mir sagen, du bist verantwortlich für das Abendessen von sieben Leuten und gibst die Hälfte eines mageren Kaninchens an einen Fremden?«
Smilla schlug den Blick nieder. Augenblicklich wurden ihre Wangen vor Scham heiß. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie Jera und Giorgio, die sich aus dem Wohnzimmer in den Flur lehnten, um das Geschehen zu verfolgen.
»Ich habe ihm nur eine Keule gegeben und –«
»Smilla, wir haben klare Regeln für derartige Begegnungen. Hast du Anna etwa schon vergessen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich hatte Mitleid.«
Karen erwiderte nichts und Smilla wagte es nicht, sie anzusehen. Vermutlich kämpfte sie mit den Tränen. Das tat sie immer, wenn Annas Name fiel.
»Smilla«, sagte sie dann bloß, »du bist zu weich für diese Welt.«
Hinter Karen griff Jera sich in einer dramatischen Geste ans Herz und tat so, als ob sie sich Tränen der Rührung aus den Augen wischte. Giorgio beendete ihre Vorstellung mit einem Klaps auf ihren Hinterkopf.
»Komm, dann hilf mir wenigstens beim Kochen. Aber das kommt nie wieder vor. Ist das klar?«
Smilla biss sich auf die Lippe. »Ich helfe dir sofort, aber … ich habe ihn vielleicht mitgebracht.«
»Mitgebracht? Den Fremden?« Ihre Stimme klang schrill.
Smilla nickte betroffen, halb in Erwartung einer Ohrfeige. Aber als Karen nur fassungslos schnaufte, redete Smilla weiter. »Er wurde von einem Hund angefallen und seine Wunde sieht echt übel aus. Ich konnte ihn nicht zurücklassen. Und er hätte mir bestimmt auch geholfen, wenn ich in Schwierigkeiten gewesen wäre.«
»Ja sicher, Smilla, weil wir so viele gute Erfahrungen mit hilfsbereiten, fremden Männern gemacht haben.«
»Er ist alt und er ist ein Doktor.«
»Oh, na dann«, sagte Karen und schüttelte empört den Kopf. »Und was willst du bitte mit ihm anstellen?«
»Ich will seine Wunde säubern und desinfizieren.«
Karens Nasenflügel bebten, wie immer, wenn sie sich entscheiden musste, ob sie sich beruhigen oder noch wütender werden wollte.
»Na gut. Was anderes, als hilfsbereit zu sein, bleibt uns wohl auch nicht mehr übrig, wo du ihm schon unseren Standort verraten hast.«
Smilla atmete erleichtert aus.
»Kann ich zusehen?«, rief Jera vom Ende des Flurs her.
Karen wandte sich mit einer Selbstverständlichkeit zu ihr um, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass Jera lauschte. »Du und Giorgio helft beim Gemüseschneiden, da gibt es keine Ausreden!«
Jera quiekte unzufrieden. »Mann, ich hasse Schnippeln.«
Mit gesenktem Kopf lief Smilla an Karen vorbei und auf die Tür zu, in der Giorgio und Jera standen. »Wie blöde du bist«, sagte Jera, als Smilla vorbeiging, und trat nach ihren Füßen.
»Sei bloß still, Jera«, brummte sie und trat zurück.
Sie lief vorbei an Lars, der in seinem Sessel vor dem Kamin saß und rief: »Was hast du nun schon wieder angestellt?« Vorbei an seinen und Karens Töchtern Sarah und Marie, die am Esstisch Kleidung und Bezüge flickten. Dann gelangte sie in den Flur und die daran angrenzende Vorratskammer.
Der Verbandskasten hatte sich seit Giorgios Ankunft im Quartier sichtlich geleert. Ein Jahr war es her, dass er blutend und weinend zu ihnen gestoßen war. Ein Jahr, seitdem sie Anna verloren hatten.
Eilig stopfte Smilla Salbe, einen Fetzen Betttuch und Mullbinden in ihre Jackentaschen. Dann verließ sie die Vorratskammer und ging in die Kochecke im Wohnzimmer. Dort schöpfte sie Wasser aus einem hölzernen Fass in eine Plastikschüssel und begab sich zurück in den Flur, der aus dem Quartier heraus führte.
Edwin hatte sich ein paar Meter entfernt vom Bunker auf den Boden gesetzt. Als Smilla ins Freie trat und auf ihn zukam, stand er auf. »Und?«, fragte er. »Hast du Verbandszeug bekommen?«
Smilla warf ihm einen finsteren Blick zu, während sie die Schüssel mit dem Wasser zu ihm balancierte. »Deinetwegen habe ich ganz schön Ärger am Hals«, sagte sie dann bloß.
Sie stellte die Schüssel mit Wasser behutsam ins Moos und holte den Fetzen Betttuch aus ihrer Jackentasche. »Zieh am besten deine Hose aus«, wies sie ihn an.
Edwin gab ein undefinierbares Geräusch von sich. »Ich verarzte mich schon selbst. Du hast genug für mich getan.«
»Lass mich das machen. Dann weiß ich wenigstens, dass es richtig gemacht wurde«, widersprach Smilla.
Edwin zögerte, seufzte dann ergeben und knöpfte seine Hose auf.
Smilla tunkte das Stück Laken ins Wasser und begann sanft, die Haut um die Wunde herum zu säubern. »Es blutet nicht mehr, das ist gut. Wie lange hat es geblutet?«
»Die erste Nacht durch. Dann wurde es weniger, aber durch die ständige Bewegung geht die Wunde immer wieder auf.«
Smilla tunkte das Tuch erneut ins Wasser. Ohne den Schutz der Jeans war Edwins Gestank beinahe unerträglich. Für einen kurzen Moment befand sie sich in der Linie 18 vom Kölner Hauptbahnhof Richtung Barbarossaplatz. Auf der Sitzbank hinter ihr hing der Penner, der so oft in dieser Linie um Geld bat – besinnungslos, in seinen eigenen Fäkalien sitzend. Die anderen Passagiere waren ausgestiegen oder in den vorderen Teil der Bahn geflüchtet. Nur Smilla war sitzen geblieben und hatte den Gestank ausgehalten.
Als sie den gröbsten Schmutz von Edwins Haut entfernt hatte, sah sie, wie breit der Spalt war, den der Hund in sein Fleisch geschlagen hatte. Es war nicht bloß der Abdruck eines Raubtierkiefers. Die Wunde klaffte weit auseinander. »Das muss genäht werden«, sagte sie und ließ das Tuch sinken. »Ich hole Nähzeug.«
Sie stand auf und lief zurück in den Bunker.
»Ist die Wunde schon versorgt?«, fragte Karen verwundert, als Smilla durch die Tür zum Wohnzimmer kam.
»Sie muss genäht werden«, antwortete sie im Vorbeigehen. Sie hoffte, einer neuerlichen Welle des Ärgers zu entgehen, wenn sie schnell genug wieder außer Sicht war.
Als Smilla mit Nadel und Zwirn zurück aus der Vorratskammer kam, stand Karen im Flur und versperrte ihr den Durchgang. »Ist die Wunde tief?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.
»Ja.«
Karen warf einen Seitenblick zu Lars, der noch immer in seinem Sessel saß und zufrieden ins Kaminfeuer starrte. Dann seufzte sie und sagte: »Nun bring ihn schon rein. Du kannst in der Dunkelheit doch keine Wunde nähen.«
»Okay«, sagte Smilla erleichtert, »danke.«
»Er hat zu danken.«
Eilig stopfte Smilla Nadel und Zwirn zu der Mullbinde in ihrer Jackentasche und lief zurück zu Edwin.
»Du kannst reinkommen«, sagte sie außer Atem, als sie bei ihm ankam.
»Bist du sicher?«
»Ja, hier draußen sehe ich nicht genug.« Sie bückte sich nach der Plastikschüssel und dem Stück Laken, während Edwin schwerfällig seine Hose wieder hochzog.
Diesmal folgte Edwin ihr in die Finsternis des Quartiers. Vielleicht hatte er realisiert, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb. Vielleicht hatte er aber auch beim Anblick von Salbe und Mullbinde erkannt, dass Smilla ihm wirklich nur helfen wollte.
»Hier rechts«, leitete sie ihn an, als sie an die Stelle kamen, wo sich der Flur t-förmig spaltete. »Und hier ist noch eine Treppe, sechzehn Stufen.«
»Wie habt ihr diesen Ort gefunden?«, fragte er. Sie hörte seinen Arm tastend an der Wand entlang streifen, seine unregelmäßigen Schritte auf dem Betonboden.
»Die meisten aus meiner Gruppe kommen aus der Gegend. Den Bunker hatten sie lange vor der Plage bei einem Ausflug entdeckt. Als die Plage ausbrach, haben sie sich aus Angst hierhin zurückgezogen.«
Sie gelangten an die Barrikade aus Schutt.
»Das könnte jetzt schwierig werden«, kündigte Smilla an und kletterte zu dem falschen Stein hinauf. Sie stellte die Plastikschale mit Wasser ab und stieg zurück, um Edwin zu helfen. Er musste sich auf den Hintern setzen und rückwärts durch das Loch robben. Auf der anderen Seite angekommen, brauchte er Smilla als Stütze, um die Stufen wieder herabzusteigen. Sie warf ihm einen heimlichen Blick zu, als sie auf festen Boden gelangten. Auf seiner Stirn stand Schweiß und er wirkte ausgelaugt.
Als sie mit ihm das Wohnzimmer betrat, hatten sich die anderen hinter dem Esstisch zu einem kriegerischen Begrüßungskomitee aufgereiht. Lars hatte seine Jagdmütze aufgesetzt, Karen die Arme vor der Brust verschränkt, Sarah ihre Haare zurückgebunden, Marie ihren Rosenkranz in den Fingern und Jera den lächerlichen Speer unter ihrem Bett hervorgeholt, an dem sie jeden Abend herumschnitzte. Nur Giorgio hatte sich keine Mühe gegeben, stärker oder härter auszusehen, als er war. Er saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln.
»Das ist Edwin«, sagte Smilla und versuchte, gelöst zu klingen.
»Guten Abend.« Edwin vollführte die knappe Verbeugung, die er auch schon ihr gewidmet hatte. »Und danke für eure Gastfreundschaft.«
»Nichts zu danken«, sagte Karen. Sie griff hinter sich und holte eine Flasche hervor, die stark nach Schnaps aussah. »Wenn Sie genäht werden müssen, sollten Sie sich vorher etwas Mut antrinken.« Sie stellte ein Glas auf den Tisch und goss zwei Fingerbreit braune Flüssigkeit ein.
»Das ist doch nicht nötig«, sagte Edwin und winkte ab.
»Doch, glauben Sie mir, ist es.« Sie kam um den Tisch herum und reichte ihm den Schnaps. In derselben Bewegung nahm sie ihm die Kaninchenkeule ab. »Die schmeckt gekocht besser.« Dann ging sie zurück zur Anrichte.
Edwin schwenkte seinen ungekühlten Drink und roch daran, bevor er ihn in einem Zug hinunterkippte.
»Setz dich«, sagte Smilla und wies auf einen der Küchenstühle. Edwin tat, wie ihm geheißen.
»Hast du das Desinfektionsspray?«, fragte Karen über ihre Schulter.
»Nein, nur die Jodsalbe.«
»Marie, hol Smilla das Desinfektionsspray. Wenn wir schon Notarzt spielen, dann richtig.«
Mit einem kurzen Nicken verschwand Marie in Richtung Vorratskammer.
Smilla zog sich einen Stuhl heran und ließ sich vor Edwin darauf nieder. Jera und Giorgio traten hinter sie, während Sarah und Lars das Geschehen von der anderen Seite des Tisches verfolgten.
»Zeig mal deine Wunde«, forderte Jera gierig.
Edwin klappte das zerrissene Stück Jeans zur Seite.
»Wow«, murmelte Jera. »Hat das weh getan? Also, so richtig weh getan?«
»Absolut«, sagte Edwin und zwinkerte Jera zu.
»Wie ist das passiert? War das etwa ein Wolf? Es sieht nach einem Wolf aus.«
»Ein Hund«, antwortete Smilla für Edwin. »Du musst die Hose ein Stück runterziehen, sonst kann ich nicht vernünftig nähen.«
Diesmal protestierte Edwin nicht.
Sie hörte, wie Lars sich angestrengt räusperte, als die Wunde ganz zum Vorschein kam. Er konnte Hühnern den Kopf umdrehen und ohne mit der Wimper zu zucken Kleinwild ausnehmen, aber von Menschenblut wurde ihm flau.
»Das gibt bestimmt eine coole Narbe«, meinte Jera und lehnte sich näher zu Edwin. »Ich habe auch Narben, willst du mal sehen?«
In diesem Moment kam Marie aus der Vorratskammer zurück und stellte das Desinfektionsmittel neben Smilla auf den Küchentisch.
