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Wir Verlorenen

von Jana Taysen (Autor:in)
410 Seiten
Reihe: Wir Verlorenen-Trilogie, Band 1

Zusammenfassung

Dein Verstand weiß, dass du niemandem mehr trauen kannst – aber was tust du, wenn dein Herz etwas anderes verlangt? Die Welt, wie wir sie kannten, existiert seit einer verheerenden Katastrophe nicht mehr. Die junge Smilla weiß, dass es keinen Platz für Liebe und Glück geben kann. Bis sie ihren einstigen Nachbarn Falk wiedertrifft... Doch dann überschlagen sich die Ereignisse und Smilla befindet sich mitten in einer Spirale aus Verrat und Lügen. Wem kann sie noch trauen? Und welche zwielichtige Rolle spielt Falk bei alledem? Spannungsgeladen, philosophisch, leidenschaftlich – und aktueller denn je. Der erste Teil der "Wir Verlorenen-Trilogie"

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

1  Der Rei­sen­de

Smil­la lag im Laub un­ten am See und dach­te dar­über nach, war­um sie es schon wie­der ge­tan hat­te. Sie dach­te über­haupt oft nach, denn seit­dem die Welt un­ter­ge­gan­gen war, hat­te sie viel Zeit da­für.

Viel­leicht war das der Grund, war­um sie Ka­rens Re­geln ge­bro­chen hat­te – die gan­ze Zeit, die ihr zur Ver­fü­gung stand, und die Lan­ge­wei­le, die die­ser Über­fluss an Zeit mit sich brach­te. Mit Un­wis­sen konn­te sie ihr Ver­hal­ten nicht ent­schul­di­gen, schließ­lich wuss­te sie ge­nau, dass es ver­bo­ten war, in der Tal­sper­re zu schwim­men. Es war zu ge­fähr­lich, denn auf dem See konn­te man sie nur zu leicht ent­de­cken. Und sie durf­te nicht ent­deckt wer­den.

Smil­la stand auf und zog sich an. Sie hob das Ka­nin­chen auf, des­sen Blut sie sich mit dem ver­bo­te­nen Bad im See ab­ge­wa­schen hat­te, und band es kopf­über an den nächst­ge­le­ge­nen Ast. Es war ein­fa­cher, das Tier zu ver­ar­bei­ten, so­lan­ge der Kör­per noch warm war. War­te­te man zu lan­ge, wur­den die Glied­ma­ßen steif und das Blut zu dick. Am An­fang hat­te sie es nicht über sich ge­bracht, ih­re Beu­te ei­gen­hän­dig zu tö­ten. Als wä­re da ei­ne un­sicht­ba­re Schwel­le in ihrem In­nern, die sie nicht hat­te über­schrei­ten kön­nen. Doch dann war die­se Schwel­le lang­sam ver­schwun­den, denn sie war hin­der­lich ge­wor­den; ein Über­bleib­sel aus der Zeit, in der man nicht zu tö­ten brauch­te, weil das Fleisch in Un­men­gen und ro­sa ge­färbt im Kühl­re­gal auf ei­nen war­te­te.

Sie zog Gior­gi­os Jagd­mes­ser aus dem Hols­ter an ihrem Bein und schnitt das Fell an den Hin­ter­läu­fen des Ka­nin­chens ein. Wie man Klein­wild häu­te­te, hat­te sie in ei­nem Buch ge­le­sen, das sie nach dem Aus­bruch der Pla­ge aus der Stadt­bü­che­rei ge­klaut hat­te. Al­le hat­ten ge­klaut. Trotz­dem schäm­te sie sich bis zu die­sem Ta­ge da­für. Aber Wis­sen war über­le­bens­wich­tig.

Smil­la trenn­te das Fell wei­ter auf, bis zur Blu­me hoch. Ab da war es ganz leicht, die Haut vom Tier zu lö­sen. Fast, als wür­de man ei­ne Ba­na­ne schä­len.

Ein Kna­cken zer­riss die Stil­le. Sie ließ von dem Ka­nin­chen ab und fuhr her­um. Im Wald reg­te sich nichts. Smil­la kniff die Au­gen zu­sam­men. Vor der gro­ßen Pla­ge hat­te sie Kon­takt­lin­sen ge­tra­gen. In Mo­men­ten wie die­sen fehl­ten sie ihr und sie muss­te al­lein auf ih­re In­stink­te ver­trau­en.

Sie hielt den Atem an und lausch­te in den Wald hin­ein. Et­was ra­schel­te im Laub. Ei­ne Am­sel? Ei­ne Maus? Da­für war das Ra­scheln zu re­gel­mä­ßig. Schrit­te. Hat­te je­mand sie beim Ba­den beo­b­ach­tet? Hat­te man sie ent­deckt?

Ad­rena­lin spreng­te Smil­las Star­re. Sie kapp­te das Seil, an dem das Ka­nin­chen vom Baum hing. Dann zog sie sich an ei­nem Ast nach oben und klet­ter­te in die Baum­kro­ne. Wenn man auf ei­nen Bä­ren traf, soll­te man sich tot stel­len, schoss es ihr da­bei durch den Kopf. Auf kei­nen Fall durf­te man weg­lau­fen oder auf ei­nen Baum klet­tern. Das wuss­te sie aus ei­ner Ge­schich­te, die sie in der ach­ten Klas­se im Eng­lisch­un­ter­richt ge­le­sen hat­ten. Nur, dass ihr die­ses Wis­sen denk­bar we­nig half: In der Ei­fel gab es kei­ne Bä­ren. Da­für gab es Men­schen und die wa­ren manch­mal noch schlim­mer.

Smil­la kau­er­te sich zu­sam­men und ver­such­te, die Quel­le des Ge­räu­sches aus­zu­ma­chen. Dann sah sie ei­ne Ge­stalt zwi­schen den Bäu­men oben am Hang. An der Sta­tur und der Be­we­gung er­kann­te sie, dass es ein Mann war. Ihr Griff um das Mes­ser wur­de fes­ter, ihr Herz schlug noch schnel­ler.

Der Mann kam den Hang in ih­re Rich­tung hin­un­ter. Wenn er sie noch nicht be­merkt hat­te, dann wür­den spä­tes­tens das Blut und der Ka­nin­chen­pelz am Fuß des Bau­mes ver­ra­ten, dass sich in der Nä­he noch je­mand be­fand.

Smil­la kniff die Au­gen en­ger zu­sam­men, um mehr von der Ge­stalt zu er­ken­nen. Au­ßer den Men­schen im Quar­tier kann­te sie kei­ne Über­le­ben­den in die­ser Ge­gend. Aber sie wuss­te von ei­ni­gen. Und wenn das hier ei­ner von ih­nen war, wür­de sie sich et­was Ge­witz­te­res ein­fal­len las­sen müs­sen, als auf ei­nem Ast zu ho­cken und ab­zu­war­ten.

Der Mann war mitt­ler­wei­le so weit her­an­ge­kom­men, dass sie sein Ge­sicht aus­ma­chen konn­te. Sein Haar hing in wei­ßen Sträh­nen un­ter ei­ner grü­nen Woll­müt­ze her­vor und sei­ne Zü­ge wa­ren halb ver­deckt von ei­nem zot­te­li­gen, grau­en Bart. Er war alt. Zu alt, um zu den Ver­lo­re­nen Jungs zu ge­hö­ren. Die nah­men kei­ne Al­ten und Schwa­chen auf. Bei je­dem zwei­ten Schritt ver­zog er das Ge­sicht und gab ein lei­ses Zi­schen von sich. Er hum­pel­te.

Kurz über­leg­te Smil­la, ob sie aus ihrem Ver­steck sprin­gen und fort­lau­fen soll­te. Mit ei­nem ver­letz­ten Bein hat­te er kei­ne Chan­ce, sie ein­zu­ho­len. Doch dann be­schloss sie, zu ver­har­ren. Schließ­lich wuss­te sie nicht, ob er ir­gend­wel­che Schuss­waf­fen bei sich trug oder Mes­ser wer­fen konn­te. Viel­leicht si­mu­lier­te er auch bloß, da­mit sie sich in Si­cher­heit wog und ei­ne leich­te­re Beu­te ab­gab.

Als er nur noch we­ni­ge Me­ter von ihrem Baum ent­fernt war, hielt der Mann in­ne. Er hat­te das Ka­nin­chen­fell ent­deckt. Schwer­fäl­lig bück­te er sich, hob ei­nen Stock auf und stups­te das Fell an. Dann sah er auf. Er er­blick­te Smil­la so­fort.

Smil­las Mus­keln spann­ten sich in Angst an, als sich ih­re Bli­cke tra­fen. Im sel­ben Mo­ment er­griff sie der über­mäch­ti­ge Wunsch, zu über­le­ben. Sie wür­de sich mit je­der Fa­ser ihres aus­ge­hun­ger­ten Kör­pers ge­gen den Mann weh­ren. In­ner­lich wapp­ne­te sie sich für den Kampf. Auch wenn sie kei­nen Schim­mer hat­te, wie man kämpf­te.

»Gu­ten Tag«, sag­te er, zog sich die Müt­ze vom Kopf und rich­te­te sich lang­sam wie­der auf. Smil­la ant­wor­te­te nicht, hielt sei­nem Blick aber stand.

»Mein Na­me ist Ed­win. Dr. Ed­win Hab­s­tedt. Ich kom­me aus Bay­reuth und bin auf dem Weg nach Brüs­sel.« Er hielt sei­ne Müt­ze mit bei­den Hän­den vor der Brust und fum­mel­te an ei­nem lo­sen Fa­den her­um, wäh­rend er sprach. Er wirk­te un­si­cher, bei­na­he ängst­lich.

»Ich bin vor vier Ta­gen von ei­nem Hund an­ge­fal­len wor­den. Mei­nen Pro­vi­a­nt ha­be ich auf­ge­braucht. Und hier­mit…« Sei­ne Hand glitt nach un­ten und schob sei­nen Man­tel zur Sei­te. Zer­ris­se­ner Jeans­stoff und ge­trock­ne­tes Blut ka­men zum Vor­schein. »Hier­mit kann ich kaum noch ja­gen. Viel­leicht be­sit­zen Sie die Gü­te, Ihr Abend­brot mit mir zu tei­len?«

Smil­la fi­xier­te den Mann. Die Angst ge­bot ihr, sich nicht zu be­we­gen und nichts zu ant­wor­ten. Doch in der hin­ters­ten Ecke ihres Be­wusst­seins emp­fand sie Mit­leid für ihn. Er war alt. Er war al­lein. Und wenn es stimm­te, was er sag­te, dann war er auch noch ver­wun­det. Aber Mit­leid war ei­ne ge­fähr­li­che Sa­che, das wuss­te Smil­la. Sei­ne Be­haup­tung konn­te Teil ei­ner List sein. Am En­de steck­ten doch die Ver­lo­re­nen Jungs da­hin­ter.

»Ich ver­ste­he, dass Sie miss­trau­isch sind und dass Sie wahr­schein­lich selbst nicht viel zum Tei­len ha­ben. Aber ich bit­te Sie.« In sei­nem Blick lag et­was Fle­hen­des und Smil­la spür­te, wie sich et­was in ih­rer Brust zu­sam­men­zog. Sie schürz­te die Lip­pen, über­leg­te.

»Wie ist das mit dem Hund pas­siert?«, frag­te sie dann, um ihn auf die Pro­be zu stel­len. Wenn sei­ne Ge­schich­te aus­ge­dacht war, wür­de er sich nun schnell glaub­wür­di­ge De­tails über­le­gen müs­sen, oh­ne sich in Wi­der­sprü­che zu ver­stri­cken.

Ed­win hob die Schul­tern. »Er stand plötz­lich vor mir auf dem Weg. Ich bin um­ge­dreht, weil ich ihm nicht das Ge­fühl ge­ben woll­te, ei­ne Be­dro­hung zu sein. Da hat er sich von hin­ten in mein Bein ver­bis­sen.«

»War­um hat er wie­der von Ih­nen ab­ge­las­sen?«

»Ich ha­be mich auf ihn fal­len las­sen und ihm mit ei­nem Stein auf den Schä­del ge­schla­gen.«

»Ha­ben Sie ihn ge­tö­tet?«

»Ich bin mir nicht si­cher.«

»Wie kön­nen Sie nicht si­cher sein?«

»Ich ha­be ihn davon­lau­fen las­sen und ich weiß nicht, wie schwer ich ihn ver­letzt ha­be.«

So sehr sie sich auch an­streng­te, sie konn­te nie­mand an­de­res in der Um­ge­bung ent­de­cken. Kei­ne lau­ern­den Ver­lo­re­nen Jungs und auch sonst kei­ne Men­schen­see­le. Die Angst, die sie eben noch er­füllt hat­te, wich aus ihren Glie­dern. Ob das Men­schen­kennt­nis oder pu­rer Na­i­vi­tät ge­schul­det war, ver­moch­te Smil­la nicht zu sa­gen.

»Ich bin nicht al­lein«, er­wi­der­te Smil­la dann und hoff­te, we­der zu dro­hend, noch zu ängst­lich zu klin­gen. »Ich ge­hö­re zu ei­ner Grup­pe nicht weit von hier.«

Ed­win nick­te knapp und sah hoff­nungs­voll zu ihr auf. »Wür­den Sie mich dort mit hin­neh­men?«

Smil­la sank et­was in sich zu­sam­men, als ihr klar wur­de, dass sie den al­ten, ver­wun­de­ten Mann wür­de ent­täu­schen müs­sen. Denn im Quar­tier hat­ten sie vie­le Re­geln, die Smil­la meis­tens auch be­folg­te. Ei­ne davon, die wahr­schein­lich wich­tigs­te, schrieb vor, nie­mals Frem­den den ge­nau­en Stand­ort des Quar­tiers zu ver­ra­ten.

»Ich fürch­te, das kann ich nicht.«

Die Zü­ge des al­ten Man­nes er­schlaff­ten bei die­sen Wor­ten.

»Aber ich kann Ih­nen ei­ne Keu­le von mei­nem Ka­nin­chen dalas­sen«, bot Smil­la an.

Sei­ne Mie­ne hell­te sich et­was auf. »Das wä­re wun­der­bar.«

Smil­la warf ei­nen letz­ten Blick zum Hü­gel­kamm, aber da sie auch die­ses Mal kei­ne lau­ern­den Ge­fah­ren er­späh­te, klet­ter­te sie vom Baum her­ab. Der Mann wich ein paar Schrit­te zu­rück, als sie auf den Laub­bo­den sprang. Ob, um ihr zu zei­gen, dass er kei­ne Ge­fahr dar­stell­te, oder weil er selbst auf der Hut war, wuss­te sie nicht.

Smil­la band das Ka­nin­chen wie­der an den Ast und be­gann, ei­ne Keu­le ab­zu­tren­nen.

»Sie soll­ten aber bis zur Dun­kel­heit war­ten, bis Sie ein Feu­er ma­chen. Der Rauch könn­te Fein­de an­lo­cken.«

Dr. Ed­win Hab­s­tedt stütz­te sich am Baum ab und setz­te sich be­hut­sam ins Laub.

»Ist die Sek­te so­gar hier ak­tiv?«

Smil­la sah über­rascht vom Ka­nin­chen auf und Ed­win di­rekt in die Au­gen. »Die Sek­te? Nein. Ich dach­te, die wä­ren bloß er­fun­den.«

Ed­win lach­te grim­mig. »Wer weiß, viel­leicht wa­ren sie das am An­fang so­gar, aber mitt­ler­wei­le ha­ben sich ge­nug Spin­ner zu­sam­men­ge­fun­den. Und das ganz oh­ne so­zi­a­le Me­di­en.«

»Und stimmt es, was man über sie sagt?«, woll­te Smil­la wis­sen, oh­ne den Blick vom Ka­nin­chen zu wen­den. »Dass sie glau­ben, Gott wä­re schuld an der Pla­ge, und dass sie Men­schen­op­fer brin­gen, da­mit er sie er­löst?« Als ob das Le­ben nach der Pla­ge oh­ne re­li­gi­ö­sen Fa­na­tis­mus nicht schon an­stren­gend ge­nug wä­re.

»Ja, das kommt hin«, sag­te Ed­win. »Wenn Sie mit Fein­den nicht die Sek­te ge­meint ha­ben, wen mei­nen Sie dann?«

Smil­la zer­schnitt die letz­te wi­der­wil­li­ge Seh­ne am Hin­ter­lauf des Ka­nin­chens. »Die Ver­lo­re­nen Jungs«, ant­wor­te­te sie ihm dann. »Sie sind ei­ne Fuß­ball­mann­schaft aus Köln, die auf ei­nem Aus­flug in der Ei­fel war, als die Pla­ge sich aus­brei­te­te.«

»Kan­ni­ba­len?«

»Nicht, dass ich wüss­te. Aber sie be­trei­ben Men­schen­han­del und ver­füt­tern üb­rig ge­blie­be­ne Ge­fan­ge­ne ger­ne an ih­re Hun­de.«

Ed­win zog an­er­ken­nend die Au­gen­brau­en hoch. »Na, das wä­re in mei­nem Fall wirk­lich sehr iro­nisch.«

Smil­la reich­te Ed­win ein Stück ro­hes Fleisch. Er bedank­te sich und leg­te es be­hut­sam auf ei­nen Stein ne­ben sich. Er at­me­te schwer und Smil­la konn­te Schweiß­per­len auf sei­nen Wan­gen glit­zern se­hen. Es schien ihm wirk­lich schlecht zu ge­hen. Ob sie ihn hier ein­fach so zu­rück­las­sen konn­te?

»Ich bin üb­ri­gens Smil­la. Wir kön­nen uns von mir aus auch du­zen«, sag­te sie dann.

Ein flüch­ti­ges Lä­cheln spiel­te um Ed­wins Lip­pen. »Ger­ne. Es gibt kein Sie in An­ar­chie.« Er glucks­te, of­fen­sicht­lich zu­frie­den mit sei­nem klei­nen Reim, und Smil­la lä­chel­te höf­lich. Er hat­te ja recht. Bei den Um­stän­den, un­ter de­nen sie leb­ten, er­schien es wirk­lich al­bern, je­man­den zu sie­zen. Den­noch hat­te Smil­la sich die­se Um­gangs­form noch nicht ab­ge­wöhnt, wie so vie­les, was vor der Pla­ge ge­gol­ten und da­nach sei­ne Gül­tig­keit ver­lo­ren hat­te.

Sie ließ sich vor ihm im Laub nie­der. »War­um möch­test du nach Brüs­sel?«, woll­te sie wis­sen.

Ed­wins Au­gen leuch­te­ten auf. »Dort bau­en sie al­les wie­der auf. Die In­fra­struk­tur, die drei Ge­wal­ten, die Zi­vi­li­sa­ti­on.«

Smil­la run­zel­te die Stirn. »Und wo­her weißt du das?« Es war nicht das ers­te Mal, dass je­mand glaub­te, ir­gend­wo, weit, weit weg, wen­de sich al­les wie­der zum Gu­ten. Je­der kann­te ir­gend­wen, der je­man­den kann­te, der am Wie­der­auf­bau ei­ner Re­gie­rung be­tei­ligt oder von ei­nem Hilfs­kon­voi mit Nah­rung und Me­di­ka­men­ten ver­sorgt wor­den sein woll­te.

»Ich weiß es von ei­nem Rei­sen­den, der von Brüs­sel aus un­ter­wegs war, um sei­ne Fa­mi­lie dort hin­zu­ho­len«, ant­wor­te­te Ed­win.

Smil­la be­gut­ach­te­te ih­re blut­ver­schmier­ten Fin­ger. Ih­rer Er­fah­rung nach wa­ren all die­se Ge­schich­ten Mär­chen. Mär­chen, die man er­fand, um nicht den Ver­stand zu ver­lie­ren, wäh­rend man da­bei zu­sah, wie die Mensch­heit lang­sam aber si­cher aus­starb. »Wie kannst du dir si­cher sein, dass das stimmt?«

Ed­win zuck­te die Schul­tern. »Wo­her weiß ich, dass es nicht stimmt?«

Die Son­ne war in­zwi­schen hin­ter dem Ho­ri­zont ver­schwun­den und das Ta­ges­licht ver­lor mit je­der Se­kun­de an Kraft. Bald muss­te sie sich auf den Heim­weg ma­chen. Dann wür­de Ed­win al­lein hier sit­zen und dar­auf hof­fen müs­sen, dass er die Nacht über­leb­te.

»Zeig mir dei­ne Wun­de«, sag­te Smil­la ei­nem Im­puls fol­gend und kroch auf al­len vie­ren zu Ed­win.

Er sah sie ver­wun­dert an, dann wink­te er ab und zog sei­nen Man­tel en­ger. »Nicht nö­tig, das wird schon wie­der.«

»Zeig sie mir, ich ver­ste­he ei­ni­ges von Ver­let­zun­gen.«

»Bist du Kran­ken­schwes­ter… ge­we­sen?«

Sie schüt­tel­te den Kopf. »Ich ha­be bloß vie­le Ver­let­zun­gen ge­se­hen.«

Ed­win zö­ger­te, dann zog er den Man­tel ein Stück hoch. »Es ist halb so wild«, brumm­te er.

Smil­la beug­te sich wei­ter hin­un­ter. Ein üb­ler Ge­ruch stieg ihr ent­ge­gen. Dar­an, wie Men­schen ro­chen, die sich nicht mehr je­den Mor­gen mit Dusch­gel und Sham­poo rei­nig­ten, hat­te sie sich mitt­ler­wei­le ge­wöhnt. Sie hat­te sich dar­an ge­wöhnt, dass ih­re Haa­re fet­tig, ih­re Nä­gel per­ma­nent schmut­zig, ih­re Ach­seln und ih­re Scham wie­der haa­rig wa­ren. Aber Ed­win roch nicht nur un­ge­wa­schen, er stank nach Fäul­nis. Sie ver­such­te, sich nichts an­mer­ken zu las­sen, und schob den Fet­zen Jeans­stoff zur Sei­te, der die Wun­de be­deck­te. Das Fleisch dar­un­ter war zer­furcht wie ein frisch ge­pflüg­ter Acker. Die of­fe­nen Stel­len näss­ten und ei­ter­ten.

Smil­la wich zu­rück. »Die Wun­de muss ver­sorgt wer­den, sonst be­kommst du ei­ne Sep­sis.«

Oh­ne et­was zu er­wi­dern, sah Ed­win sie an. Dann nick­te er knapp. »Ich weiß.«

Smil­la biss sich auf die Un­ter­lip­pe und über­leg­te. Kei­ne Frem­den im Quar­tier. Das war die Re­gel. Und sie ver­stand die Re­gel. Selbst wenn Ed­win kei­ne di­rek­te Ge­fahr dar­stell­te – er konn­te sich bei den fal­schen Leu­ten ver­plap­pern oder ge­zwun­gen wer­den, ihren Stand­ort zu ver­ra­ten. Rau­ben und Plün­dern war für ei­nen gro­ßen Teil der Über­le­ben­den zum täg­lich Brot ge­wor­den. Aber was, wenn sie an sei­ner Stel­le wä­re? Die­ser Ge­dan­ke plag­te sie nicht zum ers­ten Mal. Sie war schon öf­ter in Si­tu­a­ti­o­nen ge­ra­ten, in de­nen sie hät­te hel­fen kön­nen. Und je­des Mal hat­te der Ge­dan­ke dar­an, wie sie sich in der La­ge des an­de­ren füh­len wür­de, es un­er­träg­lich ge­macht, sich ab­zu­wen­den und so zu tun, als wä­re nichts ge­sche­hen. Und doch hat­te sie ge­nau das im­mer wie­der tun müs­sen, um sich, ih­re klei­ne Schwes­ter und die an­de­ren aus ih­rer Grup­pe nicht in Ge­fahr zu brin­gen. Aber dies­mal konn­te sie es nicht über sich brin­gen. Dies­mal hat­te sie schon sein Ge­sicht ge­se­hen, sei­ne Stim­me ver­nom­men und die Hoff­nung dar­in ge­hört. Sie konn­te nicht die­je­ni­ge sein, die ihm die­se Hoff­nung wie­der nahm.

Smil­la stand auf und klopf­te sich Laub und Er­de von der Ho­se. »Komm mit«, sag­te sie dann und reich­te Ed­win die Hand.

Ei­ni­ge Se­kun­den lang sah Ed­win sie ver­wun­dert an. Dann ho­ben sich sei­ne Mund­win­kel zu ei­nem Lä­cheln und er zog sich an Smil­las Hand hoch. »Dan­ke«, sag­te er und voll­führ­te ei­ne un­be­hol­fe­ne Ver­beu­gung. »Dan­ke, Smil­la.«

»Ver­giss dein Abend­es­sen nicht«, mur­mel­te sie und deu­te­te auf die Keu­le. Sie schnür­te das Ka­nin­chen vom Ast ab und wi­ckel­te sich die Schnur ums Hand­ge­lenk. Dann trat sie den Heim­weg an und Ed­win folg­te ihr.

»Die an­de­ren, mit de­nen du zu­sam­men­lebst – wie vie­le seid ihr?«, frag­te Ed­win nach ei­ner Wei­le.

»Das wirst du schon se­hen, wenn wir da sind.«

»Wie weit ist es bis dort­hin?«

»Ein Stück­chen.«

Ed­win schien zu ver­ste­hen, dass Smil­la hier drau­ßen kei­ne De­tails zu der La­ge ihres Quar­tiers preis­ge­ben woll­te, denn er hör­te auf, Fra­gen zu stel­len.

»Er­zähl mir von dir«, sag­te Smil­la über ih­re Schul­ter, als ihr das Schwei­gen un­an­ge­nehm wur­de. »Hast du Fa­mi­lie?«

»Ja«, ant­wor­te­te Ed­win au­ßer Atem.

Smil­la dros­sel­te ihr Tem­po.

»Ei­nen Sohn.«

»Wo ist er?«

»Er ist tot.«

»Das tut mir leid.«

Ed­win seufz­te. »Er war ei­nes der ers­ten Op­fer der Pla­ge. Da­mals hät­te ich al­les ge­tan, um an sei­ner Stel­le zu ster­ben. Aber jetzt den­ke ich, so muss­te er we­nigs­tens das Cha­os und die Pa­nik nicht mehr mit­er­le­ben.«

Smil­la er­in­ner­te sich nur zu gut an die Pa­nik. An das Cha­os. Die Pla­ge war vor et­was mehr als vier Jah­ren in Nordame­ri­ka aus­ge­bro­chen und hat­te sich in ra­sen­der Ge­schwin­dig­keit auf die gan­ze Welt aus­ge­wei­tet. Die In­ku­ba­ti­ons­zeit war kurz, der Tod folg­te schon we­ni­ge Stun­den nach Aus­bruch der Krank­heit. Al­les ging so schnell, dass For­schung und Phar­ma­in­dus­trie kei­ne Zeit ge­blie­ben war, ein Ge­gen­mit­tel zu ent­wi­ckeln. Wo die Pla­ge her­ge­kom­men war, blieb eben­so un­ge­klärt. Smil­la wa­ren in den letz­ten Jah­ren zahl­rei­che The­o­ri­en zu Oh­ren ge­kom­men: Die ei­nen glaub­ten an ei­nen ur­zeit­li­chen Vi­rus, den der Kli­ma­wan­del aus dem Per­ma­frost­bo­den Alas­kas be­freit hat­te. An­de­re mein­ten, die Krank­heit ent­stam­me ei­ner Bio­waf­fe der Nord­ko­re­a­ner. Wie­der an­de­re hiel­ten das Gan­ze für Got­tes Zorn.

Grau­sam ge­nug, um Aus­druck von Got­tes Zorn sein zu kön­nen, war die Pla­ge al­le­mal. Doch viel grau­sa­mer war, was der Not­stand mit den Men­schen ge­macht hat­te. Sie wa­ren miss­trau­isch, ego­is­tisch und hart­her­zig ge­wor­den. Al­le hat­ten sich nur noch sich selbst ver­pflich­tet ge­fühlt. Aber die Pla­ge hat­te nicht nur das Mit­ge­fühl der Men­schen für­ein­an­der aus­ge­löscht. Je mehr Men­schen ge­stor­ben wa­ren, je wei­ter die Pa­nik an­ge­wach­sen war, des­to schnel­ler wa­ren auch die Re­vo­lu­ti­o­nen der Mensch­heit ver­schwun­den: De­mo­kra­tie, Ge­setz, Phar­ma­zie, Strom, In­dus­trie, In­ter­net, Di­gi­ta­li­sie­rung – die Lis­te war Tag für Tag län­ger ge­wor­den, bis das ge­sam­te Sys­tem zu­sam­men­ge­bro­chen war. Am En­de blie­ben nur lee­re Ge­bäu­de, ge­p­lün­der­te Lä­den und ein paar rat­lo­se Über­le­ben­de zu­rück. Und Smil­la war ei­ne von ih­nen. Die, die über­lebt hat­ten, schie­nen im­mun ge­gen die Pla­ge zu sein, denn Smil­la hat­te schon seit Jah­ren von nie­man­dem mehr ge­hört, den die Pla­ge er­wi­scht hat­te. Au­ßer­dem hat­te sie die Hand ih­rer er­krank­ten Mut­ter ge­hal­ten, ihr beim Ster­ben zu­ge­se­hen und sich trotz­dem nicht an­ge­steckt.

»Hast du Fa­mi­lie?«, gab Ed­win die Fra­ge schließ­lich zu­rück.

»Mei­ne Schwes­ter Je­ra. Mei­ne Mut­ter ist an der Pla­ge ge­stor­ben. Und mein Va­ter war ge­schäft­lich in der Nä­he von Ca­lais, als es los­ging. Um ge­nau zu sein, sind wir nur in der Ei­fel ge­lan­det, weil wir uns auf­ma­chen woll­ten, ihn zu su­chen«, er­klär­te Smil­la.

»Ihn su­chen?« In Ed­wins Stim­me schwang Ver­wun­de­rung mit. Wie so vie­le an­de­re hielt er es ver­mut­lich für äu­ßerst un­wahr­schein­lich, dass ihr Va­ter noch leb­te. Manch­mal tat Smil­la das auch. Nachts, wenn es dun­kel wur­de und die Welt noch viel ge­fähr­li­cher wirk­te, als sie oh­ne­hin schon war.

»Wir kom­men ur­sprüng­lich aus Köln, Je­ra und ich. Wir ha­ben dort ein Jahr ge­war­tet, dass er zu­rück­kommt. Aber dann wur­de es zu ge­fähr­lich für uns. Zwei Mäd­chen oh­ne Grup­pe, oh­ne Un­ter­stüt­zung et ce­te­ra. Wir woll­ten los, um ihn zu su­chen.«

»Und wie seid ihr dann hier, ir­gend­wo im nir­gend­wo, ge­lan­det?«

»Ich hat­te die Rei­se un­ter­schätzt. Wir wa­ren völ­lig aus­ge­hun­gert und hat­ten bei­de Fie­ber, als wir hier im Wald auf die Grup­pe ge­trof­fen sind, bei der wir nun le­ben.«

»Sie ha­ben euch auf­ge­nom­men«, schluss­fol­ger­te Ed­win.

»Ja«, sag­te Smil­la und merk­te, dass sie selbst ein we­nig über­rascht klang. Es gab nicht mehr vie­le Men­schen, die es auf sich ge­nom­men hät­ten, zwei zu­sätz­li­che hung­ri­ge Mä­gen zu fül­len. Je­ra und sie hat­ten Glück ge­habt, dass sie auf ge­nau sol­che Men­schen ge­trof­fen wa­ren.

»Al­so habt ihr auf­ge­hört, nach eu­rem Va­ter zu su­chen?« Ed­win blieb ste­hen und wisch­te sich den Schweiß von der Stirn.

Smil­la blieb eben­falls ste­hen. »Ihn zu su­chen war von An­fang an nichts als ei­ne Ver­zweif­lungs­tat. Wenn er über­lebt hat – wie hoch sind die Chan­cen, dass er die gan­ze Zeit über in Ca­lais ge­blie­ben ist?« Sie wink­te Ed­win zu sich, um ihm zu be­deu­ten, dass er sich wie­der in Be­we­gung set­zen soll­te. »Nicht sehr hoch«, beant­wor­te­te sie sich dann ih­re ei­ge­ne Fra­ge und lief wei­ter.

Ed­win ächz­te hin­ter ihr. »Hier in den Wäl­dern zu blei­ben ist si­cher das Bes­te für euch. Es ist wirk­lich un­ge­müt­lich ge­wor­den, vor al­lem in den Städ­ten. Ich ha­be auf mei­nem Weg viel ge­se­hen und kaum et­was davon war er­freu­lich.«

Sie ka­men an ei­nen schma­len Bach­lauf mit ei­ner Brü­cke. Smil­la streck­te ei­nen Arm aus, um Ed­win dar­an zu hin­dern, sie zu be­tre­ten. »Auf der Brü­cke hin­ter­las­sen wir Spu­ren. Ich sprin­ge lie­ber über den Bach.«

Sie setz­te ei­nen Fuß auf ei­nen Stein in der Mit­te des Stroms und hüpf­te hin­über. Dann reich­te sie Ed­win die Hand, um ihm übers Was­ser zu hel­fen.

Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter ge­lang­ten sie auf die Drei­bor­ner Hoch­flä­che. In der Abend­däm­merung wirk­ten die ver­blüh­ten Gins­ter­bü­sche und das gil­ben­de Gras sanft wie ein Pas­tell­ge­mäl­de.

»Ah, hier sind wir«, sag­te Ed­win mit ei­nem Blick in die Fer­ne. »Da drü­ben ist die Or­dens­burg Vo­gel­sang, nicht wahr?« Er deu­te­te in den Dunst über den Ber­gen am Ho­ri­zont.

»Ge­nau«, be­stä­tig­te Smil­la. »Warst du mal dort?«

»Ja, aber das ist über zwan­zig Jah­re her. Da­mals leb­te mei­ne Frau noch. Sie kam ger­ne zum Wan­dern in die Ei­fel. Hat­te ei­ne Cou­si­ne in Mon­schau.«

Ei­ne wei­te­re Vier­tel­stun­de ver­strich. Es war mitt­ler­wei­le dun­kel und nur die Ster­ne, die ver­ein­zelt zwi­schen den Wol­ken auf­blink­ten, er­mög­lich­ten es, in der Fins­ter­nis et­was zu er­ken­nen. Hin­ter den Gins­ter­bü­schen wur­den Um­ris­se sicht­bar, die sich kan­tig und ge­rad­li­nig von der um­ge­ben­den Na­tur ab­ho­ben. Sie wa­ren nur noch we­ni­ge Dut­zend Me­ter vom Quar­tier ent­fernt.