»Jera, du nervst«, sagte Smilla zu ihrer kleinen Schwester. »Hilf mir lieber, vielleicht lernst du ja sogar was dabei.«
Jera kniete sich auf den Boden zwischen Edwin und Smilla. »Du hast es zuerst sauber gemacht, ja?«, fragte sie und Smilla nickte.
»Jetzt desinfizierst du es?«
»Genau.«
»Guck, ich weiß das alles schon«, sagte Jera zu Edwin. »Meine Schwester hält mich für blöd.«
»Oh, das haben Schwestern so an sich.«
»Hast du auch eine Schwester?«
Edwin sog scharf die Luft ein, als Smilla das Desinfektionsspray in seine Wunde sprühte.
»Ja, vier sogar«, antwortete er mit zusammengepressten Zähnen.
»Vier Smillas«, murmelte Jera, »da würde ich verrückt werden!«
Giorgio lachte trocken. »Und Karen erst.«
Nachdem Smilla Edwins Wunde genäht, mit Jodsalbe eingecremt und verbunden hatte, war er kaum mehr ansprechbar. Seine Lippen hatten einen fahlen Ton angenommen, sein Blick war neblig. Lars und Giorgio mussten ihn zur Couch tragen, da er zweimal beinahe vom Stuhl gesackt wäre.
Jera setzte sich vor die Couch und nutzte Edwins Wehrlosigkeit aus, um ihm allerlei Geschichten zu erzählen, die Smilla und die anderen schon etliche Male gehört hatten. »Einmal, da war ich drei oder so, da saß ich hinten auf dem Fahrrad von meiner Mama und mein Bein ist in die Speichen gekommen …« Ab und zu brummte Edwin erstaunt oder zustimmend, obwohl Smilla bezweifelte, dass er ihr folgen konnte.
»Meinst du, er überlebt die Nacht?«, flüsterte Giorgio nahe an Smillas Ohr. Sie saßen vor dem Kaminfeuer und passten auf, dass Karens Kanincheneintopf nicht anbrannte.
Smilla nickte. »Er ist bloß erschöpft und jetzt, wo er in Sicherheit ist, holt ihn das ein. Nach einer richtigen Mahlzeit und einer Nacht Schlaf wird er wieder bei Kräften sein.«
Giorgios braune Augen wanderten unbehaglich in Edwins Richtung und er nickte. »Ich weiß noch, wie ich auf dieser Couch lag und von Jera beschallt wurde.«
»Ja, ich habe auch gerade daran gedacht«, gestand Smilla, »ein Jahr ist das schon her.«
Eine Weile starrten sie schweigend ins Feuer. »Glaubst du, sie sind noch immer dort?«
»Warum sollten die Verlorenen Jungs Vogelsang aufgegeben haben? Du hast doch selbst gesagt, dass sie es mit viel Aufwand zu einer uneinnehmbaren Festung gemacht haben.«
»Ja, schon, aber ich habe seit der Sache mit Anna nie wieder einen von ihnen gesehen.«
Smilla nahm den Holzlöffel vom Teller neben sich und rührte den Eintopf um.
»Das ist doch gut. Dann scheinen sie bis heute keinen Schimmer zu haben, dass du überlebt hast.«
Giorgio hielt den Blick aufs Feuer gerichtet, aber sein Fokus driftete in weite Ferne ab. »Ich habe schon wieder von ihr geträumt.«
Smilla wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also rührte sie weiter im Eintopf. Sie redete nicht gern über Anna, denn es tat weh. Sie war die einzige in der Gruppe gewesen, die wirklich ihre Freundin gewesen war.
Giorgio seufzte. »Ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, ob es irgendwie anders hätte enden können, wenn ich nur –«
»Du wolltest ihr helfen«, unterbrach Smilla ihn. Die Schuld kam immer wieder über ihn und sie wusste nicht, was sie sagen konnte, um sein Gewissen zu erleichtern. Sie wusste nicht einmal mit Sicherheit, ob sie das überhaupt konnte. Ja, Giorgio hatte Anna nur helfen wollen. Aber am Ende war sie dabei ums Leben gekommen.
»Und wenn ich schon nicht aufhören kann, darüber nachzudenken, wie geht es dann wohl erst Karen und Lars … und Marie … und Sarah. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich rausschmeißen, weil ich … weil ich …«
Smilla griff nach Giorgios Hand. »Hör auf damit«, sagte sie und blickte ihm tief in die Augen. »Du musst damit aufhören.«
Er schluckte, dann nickte er.
»Was macht der Eintopf?« Karen kam zu ihnen und beugte sich zum Kamin herab.
»Sieht gut aus«, antwortete Smilla.
»Hast du schon probiert, ob die Kartoffeln durch sind?«
»Nein.«
Karen nahm den Löffel aus Smillas Hand und fischte ein Stück Kartoffel aus dem Topf. Sie biss hinein und reichte die andere Hälfte Giorgio. »Was meinst du?«
Er nahm es entgegen, pustete und steckte es in den Mund. Dann reckte er den Daumen in die Luft. »Ist durch, schmeckt super.«
»Danke«, sagte Karen und lächelte. Sie ging zurück in die Kochecke und holte Teller aus dem Hängeschrank.
»Jap, sie scheint kurz davor, dich rauszuschmeißen«, sagte Smilla und grinste Giorgio an. Sie griff nach dem Topflappen, der an einem Haken neben dem Kamin hing, und zog den Kessel in seiner Halterung nach oben, damit der Eintopf aufhörte zu kochen.
Giorgio machte ein unglückliches Geräusch. »Es will mir einfach nicht aus dem Kopf.«
»Das ist doch gut so. Das zeigt, dass du nicht wie die anderen Verlorenen Jungs bist«, antwortete Smilla. Dann stand sie auf.
»Giorgio, du kannst gleich da drüben bleiben und uns allen Eintopf auftun«, rief Karen ihnen zu. »Marie, bring ihm die Teller.«
Smilla ging zu Edwin, der mittlerweile wieder etwas mehr Farbe hatte und Jeras Geschichten nun mit größerer Aufmerksamkeit lauschte.
»Wir hatten ein Meerschweinchen, das hieß Pegasus, aber das ist weggelaufen.«
»Komm, Jera«, unterbrach Smilla sie, »hilf Giorgio beim Essenverteilen.«
Jera stand ohne Widerworte auf und lief zu Giorgio.
Smilla mochte die Geschichte von Pegasus nicht. Er war nicht weggelaufen. Ihre Mutter hatte ihn einige Wochen nach Ausbruch der Plage gekocht, weil ein bewaffnetes Paar Ende vierzig ihre gesamten Vorräte gestohlen hatte. Smilla war wütend gewesen und hatte die erste vernünftige Mahlzeit seit Tagen nicht angerührt. Sie hatte kein Wort mehr mit ihrer Mutter gewechselt. Dann war sie krank geworden und innerhalb weniger Stunden gestorben.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie Edwin.
»Schlechter, als ich erwartet habe.«
»Kannst du aufstehen? Es gibt Essen.«
Edwin zog sich an der Sofalehne in eine aufrechte Position. Dann holte er mit seinem Oberkörper Schwung und stand auf. Smilla reichte ihm den Arm und er hakte sich ein. Er wirkte um ein Dutzend Jahre älter als noch vor kaum einer Stunde.
Lars, der Edwins bedächtigen Gang zum Esstisch verfolgte, schien das gleiche durch den Kopf zu gehen und er fragte: »So, wie kommt’s, dass Sie ganz allein durch die Eifel wandern? Würd mich jemand fragen, würd ich behaupten, Sie sind lebensmüde.«
»Ich bin auf dem Weg nach Brüssel«, sagte Edwin und ließ sich auf dem Stuhl nieder, auf dem Smilla ihn genäht hatte. Es klebte frisches Blut daran.
»Brüssel? Das ist aber noch ein langer Weg.«
»Ich komme von Bayreuth. Umkehren lohnt sich jetzt auch nicht mehr.« Edwin grinste schief.
Jera brachte die ersten Teller mit dampfendem Eintopf. Einen stellte sie vor Lars, den anderen vor Edwin. »Was ist Brüssel?«, fragte sie.
»Eine wunderbare Stadt«, antwortete Edwin und Smilla sah, dass ein Leuchten in seine Augen trat.
»Dort bauen sie alles wieder auf.« Das Gespräch, das Smilla bereits im Wald mit Edwin geführt hatte, wiederholte sich und sie spürte, dass die anderen Gruppenmitglieder ebenfalls skeptisch waren, ob die Geschichte, die Edwin gehört hatte, zu glauben war.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Edwin, der mit dieser Art von Gespräch schon Erfahrung zu haben schien. »Dass irgendwo angeblich alles zum Alten zurückkehrt, habt ihr sicherlich schon zigmal gehört.«
Giorgio zuckte die Schultern, ohne den Blick von seinem Eintopf zu heben, Sarah und Marie nickten knapp. Lars zeigte keine Regung, während Karen Edwin mit gerunzelter Stirn taxierte.
»Aber der Mann, der es mir erzählt hat, kam schließlich selbst aus Brüssel. Es war nicht nur Hörensagen, sondern ein Bericht aus erster Hand.«
»Es könnte eine List gewesen sein«, meinte Karen, »um Menschen anzulocken. Vielleicht steckt die Sekte, eine Räuberbande oder ein Kannibalenring dahinter.«
»Oder es war blödes Gerede, um sich interessant zu machen«, grummelte Lars. »Und nur mal angenommen, in Brüssel liefe das Leben auch nur etwas geregelter als woanders – warum sollten die der ganzen Welt davon erzählen? Damit würden sie doch nur Tür und Tor für alles Üble da draußen öffnen.«
»Richtig. Aus diesem Grund haben wir ja auch die Regel aufgestellt, niemandem von unserem Quartier zu erzählen. Wir haben es gut hier und so soll es auch bleiben«, sagte Karen.
Smilla wusste, dass dies eine Spitze gegen sie war. Aber sie fand die Vorstellung ermutigend, dass es in nicht allzu weiter Ferne einen Ort gäbe, an dem die Menschen in Harmonie, Sicherheit und Wohlstand miteinander lebten. Sie konnten schließlich nicht ewig in einem Loch in der Erde ausharren. Das musste Karen ebenfalls klar sein.
»Der Markt in Monschau funktioniert doch eigentlich nach dem gleichen Prinzip«, gab sie also zu bedenken. »Viele Menschen profitieren von dem, was die jeweils anderen anbieten und deshalb kommt keiner auf die Idee, den Markt durch Überfälle oder Ähnliches zu gefährden.«
Karen sah von ihrem Teller auf und sagte mit unerwarteter Heftigkeit: »Das ist nicht das Gleiche, Smilla. Es ist bloß ein Markt und kein neues System. Am Ende des Tages kehren alle wieder in ihre Quartiere und Verstecke zurück und leben ihr eigenes Leben.« Sie wandte sich wieder ihrem Eintopf zu. »Egal, was in Brüssel ist oder nicht ist – wir haben ein Dach über dem Kopf, Essen im Bauch und auch sonst alles, was wir zum Überleben brauchen. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«
So war es immer. Jedes Gerücht über einen besseren Ort, jede gewagte Idee für die Zukunft der Gruppe wurde im Keim erstickt, bevor sie übermächtig werden und für Unruhe sorgen konnte. Das war nur zu ihrem Besten. Aber nicht immer fühlte es sich danach an.
Unangenehm berührt kratzte Edwin sich das Kinn. Es war sicherlich nicht angenehm, erst von Fremden verarztet und verpflegt zu werden, nur um dann für Streit zu sorgen. Mit einem kleinen Lächeln in seine Richtung versuchte Smilla, sein Unwohlsein aufzufangen.
Niemand sagte mehr ein Wort und in unbehagliches Schweigen gehüllt leerten sie ihre Teller. Nach dem Essen wurde Edwin auf der Couch einquartiert, Giorgio musste auf den Teppich vor dem Kamin ausweichen. Karen und Lars verabschiedeten sich mit einem knappen »Gute Nacht« und auch Marie, Sarah, Jera und Smilla zogen sich in das Zimmer zurück, das sie sich zu viert teilten.
Als Smilla und Jera in die Gruppe aufgenommen worden waren, hatten sie den Raum mit Teppichen und alten Laken zweigeteilt. Hinter dem behelfsmäßigen Raumtrenner befanden sich Maries und Sarahs Betten, davor Smillas und Jeras. Marie war erst zwölf und verstand sich so gut mit Jera, dass es dieser sogar zu gefallen schien, sich das Zimmer mit ihr zu teilen. Smilla hingegen hatte nie wirklich aufgehört, sich unwohl mit diesem Arrangement zu fühlen. Marie war dabei nicht das Problem und auch mit Anna, die bis vor einem Jahr ebenfalls das Zimmer mit ihnen geteilt hatte, war sie sehr gut ausgekommen. Mit Sarah hingegen hatte sie sich nie anfreunden können. Sie war drei Jahre älter als Smilla und wirkte in ihrer stillen Distanziertheit wie eine große Schwester, die man immer störte oder nervte, egal, was man tat.