Smil­la blieb ste­hen und wand­te sich zu Ed­win um. «Ei­ne Sa­che noch«, sag­te sie. Bei dem Ge­dan­ken an Ka­ren und die an­de­ren wur­de ihr heiß und flau. «Ich brin­ge mich ge­ra­de selbst in ziem­lich gro­ße Schwie­rig­kei­ten, in­dem ich dich zu un­se­rem Quar­tier füh­re. Du musst mir ver­spre­chen, dass du zu nie­man­dem auch nur ei­ne Sil­be über uns ver­lierst. Nicht über un­se­re Grup­pe und auch nicht über un­se­ren Stand­ort.«

Ed­win sah sie aus erns­ten Au­gen an. Dann nick­te er.

»Ver­sprich es«, for­der­te Smil­la. Sie muss­te die Wor­te aus sei­nem Mund hö­ren, auch wenn Wor­te in die­ser Welt un­ge­fähr so viel Be­deu­tung hat­ten wie das Le­ben ei­ner Ein­tags­flie­ge.

»Ich schwö­re es dir so­gar«, sag­te Ed­win. »Von mir er­fährt nie­mand ir­gend­et­was.«

»Gut.« Smil­la setz­te sich wie­der in Be­we­gung. »Da vorn ist es näm­lich auch schon.«

»Aber das ist doch nicht Woll­sei­fen, oder?«, frag­te Ed­win, als sie die ers­ten wür­fel­haf­ten Bau­ten pas­sier­ten, die den bel­gi­schen Mi­li­tärs einst als Ku­lis­se für Kamp­f­übun­gen ge­dient hat­ten.

»Doch, ist es«, sag­te Smil­la. Sie bo­gen vom Pfad ab, der durch das Dorf führ­te. Dann stie­gen sie ei­ne Sen­ke hin­ab, in der hin­ter knor­ri­gen Na­del­ge­wäch­sen der Ein­gang zum Quar­tier ver­bor­gen lag. Sie hat­ten be­wusst kein Tor oder Ähn­li­ches vor den Zu­gang des Bun­kers ge­baut, da­mit nie­mand auf die Idee kam, hier wä­re et­was zu ho­len. Das Stahl­git­ter, das den Ein­gang einst ver­sperrt hat­te, war acht­los auf den Bo­den ge­wor­fen wor­den, und Grä­ser und Moo­se wu­cher­ten in ei­nem ste­tig dich­ter wer­den­den Netz dar­über. Smil­la tauch­te in die Fins­ter­nis der Bun­ker­gän­ge ein und stieg die Trep­pe ins Erd­reich hin­ab. Bis dort­hin reich­te nicht ein­mal das Licht der Ster­ne.

Auf der Hälf­te der Trep­pe be­merk­te sie, dass Ed­wins Schrit­te hin­ter ihr ver­stummt wa­ren. Sie hielt an, wand­te sich um und er­kann­te sei­ne Sil­hou­et­te im Ein­gang. »Es sind zwei­und­zwan­zig Stu­fen. Al­le in­takt, nur et­was rut­schig«, rief Smil­la ihm zu. Manch­mal ver­gaß sie, wie viel Über­win­dung es beim ers­ten Mal kos­te­te, blind in das schwar­ze Nichts un­ter ih­nen zu tre­ten.

»Okay«, sag­te Ed­win in er­stick­tem Ton­fall, be­weg­te sich aber kei­nen Zen­time­ter. Smil­la er­kann­te Angst in sei­ner Stim­me. Sie ver­stand ihn nur zu gut. In der Welt nach der Pla­ge wuss­te man nie, wem man trau­en konn­te. Je freund­li­cher und ent­ge­gen­kom­men­der je­mand war, des­to grö­ßer war die Wahr­schein­lich­keit, dass er nichts Gu­tes im Schil­de führ­te. Sie selbst wür­de un­ter kei­nen Um­stän­den je­man­dem in ei­nen fins­te­ren Gang fol­gen – so viel stand fest.

»Oder viel­leicht war­test du bes­ser dort oben«, sag­te sie al­so, um Ed­win aus sei­ner in­ner­li­chen Zwick­müh­le zu hel­fen. »Ich ge­be eben das Ka­nin­chen ab und fra­ge nach Ver­bands­zeug. Dann kom­me ich wie­der.«

»Ist gut.« Ed­win wich zu­rück un­ter den frei­en Him­mel.

Mit ei­li­gen Schrit­ten lief Smil­la den Gang ent­lang und bog nach rechts ab, wo wei­te­re glit­schi­ge Stu­fen tie­fer in die Er­de führ­ten. Am Fuß der Trep­pe er­streck­te sich ein Flur mit drei Tü­ren auf je­der Sei­te. Hin­ter der zwei­ten Tür links war der Bun­ker ein­ge­stürzt. So soll­te es zu­min­dest aus­se­hen, wenn je­mand mit ge­nug Licht und Mut hier her­un­ter kam. In Wirk­lich­keit aber war der Gang nicht ein­ge­stürzt. Ka­ren und ih­re Fa­mi­lie hat­ten Bau­schutt und Er­de her­ein ge­karrt und auf­ge­türmt, um es so aus­se­hen zu las­sen. Der Ge­steins­bro­cken in der rech­ten obe­ren Ecke war aus Sty­ro­por und ließ sich oh­ne Pro­ble­me aus dem Schutt­hau­fen her­aus­schie­ben. Durch das ent­ste­hen­de Loch ge­lang­te man ins Quar­tier.

Smil­la er­klomm den Schutt­hau­fen und duck­te sich durch den ge­hei­men Ein­gang. Auf der an­de­ren Sei­te war das Ge­röll mit Be­ton und Holz­bal­ken ge­si­chert und ei­ne un­ebene Trep­pe führ­te zu­rück auf fes­ten Bo­den. Smil­la schob ge­ra­de den fal­schen Ge­steins­bro­cken wie­der an sei­nen Platz, als sie Schrit­te im Flur hin­ter sich hör­te.

»Da bist du ja end­lich«, er­klang Ka­rens Stim­me.

Smil­la wand­te sich um und warf Ka­ren ein flüch­ti­ges Lä­cheln zu. Vor ei­nem Jahr hat­te ihr Haar noch erd­be­er­blond ge­glänzt, mitt­ler­wei­le war sie fast gänz­lich er­graut.

»Hast du nichts ge­fan­gen?«

»Doch, aber –«

»Sehr gut, her da­mit. Die an­de­ren rü­cken mir schon auf die Pel­le.«

Ka­ren streck­te die Hand aus und Smil­la reich­te ihr das Ka­nin­chen. Mit ge­run­zel­ter Stirn mus­ter­te ih­re An­füh­re­rin den drei­bei­ni­gen Ka­da­ver. »Du hast doch nicht et­wa schon davon ge­ges­sen, oder?«

Smil­la schüt­tel­te den Kopf. »Aber ich ha­be je­man­dem et­was davon ab­ge­ge­ben.«

Ka­ren sah von dem ver­stüm­mel­ten Ka­nin­chen auf. »Du hast was?«

Smil­la schluck­te beim An­blick von Ka­rens ent­geis­ter­ter Mie­ne.

»Ja, ei­nem al­ten Mann, der auf dem Weg nach Brüs­sel ist. Er ist ver­letzt und hat mich um Hil–«

»Du willst mir sa­gen, du bist ver­ant­wort­lich für das Abend­es­sen von sie­ben Leu­ten und gibst die Hälf­te ei­nes ma­ge­ren Ka­nin­chens an ei­nen Frem­den?«

Smil­la schlug den Blick nie­der. Au­gen­blick­lich wur­den ih­re Wan­gen vor Scham heiß. Als sie wie­der auf­sah, be­merk­te sie Je­ra und Gior­gio, die sich aus dem Wohn­zim­mer in den Flur lehn­ten, um das Ge­sche­hen zu ver­fol­gen.

»Ich ha­be ihm nur ei­ne Keu­le ge­ge­ben und –«

»Smil­la, wir ha­ben kla­re Re­geln für der­ar­ti­ge Be­geg­nun­gen. Hast du An­na et­wa schon ver­ges­sen?«

»Nein, na­tür­lich nicht. Aber ich hat­te Mit­leid.«

Ka­ren er­wi­der­te nichts und Smil­la wag­te es nicht, sie an­zu­se­hen. Ver­mut­lich kämpf­te sie mit den Trä­nen. Das tat sie im­mer, wenn An­nas Na­me fiel.

»Smil­la«, sag­te sie dann bloß, »du bist zu weich für die­se Welt.«

Hin­ter Ka­ren griff Je­ra sich in ei­ner dra­ma­ti­schen Ges­te ans Herz und tat so, als ob sie sich Trä­nen der Rüh­rung aus den Au­gen wisch­te. Gior­gio be­en­de­te ih­re Vor­stel­lung mit ei­nem Klaps auf ihren Hin­ter­kopf.

»Komm, dann hilf mir we­nigs­tens beim Ko­chen. Aber das kommt nie wie­der vor. Ist das klar?«

Smil­la biss sich auf die Lip­pe. »Ich hel­fe dir so­fort, aber… ich ha­be ihn viel­leicht mit­ge­bracht.«

»Mit­ge­bracht? Den Frem­den?« Ih­re Stim­me klang schrill.

Smil­la nick­te be­trof­fen, halb in Er­war­tung ei­ner Ohr­fei­ge. Aber als Ka­ren nur fas­sungs­los schnauf­te, re­de­te Smil­la wei­ter. »Er wur­de von ei­nem Hund an­ge­fal­len und sei­ne Wun­de sieht echt übel aus. Ich konn­te ihn nicht zu­rück­las­sen. Und er hät­te mir be­stimmt auch ge­hol­fen, wenn ich in Schwie­rig­kei­ten ge­we­sen wä­re.«

»Ja si­cher, Smil­la, weil wir so vie­le gu­te Er­fah­run­gen mit hilfs­be­rei­ten, frem­den Män­nern ge­macht ha­ben.«

»Er ist alt und er ist ein Dok­tor.«

»Oh, na dann«, sag­te Ka­ren und schüt­tel­te em­pört den Kopf. »Und was willst du bit­te mit ihm an­stel­len?«

»Ich will sei­ne Wun­de säu­bern und des­in­fi­zie­ren.«

Ka­rens Na­sen­flü­gel beb­ten, wie im­mer, wenn sie sich ent­schei­den muss­te, ob sie sich be­ru­hi­gen oder noch wü­ten­der wer­den woll­te.

»Na gut. Was an­de­res, als hilfs­be­reit zu sein, bleibt uns wohl auch nicht mehr üb­rig, wo du ihm schon un­se­ren Stand­ort ver­ra­ten hast.«

Smil­la at­me­te er­leich­tert aus.

»Kann ich zu­se­hen?«, rief Je­ra vom En­de des Flurs her.

Ka­ren wand­te sich mit ei­ner Selbst­ver­ständ­lich­keit zu ihr um, als hät­te sie die gan­ze Zeit ge­wusst, dass Je­ra lausch­te. »Du und Gior­gio helft beim Ge­mü­se­schnei­den, da gibt es kei­ne Aus­re­den!«

Je­ra quiek­te un­zu­frie­den. »Mann, ich has­se Schnip­peln.«

Mit ge­senk­tem Kopf lief Smil­la an Ka­ren vor­bei und auf die Tür zu, in der Gior­gio und Je­ra stan­den. »Wie blö­de du bist«, sag­te Je­ra, als Smil­la vor­bei­ging, und trat nach ihren Fü­ßen.

»Sei bloß still, Je­ra«, brumm­te sie und trat zu­rück.

Sie lief vor­bei an Lars, der in sei­nem Ses­sel vor dem Ka­min saß und rief: »Was hast du nun schon wie­der an­ge­stellt?« Vor­bei an sei­nen und Ka­rens Töch­tern Sa­rah und Ma­rie, die am Ess­tisch Klei­dung und Be­zü­ge flick­ten. Dann ge­lang­te sie in den Flur und die dar­an an­gren­zen­de Vor­rats­kam­mer.

Der Ver­bands­kas­ten hat­te sich seit Gior­gi­os An­kunft im Quar­tier sicht­lich ge­leert. Ein Jahr war es her, dass er blu­tend und wei­nend zu ih­nen ge­sto­ßen war. Ein Jahr, seit­dem sie An­na ver­lo­ren hat­ten.

Ei­lig stopf­te Smil­la Sal­be, ei­nen Fet­zen Bett­tuch und Mull­bin­den in ih­re Ja­cken­ta­schen. Dann ver­ließ sie die Vor­rats­kam­mer und ging in die Koch­ecke im Wohn­zim­mer. Dort schöpf­te sie Was­ser aus ei­nem höl­zer­nen Fass in ei­ne Plas­tik­schüs­sel und be­gab sich zu­rück in den Flur, der aus dem Quar­tier her­aus führ­te.

Ed­win hat­te sich ein paar Me­ter ent­fernt vom Bun­ker auf den Bo­den ge­setzt. Als Smil­la ins Freie trat und auf ihn zu­kam, stand er auf. »Und?«, frag­te er. »Hast du Ver­bands­zeug be­kom­men?«

Smil­la warf ihm ei­nen fins­te­ren Blick zu, wäh­rend sie die Schüs­sel mit dem Was­ser zu ihm ba­lan­cier­te. »Dei­net­we­gen ha­be ich ganz schön Är­ger am Hals«, sag­te sie dann bloß.

Sie stell­te die Schüs­sel mit Was­ser be­hut­sam ins Moos und hol­te den Fet­zen Bett­tuch aus ih­rer Ja­cken­ta­sche. »Zieh am bes­ten dei­ne Ho­se aus«, wies sie ihn an.

Ed­win gab ein un­de­fi­nier­ba­res Ge­räusch von sich. »Ich ver­arz­te mich schon selbst. Du hast ge­nug für mich ge­tan.«

»Lass mich das ma­chen. Dann weiß ich we­nigs­tens, dass es rich­tig ge­macht wur­de«, wi­der­sprach Smil­la.

Ed­win zö­ger­te, seufz­te dann er­ge­ben und knöpf­te sei­ne Ho­se auf.

Smil­la tunk­te das Stück Laken ins Was­ser und be­gann sanft, die Haut um die Wun­de her­um zu säu­bern. »Es blu­tet nicht mehr, das ist gut. Wie lan­ge hat es ge­blu­tet?«

»Die ers­te Nacht durch. Dann wur­de es we­ni­ger, aber durch die stän­di­ge Be­we­gung geht die Wun­de im­mer wie­der auf.«

Smil­la tunk­te das Tuch er­neut ins Was­ser. Oh­ne den Schutz der Jeans war Ed­wins Ge­stank bei­na­he un­er­träg­lich. Für ei­nen kur­z­en Mo­ment be­fand sie sich in der Li­nie 18 vom Köl­ner Haupt­bahn­hof Rich­tung Bar­ba­ros­sa­platz. Auf der Sitz­bank hin­ter ihr hing der Pen­ner, der so oft in die­ser Li­nie um Geld bat – be­sin­nungs­los, in sei­nen ei­ge­nen Fä­ka­li­en sit­zend. Die an­de­ren Pas­sa­gie­re wa­ren aus­ge­stie­gen oder in den vor­de­ren Teil der Bahn ge­flüch­tet. Nur Smil­la war sit­zen ge­blie­ben und hat­te den Ge­stank aus­ge­hal­ten.

Als sie den gröbs­ten Schmutz von Ed­wins Haut ent­fernt hat­te, sah sie, wie breit der Spalt war, den der Hund in sein Fleisch ge­schla­gen hat­te. Es war nicht bloß der Ab­druck ei­nes Raub­tier­kie­fers. Die Wun­de klaff­te weit aus­ein­an­der. »Das muss ge­näht wer­den«, sag­te sie und ließ das Tuch sin­ken. »Ich ho­le Näh­zeug.«

Sie stand auf und lief zu­rück in den Bun­ker.

»Ist die Wun­de schon ver­sorgt?«, frag­te Ka­ren ver­wun­dert, als Smil­la durch die Tür zum Wohn­zim­mer kam.

»Sie muss ge­näht wer­den«, ant­wor­te­te sie im Vor­bei­ge­hen. Sie hoff­te, ei­ner neu­er­li­chen Wel­le des Är­gers zu ent­ge­hen, wenn sie schnell ge­nug wie­der au­ßer Sicht war.

Als Smil­la mit Na­del und Zwirn zu­rück aus der Vor­rats­kam­mer kam, stand Ka­ren im Flur und ver­sperr­te ihr den Durch­gang. »Ist die Wun­de tief?«, frag­te sie mit ge­dämpf­ter Stim­me.

»Ja.«

Ka­ren warf ei­nen Sei­ten­blick zu Lars, der noch im­mer in sei­nem Ses­sel saß und zu­frie­den ins Ka­min­feu­er starr­te. Dann seufz­te sie und sag­te: »Nun bring ihn schon rein. Du kannst in der Dun­kel­heit doch kei­ne Wun­de nä­hen.«

»Okay«, sag­te Smil­la er­leich­tert, »dan­ke.«

»Er hat zu dan­ken.«

Ei­lig stopf­te Smil­la Na­del und Zwirn zu der Mull­bin­de in ih­rer Ja­cken­ta­sche und lief zu­rück zu Ed­win.

»Du kannst rein­kom­men«, sag­te sie au­ßer Atem, als sie bei ihm an­kam.

»Bist du si­cher?«

»Ja, hier drau­ßen se­he ich nicht ge­nug.« Sie bück­te sich nach der Plas­tik­schüs­sel und dem Stück Laken, wäh­rend Ed­win schwer­fäl­lig sei­ne Ho­se wie­der hoch­zog.

Dies­mal folg­te Ed­win ihr in die Fins­ter­nis des Quar­tiers. Viel­leicht hat­te er re­a­li­siert, dass ihm gar nichts an­de­res üb­rig blieb. Viel­leicht hat­te er aber auch beim An­blick von Sal­be und Mull­bin­de er­kannt, dass Smil­la ihm wirk­lich nur hel­fen woll­te.

»Hier rechts«, lei­te­te sie ihn an, als sie an die Stel­le ka­men, wo sich der Flur t-för­mig spal­te­te. »Und hier ist noch ei­ne Trep­pe, sech­zehn Stu­fen.«

»Wie habt ihr die­sen Ort ge­fun­den?«, frag­te er. Sie hör­te sei­nen Arm tas­tend an der Wand ent­lang strei­fen, sei­ne un­re­gel­mä­ßi­gen Schrit­te auf dem Be­ton­bo­den.

»Die meis­ten aus mei­ner Grup­pe kom­men aus der Ge­gend. Den Bun­ker hat­ten sie lan­ge vor der Pla­ge bei ei­nem Aus­flug ent­deckt. Als die Pla­ge aus­brach, ha­ben sie sich aus Angst hier­hin zu­rück­ge­zo­gen.«

Sie ge­lang­ten an die Bar­ri­ka­de aus Schutt.

»Das könn­te jetzt schwie­rig wer­den«, kün­dig­te Smil­la an und klet­ter­te zu dem fal­schen Stein hin­auf. Sie stell­te die Plas­tik­scha­le mit Was­ser ab und stieg zu­rück, um Ed­win zu hel­fen. Er muss­te sich auf den Hin­tern set­zen und rück­wärts durch das Loch rob­ben. Auf der an­de­ren Sei­te an­ge­kom­men, brauch­te er Smil­la als Stüt­ze, um die Stu­fen wie­der her­ab­zu­stei­gen. Sie warf ihm ei­nen heim­li­chen Blick zu, als sie auf fes­ten Bo­den ge­lang­ten. Auf sei­ner Stirn stand Schweiß und er wirk­te aus­ge­laugt.

Als sie mit ihm das Wohn­zim­mer be­trat, hat­ten sich die an­de­ren hin­ter dem Ess­tisch zu ei­nem krie­ge­ri­schen Be­grü­ßungs­ko­mi­tee auf­ge­reiht. Lars hat­te sei­ne Jagd­müt­ze auf­ge­setzt, Ka­ren die Ar­me vor der Brust ver­schränkt, Sa­rah ih­re Haa­re zu­rück­ge­bun­den, Ma­rie ihren Ro­sen­kranz in den Fin­gern und Je­ra den lä­cher­li­chen Speer un­ter ihrem Bett her­vor­ge­holt, an dem sie je­den Abend her­um­schnitz­te. Nur Gior­gio hat­te sich kei­ne Mü­he ge­ge­ben, stär­ker oder här­ter aus­zu­se­hen, als er war. Er saß am Kü­chen­tisch und schäl­te Kar­tof­feln.

»Das ist Ed­win«, sag­te Smil­la und ver­such­te, ge­löst zu klin­gen.

»Gu­ten Abend.« Ed­win voll­führ­te die knap­pe Ver­beu­gung, die er auch schon ihr ge­wid­met hat­te. »Und dan­ke für eu­re Gast­freund­schaft.«

»Nichts zu dan­ken«, sag­te Ka­ren. Sie griff hin­ter sich und hol­te ei­ne Fla­sche her­vor, die stark nach Schnaps aus­sah. »Wenn Sie ge­näht wer­den müs­sen, soll­ten Sie sich vor­her et­was Mut an­trin­ken.« Sie stell­te ein Glas auf den Tisch und goss zwei Fin­ger­breit brau­ne Flüs­sig­keit ein.

»Das ist doch nicht nö­tig«, sag­te Ed­win und wink­te ab.

»Doch, glau­ben Sie mir, ist es.« Sie kam um den Tisch her­um und reich­te ihm den Schnaps. In der­sel­ben Be­we­gung nahm sie ihm die Ka­nin­chen­keu­le ab. »Die schmeckt ge­kocht bes­ser.« Dann ging sie zu­rück zur An­rich­te.

Ed­win schwenk­te sei­nen un­ge­kühl­ten Drink und roch dar­an, be­vor er ihn in ei­nem Zug hin­un­ter­kipp­te.

»Setz dich«, sag­te Smil­la und wies auf ei­nen der Kü­chen­stüh­le. Ed­win tat, wie ihm ge­hei­ßen.

»Hast du das Des­in­fek­ti­ons­spray?«, frag­te Ka­ren über ih­re Schul­ter.

»Nein, nur die Jod­sal­be.«

»Ma­rie, hol Smil­la das Des­in­fek­ti­ons­spray. Wenn wir schon Not­arzt spie­len, dann rich­tig.«

Mit ei­nem kur­z­en Ni­cken ver­schwand Ma­rie in Rich­tung Vor­rats­kam­mer.

Smil­la zog sich ei­nen Stuhl her­an und ließ sich vor Ed­win dar­auf nie­der. Je­ra und Gior­gio tra­ten hin­ter sie, wäh­rend Sa­rah und Lars das Ge­sche­hen von der an­de­ren Sei­te des Ti­sches ver­folg­ten.

»Zeig mal dei­ne Wun­de«, for­der­te Je­ra gie­rig.

Ed­win klapp­te das zer­ris­se­ne Stück Jeans zur Sei­te.

»Wow«, mur­mel­te Je­ra. »Hat das weh ge­tan? Al­so, so rich­tig weh ge­tan?«

»Ab­so­lut«, sag­te Ed­win und zwin­ker­te Je­ra zu.

»Wie ist das pas­siert? War das et­wa ein Wolf? Es sieht nach ei­nem Wolf aus.«

»Ein Hund«, ant­wor­te­te Smil­la für Ed­win. »Du musst die Ho­se ein Stück run­ter­zie­hen, sonst kann ich nicht ver­nünf­tig nä­hen.«

Dies­mal pro­tes­tier­te Ed­win nicht.

Sie hör­te, wie Lars sich an­ge­strengt räus­per­te, als die Wun­de ganz zum Vor­schein kam. Er konn­te Hüh­nern den Kopf um­dre­hen und oh­ne mit der Wim­per zu zu­cken Klein­wild aus­neh­men, aber von Men­schen­blut wur­de ihm flau.

»Das gibt be­stimmt ei­ne coo­le Nar­be«, mein­te Je­ra und lehn­te sich nä­her zu Ed­win. »Ich ha­be auch Nar­ben, willst du mal se­hen?«

In die­sem Mo­ment kam Ma­rie aus der Vor­rats­kam­mer zu­rück und stell­te das Des­in­fek­ti­ons­mit­tel ne­ben Smil­la auf den Kü­chen­tisch.

»Je­ra, du nervst«, sag­te Smil­la zu ih­rer klei­nen Schwes­ter. »Hilf mir lie­ber, viel­leicht lernst du ja so­gar was da­bei.«

Je­ra knie­te sich auf den Bo­den zwi­schen Ed­win und Smil­la. »Du hast es zu­erst sau­ber ge­macht, ja?«, frag­te sie und Smil­la nick­te.

»Jetzt des­in­fi­zierst du es?«

»Ge­nau.«

»Guck, ich weiß das al­les schon«, sag­te Je­ra zu Ed­win. »Mei­ne Schwes­ter hält mich für blöd.«

»Oh, das ha­ben Schwes­tern so an sich.«

»Hast du auch ei­ne Schwes­ter?«

Ed­win sog scharf die Luft ein, als Smil­la das Des­in­fek­ti­ons­spray in sei­ne Wun­de sprüh­te.

»Ja, vier so­gar«, ant­wor­te­te er mit zu­sam­men­ge­press­ten Zäh­nen.

»Vier Smil­las«, mur­mel­te Je­ra, »da wür­de ich ver­rückt wer­den!«

Gior­gio lach­te tro­cken. »Und Ka­ren erst.«

 

Nach­dem Smil­la Ed­wins Wun­de ge­näht, mit Jod­sal­be ein­ge­cremt und ver­bun­den hat­te, war er kaum mehr an­sprech­bar. Sei­ne Lip­pen hat­ten ei­nen fah­len Ton an­ge­nom­men, sein Blick war neb­lig. Lars und Gior­gio muss­ten ihn zur Couch tra­gen, da er zwei­mal bei­na­he vom Stuhl ge­sackt wä­re.

Je­ra setz­te sich vor die Couch und nutz­te Ed­wins Wehr­lo­sig­keit aus, um ihm al­ler­lei Ge­schich­ten zu er­zäh­len, die Smil­la und die an­de­ren schon et­li­che Ma­le ge­hört hat­ten. »Ein­mal, da war ich drei oder so, da saß ich hin­ten auf dem Fahr­rad von mei­ner Ma­ma und mein Bein ist in die Spei­chen ge­kom­men…« Ab und zu brumm­te Ed­win er­staunt oder zu­stim­mend, ob­wohl Smil­la be­zwei­fel­te, dass er ihr fol­gen konn­te.

»Meinst du, er über­lebt die Nacht?«, flüs­ter­te Gior­gio na­he an Smil­las Ohr. Sie sa­ßen vor dem Ka­min­feu­er und pass­ten auf, dass Ka­rens Ka­nin­chen­ein­topf nicht an­brann­te.

Smil­la nick­te. »Er ist bloß er­schöpft und jetzt, wo er in Si­cher­heit ist, holt ihn das ein. Nach ei­ner rich­ti­gen Mahl­zeit und ei­ner Nacht Schlaf wird er wie­der bei Kräf­ten sein.«

Gior­gi­os brau­ne Au­gen wan­der­ten un­be­hag­lich in Ed­wins Rich­tung und er nick­te. »Ich weiß noch, wie ich auf die­ser Couch lag und von Je­ra be­schallt wur­de.«

»Ja, ich ha­be auch ge­ra­de dar­an ge­dacht«, ge­stand Smil­la, »ein Jahr ist das schon her.«

Ei­ne Wei­le starr­ten sie schwei­gend ins Feu­er. »Glaubst du, sie sind noch im­mer dort?«

»War­um soll­ten die Ver­lo­re­nen Jungs Vo­gel­sang auf­ge­ge­ben ha­ben? Du hast doch selbst ge­sagt, dass sie es mit viel Auf­wand zu ei­ner un­ein­nehm­ba­ren Fes­tung ge­macht ha­ben.«

»Ja, schon, aber ich ha­be seit der Sa­che mit An­na nie wie­der ei­nen von ih­nen ge­se­hen.«

Smil­la nahm den Holz­löf­fel vom Tel­ler ne­ben sich und rühr­te den Ein­topf um.

»Das ist doch gut. Dann schei­nen sie bis heu­te kei­nen Schim­mer zu ha­ben, dass du über­lebt hast.«

Gior­gio hielt den Blick aufs Feu­er ge­rich­tet, aber sein Fo­kus drif­te­te in wei­te Fer­ne ab. »Ich ha­be schon wie­der von ihr ge­träumt.«

Smil­la wuss­te nicht, was sie dar­auf ant­wor­ten soll­te, al­so rühr­te sie wei­ter im Ein­topf. Sie re­de­te nicht gern über An­na, denn es tat weh. Sie war die ein­zi­ge in der Grup­pe ge­we­sen, die wirk­lich ih­re Freun­din ge­we­sen war.

Gior­gio seufz­te. »Ich kann nicht auf­hö­ren, mich zu fra­gen, ob es ir­gend­wie an­ders hät­te en­den kön­nen, wenn ich nur –«

»Du woll­test ihr hel­fen«, un­ter­brach Smil­la ihn. Die Schuld kam im­mer wie­der über ihn und sie wuss­te nicht, was sie sa­gen konn­te, um sein Ge­wis­sen zu er­leich­tern. Sie wuss­te nicht ein­mal mit Si­cher­heit, ob sie das über­haupt konn­te. Ja, Gior­gio hat­te An­na nur hel­fen wol­len. Aber am En­de war sie da­bei ums Le­ben ge­kom­men.

»Und wenn ich schon nicht auf­hö­ren kann, dar­über nach­zu­den­ken, wie geht es dann wohl erst Ka­ren und Lars… und Ma­rie… und Sa­rah. Es ist nur ei­ne Fra­ge der Zeit, bis sie mich raus­schmei­ßen, weil ich… weil ich…«

Smil­la griff nach Gior­gi­os Hand. »Hör auf da­mit«, sag­te sie und blick­te ihm tief in die Au­gen. »Du musst da­mit auf­hö­ren.«

Er schluck­te, dann nick­te er.

»Was macht der Ein­topf?« Ka­ren kam zu ih­nen und beug­te sich zum Ka­min her­ab.

»Sieht gut aus«, ant­wor­te­te Smil­la.

»Hast du schon pro­biert, ob die Kar­tof­feln durch sind?«

»Nein.«

Ka­ren nahm den Löf­fel aus Smil­las Hand und fisch­te ein Stück Kar­tof­fel aus dem Topf. Sie biss hin­ein und reich­te die an­de­re Hälf­te Gior­gio. »Was meinst du?«

Er nahm es ent­ge­gen, pus­te­te und steck­te es in den Mund. Dann reck­te er den Dau­men in die Luft. »Ist durch, schmeckt su­per.«

»Dan­ke«, sag­te Ka­ren und lä­chel­te. Sie ging zu­rück in die Koch­ecke und hol­te Tel­ler aus dem Hän­ge­schrank.

»Jap, sie scheint kurz davor, dich raus­zu­schmei­ßen«, sag­te Smil­la und grins­te Gior­gio an. Sie griff nach dem Topf­lap­pen, der an ei­nem Ha­ken ne­ben dem Ka­min hing, und zog den Kes­sel in sei­ner Hal­te­rung nach oben, da­mit der Ein­topf auf­hör­te zu ko­chen.

Gior­gio mach­te ein un­glü­ck­li­ches Ge­räusch. »Es will mir ein­fach nicht aus dem Kopf.«

»Das ist doch gut so. Das zeigt, dass du nicht wie die an­de­ren Ver­lo­re­nen Jungs bist«, ant­wor­te­te Smil­la. Dann stand sie auf.

»Gior­gio, du kannst gleich da drü­ben blei­ben und uns al­len Ein­topf auf­tun«, rief Ka­ren ih­nen zu. »Ma­rie, bring ihm die Tel­ler.«

Smil­la ging zu Ed­win, der mitt­ler­wei­le wie­der et­was mehr Far­be hat­te und Jeras Ge­schich­ten nun mit grö­ße­rer Auf­merk­sam­keit lausch­te.

»Wir hat­ten ein Meer­schwein­chen, das hieß Pe­ga­sus, aber das ist weg­ge­lau­fen.«

»Komm, Je­ra«, un­ter­brach Smil­la sie, »hilf Gior­gio beim Es­sen­ver­tei­len.«

Je­ra stand oh­ne Wi­der­wor­te auf und lief zu Gior­gio.

Smil­la moch­te die Ge­schich­te von Pe­ga­sus nicht. Er war nicht weg­ge­lau­fen. Ih­re Mut­ter hat­te ihn ei­ni­ge Wo­chen nach Aus­bruch der Pla­ge ge­kocht, weil ein be­waff­ne­tes Paar En­de vier­zig ih­re ge­sam­ten Vor­rä­te ge­stoh­len hat­te. Smil­la war wü­tend ge­we­sen und hat­te die ers­te ver­nünf­ti­ge Mahl­zeit seit Ta­gen nicht an­ge­rührt. Sie hat­te kein Wort mehr mit ih­rer Mut­ter ge­wech­selt. Dann war sie krank ge­wor­den und in­ner­halb we­ni­ger Stun­den ge­stor­ben.

»Wie fühlst du dich?«, frag­te sie Ed­win.

»Schlech­ter, als ich er­war­tet ha­be.«

»Kannst du auf­ste­hen? Es gibt Es­sen.«

Ed­win zog sich an der So­fa­leh­ne in ei­ne auf­rech­te Po­si­ti­on. Dann hol­te er mit sei­nem Ober­kör­per Schwung und stand auf. Smil­la reich­te ihm den Arm und er hak­te sich ein. Er wirk­te um ein Dut­zend Jah­re äl­ter als noch vor kaum ei­ner Stun­de.

Lars, der Ed­wins be­däch­ti­gen Gang zum Ess­tisch ver­folg­te, schien das glei­che durch den Kopf zu ge­hen und er frag­te: »So, wie kommt’s, dass Sie ganz al­lein durch die Ei­fel wan­dern? Würd mich je­mand fra­gen, würd ich be­haup­ten, Sie sind le­bens­mü­de.«

»Ich bin auf dem Weg nach Brüs­sel«, sag­te Ed­win und ließ sich auf dem Stuhl nie­der, auf dem Smil­la ihn ge­näht hat­te. Es kleb­te fri­sches Blut dar­an.