Marie und Sarah verschwanden mit gemurmelten Gute-Nacht-Wünschen auf ihre Seite des Teppichs und Smilla ließ sich erschöpft auf ihr Bett sinken. Sie nahm einen jungen Eichenzweig aus einem Glas in ihrem Regal und zerkaute ihn an einem Ende. So stellte sie jeden Abend eine behelfsmäßige Zahnbürste her. Die Idee hatte sie aus einer Dokumentation, die sie sich mit ihrem Vater angesehen hatte. Laut dieser war Karies erst zu einem Problem geworden, als die Menschen angefangen hatten, Getreide anzubauen. Die Kohlenhydrate aus dem Getreide waren nichts anderes als Zucker und der griff den Zahnschmelz an. Oder so ähnlich. Auch wenn sie sich nicht mehr so sehr um ein gepflegtes Äußeres scherte wie vor der Plage – faulige Zähne wollte Smilla um jeden Preis vermeiden.
»Muss ich noch lesen üben?«, fragte Jera, ebenfalls einen Eichenzweig im Mundwinkel, und warf einen flüchtigen Blick auf die Bücher, die sich auf ihrem Nachttisch stapelten.
»Nein, schon gut«, sagte Smilla. Sie sägte das benutzte Ende des Zweigs mit Giorgios Jagdmesser ab und warf es in den Nachttopf. Sie gähnte, schlüpfte aus ihren Schuhen und verkroch sich unter ihrer Decke. »Aber morgen wieder«, fügte sie dann hinzu und hoffte, streng zu klingen.
»In Ordnung«, antwortete Jera.
Müde blinzelnd sah Smilla ihr dabei zu, wie sie ins Bett schlüpfte. Jera sträubte sich mit aller Macht gegen Smillas Unterricht. Mathe lernte sie noch am liebsten, weil sie wusste, dass sie es irgendwann einmal für Verhandlungen auf dem Monschauer Markt benötigen würde. Auch die wenigen Dinge aus Biologie und Physik, an die Smilla sich noch erinnerte, nahm sie interessiert auf. Aber Lesen, Schreiben, Englisch – wer brauchte das schon? Wenn es nach Jera gegangen wäre, niemand. Aber für Smilla waren diese Fähigkeiten der einzige Weg, der verlässlich zurück in die Zeit vor der Plage führte. Jera diese Dinge nicht beizubringen, wäre einem Verrat an ihrer Vergangenheit gleichgekommen.
Sie lagen sich gegenüber und schauten sich an. »Ich mach das Licht aus, ja?«, sagte Smilla dann.
Jera nickte. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Sie pustete die Talgkerze aus, die neben dem Bücherstapel auf dem Nachttisch stand. Dann schloss Smilla die Augen und entschwebte sofort in einen gedankenlosen Halbschlaf. Zu überleben war anstrengend.
Am nächsten Morgen begleitete Smilla Edwin bis zum Bunkereingang. Die anderen waren nicht mitgekommen, um sich von ihm zu verabschieden.
Im Licht des anbrechenden Tages warf Smilla noch einen Blick auf die Wunde. Das Fleisch war abgeschwollen und hatte aufgehört zu nässen. Nachdem Smilla die Mullbinde wieder festgesteckt hatte, machte Edwin sich unter stetiger Bekundung seiner Dankbarkeit auf den Weg nach Brüssel.
Als Smilla zurück ins Quartier kam, war bereits wieder alles so, als wäre Edwin überhaupt nicht da gewesen. Die Couch gehörte wieder Giorgio, die Blutstropfen waren vom Stuhl gewischt und Karen verteilte die Aufgaben für den bevorstehenden Tag.
2 Der Nachbar
Eine Woche war vergangen, seit Edwin bei ihnen übernachtet hatte und Karens Wut über Smillas »verantwortungsloses Verhalten« schien langsam abzuflauen. In den vergangenen Tagen hatte sie immer wieder gegen Smilla gestichelt oder ihr aus dem Nichts eine Standpauke gehalten. Jeden Tag aufs Neue hatte sie ihr die anstrengendsten und langweiligsten Aufgaben zugeteilt. Aber an diesem Tag schien ihr Ärger endlich verflogen zu sein, denn nach dem Mittagessen schickte Karen Smilla zum Angeln an die Urfttalsperre. Angeln war eine ihrer Lieblingsaufgaben. Sie konnte das Tageslicht sehen und wenn sie Glück hatte, auch Sonne auf ihrer Haut spüren. Sie konnte frische, klare Luft atmen und für ein paar Stunden den modrigen Geruch des Bunkers vergessen. Und wenn Giorgio mitkam, dann hatte sie sogar jemanden zum Reden. Aber an diesem Tag war es nicht Giorgio, der ihr zugeteilt wurde, sondern Jera. Das war wohl Karens Art, Smilla wissen zu lassen, dass noch nicht alles vergeben und vergessen war. Zwar verbrachte Smilla unheimlich gerne Zeit mit ihrer kleinen Schwester. Aber unten am See, so weit entfernt vom Schutz des Bunkers, konnte sie die Zeit mit ihr nicht genießen. Wenn Jera jemals etwas zustieße … sie konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken.
Nach dem Essen holte Smilla ihre Schuhe unter ihrem Bett hervor und griff nach ihrem Mantel und ihrem Rucksack. Sie würde bald einen neuen brauchen, aber dieser hier hatte ihrem Vater gehört und sie brachte es nicht über sich, ihn wegzuwerfen. Sie stellte sich das Gesicht ihres Vaters vor, wenn sie ihn fanden und ihm seinen weinroten Rucksack mit den vielen Fächern übergeben konnten. Ihre Mutter hatte ihm diesen Rucksack auf seinen Wunsch hin zu Weihnachten geschenkt. »Ich weiß gar nicht, was du mit so vielen Fächern willst«, hatte sie damals noch gesagt und ihm schulterzuckend das bunte Päckchen überreicht. Und tatsächlich hatten die Taschen in der Familie oftmals für Diskussionen und Verwirrung gesorgt. Immerzu bestand Unklarheit darüber, ob das vorderste Fach dasjenige war, das direkt am Rücken anlag, oder das, das vom Körper weg zeigte. Smilla lächelte. Ihre Eltern vermisste sie mehr als alles andere.
Sie schlüpfte in ihre Schuhe und verstaute eine Flasche Wasser im Rucksack ihres Vaters. Für Jera packte sie eines der Bücher von ihrem Nachttisch ein. Beim Angeln würden sie viel Zeit haben, Lesen zu üben.
Jera wartete im Wohnzimmer bereits auf sie. »Da bist du ja endlich, du lahme Schnecke«, rief sie, als Smilla in den Raum trat. Dann krochen sie hintereinander durch den falschen Schutthaufen und stiegen die Treppen zum Ausgang hinauf. Zwischen den Kulissenhäusern winkten sie Sarah und Marie zum Abschied, die auf dem Weg zum Hühnerstall waren, um ihn zu säubern und die Eier einzusammeln. Den Hühnerstall hatte Lars angelegt. Er war ein hervorragender Heimwerker. Mit Plexiglas, Pappe und Isolierschaum hatte er die Fenster des Hühnerstalls beinahe schalldicht bekommen. Nur, wenn man direkt vor dem augenscheinlich verlassenen und mit Brettern vernagelten Haus stand, konnte man ab und an ein besonders laut zeterndes Huhn oder den gelegentlichen Hahnenschrei vernehmen. Über die Jahre hatte Lars alle möglichen Vorrichtungen und Apparate entwickelt, die ihnen das Leben erleichterten. Neben dem Hühnerstall gab es so inzwischen weitere Räume und Dachterrassen, wo sie Gemüse anbauten und im Sommer unbeobachtet und unbesorgt Zeit verbringen konnten. Außerdem hatte Lars ein Rohr mit Filteraufsatz in den Bunker geleitet, sodass immer frisches Wasser verfügbar war. Auch die zahlreichen Fallen, die sie überall im Wald aufgestellt hatten, hatte er geplant und gebaut. Allerdings waren Fallen, insbesondere solche, in denen etwas gefangen worden war, für alle Fremden ein klares Zeichen, dass sich jemand in der Umgebung aufhielt. Mehrmals waren die Schlingen und Kisten, genau wie die Beute, die sie darin gefangen hatten, sogar geklaut worden. Aus diesem Grund hatten sie die Fallen schließlich aufgegeben. Sie passierten die Kirche Sankt Rochus mit den Informationstafeln, die über die Geschichte des Gebäudes und des Dorfes berichteten. Karen hatte vorgeschlagen, die Schilder abzubauen. Sie befürchtete, dass sie das Interesse von Nomaden oder Reisenden wecken und im schlimmsten Fall zur Entdeckung des Quartiers führen würden. Aber Smilla hatte sie wieder von dieser Idee abgebracht. Sie mochte die Tafeln. Ihr gefiel der Gedanke, dass hier bis vor wenigen Jahren friedliche Wanderer angehalten hatten, um etwas über Wollseifen zu erfahren. Manchmal las sie die Texte, wenn sie vom Jagen, Sammeln oder Angeln kam. Dann stellte sie sich vor, sie selbst sei nur ein friedlicher Wanderer, der in ein paar Stunden in den Zug steigen und zurück nach Hause fahren würde.
Hinter der Kirche überquerten sie den einst breiten Wanderweg, der zu einem unwegsamen Pfad zusammengeschrumpft war, und schlüpften ins Dickicht. Es waren erst vier Jahre vergangen, seit die Plage die Welt für immer verändert hatte. Aber mehr hatte es nicht gebraucht, um die Hochfläche und ihre Wanderwege in einen jungen Urwald zurückzuverwandeln: Kleine Buchen, Eichen und Fichten drängten sich vom Waldrand her immer weiter in die Wiesen, auf denen einst Schafe gegrast und Truppen geübt hatten.
Ein schmaler Wildpass führte Smilla und Jera über die Hochfläche und in einen Tannenwald. Hier waren die Bäume älter und größer und standen nicht so eng beieinander. Der Waldboden war nur von Tannennadeln und hier und da von moosigen Gesteinsbrocken bedeckt, sodass sie schneller vorankamen.
Sie gingen im Stechschritt nebeneinander her, ohne ein Wort zu sprechen. Smilla redete nicht gerne, wenn sie draußen im Wald waren. Es konnte die Aufmerksamkeit von Feinden auf sie ziehen. Außerdem wollte sie so schnell wie möglich zu der kleinen Bucht gelangen, in die um diese Zeit Sonnenlicht fiel.
Nach einer guten Dreiviertelstunde gelangten sie an das Ufer der Urfttalsperre. Zu Smillas großer Freude hatte die Sonne Dunst und Wolken vertrieben und schien glitzernd auf die Wasseroberfläche. Die Luft war zwar noch kalt, aber vielleicht würde es im Laufe des Nachmittags warm genug werden, sodass sie den Mantel ausziehen und sich ein wenig sonnen können würde.
Schweigend legten sie ihr Gepäck ab, brachten die Köder an den Angelruten an und warfen sie aus. Dann setzten sie sich ins Laub und warteten. Nach einer Weile, in der kein ungewöhnliches Geräusch aus dem Wald hinter ihnen erklungen war und Smilla anfing, sich etwas sicherer zu fühlen, holte sie das Buch für Jera aus ihrem Rucksack und reichte es ihr.
Jera machte eine unglückliche, fast angewiderte Miene, nahm das Buch aber entgegen. »Peter und der Wolf«, las sie langsam und angestrengt vor.
Smilla nickte.
»Ich will aber nicht lesen üben. Kann ich nicht später?«
»Nein. Du hast gestern schon nicht geübt.«
»Du hast gestern selbst gesagt, ich muss nicht üben!«, protestierte Jera.
»Ja, und heute sage ich, du musst.«
Jera zog einen Schmollmund.
»Wenn du fertig bist, lese ich dir aus Harry Potter vor.«
Da erhellte sich Jeras Miene. Bereitwillig schlug sie das Buch auf und fing holprig an zu lesen. Die Sonne hatte Smillas Mantel inzwischen so stark aufgeheizt, dass sie anfing, darin zu schwitzen. Sie entledigte sich des Mantels und krempelte die Ärmel ihres Oberteils hoch.