»Brüs­sel? Das ist aber noch ein lan­ger Weg.«

»Ich kom­me von Bay­reuth. Um­keh­ren lohnt sich jetzt auch nicht mehr.« Ed­win grins­te schief.

Je­ra brach­te die ers­ten Tel­ler mit damp­fen­dem Ein­topf. Ei­nen stell­te sie vor Lars, den an­de­ren vor Ed­win. »Was ist Brüs­sel?«, frag­te sie.

»Ei­ne wun­der­ba­re Stadt«, ant­wor­te­te Ed­win und Smil­la sah, dass ein Leuch­ten in sei­ne Au­gen trat.

»Dort bau­en sie al­les wie­der auf.« Das Ge­spräch, das Smil­la be­reits im Wald mit Ed­win ge­führt hat­te, wie­der­hol­te sich und sie spür­te, dass die an­de­ren Grup­pen­mit­glie­der eben­falls skep­tisch wa­ren, ob die Ge­schich­te, die Ed­win ge­hört hat­te, zu glau­ben war.

»Ich weiß, ich weiß«, sag­te Ed­win, der mit die­ser Art von Ge­spräch schon Er­fah­rung zu ha­ben schien. »Dass ir­gend­wo an­geb­lich al­les zum Al­ten zu­rück­kehrt, habt ihr si­cher­lich schon zig­mal ge­hört.«

Gior­gio zuck­te die Schul­tern, oh­ne den Blick von sei­nem Ein­topf zu he­ben, Sa­rah und Ma­rie nick­ten knapp. Lars zeig­te kei­ne Re­gung, wäh­rend Ka­ren Ed­win mit ge­run­zel­ter Stirn ta­xier­te.

»Aber der Mann, der es mir er­zählt hat, kam schließ­lich selbst aus Brüs­sel. Es war nicht nur Hö­ren­sa­gen, son­dern ein Be­richt aus ers­ter Hand.«

»Es könn­te ei­ne List ge­we­sen sein«, mein­te Ka­ren, »um Men­schen an­zu­lo­cken. Viel­leicht steckt die Sek­te, ei­ne Räu­ber­ban­de oder ein Kan­ni­ba­len­ring da­hin­ter.«

»Oder es war blö­des Ge­re­de, um sich in­ter­es­sant zu ma­chen«, grum­mel­te Lars. »Und nur mal an­ge­nom­men, in Brüs­sel lie­fe das Le­ben auch nur et­was ge­re­gel­ter als wo­an­ders – war­um soll­ten die der gan­zen Welt davon er­zäh­len? Da­mit wür­den sie doch nur Tür und Tor für al­les Üb­le da drau­ßen öff­nen.«

»Rich­tig. Aus die­sem Grund ha­ben wir ja auch die Re­gel auf­ge­stellt, nie­man­dem von un­se­rem Quar­tier zu er­zäh­len. Wir ha­ben es gut hier und so soll es auch blei­ben«, sag­te Ka­ren.

Smil­la wuss­te, dass dies ei­ne Spit­ze ge­gen sie war. Aber sie fand die Vor­stel­lung er­mu­ti­gend, dass es in nicht all­zu wei­ter Fer­ne ei­nen Ort gä­be, an dem die Men­schen in Har­mo­nie, Si­cher­heit und Wohl­stand mit­ein­an­der leb­ten. Sie konn­ten schließ­lich nicht ewig in ei­nem Loch in der Er­de aus­har­ren. Das muss­te Ka­ren eben­falls klar sein.

»Der Markt in Mon­schau funk­ti­o­niert doch ei­gent­lich nach dem glei­chen Prin­zip«, gab sie al­so zu be­den­ken. »Vie­le Men­schen pro­fi­tie­ren von dem, was die je­weils an­de­ren an­bie­ten und des­halb kommt kei­ner auf die Idee, den Markt durch Über­fäl­le oder Ähn­li­ches zu ge­fähr­den.«

Ka­ren sah von ihrem Tel­ler auf und sag­te mit un­er­war­te­ter Hef­tig­keit: »Das ist nicht das Glei­che, Smil­la. Es ist bloß ein Markt und kein neu­es Sys­tem. Am En­de des Ta­ges keh­ren al­le wie­der in ih­re Quar­tie­re und Ver­ste­cke zu­rück und le­ben ihr ei­ge­nes Le­ben.« Sie wand­te sich wie­der ihrem Ein­topf zu. »Egal, was in Brüs­sel ist oder nicht ist – wir ha­ben ein Dach über dem Kopf, Es­sen im Bauch und auch sonst al­les, was wir zum Über­le­ben brau­chen. Und jetzt will ich nichts mehr davon hö­ren.«

So war es im­mer. Je­des Ge­rücht über ei­nen bes­se­ren Ort, je­de ge­wag­te Idee für die Zu­kunft der Grup­pe wur­de im Keim er­stickt, be­vor sie über­mäch­tig wer­den und für Un­ru­he sor­gen konn­te. Das war nur zu ihrem Bes­ten. Aber nicht im­mer fühl­te es sich da­nach an.

Un­an­ge­nehm be­rührt kratz­te Ed­win sich das Kinn. Es war si­cher­lich nicht an­ge­nehm, erst von Frem­den ver­arz­tet und ver­pflegt zu wer­den, nur um dann für Streit zu sor­gen. Mit ei­nem klei­nen Lä­cheln in sei­ne Rich­tung ver­such­te Smil­la, sein Un­wohl­sein auf­zu­fan­gen.

Nie­mand sag­te mehr ein Wort und in un­be­hag­li­ches Schwei­gen gehüllt leer­ten sie ih­re Tel­ler. Nach dem Es­sen wur­de Ed­win auf der Couch ein­quar­tiert, Gior­gio muss­te auf den Tep­pich vor dem Ka­min aus­wei­chen. Ka­ren und Lars ver­ab­schie­de­ten sich mit ei­nem knap­pen »Gu­te Nacht« und auch Ma­rie, Sa­rah, Je­ra und Smil­la zo­gen sich in das Zim­mer zu­rück, das sie sich zu viert teil­ten.

Als Smil­la und Je­ra in die Grup­pe auf­ge­nom­men wor­den wa­ren, hat­ten sie den Raum mit Tep­pi­chen und al­ten Laken zwei­ge­teilt. Hin­ter dem be­helfs­mä­ßi­gen Raum­tren­ner be­fan­den sich Ma­ries und Sa­rahs Bet­ten, davor Smil­las und Jeras. Ma­rie war erst zwölf und ver­stand sich so gut mit Je­ra, dass es die­ser so­gar zu ge­fal­len schien, sich das Zim­mer mit ihr zu tei­len. Smil­la hin­ge­gen hat­te nie wirk­lich auf­ge­hört, sich un­wohl mit die­sem Ar­ran­ge­ment zu füh­len. Ma­rie war da­bei nicht das Pro­blem und auch mit An­na, die bis vor ei­nem Jahr eben­falls das Zim­mer mit ih­nen ge­teilt hat­te, war sie sehr gut aus­ge­kom­men. Mit Sa­rah hin­ge­gen hat­te sie sich nie an­freun­den kön­nen. Sie war drei Jah­re äl­ter als Smil­la und wirk­te in ih­rer stil­len Di­stan­ziert­heit wie ei­ne gro­ße Schwes­ter, die man im­mer stör­te oder nerv­te, egal, was man tat.

Ma­rie und Sa­rah ver­schwan­den mit ge­mur­mel­ten Gu­te-Nacht-Wün­schen auf ih­re Sei­te des Tep­pichs und Smil­la ließ sich er­schöpft auf ihr Bett sin­ken. Sie nahm ei­nen jun­gen Ei­chen­zweig aus ei­nem Glas in ihrem Re­gal und zer­kau­te ihn an ei­nem En­de. So stell­te sie je­den Abend ei­ne be­helfs­mä­ßi­ge Zahn­bürs­te her. Die Idee hat­te sie aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on, die sie sich mit ihrem Va­ter an­ge­se­hen hat­te. Laut die­ser war Ka­ri­es erst zu ei­nem Pro­blem ge­wor­den, als die Men­schen an­ge­fan­gen hat­ten, Ge­trei­de an­zu­bau­en. Die Koh­len­hy­dra­te aus dem Ge­trei­de wa­ren nichts an­de­res als Zu­cker und der griff den Zahn­schmelz an. Oder so ähn­lich. Auch wenn sie sich nicht mehr so sehr um ein ge­pfleg­tes Äu­ße­res scher­te wie vor der Pla­ge – fau­li­ge Zäh­ne woll­te Smil­la um je­den Preis ver­mei­den.

»Muss ich noch le­sen üben?«, frag­te Je­ra, eben­falls ei­nen Ei­chen­zweig im Mund­win­kel, und warf ei­nen flüch­ti­gen Blick auf die Bü­cher, die sich auf ihrem Nacht­tisch sta­pel­ten.

»Nein, schon gut«, sag­te Smil­la. Sie säg­te das be­nutz­te En­de des Zweigs mit Gior­gi­os Jagd­mes­ser ab und warf es in den Nacht­topf. Sie gähn­te, schlüpf­te aus ihren Schu­hen und ver­kroch sich un­ter ih­rer De­cke. »Aber mor­gen wie­der«, füg­te sie dann hin­zu und hoff­te, streng zu klin­gen.

»In Ord­nung«, ant­wor­te­te Je­ra.

Mü­de blin­zelnd sah Smil­la ihr da­bei zu, wie sie ins Bett schlüpf­te. Je­ra sträub­te sich mit al­ler Macht ge­gen Smil­las Un­ter­richt. Ma­the lern­te sie noch am liebs­ten, weil sie wuss­te, dass sie es ir­gend­wann ein­mal für Ver­hand­lun­gen auf dem Mon­schau­er Markt be­nö­ti­gen wür­de. Auch die we­ni­gen Din­ge aus Bio­lo­gie und Phy­sik, an die Smil­la sich noch er­in­ner­te, nahm sie in­ter­es­siert auf. Aber Le­sen, Schrei­ben, Eng­lisch – wer brauch­te das schon? Wenn es nach Je­ra ge­gan­gen wä­re, nie­mand. Aber für Smil­la wa­ren die­se Fä­hig­kei­ten der ein­zi­ge Weg, der ver­läss­lich zu­rück in die Zeit vor der Pla­ge führ­te. Je­ra die­se Din­ge nicht bei­zu­brin­gen, wä­re ei­nem Ver­rat an ih­rer Ver­gan­gen­heit gleich­ge­kom­men.

Sie la­gen sich ge­gen­über und schau­ten sich an. »Ich mach das Licht aus, ja?«, sag­te Smil­la dann.

Je­ra nick­te. »Gu­te Nacht.«

»Gu­te Nacht.«

Sie pus­te­te die Talg­ker­ze aus, die ne­ben dem Bü­cher­sta­pel auf dem Nacht­tisch stand. Dann schloss Smil­la die Au­gen und ent­schweb­te so­fort in ei­nen ge­dan­ken­lo­sen Halb­schlaf. Zu über­le­ben war an­stren­gend.

 

Am nächs­ten Mor­gen be­glei­te­te Smil­la Ed­win bis zum Bun­ke­rein­gang. Die an­de­ren wa­ren nicht mit­ge­kom­men, um sich von ihm zu ver­ab­schie­den.

Im Licht des an­bre­chen­den Ta­ges warf Smil­la noch ei­nen Blick auf die Wun­de. Das Fleisch war ab­ge­schwol­len und hat­te auf­ge­hört zu näs­sen. Nach­dem Smil­la die Mull­bin­de wie­der fest­ge­steckt hat­te, mach­te Ed­win sich un­ter ste­ti­ger Be­kun­dung sei­ner Dank­bar­keit auf den Weg nach Brüs­sel.

Als Smil­la zu­rück ins Quar­tier kam, war be­reits wie­der al­les so, als wä­re Ed­win über­haupt nicht da ge­we­sen. Die Couch ge­hör­te wie­der Gior­gio, die Bluts­trop­fen wa­ren vom Stuhl ge­wischt und Ka­ren ver­teil­te die Auf­ga­ben für den be­vor­ste­hen­den Tag.

2  Der Nach­bar

Eine Wo­che war ver­gan­gen, seit Ed­win bei ih­nen über­nach­tet hat­te und Ka­rens Wut über Smil­las »ver­ant­wor­tungs­lo­ses Ver­hal­ten« schien lang­sam ab­zu­flau­en. In den ver­gan­ge­nen Ta­gen hat­te sie im­mer wie­der ge­gen Smil­la ge­sti­chelt oder ihr aus dem Nichts ei­ne Stand­pau­ke ge­hal­ten. Je­den Tag aufs Neue hat­te sie ihr die an­stren­gends­ten und lang­wei­ligs­ten Auf­ga­ben zu­ge­teilt. Aber an die­sem Tag schien ihr Är­ger end­lich ver­flo­gen zu sein, denn nach dem Mit­tag­es­sen schick­te Ka­ren Smil­la zum An­geln an die Urft­tal­sper­re. An­geln war ei­ne ih­rer Lieb­lings­auf­ga­ben. Sie konn­te das Ta­ges­licht se­hen und wenn sie Glück hat­te, auch Son­ne auf ih­rer Haut spü­ren. Sie konn­te fri­sche, kla­re Luft at­men und für ein paar Stun­den den mod­ri­gen Ge­ruch des Bun­kers ver­ges­sen. Und wenn Gior­gio mit­kam, dann hat­te sie so­gar je­man­den zum Re­den. Aber an die­sem Tag war es nicht Gior­gio, der ihr zu­ge­teilt wur­de, son­dern Je­ra. Das war wohl Ka­rens Art, Smil­la wis­sen zu las­sen, dass noch nicht al­les ver­ge­ben und ver­ges­sen war. Zwar ver­brach­te Smil­la un­heim­lich ger­ne Zeit mit ih­rer klei­nen Schwes­ter. Aber un­ten am See, so weit ent­fernt vom Schutz des Bun­kers, konn­te sie die Zeit mit ihr nicht ge­nie­ßen. Wenn Je­ra je­mals et­was zu­stie­ße… sie konn­te die­sen Ge­dan­ken nicht zu En­de den­ken.

Nach dem Es­sen hol­te Smil­la ih­re Schu­he un­ter ihrem Bett her­vor und griff nach ihrem Man­tel und ihrem Ruck­sack. Sie wür­de bald ei­nen neu­en brau­chen, aber die­ser hier hat­te ihrem Va­ter ge­hört und sie brach­te es nicht über sich, ihn weg­zu­wer­fen. Sie stell­te sich das Ge­sicht ihres Va­ters vor, wenn sie ihn fan­den und ihm sei­nen wein­ro­ten Ruck­sack mit den vie­len Fä­chern über­ge­ben konn­ten. Ih­re Mut­ter hat­te ihm die­sen Ruck­sack auf sei­nen Wunsch hin zu Weih­nach­ten ge­schenkt. »Ich weiß gar nicht, was du mit so vie­len Fä­chern willst«, hat­te sie da­mals noch ge­sagt und ihm schul­ter­zu­ckend das bun­te Päck­chen über­reicht. Und tat­säch­lich hat­ten die Ta­schen in der Fa­mi­lie oft­mals für Dis­kus­si­o­nen und Ver­wir­rung ge­sorgt. Im­mer­zu be­stand Un­klar­heit dar­über, ob das vor­ders­te Fach das­je­ni­ge war, das di­rekt am Rü­cken an­lag, oder das, das vom Kör­per weg zeig­te. Smil­la lä­chel­te. Ih­re El­tern ver­miss­te sie mehr als al­les an­de­re.

Sie schlüpf­te in ih­re Schu­he und ver­stau­te ei­ne Fla­sche Was­ser im Ruck­sack ihres Va­ters. Für Je­ra pack­te sie ei­nes der Bü­cher von ihrem Nacht­tisch ein. Beim An­geln wür­den sie viel Zeit ha­ben, Le­sen zu üben.

Je­ra war­te­te im Wohn­zim­mer be­reits auf sie. »Da bist du ja end­lich, du lah­me Schne­cke«, rief sie, als Smil­la in den Raum trat. Dann kro­chen sie hin­ter­ein­an­der durch den fal­schen Schutt­hau­fen und stie­gen die Trep­pen zum Aus­gang hin­auf. Zwi­schen den Ku­lis­sen­häu­sern wink­ten sie Sa­rah und Ma­rie zum Ab­schied, die auf dem Weg zum Hüh­ner­stall wa­ren, um ihn zu säu­bern und die Ei­er ein­zu­sam­meln. Den Hüh­ner­stall hat­te Lars an­ge­legt. Er war ein her­vor­ra­gen­der Heim­wer­ker. Mit Ple­xi­glas, Pap­pe und Iso­lier­schaum hat­te er die Fens­ter des Hüh­ner­stalls bei­na­he schall­dicht be­kom­men. Nur, wenn man di­rekt vor dem au­gen­schein­lich ver­las­se­nen und mit Bret­tern ver­na­gel­ten Haus stand, konn­te man ab und an ein be­son­ders laut ze­tern­des Huhn oder den ge­le­gent­li­chen Hah­nen­schrei ver­neh­men. Über die Jah­re hat­te Lars al­le mög­li­chen Vor­rich­tun­gen und Ap­pa­ra­te ent­wi­ckelt, die ih­nen das Le­ben er­leich­ter­ten. Ne­ben dem Hüh­ner­stall gab es so in­zwi­schen wei­te­re Räu­me und Dach­ter­ras­sen, wo sie Ge­mü­se an­bau­ten und im Som­mer un­be­ob­ach­tet und un­be­sorgt Zeit ver­brin­gen konn­ten. Au­ßer­dem hat­te Lars ein Rohr mit Fil­ter­auf­satz in den Bun­ker ge­lei­tet, so­dass im­mer fri­sches Was­ser ver­füg­bar war. Auch die zahl­rei­chen Fal­len, die sie über­all im Wald auf­ge­stellt hat­ten, hat­te er ge­plant und ge­baut. Al­ler­dings wa­ren Fal­len, ins­be­son­de­re sol­che, in de­nen et­was ge­fan­gen wor­den war, für al­le Frem­den ein kla­res Zei­chen, dass sich je­mand in der Um­ge­bung auf­hielt. Mehr­mals wa­ren die Schlin­gen und Kis­ten, ge­nau wie die Beu­te, die sie dar­in ge­fan­gen hat­ten, so­gar ge­klaut wor­den. Aus die­sem Grund hat­ten sie die Fal­len schließ­lich auf­ge­ge­ben. Sie pas­sier­ten die Kir­che Sankt Ro­chus mit den In­for­ma­ti­ons­ta­feln, die über die Ge­schich­te des Ge­bäu­des und des Dor­fes be­rich­te­ten. Ka­ren hat­te vor­ge­schla­gen, die Schil­der ab­zu­bau­en. Sie be­fürch­te­te, dass sie das In­ter­es­se von No­ma­den oder Rei­sen­den we­cken und im schlimms­ten Fall zur Ent­de­ckung des Quar­tiers füh­ren wür­den. Aber Smil­la hat­te sie wie­der von die­ser Idee ab­ge­bracht. Sie moch­te die Ta­feln. Ihr ge­fiel der Ge­dan­ke, dass hier bis vor we­ni­gen Jah­ren fried­li­che Wan­de­rer an­ge­hal­ten hat­ten, um et­was über Woll­sei­fen zu er­fah­ren. Manch­mal las sie die Tex­te, wenn sie vom Ja­gen, Sam­meln oder An­geln kam. Dann stell­te sie sich vor, sie selbst sei nur ein fried­li­cher Wan­de­rer, der in ein paar Stun­den in den Zug stei­gen und zu­rück nach Hau­se fah­ren wür­de.

Hin­ter der Kir­che über­quer­ten sie den einst brei­ten Wan­der­weg, der zu ei­nem un­weg­sa­men Pfad zu­sam­men­ge­schrumpft war, und schlüpf­ten ins Di­ckicht. Es wa­ren erst vier Jah­re ver­gan­gen, seit die Pla­ge die Welt für im­mer ver­än­dert hat­te. Aber mehr hat­te es nicht ge­braucht, um die Hoch­flä­che und ih­re Wan­der­we­ge in ei­nen jun­gen Ur­wald zu­rück­zu­ver­wan­deln: Klei­ne Bu­chen, Ei­chen und Fich­ten dräng­ten sich vom Wald­rand her im­mer wei­ter in die Wie­sen, auf de­nen einst Scha­fe ge­grast und Trup­pen ge­übt hat­ten.

Ein schma­ler Wild­pass führ­te Smil­la und Je­ra über die Hoch­flä­che und in ei­nen Tan­nen­wald. Hier wa­ren die Bäu­me äl­ter und grö­ßer und stan­den nicht so eng bei­ein­an­der. Der Wald­bo­den war nur von Tan­nen­na­deln und hier und da von moo­si­gen Ge­steins­bro­cken be­deckt, so­dass sie schnel­ler vor­an­ka­men.

Sie gin­gen im Stech­schritt ne­ben­ein­an­der her, oh­ne ein Wort zu spre­chen. Smil­la re­de­te nicht ger­ne, wenn sie drau­ßen im Wald wa­ren. Es konn­te die Auf­merk­sam­keit von Fein­den auf sie zie­hen. Au­ßer­dem woll­te sie so schnell wie mög­lich zu der klei­nen Bucht ge­lan­gen, in die um die­se Zeit Son­nen­licht fiel.

Nach ei­ner gu­ten Drei­vier­tel­stun­de ge­lang­ten sie an das Ufer der Urft­tal­sper­re. Zu Smil­las gro­ßer Freu­de hat­te die Son­ne Dunst und Wol­ken ver­trie­ben und schien glit­zernd auf die Was­ser­ober­flä­che. Die Luft war zwar noch kalt, aber viel­leicht wür­de es im Lau­fe des Nach­mit­tags warm ge­nug wer­den, so­dass sie den Man­tel aus­zie­hen und sich ein we­nig son­nen kön­nen wür­de.

Schwei­gend leg­ten sie ihr Ge­päck ab, brach­ten die Kö­der an den An­gel­ru­ten an und war­fen sie aus. Dann setz­ten sie sich ins Laub und war­te­ten. Nach ei­ner Wei­le, in der kein un­ge­wöhn­li­ches Ge­räusch aus dem Wald hin­ter ih­nen er­klun­gen war und Smil­la an­fing, sich et­was si­che­rer zu füh­len, hol­te sie das Buch für Je­ra aus ihrem Ruck­sack und reich­te es ihr.

Je­ra mach­te ei­ne un­glü­ck­li­che, fast an­ge­wi­der­te Mie­ne, nahm das Buch aber ent­ge­gen. »Pe­ter und der Wolf«, las sie lang­sam und an­ge­strengt vor.

Smil­la nick­te.

»Ich will aber nicht le­sen üben. Kann ich nicht spä­ter?«

»Nein. Du hast ges­tern schon nicht ge­übt.«

»Du hast ges­tern selbst ge­sagt, ich muss nicht üben!«, pro­tes­tier­te Je­ra.

»Ja, und heu­te sa­ge ich, du musst.«

Je­ra zog ei­nen Schmoll­mund.

»Wenn du fer­tig bist, le­se ich dir aus Har­ry Pot­ter vor.«

Da er­hell­te sich Jeras Mie­ne. Be­reit­wil­lig schlug sie das Buch auf und fing holp­rig an zu le­sen. Die Son­ne hat­te Smil­las Man­tel in­zwi­schen so stark auf­ge­heizt, dass sie an­fing, dar­in zu schwit­zen. Sie ent­le­dig­te sich des Man­tels und krem­pel­te die Är­mel ihres Ober­teils hoch.

Nach den ers­ten fünf Sei­ten – für die Je­ra ei­ne ge­fühl­te Ewig­keit ge­braucht hat­te – biss der ers­te Fisch an. Er war klein und hat­te röt­li­che Flos­sen. Aus Er­fah­rung wuss­te Smil­la, dass die­se Fisch­art furcht­bar vie­le Grä­ten hat­te. Aber in der Welt nach der Pla­ge konn­te man nicht wäh­le­risch sein. Sie lös­te den Fisch vom An­gel­ha­ken und warf ihn in den mit Was­ser ge­füll­ten gel­ben Plas­tik­ei­mer ne­ben sich. We­nig spä­ter biss ein wei­te­rer Fisch an, ei­ne See­fo­rel­le.

»Kann ich jetzt auf­hö­ren?«, murr­te Je­ra, die sich zu­vor schon über ihren fus­se­li­gen Mund be­schwert hat­te.

»Na gut, mei­net­we­gen«, ant­wor­te­te Smil­la, wäh­rend sie die See­fo­rel­le in den Ei­mer glei­ten ließ.

Je­ra schlug das Buch mit ei­nem Seuf­zer zu und ver­stau­te es in Smil­las Ruck­sack. »Glaubst du, Pa­pa ist in Brüs­sel?«

Die Fra­ge traf Smil­la un­vor­be­rei­tet und ei­nen Au­gen­blick lang war es ihr un­mög­lich, et­was zu den­ken oder zu sa­gen. Je­ra frag­te nicht oft nach ihren El­tern, wahr­schein­lich weil sie ein­fach kaum Er­in­ne­run­gen an Davor hat­te. Sie war erst fünf ge­we­sen, als die Pla­ge aus­ge­bro­chen war. Nicht sel­ten wünsch­te Smil­la sich, je­man­den in ihrem Al­ter zu ha­ben, mit dem sie über frü­her re­den konn­te – über ihr Haus in Köln-Zoll­stock, über ih­re El­tern, über ih­re Freun­de und Nach­barn, über ei­ne Zeit, in der al­les auf wun­der­sa­me Wei­se in Ord­nung ge­we­sen war. Es hät­te das Da­nach er­träg­li­cher ge­macht. Aber so war es, als wä­re die war­me Er­in­ne­rung an frü­her nicht mehr als ein Traum, von dem man nur noch die Hälf­te wuss­te. Es tat weh, Je­ra davon zu er­zäh­len und sich je­des Mal ein biss­chen schlech­ter an al­les er­in­nern zu kön­nen. Es tat weh, dass es nie­man­den gab, der die Er­in­ne­rung mit ihr zu­sam­men am Le­ben er­hal­ten konn­te.

»Ich glau­be nicht«, mein­te Smil­la und ver­such­te, den plötz­li­chen Schmerz der Sehn­sucht nicht in ih­rer Stim­me mit­schwin­gen zu las­sen.

»War­um nicht?«

»Ich den­ke, wenn er Ca­lais ver­las­sen hat, dann, um zu­rück nach Köln zu ge­hen und uns zu su­chen.«

»War­um sind wir dann aus Köln weg­ge­gan­gen? Viel­leicht ist er jetzt da und war­tet auf uns!«

»Weil er nicht ge­kom­men ist und wir in Köln nicht mehr si­cher wa­ren.«

»War­um nicht?«

»Je­ra, das ha­ben wir doch al­les schon tau­send­mal be­spro­chen. Du bist echt zu alt für die ewi­gen War­um-Fra­gen!«

»Bin ich nicht!«, rief Je­ra wü­tend.

In­stink­tiv leg­te Smil­la ei­nen Fin­ger an die Lip­pen und be­deu­te­te Je­ra so, ih­re Stim­me zu sen­ken.

»Ich muss dau­ernd fra­gen, weil du nie gu­te Ant­wor­ten gibst!« Sie ball­te ih­re klei­nen Fäus­te und fun­kel­te Smil­la wü­tend an.

»Tut mir leid, Je­ra«, sag­te Smil­la ge­dämpft und hoff­te, ih­re Schwes­ter da­durch be­sänf­ti­gen zu kön­nen. Der See trug ih­re lau­ten Stim­men bis ans an­de­re Ufer. Und wenn sie hier von Frem­den ent­deckt wur­den, wür­de es schlecht für sie aus­se­hen. Die ver­win­kel­ten Ver­ste­cke Woll­sei­fens und die Si­cher­heit des Quar­tiers wa­ren weit ent­fernt.

»Nein, tut’s dir nicht!«, schrie Je­ra.

Ein Trotz­an­fall – war sie da­für nicht ei­gent­lich auch schon zu alt? Oder war Smil­la ein­fach zu schlecht dar­in, Je­ra zu er­zie­hen?

Sie leg­te ih­rer Schwes­ter ei­ne Hand aufs Knie, die sie so­fort weg­schlug. »Es tut mir wirk­lich leid, Je­ra. Ich wünsch­te, ich hät­te bes­se­re Ant­wor­ten auf dei­ne Fra­gen, aber ich ha­be sie nicht.«

Je­ra ver­schränk­te die Ar­me vor der Brust und wand­te sich de­mons­tra­tiv ab. »Dann tu auch nicht so, als wüss­test du im­mer al­les bes­ser«, brumm­te sie. Im­mer­hin schrie sie nicht mehr.

»Ich den­ke gar nicht, dass ich im­mer al­les bes­ser weiß. Und wenn es dir hilft: Ich ha­be auch Fra­gen, die mir nie­mand beant­wor­ten kann. Vie­le so­gar«, sag­te Smil­la und seufz­te. Ihr Blick wan­der­te über den See. Son­nen­strah­len bra­chen sich auf der Was­ser­ober­flä­che. Ein sanf­ter Wind ra­schel­te in den Baum­wip­feln über ih­nen. Es war so fried­lich, dass man fast ver­ges­sen konn­te, dass sie zwei der letz­ten Men­schen auf die­ser Welt wa­ren. Wa­ren sie dem Un­ter­gang ge­weiht, oder fing die Mensch­heit noch ein­mal von vorn an? Hier oben in der Son­ne konn­te sie Letz­te­res glau­ben. Un­ten im Bun­ker nur Ers­te­res.

Sie wand­te sich Je­ra wie­der zu, um et­was Auf­mun­tern­des zu sa­gen, doch Jeras Au­gen wa­ren in den Wald hin­ter ihr ge­rich­tet, ihr Mund vor Er­stau­nen leicht ge­öff­net.

»Was –«, setz­te Smil­la an und wand­te sich in die Rich­tung, in die Je­ra blick­te, aber da hör­te sie es schon selbst.

Stim­men.

»Das kam von hier drü­ben. Min­des­tens zwei Frau­en, viel­leicht auch Kin­der«, sag­te ei­ne kla­re Frau­en­stim­me.

»Was ma­chen wir jetzt?«, flüs­ter­te Je­ra. Sie war auf­ge­sprun­gen.

Be­däch­tig stand Smil­la auf und sah sich um. Auf der ei­nen Sei­te die Urft; auf der an­de­ren der Wald, aus dem sich ih­nen je­mand nä­her­te. Es gab kei­nen ge­schütz­ten Flucht­weg. Oder er­kann­te sie ihn nur nicht? Die Angst, die sie er­füll­te, schien ih­re Sin­ne zu schär­fen, aber ihr Denk­ver­mö­gen zu läh­men.

Kurz­ent­schlos­sen griff Smil­la nach dem Ei­mer mit den Fi­schen und gab Je­ra ei­nen Stoß. Ge­duckt eil­ten sie am Ufer ent­lang.

»Los, los, los«, sporn­te sie sich und Je­ra zi­schend an. Ih­re bes­te Chan­ce war, sich so schnell wie mög­lich zu ent­fer­nen und auf den dich­ter be­wach­se­nen Wald­hang ab­zu­bie­gen. Dort wür­den die Frem­den sie schlech­ter aus­ma­chen kön­nen.

»Da!«, rief die Frau­en­stim­me und Smil­la wuss­te so­fort, dass sie es dies­mal nicht mit hilfs­be­dürf­ti­gen Rei­sen­den zu tun hat­te.

»May­hem, fass!«, er­tön­te die Stim­me ei­nes Man­nes.

Smil­la warf ei­nen Blick über die Schul­ter und sah ein schwar­zes Un­ge­tüm am Ufer ent­lang pre­schen. Die Angst, die eben nur ein dump­fes Po­chen ge­we­sen war, wur­de über­mäch­tig. Sie fuhr in ih­re Glie­der und ließ Smil­la schnel­ler lau­fen.

»Dreh dich nicht um!«, schrie sie Je­ra zu. Sie ließ den Ei­mer fal­len, pack­te den Arm ih­rer Schwes­ter und rann­te, so schnell sie konn­te. Jeras Bei­ne konn­ten kaum mit­hal­ten, aber Smil­la zog sie mit sich.

Dann stieß et­was mit vol­ler Wucht in ihren Rü­cken und sie wur­den nach vorn ge­schleu­dert. Smil­las Kopf schlit­ter­te über das stei­ni­ge Ufer und sie spür­te, wie ih­re Haut auf­riss. Je­ra über­schlug sich und blieb vor ihr lie­gen. Dann grub sich ein spit­zer Schmerz in ih­re lin­ke Schul­ter und ihr ent­fuhr ein Schrei, den sie ih­rer Keh­le nie zu­ge­traut hät­te. Je­ra schrie mit ihr. Je­ra. Sie muss­te für Je­ra sor­gen.

»Lauf!«, brüll­te sie ih­re Schwes­ter an, die fas­sungs­los vor ihr kau­er­te und das an­starr­te, was sei­ne Pran­ken in Smil­las Rü­cken drück­te und sich in ih­rer Schul­ter ver­bis­sen hat­te.

»Lauf, Je­ra!«

Je­ra sprang auf. Smil­la sah die Angst in ihren Au­gen, sah ih­re Un­sch­lüs­sig­keit. Doch dann wand­te sie sich um und sprin­te­te los.

»Ich hol mir die Klei­ne!«, rief die Frau­en­stim­me und zu ihrem Grau­en sah Smil­la kei­ne zwei Se­kun­den spä­ter ein Paar schlan­ker, schnel­ler Bei­ne an sich vor­bei rau­schen.

Sie ver­such­te, sich zu dre­hen, nach dem Raub­tier in ihrem Rü­cken zu schla­gen, das Mes­ser in ihrem Hols­ter zu er­rei­chen. Aber das Ge­wicht ihres An­grei­fers las­te­te zu schwer auf ihr, sei­ne Kie­fer wa­ren zu fest ge­schlos­sen. Sie hör­te sein keh­li­ges Knur­ren in ihrem Ohr. Sein Atem stank nach Ver­we­sung.

»May­hem, aus«, sag­te der Mann hin­ter ihr.

Au­gen­blick­lich ließ der Hund von ihr ab. Smil­la sprang auf und wir­bel­te her­um. Vor ihr stand ei­ne hoch­ge­wach­se­ne Ge­stalt, da­ne­ben ein he­cheln­der schwar­zer Hund mit blut­ver­schmier­ter Schnau­ze. Flucht war kei­ne Op­ti­on, das be­griff Smil­la. Sie wür­de kämp­fen müs­sen. Mit dem un­ver­sehr­ten Arm zog sie das Mes­ser aus ihrem Hols­ter. »Ich tö­te euch bei­de!«, fauch­te sie, die Klin­ge vor sich aus­ge­streckt.