Nach den ersten fünf Seiten – für die Jera eine gefühlte Ewigkeit gebraucht hatte – biss der erste Fisch an. Er war klein und hatte rötliche Flossen. Aus Erfahrung wusste Smilla, dass diese Fischart furchtbar viele Gräten hatte. Aber in der Welt nach der Plage konnte man nicht wählerisch sein. Sie löste den Fisch vom Angelhaken und warf ihn in den mit Wasser gefüllten gelben Plastikeimer neben sich. Wenig später biss ein weiterer Fisch an, eine Seeforelle.
»Kann ich jetzt aufhören?«, murrte Jera, die sich zuvor schon über ihren fusseligen Mund beschwert hatte.
»Na gut, meinetwegen«, antwortete Smilla, während sie die Seeforelle in den Eimer gleiten ließ.
Jera schlug das Buch mit einem Seufzer zu und verstaute es in Smillas Rucksack. »Glaubst du, Papa ist in Brüssel?«
Die Frage traf Smilla unvorbereitet und einen Augenblick lang war es ihr unmöglich, etwas zu denken oder zu sagen. Jera fragte nicht oft nach ihren Eltern, wahrscheinlich weil sie einfach kaum Erinnerungen an Davor hatte. Sie war erst fünf gewesen, als die Plage ausgebrochen war. Nicht selten wünschte Smilla sich, jemanden in ihrem Alter zu haben, mit dem sie über früher reden konnte – über ihr Haus in Köln-Zollstock, über ihre Eltern, über ihre Freunde und Nachbarn, über eine Zeit, in der alles auf wundersame Weise in Ordnung gewesen war. Es hätte das Danach erträglicher gemacht. Aber so war es, als wäre die warme Erinnerung an früher nicht mehr als ein Traum, von dem man nur noch die Hälfte wusste. Es tat weh, Jera davon zu erzählen und sich jedes Mal ein bisschen schlechter an alles erinnern zu können. Es tat weh, dass es niemanden gab, der die Erinnerung mit ihr zusammen am Leben erhalten konnte.
»Ich glaube nicht«, meinte Smilla und versuchte, den plötzlichen Schmerz der Sehnsucht nicht in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen.
»Warum nicht?«
»Ich denke, wenn er Calais verlassen hat, dann, um zurück nach Köln zu gehen und uns zu suchen.«
»Warum sind wir dann aus Köln weggegangen? Vielleicht ist er jetzt da und wartet auf uns!«
»Weil er nicht gekommen ist und wir in Köln nicht mehr sicher waren.«
»Warum nicht?«
»Jera, das haben wir doch alles schon tausendmal besprochen. Du bist echt zu alt für die ewigen Warum-Fragen!«
»Bin ich nicht!«, rief Jera wütend.
Instinktiv legte Smilla einen Finger an die Lippen und bedeutete Jera so, ihre Stimme zu senken.
»Ich muss dauernd fragen, weil du nie gute Antworten gibst!« Sie ballte ihre kleinen Fäuste und funkelte Smilla wütend an.
»Tut mir leid, Jera«, sagte Smilla gedämpft und hoffte, ihre Schwester dadurch besänftigen zu können. Der See trug ihre lauten Stimmen bis ans andere Ufer. Und wenn sie hier von Fremden entdeckt wurden, würde es schlecht für sie aussehen. Die verwinkelten Verstecke Wollseifens und die Sicherheit des Quartiers waren weit entfernt.
»Nein, tut’s dir nicht!«, schrie Jera.
Ein Trotzanfall – war sie dafür nicht eigentlich auch schon zu alt? Oder war Smilla einfach zu schlecht darin, Jera zu erziehen?
Sie legte ihrer Schwester eine Hand aufs Knie, die sie sofort wegschlug. »Es tut mir wirklich leid, Jera. Ich wünschte, ich hätte bessere Antworten auf deine Fragen, aber ich habe sie nicht.«
Jera verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich demonstrativ ab. »Dann tu auch nicht so, als wüsstest du immer alles besser«, brummte sie. Immerhin schrie sie nicht mehr.
»Ich denke gar nicht, dass ich immer alles besser weiß. Und wenn es dir hilft: Ich habe auch Fragen, die mir niemand beantworten kann. Viele sogar«, sagte Smilla und seufzte. Ihr Blick wanderte über den See. Sonnenstrahlen brachen sich auf der Wasseroberfläche. Ein sanfter Wind raschelte in den Baumwipfeln über ihnen. Es war so friedlich, dass man fast vergessen konnte, dass sie zwei der letzten Menschen auf dieser Welt waren. Waren sie dem Untergang geweiht, oder fing die Menschheit noch einmal von vorn an? Hier oben in der Sonne konnte sie Letzteres glauben. Unten im Bunker nur Ersteres.
Sie wandte sich Jera wieder zu, um etwas Aufmunterndes zu sagen, doch Jeras Augen waren in den Wald hinter ihr gerichtet, ihr Mund vor Erstaunen leicht geöffnet.
»Was –«, setzte Smilla an und wandte sich in die Richtung, in die Jera blickte, aber da hörte sie es schon selbst.
Stimmen.
»Das kam von hier drüben. Mindestens zwei Frauen, vielleicht auch Kinder«, sagte eine klare Frauenstimme.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Jera. Sie war aufgesprungen.
Bedächtig stand Smilla auf und sah sich um. Auf der einen Seite die Urft; auf der anderen der Wald, aus dem sich ihnen jemand näherte. Es gab keinen geschützten Fluchtweg. Oder erkannte sie ihn nur nicht? Die Angst, die sie erfüllte, schien ihre Sinne zu schärfen, aber ihr Denkvermögen zu lähmen.
Kurzentschlossen griff Smilla nach dem Eimer mit den Fischen und gab Jera einen Stoß. Geduckt eilten sie am Ufer entlang.
»Los, los, los«, spornte sie sich und Jera zischend an. Ihre beste Chance war, sich so schnell wie möglich zu entfernen und auf den dichter bewachsenen Waldhang abzubiegen. Dort würden die Fremden sie schlechter ausmachen können.
»Da!«, rief die Frauenstimme und Smilla wusste sofort, dass sie es diesmal nicht mit hilfsbedürftigen Reisenden zu tun hatte.
»Mayhem, fass!«, ertönte die Stimme eines Mannes.
Smilla warf einen Blick über die Schulter und sah ein schwarzes Ungetüm am Ufer entlang preschen. Die Angst, die eben nur ein dumpfes Pochen gewesen war, wurde übermächtig. Sie fuhr in ihre Glieder und ließ Smilla schneller laufen.
»Dreh dich nicht um!«, schrie sie Jera zu. Sie ließ den Eimer fallen, packte den Arm ihrer Schwester und rannte, so schnell sie konnte. Jeras Beine konnten kaum mithalten, aber Smilla zog sie mit sich.
Dann stieß etwas mit voller Wucht in ihren Rücken und sie wurden nach vorn geschleudert. Smillas Kopf schlitterte über das steinige Ufer und sie spürte, wie ihre Haut aufriss. Jera überschlug sich und blieb vor ihr liegen. Dann grub sich ein spitzer Schmerz in ihre linke Schulter und ihr entfuhr ein Schrei, den sie ihrer Kehle nie zugetraut hätte. Jera schrie mit ihr. Jera. Sie musste für Jera sorgen.
»Lauf!«, brüllte sie ihre Schwester an, die fassungslos vor ihr kauerte und das anstarrte, was seine Pranken in Smillas Rücken drückte und sich in ihrer Schulter verbissen hatte.
»Lauf, Jera!«
Jera sprang auf. Smilla sah die Angst in ihren Augen, sah ihre Unschlüssigkeit. Doch dann wandte sie sich um und sprintete los.
»Ich hol mir die Kleine!«, rief die Frauenstimme und zu ihrem Grauen sah Smilla keine zwei Sekunden später ein Paar schlanker, schneller Beine an sich vorbei rauschen.
Sie versuchte, sich zu drehen, nach dem Raubtier in ihrem Rücken zu schlagen, das Messer in ihrem Holster zu erreichen. Aber das Gewicht ihres Angreifers lastete zu schwer auf ihr, seine Kiefer waren zu fest geschlossen. Sie hörte sein kehliges Knurren in ihrem Ohr. Sein Atem stank nach Verwesung.
»Mayhem, aus«, sagte der Mann hinter ihr.
Augenblicklich ließ der Hund von ihr ab. Smilla sprang auf und wirbelte herum. Vor ihr stand eine hochgewachsene Gestalt, daneben ein hechelnder schwarzer Hund mit blutverschmierter Schnauze. Flucht war keine Option, das begriff Smilla. Sie würde kämpfen müssen. Mit dem unversehrten Arm zog sie das Messer aus ihrem Holster. »Ich töte euch beide!«, fauchte sie, die Klinge vor sich ausgestreckt.
Der Hund legte neugierig den Kopf schief und der Mann runzelte die Stirn.
»Smilla?«, fragte er.
Der Klang ihres Namens aus seinem Mund ließ sie erstarren. Für einen Moment vergaß sie das Messer in ihrer Hand und die Bisswunde in ihrer Schulter. Sie vergaß sogar Jera, die in diesem Augenblick vermutlich um ihr Leben rannte.
Smilla musterte ihr Gegenüber und suchte angestrengt nach etwas Vertrautem. Der Mann hatte dunkelblondes, struppiges Haar. Seine Augenbrauen waren zwei dunkle Schwünge. Seine braunen Augen standen eng beieinander, sodass er an ein Raubtier erinnerte. Die untere Hälfte seines Gesichts war von einem rotbraunen Bart verdeckt. Narben überzogen seine Haut. Sie war sich sicher, ihm nie zuvor begegnet zu sein. Woher auch immer er wusste, wer sie war – es konnte nichts Gutes bedeuten.
»Ich bin es, Falk!«, sagte der Mann. Er breitete die Arme aus und lächelte, als hätte er ihr nicht gerade eine stinkende, sabbernde Bestie auf den Hals gehetzt.
Smilla festigte den Griff um das Messer und ging in die Knie, bereit zuzustechen.
»Falk Posch!«
Bilder blitzten vor Smillas innerem Auge auf. Der schlaksige Nachbarsjunge, der dauernd seinen Fußball in den Garten ihrer Eltern schoss. Ein Schreibtisch, Bücher, sein wütendes Gesicht mit den ersten, zarten Barthaaren auf der Oberlippe.
»Dein Nachhilfeschüler!«
Langsam ließ Smilla das Messer sinken. Er war es.
»Der Bart ist neu. Die Narben auch.«
»Und der abgerichtete Köter auch«, sagte Smilla und deutete mit dem Messer auf den Hund. »Was willst du von uns?«
Sie warf einen Blick über die Schulter. Von Jera und der Frau gab es keine Spur.
»Hör zu«, sagte er und hob die Hände in einer entschuldigenden Geste. »Das ist ein Missverständnis. Wir haben euch mit jemandem verwechselt.«
»Das heißt, hier laufen noch zwei Mädchen rum, die es verdient haben, zerfleischt zu werden?«
»Niemand wollte irgendwen zerfleischen.«
»Was habt ihr mit uns vor?«
Falk machte einen Schritt auf Smilla zu, aber sie wich zurück und hob das Messer höher.
»Wir haben nichts mit euch vor, ich sagte doch, es liegt ein Missverständnis vor.«
»Seid ihr Kannibalen? Was machst du überhaupt hier?« Nervös warf sie einen erneuten Blick über die Schulter.
Falk gab ein kleines Lachen von sich. »Nein, Smilla, wir sind keine Kannibalen. Und ich bin hier, weil ich auf einem Ausflug in der Eifel war, als die Plage ausbrach.«
Unwichtig. Das alles war unwichtig, wurde ihr plötzlich klar. Warum gehörte ausgerechnet sie zu den Menschen, die in Angst kopflos wurden? »Die Frau – wird sie Jera weh tun? Sie darf ihr nichts tun!«
»Das wird sie nicht«, sagte Falk und machte noch einen Schritt in Smillas Richtung. »Sie wird sie bloß nach nützlichen Dingen durchsuchen. Vielleicht fesselt sie sie, wenn sie sich zu stark wehrt. Aber sie wird ihr nicht weh tun.« Er lächelte und irgendetwas daran irritierte Smilla.
»Versprochen«, sagte Falk.
Es war die Aufrichtigkeit in seinem Lächeln, die sie irritierte, realisierte Smilla in diesem Moment. Er schien ernst zu meinen, was er sagte. Und das wiederum stand im Widerspruch dazu, dass er sie eben noch gejagt hatte.
Langsam ließ die Wirkung des Adrenalins nach und Smilla spürte ihre Verletzungen immer deutlicher. Die Wange, mit der sie über den Boden geschlittert war, fing zu brennen an und der Schmerz in ihrer Schulter wurde immer durchdringender. »Ich muss nach meiner Wunde sehen. Wenn du dich auch nur einen Zentimeter bewegst, schlitz ich dich auf«, erklärte sie und hielt das Messer demonstrativ höher. Dann schob sie den Kragen ihres Hemdes zur Seite. Oberhalb ihres Schlüsselbeins verlief eine Reihe roter Kreise und Furchen. Sie blutete, aber die Verletzung schien nicht so schlimm zu sein, wie sie sich anfühlte.
Das Laub raschelte und auf einmal stand Falk vor ihr. Er blickte ernst auf ihre entblößte Schulter herab. »Das tut mir wirklich leid, Smilla«, sagte er. Gleichzeitig fing der Hund an, über Smillas Handrücken zu schlecken. Erschrocken zog sie den Arm weg.
»Lass mich mal sehen«, sagte Falk und schob das Hemd weiter in ihren Rücken. Er roch nach Seife und Heu.
»Fass mich nicht an«, warnte sie und schüttelte seine Hand ab.
»Dieses Miststück hat es faustdick hinter den Ohren«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.
Falk sah auf und machte einen Schritt von Smilla weg.
Sie wandte sich um. Eine Frau mit welligen braunen Haaren kam am Ufer entlang auf sie zu. Ihre Wangen waren gerötet und sie blutete aus der Nase. Aufmerksam wanderten ihre runden, braunen Augen von Falk zu Smilla.
»Sie sieht ganz schön ungefesselt aus«, sagte sie mit einem Lächeln und deutete auf Smilla, ohne ihr jedoch direkt ins Gesicht zu blicken.
»Nadja, das ist Smilla. Smilla, Nadja.«
»Wow, zum Glück hast du Manieren«, murmelte Smilla und übte durch den Stoff ihres Hemdes Druck auf die Wunde aus, damit sie zu bluten aufhörte.
»Smilla? Die heiße Nachhilfelehrerin?«, fragte Nadja, als sie bei ihnen angekommen war, und grinste breit.
Falk antwortete nicht.
»Wo ist meine Schwester?«, wollte Smilla wissen.
»Entwischt«, erklärte Nadja. Sie schien sich nicht daran zu stören, dass Blut aus ihrer Nase und in ihren Mund lief.
»Wenn du ihr auch nur ein Haar gekrümmt –«
»Lass mich raten, dann weidest du mich mit deinem Buttermesserchen aus?«, unterbrach Nadja sie und deutete auf das Messer in Smillas Hand. »Viel Glück dabei!« Im nächsten Moment hatte sie sich nach vorn gebeugt und Smilla einen kurzen, harten Schlag aufs Handgelenk verpasst. Das Messer fiel ins Laub zwischen ihnen. Ruckartig bückte Smilla sich danach, doch Nadja war schneller. Sie richteten sich wieder auf und starrten einander an. Ein triumphales Glitzern trat in Nadjas Augen, als sie das Messer in der Hand wog. Falk lächelte wehleidig, machte aber keine Anstalten, Nadja das Messer zu entwenden, um es Smilla zurückzugeben. »Du solltest nach deiner Schwester sehen«, sagte er stattdessen.
Eine ungute Mischung aus Wut und Verunsicherung braute sich in Smilla zusammen. Erst hetzte man ihr einen Hund auf den Hals, dann stahl man ihr Messer und erhob sich zu allem Überfluss auch noch über sie. Und jetzt würden die beiden sie einfach wieder laufen lassen? Hatte man sie etwa zum Spaß gefangen? Als Zeitvertreib? Die beiden verkörperten alles, was die Plage Schlechtes unter die Menschen gebracht hatte.
»Ihr könnt mich mal«, knurrte Smilla. Damit drehte sie sich um und ging. Sie griff nach dem Eimer mit den Fischen und stapfte die steile Böschung hinauf. Dabei sah sie immer wieder nach hinten und lauschte angestrengt, ob ihr jemand folgte. Aber Falk schien sein Versprechen zu halten. Alles, was sie hörte, waren eine gedämpfte Diskussion am Ufer des Sees und das Zwitschern von Vögeln. Niemand folgte ihr.
Obwohl weder Nadja noch Falk oder Mayhem hinter ihr herkamen und die Wunde in ihrer Schulter nicht aufhörte zu bluten, nahm Smilla nicht den direkten Weg nach Hause. Dabei wollte sie nichts lieber, als zurück auf die Hochfläche zu sprinten. Sie musste Jera finden, musste sich davon überzeugen, dass ihr nichts fehlte. Doch ihre Angst, einen Verfolger nicht zu bemerken und ihm den Ort zu verraten, an dem sich Karens Gruppe aufhielt, war zu mächtig.
Sie versuchte, sich zu erinnern, ob Nadja Spuren eines Kampfes aufgewiesen hatte. Aber in Smillas Erinnerung war sie bis auf die blutige Nase makellos, ordentlich und sauber. Sie hatte so entspannt gewirkt, als hätte sie bloß einen Sonntagsspaziergang am See gemacht.
Jera war gewitzt und groß für ihr Alter. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe erinnerte sie sich kaum daran, wie das Leben vor der Plage gewesen war. Sie war besser an die neuen Umstände angepasst als sie alle zusammen und ausgerüstet mit dem Überlebensinstinkt einer Wildkatze. Vielleicht hatte Nadja ja die Wahrheit gesagt und Jera war ihr wirklich entwischt.
Smilla lief an der Urftstaumauer vorbei und weiter Richtung Obersee. Die Sonne ging unter und ohne ihren Mantel fing sie an zu frieren.
Falk … Sie hatte ihm Nachhilfe in Deutsch gegeben, nachdem er bei seiner ersten Gedichtanalyse auf ganzer Linie versagt hatte. Er war sehr still gewesen, ununterbrochen unangenehm berührt. Er hatte keine Spur der Gelassenheit und Selbstsicherheit besessen, die er heute gezeigt hatte. Groß war er auch damals schon gewesen, aber trotzdem so jungenhaft wie ein Zehnjähriger. Wahrscheinlich hätte sie ihn nie wiedererkannt, wenn er ihr nicht seinen Namen gesagt hätte. Was für ein Zufall, dass ausgerechnet er, der in Köln ihr Nachbar gewesen war, es nun auch in der Eifel war.
Je länger Smilla über Falk nachdachte, desto mehr Erinnerungen trieben an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Er hatte immerzu stark nach Persil geduftet und wenn seine Mutter im Garten Wäsche aufgehängt hatte, hatte die komplette Nachbarschaft danach gerochen. Zu fast jeder Jahreszeit hatte er mit seinem älteren Bruder Fußball auf der Straße oder im Garten gespielt und manchmal hatte Smilla die beiden dabei erwischt, wie sie zu ihrem Zimmerfenster hochschauten.
Die heiße Nachhilfelehrerin. Ihr wurde unwohl bei dem Gedanken, dass dieser Junge sie anscheinend attraktiv gefunden und es damals gleichzeitig nicht geschafft hatte, ihrem Blick länger als einen Wimpernschlag standzuhalten. »Creep«, murmelte sie.
Vor Einruhr machte Smilla kehrt und lief Richtung Hochfläche. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und hoffte, dass es nicht mitten in der Nacht sein würde, wenn sie zurück ins Quartier kam.
Ob die anderen nach ihr suchten? Sie stellte sich vor, wie es wäre, zurückzukommen und alle schlafend in ihren Betten vorzufinden. Hoffentlich suchten sie nach ihr. Aber vermutlich taten sie das nicht. Karen würde es als zu gefährlich befinden.
»Ein Missverständnis«, hauchte Smilla in die Nacht, als ihre Gedanken zurück zu Falk wanderten. Bei welcher Art von Missverständnis hetzte man einem anderen Menschen einen abgerichteten Hund auf den Hals? Sie hatten nicht einmal innegehalten, um zu sehen, mit wem sie es zu tun hatten. Sie hatten den Hund ohne Rücksicht auf Verluste auf sie gehetzt. Und wenn Smilla und Jera nicht Falks und Nadjas eigentliches Ziel gewesen waren – wer dann? Und warum?
Als Smilla am Quartier ankam, war ihr Körper vor Kälte verkrampft. Ihre Beine waren schwer und hinter ihrer Stirn zog es unangenehm. Das Einzige, was sie auf den Beinen hielt, war die Sorge um Jera. Mit wackeligen Schritten lief sie die Treppe in den Bunker hinab und bis zum Schutthaufen. Sie schob den Styroporstein beiseite, sah Licht und hörte gedämpfte Stimmen. Ein Kloß formte sich in ihrer Kehle und sie verharrte ein paar Sekunden, um die Tränen wegzublinzeln, die plötzlich in ihren Augen standen. Dann kletterte sie durch den Eingang und setzte den falschen Stein wieder an seinen Platz. Sie trat durch den warm leuchtenden Türrahmen und sah ihre Gruppe um Jera versammelt am Esstisch sitzen.
Als sie Smillas Schritte hörten, verstummten die anderen und sahen auf. Erst schienen sie ihren Augen nicht zu trauen. Doch dann stieß Jera einen hohen, heulenden Laut aus, sprang von Lars’ Schoß und kam um den Tisch herum auf Smilla zugerannt. Smilla ließ sich auf die Knie sinken, obwohl Jera schon lange nicht mehr so klein war, dass sie sich zu ihr hinunter hätte beugen müssen. Jera schmiss sich ihr entgegen.
»Es tut mir so leid!«, jaulte sie. »Ich wollte dich nicht allein lassen.«
Karen und Giorgio waren ebenfalls um den Tisch herum gekommen, blieben aber einige Schritte entfernt stehen.
»Ist schon gut«, sagte Smilla und drückte ihre Schwester ungeachtet des Schmerzes, den diese Bewegung in ihrer Schulter auslöste, fest an sich. Der Kloß in ihrer Kehle war weiter angeschwollen.
»Was ist passiert?«, wollte Karen wissen.
»Wer war es? Der Club?«, fragte Giorgio. Nach allem, was sie ihm angetan hatten, nannte Giorgio die Verlorenen Jungs immer noch nur den Club. Er sah sie lieber als die Fußballmannschaft, als die er sie kennengelernt hatte, anstatt als die Gesetzlosen, zu denen sie geworden waren. Und auch um ihre Namen machte er einen Bogen, als könnte er sie aus Versehen heraufbeschwören, wenn er sie laut aussprach.
»Ein Mann und eine Frau, etwa in meinem Alter.«
»Was haben sie gewollt?«, fragte Karen.
»Sie haben jemanden gejagt und uns mit ihnen verwechselt.«
Jera löste ihre Umklammerung, um Smilla anzusehen. Ihr Gesicht war gerötet und nass. »Hast du sie getötet?«
»Nein, sie haben mich gehen lassen.«
»Was?«, mischte sich Sarah ein. »Warum haben sie dich gehen lassen? Sind sie dir etwa gefolgt?«
»Nein, Sarah, sie sind mir nicht gefolgt. Ich bin mehrere Stunden in die falsche Richtung gelaufen, um sicher zu gehen.« Von Sarah hatte sie kaum Mitgefühl zu erwarten, das wusste sie. Aber immerhin wäre sie gerade um ein Haar in die Fänge von Räubern, Menschenhändlern oder sonst wem geraten. Und die Einzige, die sich um sie sorgte, war ihre kleine Schwester?
Ohne Sarah weiter zu beachten, zog Smilla sich das Hemd von der Schulter, um die Wunde in Augenschein zu nehmen. Dabei musste sie die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen.
»Haben sie dich da erwischt?«, fragte Lars mit einer unbestimmten Handbewegung in Smillas Richtung. Er kam nicht näher und sah sie nicht direkt an. Es musste der Anblick des Blutes sein.
»Das war ihr Hund«, antwortete Smilla. »Kann mir jemand das Verbandszeug holen?«
Jera sprang auf und lief in Richtung Vorratskammer davon.
»Wir haben noch etwas Brühe übrig gelassen, falls du hungrig bist«, sagte Giorgio leise.
Wie außerordentlich fürsorglich, dachte Smilla, verbiss sich den Kommentar aber. Wäre es Sarah oder Marie gewesen, die angegriffen worden wäre, dann hätten sie sicherlich nach ihr gesucht. Und für Smilla wurden ein paar Essensreste aufgehoben, damit es nicht so aussah, als hätte man sie sofort abgeschrieben.
Jera kam mit dem Verbandszeug zurück und fing an, die Wunde zu reinigen.
»Jetzt erklär uns bitte noch mal genau, was am See vorgefallen ist«, sagte Karen, die mit verschränkten Armen vor ihr stand.
Während Jeras kleine Hände Smillas Wunden verarzteten, schilderte sie, was sich am See zugetragen hatte. Dass es vermutlich Jeras in Wut erhobene Stimme gewesen war, die Falk und seine Begleitung angelockt hatten, ließ sie aus. Dass sie Falk von früher kannte, ebenfalls. Auf seltsame Art und Weise schämte sie sich dafür, dass jemand, den sie einmal gekannt hatte, nun mit einem abgerichteten Hund durch die Wälder strich und Jagd auf Wehrlose machte. Und vielleicht würde es auch die anderen irritieren, dass sie mit so jemandem einmal zu tun gehabt hatte und sie an Smillas Vertrauenswürdigkeit zweifeln lassen.