Der Hund leg­te neu­gie­rig den Kopf schief und der Mann run­zel­te die Stirn.

»Smil­la?«, frag­te er.

Der Klang ihres Na­mens aus sei­nem Mund ließ sie er­star­ren. Für ei­nen Mo­ment ver­gaß sie das Mes­ser in ih­rer Hand und die Biss­wun­de in ih­rer Schul­ter. Sie ver­gaß so­gar Je­ra, die in die­sem Au­gen­blick ver­mut­lich um ihr Le­ben rann­te.

Smil­la mus­ter­te ihr Ge­gen­über und such­te an­ge­strengt nach et­was Ver­trau­tem. Der Mann hat­te dun­kel­blon­des, strup­pi­ges Haar. Sei­ne Au­gen­brau­en wa­ren zwei dunk­le Schwün­ge. Sei­ne brau­nen Au­gen stan­den eng bei­ein­an­der, so­dass er an ein Raub­tier er­in­ner­te. Die un­te­re Hälf­te sei­nes Ge­sichts war von ei­nem rot­brau­nen Bart ver­deckt. Nar­ben über­zo­gen sei­ne Haut. Sie war sich si­cher, ihm nie zu­vor be­geg­net zu sein. Wo­her auch im­mer er wuss­te, wer sie war – es konn­te nichts Gu­tes be­deu­ten.

»Ich bin es, Falk!«, sag­te der Mann. Er brei­te­te die Ar­me aus und lä­chel­te, als hät­te er ihr nicht ge­ra­de ei­ne stin­ken­de, sab­bern­de Bes­tie auf den Hals ge­hetzt.

Smil­la fes­tig­te den Griff um das Mes­ser und ging in die Knie, be­reit zu­zu­ste­chen.

»Falk Posch!«

Bil­der blitz­ten vor Smil­las in­ne­rem Au­ge auf. Der schlak­si­ge Nach­bars­jun­ge, der dau­ernd sei­nen Fuß­ball in den Gar­ten ih­rer El­tern schoss. Ein Schreib­tisch, Bü­cher, sein wü­ten­des Ge­sicht mit den ers­ten, zar­ten Bart­haa­ren auf der Ober­lip­pe.

»Dein Nach­hil­fe­schü­ler!«

Lang­sam ließ Smil­la das Mes­ser sin­ken. Er war es.

»Der Bart ist neu. Die Nar­ben auch.«

»Und der ab­ge­rich­te­te Kö­ter auch«, sag­te Smil­la und deu­te­te mit dem Mes­ser auf den Hund. »Was willst du von uns?«

Sie warf ei­nen Blick über die Schul­ter. Von Je­ra und der Frau gab es kei­ne Spur.

»Hör zu«, sag­te er und hob die Hän­de in ei­ner ent­schul­di­gen­den Ges­te. »Das ist ein Miss­ver­ständ­nis. Wir ha­ben euch mit je­man­dem ver­wech­selt.«

»Das heißt, hier lau­fen noch zwei Mäd­chen rum, die es ver­dient ha­ben, zer­fleischt zu wer­den?«

»Nie­mand woll­te ir­gend­wen zer­flei­schen.«

»Was habt ihr mit uns vor?«

Falk mach­te ei­nen Schritt auf Smil­la zu, aber sie wich zu­rück und hob das Mes­ser hö­her.

»Wir ha­ben nichts mit euch vor, ich sag­te doch, es liegt ein Miss­ver­ständ­nis vor.«

»Seid ihr Kan­ni­ba­len? Was machst du über­haupt hier?« Ner­vös warf sie ei­nen er­neu­ten Blick über die Schul­ter.

Falk gab ein klei­nes La­chen von sich. »Nein, Smil­la, wir sind kei­ne Kan­ni­ba­len. Und ich bin hier, weil ich auf ei­nem Aus­flug in der Ei­fel war, als die Pla­ge aus­brach.«

Un­wich­tig. Das al­les war un­wich­tig, wur­de ihr plötz­lich klar. War­um ge­hör­te aus­ge­rech­net sie zu den Men­schen, die in Angst kopf­los wur­den? »Die Frau – wird sie Je­ra weh tun? Sie darf ihr nichts tun!«

»Das wird sie nicht«, sag­te Falk und mach­te noch ei­nen Schritt in Smil­las Rich­tung. »Sie wird sie bloß nach nütz­li­chen Din­gen durch­su­chen. Viel­leicht fes­selt sie sie, wenn sie sich zu stark wehrt. Aber sie wird ihr nicht weh tun.« Er lä­chel­te und ir­gend­et­was dar­an ir­ri­tier­te Smil­la.

»Ver­spro­chen«, sag­te Falk.

Es war die Auf­rich­tig­keit in sei­nem Lä­cheln, die sie ir­ri­tier­te, re­a­li­sier­te Smil­la in die­sem Mo­ment. Er schien ernst zu mei­nen, was er sag­te. Und das wie­der­um stand im Wi­der­spruch da­zu, dass er sie eben noch ge­jagt hat­te.

Lang­sam ließ die Wir­kung des Ad­rena­lins nach und Smil­la spür­te ih­re Ver­let­zun­gen im­mer deut­li­cher. Die Wan­ge, mit der sie über den Bo­den ge­schlit­tert war, fing zu bren­nen an und der Schmerz in ih­rer Schul­ter wur­de im­mer durch­drin­gen­der. »Ich muss nach mei­ner Wun­de se­hen. Wenn du dich auch nur ei­nen Zen­time­ter be­wegst, schlitz ich dich auf«, er­klär­te sie und hielt das Mes­ser de­mons­tra­tiv hö­her. Dann schob sie den Kra­gen ihres Hem­des zur Sei­te. Ober­halb ihres Schlüs­sel­beins ver­lief ei­ne Rei­he ro­ter Krei­se und Fur­chen. Sie blu­te­te, aber die Ver­let­zung schien nicht so schlimm zu sein, wie sie sich an­fühl­te.

Das Laub ra­schel­te und auf ein­mal stand Falk vor ihr. Er blick­te ernst auf ih­re ent­blöß­te Schul­ter her­ab. »Das tut mir wirk­lich leid, Smil­la«, sag­te er. Gleich­zei­tig fing der Hund an, über Smil­las Hand­rü­cken zu schle­cken. Er­schro­cken zog sie den Arm weg.

»Lass mich mal se­hen«, sag­te Falk und schob das Hemd wei­ter in ihren Rü­cken. Er roch nach Sei­fe und Heu.

»Fass mich nicht an«, warn­te sie und schüt­tel­te sei­ne Hand ab.

»Die­ses Mist­stück hat es faust­dick hin­ter den Oh­ren«, er­tön­te ei­ne Stim­me hin­ter ih­nen.

Falk sah auf und mach­te ei­nen Schritt von Smil­la weg.

Sie wand­te sich um. Ei­ne Frau mit wel­li­gen brau­nen Haa­ren kam am Ufer ent­lang auf sie zu. Ih­re Wan­gen wa­ren ge­rötet und sie blu­te­te aus der Na­se. Auf­merk­sam wan­der­ten ih­re run­den, brau­nen Au­gen von Falk zu Smil­la.

»Sie sieht ganz schön un­ge­fes­selt aus«, sag­te sie mit ei­nem Lä­cheln und deu­te­te auf Smil­la, oh­ne ihr je­doch di­rekt ins Ge­sicht zu bli­cken.

»Na­d­ja, das ist Smil­la. Smil­la, Na­d­ja.«

»Wow, zum Glück hast du Ma­nie­ren«, mur­mel­te Smil­la und üb­te durch den Stoff ihres Hem­des Druck auf die Wun­de aus, da­mit sie zu blu­ten auf­hör­te.

»Smil­la? Die hei­ße Nach­hil­fe­leh­re­rin?«, frag­te Na­d­ja, als sie bei ih­nen an­ge­kom­men war, und grins­te breit.

Falk ant­wor­te­te nicht.

»Wo ist mei­ne Schwes­ter?«, woll­te Smil­la wis­sen.

»Ent­wischt«, er­klär­te Na­d­ja. Sie schien sich nicht dar­an zu stö­ren, dass Blut aus ih­rer Na­se und in ihren Mund lief.

»Wenn du ihr auch nur ein Haar ge­krümmt –«

»Lass mich ra­ten, dann wei­dest du mich mit dei­nem But­ter­mes­ser­chen aus?«, un­ter­brach Na­d­ja sie und deu­te­te auf das Mes­ser in Smil­las Hand. »Viel Glück da­bei!« Im nächs­ten Mo­ment hat­te sie sich nach vorn ge­beugt und Smil­la ei­nen kur­z­en, har­ten Schlag aufs Hand­ge­lenk ver­passt. Das Mes­ser fiel ins Laub zwi­schen ih­nen. Ruck­ar­tig bück­te Smil­la sich da­nach, doch Na­d­ja war schnel­ler. Sie rich­te­ten sich wie­der auf und starr­ten ein­an­der an. Ein tri­um­pha­les Glit­zern trat in Na­d­jas Au­gen, als sie das Mes­ser in der Hand wog. Falk lä­chel­te weh­lei­dig, mach­te aber kei­ne An­stal­ten, Na­d­ja das Mes­ser zu ent­wen­den, um es Smil­la zu­rück­zu­ge­ben. »Du soll­test nach dei­ner Schwes­ter se­hen«, sag­te er statt­des­sen.

Ei­ne un­gu­te Mi­schung aus Wut und Ver­un­si­che­rung brau­te sich in Smil­la zu­sam­men. Erst hetz­te man ihr ei­nen Hund auf den Hals, dann stahl man ihr Mes­ser und er­hob sich zu al­lem Über­fluss auch noch über sie. Und jetzt wür­den die bei­den sie ein­fach wie­der lau­fen las­sen? Hat­te man sie et­wa zum Spaß ge­fan­gen? Als Zeit­ver­treib? Die bei­den ver­kör­per­ten al­les, was die Pla­ge Schlech­tes un­ter die Men­schen ge­bracht hat­te.

»Ihr könnt mich mal«, knurr­te Smil­la. Da­mit dreh­te sie sich um und ging. Sie griff nach dem Ei­mer mit den Fi­schen und stapf­te die stei­le Bö­schung hin­auf. Da­bei sah sie im­mer wie­der nach hin­ten und lausch­te an­ge­strengt, ob ihr je­mand folg­te. Aber Falk schien sein Ver­spre­chen zu hal­ten. Al­les, was sie hör­te, wa­ren ei­ne ge­dämpf­te Dis­kus­si­on am Ufer des Sees und das Zwit­schern von Vö­geln. Nie­mand folg­te ihr.

Ob­wohl we­der Na­d­ja noch Falk oder May­hem hin­ter ihr her­ka­men und die Wun­de in ih­rer Schul­ter nicht auf­hör­te zu blu­ten, nahm Smil­la nicht den di­rek­ten Weg nach Hau­se. Da­bei woll­te sie nichts lie­ber, als zu­rück auf die Hoch­flä­che zu sprin­ten. Sie muss­te Je­ra fin­den, muss­te sich davon über­zeu­gen, dass ihr nichts fehl­te. Doch ih­re Angst, ei­nen Ver­fol­ger nicht zu be­mer­ken und ihm den Ort zu ver­ra­ten, an dem sich Ka­rens Grup­pe auf­hielt, war zu mäch­tig.

Sie ver­such­te, sich zu er­in­nern, ob Na­d­ja Spu­ren ei­nes Kamp­fes auf­ge­wie­sen hat­te. Aber in Smil­las Er­in­ne­rung war sie bis auf die blu­ti­ge Na­se makel­los, or­dent­lich und sau­ber. Sie hat­te so ent­spannt ge­wirkt, als hät­te sie bloß ei­nen Sonn­tags­spa­zier­gang am See ge­macht.

Je­ra war ge­witzt und groß für ihr Al­ter. Im Ge­gen­satz zu den an­de­ren Mit­glie­dern ih­rer Grup­pe er­in­ner­te sie sich kaum dar­an, wie das Le­ben vor der Pla­ge ge­we­sen war. Sie war bes­ser an die neu­en Um­stän­de an­ge­passt als sie al­le zu­sam­men und aus­ge­rüs­tet mit dem Über­le­bens­in­stinkt ei­ner Wild­kat­ze. Viel­leicht hat­te Na­d­ja ja die Wahr­heit ge­sagt und Je­ra war ihr wirk­lich ent­wischt.

Smil­la lief an der Urft­stau­mau­er vor­bei und wei­ter Rich­tung Ober­see. Die Son­ne ging un­ter und oh­ne ihren Man­tel fing sie an zu frie­ren.

Falk… Sie hat­te ihm Nach­hil­fe in Deutsch ge­ge­ben, nach­dem er bei sei­ner ers­ten Ge­dicht­ana­ly­se auf gan­zer Li­nie ver­sagt hat­te. Er war sehr still ge­we­sen, un­un­ter­bro­chen un­an­ge­nehm be­rührt. Er hat­te kei­ne Spur der Ge­las­sen­heit und Selbst­si­cher­heit be­ses­sen, die er heu­te ge­zeigt hat­te. Groß war er auch da­mals schon ge­we­sen, aber trotz­dem so jun­gen­haft wie ein Zehn­jäh­ri­ger. Wahr­schein­lich hät­te sie ihn nie wie­der­er­kannt, wenn er ihr nicht sei­nen Na­men ge­sagt hät­te. Was für ein Zu­fall, dass aus­ge­rech­net er, der in Köln ihr Nach­bar ge­we­sen war, es nun auch in der Ei­fel war.

Je län­ger Smil­la über Falk nach­dach­te, des­to mehr Er­in­ne­run­gen trie­ben an die Ober­flä­che ihres Be­wusst­seins. Er hat­te im­mer­zu stark nach Per­sil ge­duf­tet und wenn sei­ne Mut­ter im Gar­ten Wä­sche auf­ge­hängt hat­te, hat­te die kom­plet­te Nach­bar­schaft da­nach ge­ro­chen. Zu fast je­der Jah­res­zeit hat­te er mit sei­nem äl­te­ren Bru­der Fuß­ball auf der Stra­ße oder im Gar­ten ge­spielt und manch­mal hat­te Smil­la die bei­den da­bei er­wi­scht, wie sie zu ihrem Zim­mer­fens­ter hoch­schau­ten.

Die hei­ße Nach­hil­fe­leh­re­rin. Ihr wur­de un­wohl bei dem Ge­dan­ken, dass die­ser Jun­ge sie an­schei­nend at­trak­tiv ge­fun­den und es da­mals gleich­zei­tig nicht ge­schafft hat­te, ihrem Blick län­ger als ei­nen Wim­pern­schlag stand­zu­hal­ten. »Creep«, mur­mel­te sie.

Vor Ein­ruhr mach­te Smil­la kehrt und lief Rich­tung Hoch­flä­che. Sie hat­te jeg­li­ches Zeit­ge­fühl ver­lo­ren und hoff­te, dass es nicht mit­ten in der Nacht sein wür­de, wenn sie zu­rück ins Quar­tier kam.

Ob die an­de­ren nach ihr such­ten? Sie stell­te sich vor, wie es wä­re, zu­rück­zu­kom­men und al­le schla­fend in ihren Bet­ten vor­zu­fin­den. Hof­fent­lich such­ten sie nach ihr. Aber ver­mut­lich ta­ten sie das nicht. Ka­ren wür­de es als zu ge­fähr­lich be­fin­den.

»Ein Miss­ver­ständ­nis«, hauch­te Smil­la in die Nacht, als ih­re Ge­dan­ken zu­rück zu Falk wan­der­ten. Bei wel­cher Art von Miss­ver­ständ­nis hetz­te man ei­nem an­de­ren Men­schen ei­nen ab­ge­rich­te­ten Hund auf den Hals? Sie hat­ten nicht ein­mal in­ne­ge­hal­ten, um zu se­hen, mit wem sie es zu tun hat­ten. Sie hat­ten den Hund oh­ne Rück­sicht auf Ver­lus­te auf sie ge­hetzt. Und wenn Smil­la und Je­ra nicht Falks und Na­d­jas ei­gent­li­ches Ziel ge­we­sen wa­ren – wer dann? Und war­um?

 

Als Smil­la am Quar­tier an­kam, war ihr Kör­per vor Käl­te ver­krampft. Ih­re Bei­ne wa­ren schwer und hin­ter ih­rer Stirn zog es un­an­ge­nehm. Das Ein­zi­ge, was sie auf den Bei­nen hielt, war die Sor­ge um Je­ra. Mit wa­cke­li­gen Schrit­ten lief sie die Trep­pe in den Bun­ker hin­ab und bis zum Schutt­hau­fen. Sie schob den Sty­ro­por­stein bei­sei­te, sah Licht und hör­te ge­dämpf­te Stim­men. Ein Kloß form­te sich in ih­rer Keh­le und sie ver­harr­te ein paar Se­kun­den, um die Trä­nen weg­zu­blin­zeln, die plötz­lich in ihren Au­gen stan­den. Dann klet­ter­te sie durch den Ein­gang und setz­te den fal­schen Stein wie­der an sei­nen Platz. Sie trat durch den warm leuch­ten­den Tür­rah­men und sah ih­re Grup­pe um Je­ra ver­sam­melt am Ess­tisch sit­zen.