»Und es waren ganz sicher ein Mann und eine Frau?«, fragte Karen.
»Absolut sicher.«
»Dann können es nicht die Verlorenen Jungs gewesen sein, oder?« Sie warf Giorgio, der am Esstisch stand und die restliche Brühe in eine Schüssel füllte, einen fragenden Blick zu.
»Nein, die nehmen keine Frauen auf. Außer als Gefangene natürlich.« Bei den letzten Worten senkte er den Blick und seine Stimme wurde so leise, dass Smilla ihn vom Sofa aus kaum verstehen konnte.
»War diese andere Frau vielleicht eine Gefangene?«
Smilla schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht.«
»Also, wenn die beiden nicht zu den Verlorenen Jungs gehören, wohin gehören sie dann? Und wo leben sie?« Karens Frage richtete sich an niemand Bestimmtes, außer vielleicht an Gott, wenn es so etwas denn gab. Karen fuhr sich in einer gestresst wirkenden Bewegung durch die Haare. »Scheiße«, murmelte sie. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Keiner von euch geht mehr allein in den Wald oder zum See, solange wir nicht wissen, wer die sind und wo sie herkommen. Klar?«
Marie, Sarah und Giorgio nickten. Smilla hingegen hatte keine Muße für noch mehr Regeln von Karen. Was würde es schon helfen, wenn sie fortan nur noch zu zweit in den Wald gingen. Deshalb ging Smilla nicht weiter auf das ein, was Karen gesagt hatte.
»Wie konntest du entkommen, Jera?«, fragte Smilla ihre Schwester, in deren Wimpern immer noch Tränen glitzerten.
»Ich bin den Hang hoch gerannt«, sagte sie mit verschnupfter Stimme. »Aber die Frau hat mich eingeholt. Als ich einen Felsvorsprung hochklettern wollte, hat sie mein Bein gepackt. Ich habe nach ihr getreten. Sie ist gestürzt und den Hang runtergerollt. Dann hat sie aufgegeben und ich bin weitergerannt.«
Smilla gab ihrer Schwester einen Kuss auf die Schläfe. »Das hast du gut gemacht. Bald brauchst du mich wohl überhaupt nicht mehr.«
»Ich will dich aber nicht nicht mehr brauchen«, widersprach Jera augenblicklich. Ihre Stimme klang wieder weinerlicher.
»Die haben dir ja den Fisch gelassen«, sagte Giorgio verwundert und deutete auf den gelben Eimer.
Smilla nickte.
»Und die anderen Sachen? Die Angeln? Dein Gepäck?«
Sie sank in sich zusammen. Der Rucksack ihres Vaters. Das letzte Stück Zuhause. Sie hatte ihn bei ihrer Flucht vor Falk und Nadja zurückgelassen, genau wie ihren Mantel und die Angeln.
»Das haben jetzt alles die beiden, schätze ich.«
Betretenes Schweigen erfüllte den Bunker. Die Angeln waren wichtig für die Gruppe, das wusste Smilla. Fische fing man um einiges leichter als Wild, vor allem, da ihre einzige Schusswaffe ein alter Bogen war.
»Fertig«, brach Jera schließlich das Schweigen, zog sich von Smillas Schulter zurück und setzte sich eng neben ihr aufs Sofa.
Smilla fühlte sich unbehaglich und schuldig unter den Blicken der anderen. »Ich zieh mir mal was Sauberes an«, murmelte sie. Sie stand auf und lief durch die düsteren Flure in ihr Zimmer. Jera kam mit ihr.
Mit Jeras Hilfe entledigte sie sich ihres blutigen Hemdes und zog einen alten ausgeleierten Pullover an, den sie auf dem Monschauer Markt erstanden hatte. Hier, geschützt vor den betroffenen Blicken und unangenehmen Fragen der anderen, merkte Smilla, wie geschwächt sie war. Sie schlug die Decke zurück und kroch in ihr Bett, dicht gefolgt von Jera.
»Kann ich bei dir schlafen?«, fragte sie und rückte eng an Smilla heran. Sie war warm und ihre hageren Knie drückten gegen Smillas Oberschenkel.
»Ja, aber nur heute, okay?«
»Okay.«
Sie rollten sich nebeneinander ein und zogen die Decke über sich. Dann schliefen sie ein.
In der Nacht träumte Smilla zum ersten Mal seit langem. Sie saß auf einem Turm, der aus Deutschbüchern und Gedichtbänden bestand. Am Fuße des Turms standen Falk und Mayhem, und Falk rief etwas. Doch Smilla verstand ihn nicht. Der Turm hatte keine Treppe und keine Türen. Wenn sie hören wollte, was Falk rief, dann musste sie hinabspringen und hoffen, dass der Sturz ihr nicht beide Beine brach und Mayhem ihr nicht die Kehle durchbiss.
Smilla wachte früh am nächsten Morgen auf. Ein bedächtiger Blick zur Seite verriet ihr, dass Jera noch tief und fest schlief. Für ein paar Minuten probierte Smilla, wieder einzuschlafen, aber ihre Gedanken an den vergangenen Tag hielten sie wach. Also schob sie sich zum Fußende des Bettes und stand auf. Sie lief in die Küche. Bis auf Giorgio, der mit dem Rücken zu ihr auf dem Sofa schlief, hielt sich niemand dort auf.
Smilla ging zur Anrichte und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Bei jeder noch so kleinen Bewegung schmerzte ihre Schulter und der Gedanke an die Mullbinde, die mit Wundflüssigkeit vollgesogen auf ihrer Haut lag, verursachte ihr Übelkeit.
Auf einem der Küchenstühle nahm sie Platz. Immer wieder musste sie gegen das Bedürfnis ankämpfen, einen Blick unter die Mullbinde zu werfen. Am liebsten hätte sie die Wunde abermals gesäubert und neu verbunden. Aber sie mussten sparsam mit dem Verbandszeug sein. Viel hatten sie nicht mehr vorrätig.
Als sie ihr Wasser getrunken hatte und immer noch niemand in der Küche erschienen war, beschloss sie, die Hühner zu füttern und Eier zu holen. Mit einiger Mühe schlüpfte sie in ihr ausgelaufenes Paar Turnschuhe, griff nach der Box mit dem Hühnerfutter und stieg zur Erdoberfläche hoch.
Draußen roch es nach Morgentau und Gras. Die Luft war diesig und milder als am Tag zuvor. Am Horizont färbte sich der Himmel pastellblau und versprach einen sonnigen Tag. Das war gut. Solange der Frost noch ausblieb, konnte sie auf ihren Wintermantel verzichten. Aber bald schon würde sie einen neuen brauchen – das war unausweichlich. Und robuste Wintermäntel kosteten nach der Plage noch mehr als sie davor ohnehin schon gekostet hatten. Smilla seufzte ergeben. Da hatten sie einmal lauter gesprochen als gewöhnlich und schon war Smilla verwundet und ihre Gruppe um wertvolles Hab und Gut bestohlen worden. Die Welt nach der Plage war gnadenlos, sie verzieh nichts.
Nach wenigen Minuten gelangte Smilla zu dem Kulissenhaus, das Lars zum Hühnerstall umfunktioniert hatte. Eine Betontreppe mit Metallgeländer führte in den ersten Stock. Dort war der Boden mit Laub und Stroh ausgelegt. Die Fensteröffnung hatten sie mit Hasendraht gesichert. In einem Regal, das Lars aus Holzresten zusammengeschustert hatte, brüteten die Hennen. Smilla lockte die Tiere mit dem Hühnerfutter aus ihren Brutstätten. Während die Hühner fleißig nach Körnern und Samen pickten, sammelte sie die Eier in die Taschen ihres Pullovers. Dann nahm sie die Futterbox und verließ das Gebäude.
Die Sonne war noch nicht am Himmel auszumachen, aber Smilla spürte, wie sie mit jeder Sekunde näher kam. Kein guter Tag, um unter der Erde zu leben. Sie beschloss, noch nicht in den Bunker zurückzugehen. Stattdessen lief sie zur Kirche.
Sie durchschritt den hohen, hallenden Raum, klickte ein paar Mal mit der Zunge und lauschte dem Echo, das von den kahlen Wänden zurückgeworfen wurde. Sie verließ die Kirche wieder, las die Informationstafel leise murmelnd durch und ging zu den Wohnhäusern Wollseifens, die irgendwann einmal verbarrikadiert und dann wieder aufgebrochen worden waren. Schon lange vor der Plage war dort nichts mehr zu holen gewesen.
Nachdem sie ein paar Kreise um das ein oder andere Haus gezogen hatte, kam die Sonne über den Horizont geklettert und beschien den Treppenabsatz eines niedrigen Gebäudes mit grün bewachsenem Dach. Smilla stellte die Futterbox ab und setzte sich auf die unterste Stufe. Sie schloss die Augen, reckte das Gesicht gen Himmel und ließ sich von den Sonnenstrahlen wärmen.
Ob Giorgio sie wohl begleiten würde, wenn sie entschied, zum See zu gehen? Er hatte nie aufgehört, sich wie ein Fremdkörper in der Familie der Schmieders zu fühlen. Genau wie Smilla. Dieses Empfinden verband sie. Er war der Einzige – von Jera einmal abgesehen –, auf den sie zählen konnte. In dieser Hinsicht hatte er in Smillas Leben den Platz von Anna eingenommen.
Einige Minuten verstrichen. Als sie schließlich aufstand, um zum Quartier zurückzukehren, vergaß sie für eine Sekunde, dass sie Hühnereier in ihrem Pulli transportierte. Sie beugte sich in einer unbedachten Bewegung zu weit nach rechts und da fiel eines der Eier aus der Tasche. Mit einem Knirschen landete es auf dem Treppenabsatz. Eigelb tröpfelte die Stufe hinunter.
»Mist«, zischte Smilla. Sie sah sich um. Aber wie zu erwarten, hatte niemand ihr Missgeschick beobachtet. Sie streute ein paar Blätter über das zerbrochene Ei, um die Spuren ihrer Unachtsamkeit zu verwischen. Sie hatte in den letzten Tagen schon für genug Unmut in der Gruppe gesorgt. Auf eine neuerliche Strafe wegen eines zerschlagenen Eies konnte sie gerade noch verzichten. Noch einmal sah Smilla sich prüfend um. Dann machte sie sich auf den Rückweg.
Als Smilla ins Wohnzimmer des Quartiers zurückkehrte, waren Sarah und Marie bereits aufgestanden. Auch Giorgio war wach. Marie deckte den Tisch fürs Frühstück, Giorgio kämpfte mit einem ungeöffneten Einmachglas voller Tomaten und Sarah stand vor dem Kamin, die Hände in die Hüften gestützt, die Unterlippe eingesaugt.
»Ich habe Eier geholt«, sagte Smilla, durchquerte den Raum und legte die Eier behutsam in die Mitte des Küchentisches.
Sarah sah von der Feuerstelle auf. »Ich glaube, wir sollten heute früh lieber kein Feuer machen«, überging sie Smilla. »Nicht, solange wir nicht wissen, wer sich da draußen neuerdings rumtreibt und was sie im Schilde führen.« Smilla war sicher, dass Sarah das Kommando im Quartier übernehmen würde, falls Karen etwas zustieße. Sie war auch sicher, dass sie und Jera nicht in die Gruppe aufgenommen worden wären, wäre Sarah zu diesem Zeitpunkt Anführerin gewesen. Sarah mochte Ungewissheit noch viel weniger als Karen und jede neue Bekanntschaft in dieser Welt ohne Regeln stellte eine weitere unbekannte Variable in der Gleichung des Überlebens dar.
Giorgio hatte es leichter gehabt, Sarahs Gunst zu erlangen. Nicht nur, dass er sein Leben riskiert hatte, um ihre Schwester Anna zu retten. Er hatte auch noch nützliche Informationen über die Verlorenen Jungs und wusste, wie man ihnen am besten aus dem Weg ging. Und als wäre das nicht genug, um Smilla ans untere Ende der Bunker-Hierarchie zu drängen, war er ohne Zweifel Sarahs Typ.
»Wir können die Eier heute Abend vorkochen und morgen zum Frühstück essen«, schlug Smilla vor.
»Das hilft uns aber jetzt nicht«, konterte Sarah und kam von der Feuerstelle zum Esstisch.
»Daher die Tomaten«, ächzte Giorgio. Er hatte die Augen zusammengekniffen und kämpfte noch immer mit dem Einmachglas.
»Du musst unten gegen den Boden hauen, das habe ich dir schon hundertmal gesagt.«
»Danke für den Hinweis, Smilla«, entgegnete Giorgio und ließ für einen Moment von den eingekochten Früchten ab. »Aber ich schaffe das auch so.«
»Das sehe ich.«
Marie und Sarah warfen sich einen Blick zu und Sarah lachte leise.
»Was gibt’s da zu lachen?«, fragte Giorgio, grinste aber selbst breit.
Dann gab das Glas einen leisen Plopplaut von sich und Giorgio nahm den Deckel ab. »Seht ihr? Ich brauche eure Tipps und Tricks nicht. Nur pure Muskelkraft.«
Sarah und Marie lachten lauter.
Smilla zog die Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben. Dann nahm sie ein paar Teller von Marie entgegen, um damit die andere Seite des Tisches zu bestücken.
»Was lacht ihr so?«, erklang Jeras Stimme aus der Richtung ihres Schlafzimmers und einen Augenblick später trat sie in ihre Decke gehüllt ins Wohnzimmer.
»Das frage ich mich auch, Jera«, sagte Giorgio und steckte einen Löffel in das Glas voller roter, aufgeplatzter Tomaten. »Ihr nehmt mich alle nicht ernst genug.«
Jera setzte sich auf einen Küchenstuhl und schlang die Decke enger um ihren Kinderkörper. »Ich glaube, Lars nimmt dich relativ ernst«, sagte sie versöhnlich und gähnte.
»Danke für deinen Zuspruch«, lachte Giorgio. Seine Augen wurden zu dichten Kränzen aus Wimpern und sichelförmige Falten bildeten sich um seinen Mund. Ein Lachen, das einen von innen aufwärmte. Umso schwerer war es, zu glauben, dass dieser Mann mehrere Jahre bei den Verlorenen Jungs gelebt, mit ihnen Siedlungen geplündert und Menschen verschleppt und getötet hatte. Niemand von ihnen wusste mit Sicherheit, was alles auf seiner Liste von Untaten stand. Aber was zählte, war, dass er Anna hatte helfen wollen und dass er dafür den Hass der Verlorenen Jungs geerntet hatte. Beinahe hätte er sogar mit dem eigenen Leben dafür bezahlt.
Was Falk wohl für Schandtaten begangen hatte? Wie sein Gesicht sich veränderte, wenn er lachte? Smilla konnte sich nicht erinnern, ihn je lachen gesehen zu haben, oder sie hatte es vergessen.
»Guten Morgen«, sagte Karen, die soeben ins Wohnzimmer getreten war. Ihre silbrigen Haare waren an der einen Seite platt gelegen, auf der anderen zerzaust. »Ich bin dafür, dass wir heute früh kein Feuer machen. Um genau zu sein, machen wir ab sofort nur noch in der Dunkelheit Feuer, damit der Rauch keine ungebetenen Gäste anlockt«, sagte sie und ließ sich auf dem Stuhl neben Jera nieder. Sie rieb sich übers Gesicht und presste die Finger auf die Schläfen.
»Hat Sarah auch schon vorgeschlagen. Ich habe ein Glas Tomaten aufgemacht«, sagte Giorgio und deutete auf das Einmachglas, das direkt vor Karens Nase stand.
»Das wird wohl kaum als Frühstück ausreichen«, entgegnete sie und zog das Glas näher zu sich, um es einer kritischen Musterung zu unterziehen.
»Hol uns doch noch was von dem übrigen Dörrfleisch, Giorgio«, sagte sie und deutete in Richtung Vorratskammer.
Giorgio eilte davon, und Marie und Sarah bereiteten in Stille den Frühstückstisch weiter vor.
Nach dem Frühstück wurden wie jeden Morgen Aufgaben für den Tag verteilt, nur dass diesmal wieder strenger auf die bestehenden Regeln gepocht und die neuen unmissverständlich betont wurden. Niemand durfte allein in den Wald (wobei Smilla sicher war, dass diese Regel eigentlich nur für Sarah und Marie galt). Fremde sollten um jeden Preis gemieden werden. Kein lautes Reden, Singen oder Pfeifen außerhalb der Bunkermauern. Und so weiter und so fort.
Smilla und Jera wurden zum Nähen und Flicken verdonnert, Sarah und Lars sollten sammeln gehen und Giorgio und Marie nach den Feldern und Beeten sehen.
Die Stunden zogen sich wie alter Sirup. Nicht nur, dass Smilla es verabscheute, sonnige Tage wie diesen eingeengt zwischen Modergeruch und unterirdischer Finsternis zu verbringen. Da war auch noch der stete Gedanke an den Rucksack und den Mantel, die, sofern sie noch unten am See lagen, nur darauf warteten, von einem Fremden gefunden und mitgenommen zu werden. Zu allem Überfluss begann die Wunde unter der Mullbinde zu zwicken und zu pochen, was Smilla zusätzlich beunruhigte.
Nach dem Mittagessen – kalter Wirsing und ein rohes Ei für jeden – holte Smilla das Verbandszeug aus der Vorratskammer. Karen half ihr dabei, den Verband zu wechseln.
»Die sieht nicht gut aus«, raunte sie in Smillas Ohr, als sie die Mullbinde entfernt hatte.
Instinktiv warf Smilla einen Blick zu Jera hinüber, die die Teller vom Mittagessen spülte.
»Bist du gegen Tollwut geimpft?«
»Nein.«
»Tetanus?«
»Ich weiß nicht, bestimmt.«
Karen machte ein Geräusch, das einer Mischung aus Seufzen und Räuspern glich, sagte aber nichts weiter. Ihre Ernsthaftigkeit beunruhigte Smilla. Normalerweise sagte sie etwas wie: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, »Jetzt stell dich nicht so an« oder »Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus«, wenn jemand aus der Gruppe sich einen mehr oder weniger schmerzhaften Kratzer zugezogen hatte. Doch diesmal schien sie sich nicht sicher zu sein, ob diese Art von Arglosigkeit angebracht war.
»Vielleicht sollten wir es nicht verbinden, damit die Wunde besser trocknen kann und nicht so warm wird.«
»Wenn du meinst, dass das hilft«, brummte Smilla.
Karen tupfte die Wunde trocken und trug dann etwas Desinfektionsmittel auf. Smilla biss die Zähne zusammen, als der Alkohol sich in ihr Fleisch fraß.
»Jodsalbe vielleicht noch«, entschied Karen.
Ihre »vielleichts« schürten Smillas Beunruhigung.
»Wie fühlst du dich?«
»Ganz normal«, sagte Smilla. »Ein bisschen müder als sonst.«
»Vielleicht gehst du noch mal zum See und schaust, ob die beiden deinen Mantel, die Angeln oder sonst irgendetwas zurückgelassen haben. Wenn wir für dich Medizin und einen neuen Mantel kaufen müssen und dann auch noch der Fischfang ausfällt, haben wir gar nichts mehr, bevor der Winter anbricht.« Sie sprach mit gedämpfter Stimme und sah sich auffällig oft um, ob irgendjemand lauschte.
»Ja, mache ich«, antwortete Smilla. Insgeheim war sie erleichtert über Karens Vorschlag. Sie wollte ihren Rucksack zurück – noch viel dringlicher, als sie ihren Mantel, das Messer oder die Angeln wiederhaben wollte.
»Ich glaube nur nicht, dass ich noch jemanden entbehren kann, um dich zu begleiten. Wir kommen sowieso schon kaum mit der Arbeit hinterher.« So viel zu Niemand geht allein irgendwo hin.»Kein Problem. Ich komm schon allein klar.«
»Ich weiß.« Karen lächelte flüchtig. »Pass trotzdem auf dich auf.« Dann legte sie die Tücher weg, mit denen sie Smillas Schulter gesäubert hatte. Mit dumpfem Schrecken sah Smilla, dass sie gelb von Eiter waren. Und das nach noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden.
Karen sortierte die Arzneien zurück in den Verbandskasten. Dann wandte sie sich ab und ging in Richtung Vorratskammer davon.
Smilla stand auf und musterte Jera, die am Küchentisch saß und der ermüdenden Arbeit des Sockenstopfens nachging.
»Ich muss noch mal zum See, Jera. Ich muss gucken, ob unsere Sachen noch dort sind.«
Mit großen Augen sah Jera von ihrer Arbeit auf. »Du willst zum See? Aber das ist bestimmt gefährlich. Was, wenn die beiden von gestern dort lauern?«, protestierte sie.
»Nein«, versicherte Smilla ihr und schüttelte den Kopf. »Die haben Wichtigeres zu tun, als am See zu warten, ob wir vielleicht zurückkommen.« Ob das stimmte, dessen war Smilla sich selbst nicht sicher. Aber solange es Jera die Angst nahm, war dieses Argument gut genug.
»Außerdem ist das Sonnenlicht bestimmt gut für die Wunde«, setzte sie hinterher, als Jera sie weiterhin kritisch musterte.
»Okay«, gab Jera schließlich zurück und senkte ihren Blick wieder auf die löchrige Socke in ihrer Hand.
»Spätestens zum Abendessen bin ich zurück.«
»Ist gut.«
Smilla huschte in ihr Zimmer, schlüpfte hastig in ihre zerlöcherten Turnschuhe und eilte zum Ausgang, bevor Jera noch auf die Idee kam, sie zu begleiten. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel und hatte den Boden aufgewärmt. Die Vögel zwitscherten inniger als sonst und die Luft war erfüllt vom Summen der Insekten. Es schien, als tankten alle Lebewesen dankbar die letzten Sonnenstrahlen vor dem Wintereinbruch.
Smilla lief zwischen den Kulissenhäusern entlang und bog dann in Richtung Kirchenruine ab. Auf dem Wanderweg, der die Hochfläche durchzog, hielt sie inne. Es fühlte sich nicht richtig an, dorthin zurückzugehen, wo sie vor einem Tag beinahe Hundefutter geworden wäre. Aus irgendeinem Grund erschien es ihr nun wahrscheinlicher, feindlich Gesinnten in die Arme zu laufen, als noch gestern. Doch sie wusste, dass sie so oder so irgendwann dorthin zurückkehren musste. Sie brauchten den Wald und den See zum Überleben, als Quelle für Fisch und Eicheln. Er war genauso ihr Freund, wie er ihr Feind war. Zeit für Traumabewältigung gab es dort nicht. Also holte Smilla Luft, als wollte sie tief tauchen. Dann begab sie sich ins Dickicht und machte sich auf den Weg zum See.
3 Das Geschenk
Als sie vom Dickicht in den Tannenwald gelangte, beschleunigte Smilla auf einen schnellen Laufschritt. Der Gedanke an ihren Mantel und den Rucksack ihres Vaters trieben sie an und verdrängten die Müdigkeit in ihren Gliedern. Sie waren die einzigen Dinge, die von zu Hause noch übrig waren. Dieser Gedanke erinnerte sie an ihren Biologieunterricht der elften Klasse: Die obere Hautschicht des Menschen erneuerte sich einmal im Monat komplett. Dazu produzierte der Körper in einer Minute vierzigtausend neue Hautzellen. Das hieß, dass sich ihre Haut, seitdem die Plage über die Menschen hereingebrochen war, schon dutzende Male erneuert hatte. Wie seltsam, sich vorzustellen, dass sie nicht mehr in derselben Haut steckte wie damals, wohl aber noch denselben Mantel, dieselben Schuhe und denselben Rucksack trug. Wenn nicht einmal ihre Haut die alte blieb, dann brauchte sie Mantel und Rucksack umso dringender zurück.
Nach etwa einer halben Stunde gelangte sie vom Tannenwald in den lichteren Laubwald. Kurze Zeit später erreichte sie die Felsvorsprünge, bei denen Jera Nadja abgehängt hatte. Als Smilla am unteren Ende des Massivs wieder weichen Laubboden unter den Füßen hatte, musterte sie ihre Umgebung nach Spuren des Kampfes, aber sie konnte keine erkennen. Ohnehin war sie keine gute Fährtenleserin. Sie hätte die Spuren vermutlich nicht einmal dann erkannt, wenn sie gestolpert und mit dem Gesicht zuerst darauf gefallen wäre. Giorgio war darin wesentlich besser. Als er noch bei den Verlorenen Jungs gelebt hatte, hatte er für sie Wild aufgespürt und verfolgt. Und manchmal auch Menschen. Giorgio sagte, dass sie die Menschen nur als Arbeitskräfte oder als Handelswaren gefangen genommen hatten und nie, um sie zu verspeisen. Aber manchmal fragte Smilla sich, ob er nicht vielleicht gelogen hatte, um sich zu schützen. Wenn sie jemandem zutraute, andere Menschen zu verspeisen, dann waren es die Verlorenen Jungs. Dass sie bis auf Giorgio nie einen von ihnen persönlich getroffen hatte, machte dabei keinen Unterschied. Sie hatte genug über sie gehört.
Endlich kam der See in Sicht. Spiegelglatt breitete sich das Wasser vor ihr aus und reflektierte die Farben der umliegenden Wälder. Unwillkürlich lief Smilla schneller, besann sich aber eines Besseren, als sie wahrnahm, wie laut ihre Schritte im trockenen Laub waren.
Als der Hang langsam abflachte und in ein steiniges Ufer überging, kam etwas Anorganisches in Sicht. Unweit des Platzes, an dem sie gestern gesessen und geangelt hatten, lugte dunkler Stoff hinter einem Baum hervor. Die weinrote Farbe und die abgeriebenen Stellen darin hätte sie auch in hundert Jahren noch wiedererkannt: Es war ihr Rucksack.
Als sie fast bei dem Baum angelangt war, sah sie plötzlich, dass der Rucksack nicht das einzige war, das hier nicht hingehörte. Abrupt blieb Smilla stehen. Hinter dem Baum ragte ein Paar Beine in abgewetzten grünen Hosen und ebenso abgewetzten Lederschuhen hervor. Dort saß jemand an den Baum gelehnt, den Blick auf den See gerichtet und den Rucksack neben sich, als gehörte er ihm.
Instinktiv machte Smilla einen Schritt rückwärts. Da war er, ihr Rucksack, zum Greifen nah. Und doch war es, als befände er sich auf der anderen Seite einer Schlucht. Jemand anderes hatte ihn vor ihr gefunden. So sehr sie auch an ihm hing, sie würde sich nicht mit einem Fremden darum streiten. Sie wich noch einen Schritt zurück – und trat auf einen trockenen Ast, der krachend unter ihr nachgab.
Ungläubig huschte Smillas Blick zu ihren Füßen. Der Wald hatte sie verraten. Als sie wieder aufsah, war der Fremde schon um den Baum herum gekommen und sah sie an.
Ihr erster Gedanke lautete Flucht. Vielleicht war sie noch weit genug von dem Fremden entfernt, um entkommen zu können, wenn sie jetzt umdrehte und loslief. Aber dann erkannte sie, dass es Falk war, dem sie gegenüberstand und etwas an seinem Anblick ließ den Gedanken an Flucht verglühen.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Falk. Seine Stimme klang weicher als bei ihrer letzten Begegnung, sein Blick war weniger überlegen.
Als Smilla nichts erwiderte, setzte er nach: »Oder vielmehr: Ich habe gehofft, dass du wiederkommst, um deine Sachen zu suchen.« Er deutete flüchtig auf den Rucksack.
»Na, dann herzlichen Glückwunsch, hier bin ich«, antwortete Smilla.
»Deine Bücher sind auch noch im Rucksack«, erklärte er. »Den Mantel, die Angeln und das Messer konnte ich nicht retten. Die gehören jetzt Nadja.« Seine Mundwinkel formten ein entschuldigendes Lächeln.
Smilla überlegte, ob sie drauf und dran war, in eine Falle zu tappen.
»Ist dein Hund hier irgendwo?«
»Keine Angst«, sagte Falk. »Mayhem beißt nur, wenn ich ihm das sage.«
»Da bin ich ja beruhigt«, meinte Smilla und scannte möglichst unauffällig die Umgebung nach weiteren potenziellen Feinden. Das hatte sie innerhalb der letzten Tage so oft getan, dass ihre Nachkommen die Augen wohl seitlich am Schädel haben würden, wie es die Evolution für Fluchttiere vorgesehen hatte. Dann wandte sie sich wieder Falk zu.
Für einige Sekunden standen sie sich gegenüber, ohne dass jemand von ihnen etwas tat oder sagte. Schließlich ergriff Falk das Wort: »Ich lege deinen Rucksack jetzt hierhin, okay?« Er machte zwei lange Schritte nach vorn und legte ihn ins Laub. Dann zog er sich zurück.
Doch Smilla rührte sich nicht. Sie begriff nicht, warum er hier war. Weshalb machte er sich die Mühe, ihr ihren Rucksack zurückzugeben, der in den Augen anderer vollkommen wertlos sein musste? Die Antworten auf diese Fragen erschienen ihr wichtig. Im schlimmsten Fall sogar überlebenswichtig.
»Was tust du hier?«, fragte sie stattdessen.
»Na ja, wie ich eben gesagt habe: Ich habe gehofft, dass du zurückkommst.«
»Ja, aber warum?«
Er schaute verunsichert drein. »So blöd das jetzt auch klingen mag«, setzte er dann vorsichtig an. »Ich habe mich gefreut, dich wiederzusehen. Ich habe mich gefreut, dass du noch lebst.«
»Du hast recht, das klingt ziemlich blöd«, gab Smilla kühl zurück. In ein paar Jahren würde sie hoffentlich darüber lachen können, dass sie Falk ausgerechnet auf diese Weise wiederbegegnet war. Aber nicht jetzt, wo der Schreck des Überfalls noch in ihren Muskeln wohnte und Mayhems Biss bei jedem Atemzug schmerzte.
»Ja, schon klar«, murmelte Falk bedrückt. »Und deshalb habe ich auch gehofft, mich entschuldigen zu können. Hätte ich gewusst, dass … ich habe ja nicht sofort erkannt, dass du …« Er verstummte. Der Satz, den er begonnen hatte, besaß kein Ende, das ihn in ein besseres Licht rücken konnte. Das hatte er nun wohl auch eingesehen.
Aber Smilla interessierte sich ohnehin nicht für seine Entschuldigung. Viel wichtiger war, mit wem sie es eigentlich zu tun hatte. Dass Falk ihr Nachhilfeschüler und Nachbar gewesen war, lag lange zurück und die Plage hatte die Karten des Schicksals für jeden Überlebenden neu gemischt.
»Wo lebt ihr?«, fragte sie also, in der Hoffnung, wertvolle Informationen über ihn und seine Gruppe bekommen zu können.
»In Seifenauel. Wir haben dort gecampt, als die Plage ausgebrochen ist. Das ging alles so schnell, dass wir es vor dem totalen Chaos nicht mehr nach Köln zurück geschafft haben.«
Dann gehörte er nicht zu den Verlorenen Jungs. Die lebten schließlich in der Ordensburg Vogelsang. Allerdings hieß das nicht zwangsläufig, dass von ihm und seiner Gruppe keine Gefahr ausging.
»Wie viele seid ihr?«
»Es gibt kein richtiges Wir, da sind ein paar Leute, die nicht aus Seifenauel weg konnten oder wollten.«
»Und deine Familie? Haben sie die Plage überlebt? Sind sie auch in Seifenauel?«
Er schüttelte den Kopf und schaute bedrückt zu Boden.
»Nadja – wie lang ist sie schon bei euch?«
Falk zuckte die Schultern, sichtlich irritiert von Smillas Fragen. »Ich weiß nicht. Ein paar Monate vielleicht.«
»Woher kennst du sie?«
»Sie hat uns letzten Winter sehr geholfen. Wir waren im Wald angegriffen worden und hatten einen Schwerverletzten bei uns, als wir ihr begegnet sind. Sie hat angeboten, ihn wieder gesund zu pflegen, wenn wir sie im Gegenzug aufnehmen. Sie war die letzte Überlebende aus ihrer Familie und hat Anschluss gesucht.«
»Und dann habt ihr sie einfach so aufgenommen?«, fragte Smilla skeptisch. Bevor sie Falk ihr Vertrauen schenkte, wollte sie ganz genau wissen, zu wem er in der Welt danach geworden war. »Ich meine, das ist immerhin ein weiterer Magen, der gefüllt werden will. Und dann auch noch jemand Schutzbedürftiges wie eine Frau? Klingt nach einem schlechten Deal, wenn du mich fragst.«
Falk schüttelte leicht den Kopf, als wäre er überfordert. «Es war aber kein schlechter Deal. Nadjas Eltern waren Apotheker. Sie weiß eine Menge über Erkrankungen, Verletzungen und wie man sie behandelt. Mehr als wir anderen zusammen. Und was sollen überhaupt die ganzen Fragen?«
Smilla verschränkte die Arme und musterte Falk von oben bis unten. »Ich möchte nur wissen, wer hier vor mir steht.«
Er hob die Hände, als wolle er sich ergeben. »Aber du kennst mich doch.«
»Ich kannte dich vor der Plage. Und auch da nicht besonders gut.«
»Du hast nichts von mir zu befürchten«, sagte er salbungsvoll.
Als er nichts weiter sagte, beschloss Smilla, ihren Rucksack zu nehmen und zu gehen. Sie machte eine schnelle Bewegung und schnappte nach dem Rucksackträger. Doch von der ruckartigen Belastung schwoll der Schmerz in der Wunde an. Mit einem leisen Stöhnen ließ Smilla den Rucksack wieder fallen. Instinktiv hob sie die Hand zu ihrer Schulter, besann sich aber eines Besseren und fasste die Wunde nicht an.
»Was ist los?«, fragte Falk.
»Willst du mich verarschen?«, zischte sie und bückte sich erneut nach dem Rucksack. Diesmal vorsichtiger.
»Mayhems Biss?«
»Was denn sonst?«
Falk senkte den Blick. Eine Geste, die ihn einen Kopf kleiner wirken ließ. »Magst du mir die Wunde mal zeigen?«, fragte er dann. Seine Augen waren auf Smilla gerichtet, aber er hatte den Kopf immer noch gesenkt, als wolle er sich die Möglichkeit offenhalten, schnell wieder zu Boden zu blicken.
»Zufällig nicht, nein.« Glaubte er wirklich, dass sie ausgerechnet seine Fürsorge wollte? Er hatte ihr das Ganze doch erst eingebrockt. Die Wut stieg ihr heiß den Hals hoch.
»Ich könnte dir Medikamente besorgen. Aber dazu müsste ich mir erst einmal angucken, wie es aussieht.«
»Bist du jetzt plötzlich Arzt, oder was?«, fragte Smilla und schob sich behutsam den Träger des Rucksacks auf die unverletzte Schulter.
»Nein, aber es tut mir leid und ich will es wieder gut machen.«
»Hätte es dir auch leid getan, wenn du mich nicht gekannt hättest?«
Er leckte sich über die Lippen und sah für einen Augenblick zur Seite. »Ich glaube nicht, ehrlich gesagt. Und das hat mich selbst erschreckt. Deshalb will ich es ja wieder gut machen.«
»Du hast gestern gesagt, euer Angriff sei ein Missverständnis gewesen. Was hast du damit gemeint?«
Kurz runzelte Falk die Stirn, als ergäbe das, was Smilla sagte, keinen Sinn. Dann holte er tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Na gut«, setzte er an, als hätte er soeben ein innerliches Streitgespräch mit sich selbst verloren. »Wir wollten sehen, ob ihr eventuell wertvolle Gegenstände bei euch habt, die wir …« Er zögerte.
»Die ihr rauben könnt«, vervollständigte Smilla den Satz. Sie fixierten einander einen Moment lang. Schließlich hielt Falk Smillas Blick nicht länger stand, senkte den Kopf und nickte. »Ja. Und das tut mir leid. Das tut es wirklich.«
»Du hast deinen Hund auf mich gehetzt, weil ich möglicherweise etwas Nützliches bei mir hatte«, sagte Smilla. Sie konnte noch immer nicht ganz glauben, dass ausgerechnet Falk einer der Menschen war, den die Plage mit Rücksichtslosigkeit und Egoismus infiziert hatte.
In einer hilflosen Geste hob Falk die Hände. »Wir hatten nie vor, euch ernsthaft zu verletzen. Und du hast doch sicherlich nach der Plage auch schon Dinge getan, auf die du nicht stolz bist, oder?«
Smilla verschränkte die Arme vor der Brust, wobei ihre Wunde schmerzhaft ziepte. »Ich habe mal ein Buch aus der Bücherei geklaut. Das ist nicht vergleichbar.«
Er ließ ein kurzes, freudloses Lachen erklingen. »Warum habe ich mir das nicht selbst gedacht? Die perfekte Smilla – nicht einmal die Plage bringt etwas Schlechtes in dir hervor.«
Der Klang ihres Namens aus seinem Mund traf sie unvermittelt. Sie fühlte sich mit einem Mal echter, größer, wesentlicher und zugleich wurde ihr flau davon. Ganz kurz war es, als wäre sie wieder zu Hause. Als würde Falk gleich seine Schulsachen packen und gehen, und sie würde in ihr Zimmer laufen und Musik hören oder ihrer Mutter beim Kochen helfen oder mit Jera auf dem großen, flauschigen Wohnzimmerteppich spielen oder … Falks Stimme riss sie in die Realität zurück.
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783948736071
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (September)
- Schlagworte
- Eifel Erster Band Dystopie Deutschlandroman Schwesternliebe Starke Frauen Pandemie Humanistische Philosophie Weibliche Heldin Trilogie Kinderbuch Jugendbuch