Als sie Smil­las Schrit­te hör­ten, ver­stumm­ten die an­de­ren und sa­hen auf. Erst schie­nen sie ihren Au­gen nicht zu trau­en. Doch dann stieß Je­ra ei­nen ho­hen, heu­len­den Laut aus, sprang von Lars’ Schoß und kam um den Tisch her­um auf Smil­la zu­ge­rannt. Smil­la ließ sich auf die Knie sin­ken, ob­wohl Je­ra schon lan­ge nicht mehr so klein war, dass sie sich zu ihr hin­un­ter hät­te beu­gen müs­sen. Je­ra schmiss sich ihr ent­ge­gen.

»Es tut mir so leid!«, jaul­te sie. »Ich woll­te dich nicht al­lein las­sen.«

Ka­ren und Gior­gio wa­ren eben­falls um den Tisch her­um ge­kom­men, blie­ben aber ei­ni­ge Schrit­te ent­fernt ste­hen.

»Ist schon gut«, sag­te Smil­la und drück­te ih­re Schwes­ter un­ge­ach­tet des Schmer­zes, den die­se Be­we­gung in ih­rer Schul­ter aus­lös­te, fest an sich. Der Kloß in ih­rer Keh­le war wei­ter an­ge­schwol­len.

»Was ist pas­siert?«, woll­te Ka­ren wis­sen.

»Wer war es? Der Club?«, frag­te Gior­gio. Nach al­lem, was sie ihm an­ge­tan hat­ten, nann­te Gior­gio die Ver­lo­re­nen Jungs im­mer noch nur den Club. Er sah sie lie­ber als die Fuß­ball­mann­schaft, als die er sie ken­nen­ge­lernt hat­te, an­statt als die Ge­setz­lo­sen, zu de­nen sie ge­wor­den wa­ren. Und auch um ih­re Na­men mach­te er ei­nen Bo­gen, als könn­te er sie aus Ver­se­hen her­auf­be­schwö­ren, wenn er sie laut aus­s­prach.

»Ein Mann und ei­ne Frau, et­wa in mei­nem Al­ter.«

»Was ha­ben sie ge­wollt?«, frag­te Ka­ren.

»Sie ha­ben je­man­den ge­jagt und uns mit ih­nen ver­wech­selt.«

Je­ra lös­te ih­re Um­klam­me­rung, um Smil­la an­zu­se­hen. Ihr Ge­sicht war ge­rötet und nass. »Hast du sie ge­tö­tet?«

»Nein, sie ha­ben mich ge­hen las­sen.«

»Was?«, misch­te sich Sa­rah ein. »War­um ha­ben sie dich ge­hen las­sen? Sind sie dir et­wa ge­folgt?«

»Nein, Sa­rah, sie sind mir nicht ge­folgt. Ich bin meh­re­re Stun­den in die fal­sche Rich­tung ge­lau­fen, um si­cher zu ge­hen.« Von Sa­rah hat­te sie kaum Mit­ge­fühl zu er­war­ten, das wuss­te sie. Aber im­mer­hin wä­re sie ge­ra­de um ein Haar in die Fän­ge von Räu­bern, Men­schen­händ­lern oder sonst wem ge­ra­ten. Und die Ein­zi­ge, die sich um sie sorg­te, war ih­re klei­ne Schwes­ter?

Oh­ne Sa­rah wei­ter zu beach­ten, zog Smil­la sich das Hemd von der Schul­ter, um die Wun­de in Au­gen­schein zu neh­men. Da­bei muss­te sie die Zäh­ne zu­sam­men­bei­ßen, um nicht vor Schmerz auf­zu­stöh­nen.

»Ha­ben sie dich da er­wi­scht?«, frag­te Lars mit ei­ner un­be­stimm­ten Hand­be­we­gung in Smil­las Rich­tung. Er kam nicht nä­her und sah sie nicht di­rekt an. Es muss­te der An­blick des Blu­tes sein.

»Das war ihr Hund«, ant­wor­te­te Smil­la. »Kann mir je­mand das Ver­bands­zeug ho­len?«

Je­ra sprang auf und lief in Rich­tung Vor­rats­kam­mer davon.

»Wir ha­ben noch et­was Brü­he üb­rig ge­las­sen, falls du hung­rig bist«, sag­te Gior­gio lei­se.

Wie au­ßer­or­dent­lich für­sorg­lich, dach­te Smil­la, ver­biss sich den Kom­men­tar aber. Wä­re es Sa­rah oder Ma­rie ge­we­sen, die an­ge­grif­fen wor­den wä­re, dann hät­ten sie si­cher­lich nach ihr ge­sucht. Und für Smil­la wur­den ein paar Es­sens­res­te auf­ge­ho­ben, da­mit es nicht so aus­sah, als hät­te man sie so­fort ab­ge­schrie­ben.

Je­ra kam mit dem Ver­bands­zeug zu­rück und fing an, die Wun­de zu rei­ni­gen.

»Jetzt er­klär uns bit­te noch mal ge­nau, was am See vor­ge­fal­len ist«, sag­te Ka­ren, die mit ver­schränk­ten Ar­men vor ihr stand.

Wäh­rend Jeras klei­ne Hän­de Smil­las Wun­den ver­arz­te­ten, schil­der­te sie, was sich am See zu­ge­tra­gen hat­te. Dass es ver­mut­lich Jeras in Wut er­ho­be­ne Stim­me ge­we­sen war, die Falk und sei­ne Be­glei­tung an­ge­lockt hat­ten, ließ sie aus. Dass sie Falk von frü­her kann­te, eben­falls. Auf selt­sa­me Art und Wei­se schäm­te sie sich da­für, dass je­mand, den sie ein­mal ge­kannt hat­te, nun mit ei­nem ab­ge­rich­te­ten Hund durch die Wäl­der strich und Jagd auf Wehr­lo­se mach­te. Und viel­leicht wür­de es auch die an­de­ren ir­ri­tie­ren, dass sie mit so je­man­dem ein­mal zu tun ge­habt hat­te und sie an Smil­las Ver­trau­ens­wür­dig­keit zwei­feln las­sen.

»Und es wa­ren ganz si­cher ein Mann und ei­ne Frau?«, frag­te Ka­ren.

»Ab­so­lut si­cher.«

»Dann kön­nen es nicht die Ver­lo­re­nen Jungs ge­we­sen sein, oder?« Sie warf Gior­gio, der am Ess­tisch stand und die rest­li­che Brü­he in ei­ne Schüs­sel füll­te, ei­nen fra­gen­den Blick zu.

»Nein, die neh­men kei­ne Frau­en auf. Au­ßer als Ge­fan­ge­ne na­tür­lich.« Bei den letz­ten Wor­ten senk­te er den Blick und sei­ne Stim­me wur­de so lei­se, dass Smil­la ihn vom So­fa aus kaum ver­ste­hen konn­te.

»War die­se an­de­re Frau viel­leicht ei­ne Ge­fan­ge­ne?«

Smil­la schüt­tel­te den Kopf. »Ganz si­cher nicht.«

»Al­so, wenn die bei­den nicht zu den Ver­lo­re­nen Jungs ge­hö­ren, wo­hin ge­hö­ren sie dann? Und wo le­ben sie?« Ka­rens Fra­ge rich­te­te sich an nie­mand Be­stimm­tes, au­ßer viel­leicht an Gott, wenn es so et­was denn gab. Ka­ren fuhr sich in ei­ner ge­stresst wir­ken­den Be­we­gung durch die Haa­re. »Schei­ße«, mur­mel­te sie. »Das hat uns ge­ra­de noch ge­fehlt. Kei­ner von euch geht mehr al­lein in den Wald oder zum See, so­lan­ge wir nicht wis­sen, wer die sind und wo sie her­kom­men. Klar?«

Ma­rie, Sa­rah und Gior­gio nick­ten. Smil­la hin­ge­gen hat­te kei­ne Mu­ße für noch mehr Re­geln von Ka­ren. Was wür­de es schon hel­fen, wenn sie fort­an nur noch zu zweit in den Wald gin­gen. Des­halb ging Smil­la nicht wei­ter auf das ein, was Ka­ren ge­sagt hat­te.

»Wie konn­test du ent­kom­men, Je­ra?«, frag­te Smil­la ih­re Schwes­ter, in de­ren Wim­pern im­mer noch Trä­nen glit­zer­ten.

»Ich bin den Hang hoch ge­rannt«, sag­te sie mit ver­schnupf­ter Stim­me. »Aber die Frau hat mich ein­ge­holt. Als ich ei­nen Fels­vor­sprung hoch­klet­tern woll­te, hat sie mein Bein ge­packt. Ich ha­be nach ihr ge­tre­ten. Sie ist ge­stürzt und den Hang run­ter­ge­rollt. Dann hat sie auf­ge­ge­ben und ich bin wei­ter­ge­rannt.«

Smil­la gab ih­rer Schwes­ter ei­nen Kuss auf die Schlä­fe. »Das hast du gut ge­macht. Bald brauchst du mich wohl über­haupt nicht mehr.«

»Ich will dich aber nicht nicht mehr brau­chen«, wi­der­sprach Je­ra au­gen­blick­lich. Ih­re Stim­me klang wie­der wei­ner­li­cher.

»Die ha­ben dir ja den Fisch ge­las­sen«, sag­te Gior­gio ver­wun­dert und deu­te­te auf den gel­ben Ei­mer.

Smil­la nick­te.

»Und die an­de­ren Sa­chen? Die An­geln? Dein Ge­päck?«

Sie sank in sich zu­sam­men. Der Ruck­sack ihres Va­ters. Das letz­te Stück Zu­hau­se. Sie hat­te ihn bei ih­rer Flucht vor Falk und Na­d­ja zu­rück­ge­las­sen, ge­nau wie ihren Man­tel und die An­geln.

»Das ha­ben jetzt al­les die bei­den, schät­ze ich.«

Be­tre­te­nes Schwei­gen er­füll­te den Bun­ker. Die An­geln wa­ren wich­tig für die Grup­pe, das wuss­te Smil­la. Fi­sche fing man um ei­ni­ges leich­ter als Wild, vor al­lem, da ih­re ein­zi­ge Schuss­waf­fe ein al­ter Bo­gen war.

»Fer­tig«, brach Je­ra schließ­lich das Schwei­gen, zog sich von Smil­las Schul­ter zu­rück und setz­te sich eng ne­ben ihr aufs So­fa.

Smil­la fühl­te sich un­be­hag­lich und schul­dig un­ter den Bli­cken der an­de­ren. »Ich zieh mir mal was Sau­be­res an«, mur­mel­te sie. Sie stand auf und lief durch die düs­te­ren Flu­re in ihr Zim­mer. Je­ra kam mit ihr.

Mit Jeras Hil­fe ent­le­dig­te sie sich ihres blu­ti­gen Hem­des und zog ei­nen al­ten aus­ge­lei­er­ten Pull­over an, den sie auf dem Mon­schau­er Markt er­stan­den hat­te. Hier, ge­schützt vor den be­trof­fe­nen Bli­cken und un­an­ge­neh­men Fra­gen der an­de­ren, merk­te Smil­la, wie ge­schwächt sie war. Sie schlug die De­cke zu­rück und kroch in ihr Bett, dicht ge­folgt von Je­ra.

»Kann ich bei dir schla­fen?«, frag­te sie und rück­te eng an Smil­la her­an. Sie war warm und ih­re ha­ge­ren Knie drück­ten ge­gen Smil­las Ober­schen­kel.

»Ja, aber nur heu­te, okay?«

»Okay.«

Sie roll­ten sich ne­ben­ein­an­der ein und zo­gen die De­cke über sich. Dann schlie­fen sie ein.

In der Nacht träum­te Smil­la zum ers­ten Mal seit lan­gem. Sie saß auf ei­nem Turm, der aus Deutsch­bü­chern und Ge­dicht­bän­den be­stand. Am Fu­ße des Turms stan­den Falk und May­hem, und Falk rief et­was. Doch Smil­la ver­stand ihn nicht. Der Turm hat­te kei­ne Trep­pe und kei­ne Tü­ren. Wenn sie hö­ren woll­te, was Falk rief, dann muss­te sie hin­ab­sprin­gen und hof­fen, dass der Sturz ihr nicht bei­de Bei­ne brach und May­hem ihr nicht die Keh­le durch­biss.

 

Smil­la wach­te früh am nächs­ten Mor­gen auf. Ein be­däch­ti­ger Blick zur Sei­te ver­ri­et ihr, dass Je­ra noch tief und fest schlief. Für ein paar Mi­nu­ten pro­bier­te Smil­la, wie­der ein­zu­schla­fen, aber ih­re Ge­dan­ken an den ver­gan­ge­nen Tag hiel­ten sie wach. Al­so schob sie sich zum Fu­ßen­de des Bet­tes und stand auf. Sie lief in die Kü­che. Bis auf Gior­gio, der mit dem Rü­cken zu ihr auf dem So­fa schlief, hielt sich nie­mand dort auf.

Smil­la ging zur An­rich­te und schenk­te sich ein Glas Was­ser ein. Bei je­der noch so klei­nen Be­we­gung schmer­z­te ih­re Schul­ter und der Ge­dan­ke an die Mull­bin­de, die mit Wund­flüs­sig­keit voll­ge­so­gen auf ih­rer Haut lag, ver­ur­sach­te ihr Übel­keit.

Auf ei­nem der Kü­chen­stüh­le nahm sie Platz. Im­mer wie­der muss­te sie ge­gen das Be­dürf­nis an­kämp­fen, ei­nen Blick un­ter die Mull­bin­de zu wer­fen. Am liebs­ten hät­te sie die Wun­de aber­mals ge­säu­bert und neu ver­bun­den. Aber sie muss­ten spar­sam mit dem Ver­bands­zeug sein. Viel hat­ten sie nicht mehr vor­rä­tig.

Als sie ihr Was­ser ge­trun­ken hat­te und im­mer noch nie­mand in der Kü­che er­schie­nen war, be­schloss sie, die Hüh­ner zu füt­tern und Ei­er zu ho­len. Mit ei­ni­ger Mü­he schlüpf­te sie in ihr aus­ge­lau­fe­nes Paar Turn­schu­he, griff nach der Box mit dem Hüh­ner­fut­ter und stieg zur Erd­o­ber­flä­che hoch.

Drau­ßen roch es nach Mor­gen­tau und Gras. Die Luft war die­sig und mil­der als am Tag zu­vor. Am Ho­ri­zont färb­te sich der Him­mel pas­tell­blau und ver­sprach ei­nen son­ni­gen Tag. Das war gut. So­lan­ge der Frost noch aus­blieb, konn­te sie auf ihren Win­ter­man­tel ver­zich­ten. Aber bald schon wür­de sie ei­nen neu­en brau­chen – das war un­aus­weich­lich. Und ro­bus­te Win­ter­män­tel kos­te­ten nach der Pla­ge noch mehr als sie davor oh­ne­hin schon ge­kos­tet hat­ten. Smil­la seufz­te er­ge­ben. Da hat­ten sie ein­mal lau­ter ge­spro­chen als ge­wöhn­lich und schon war Smil­la ver­wun­det und ih­re Grup­pe um wert­vol­les Hab und Gut be­stoh­len wor­den. Die Welt nach der Pla­ge war gna­den­los, sie ver­zieh nichts.

Nach we­ni­gen Mi­nu­ten ge­lang­te Smil­la zu dem Ku­lis­sen­haus, das Lars zum Hüh­ner­stall um­funk­ti­o­niert hat­te. Ei­ne Be­ton­trep­pe mit Me­tall­ge­län­der führ­te in den ers­ten Stock. Dort war der Bo­den mit Laub und Stroh aus­ge­legt. Die Fens­ter­öff­nung hat­ten sie mit Ha­sen­draht ge­si­chert. In ei­nem Re­gal, das Lars aus Holz­res­ten zu­sam­men­ge­schus­tert hat­te, brü­te­ten die Hen­nen. Smil­la lock­te die Tie­re mit dem Hüh­ner­fut­ter aus ihren Brut­stät­ten. Wäh­rend die Hüh­ner flei­ßig nach Kör­nern und Sa­men pick­ten, sam­mel­te sie die Ei­er in die Ta­schen ihres Pull­overs. Dann nahm sie die Fut­ter­box und ver­ließ das Ge­bäu­de.

Die Son­ne war noch nicht am Him­mel aus­zu­ma­chen, aber Smil­la spür­te, wie sie mit je­der Se­kun­de nä­her kam. Kein gu­ter Tag, um un­ter der Er­de zu le­ben. Sie be­schloss, noch nicht in den Bun­ker zu­rück­zu­ge­hen. Statt­des­sen lief sie zur Kir­che.

Sie durch­schritt den ho­hen, hal­len­den Raum, klick­te ein paar Mal mit der Zun­ge und lausch­te dem Echo, das von den kah­len Wän­den zu­rück­ge­wor­fen wur­de. Sie ver­ließ die Kir­che wie­der, las die In­for­ma­ti­ons­ta­fel lei­se mur­melnd durch und ging zu den Wohn­häu­sern Woll­sei­fens, die ir­gend­wann ein­mal ver­bar­ri­ka­diert und dann wie­der auf­ge­bro­chen wor­den wa­ren. Schon lan­ge vor der Pla­ge war dort nichts mehr zu ho­len ge­we­sen.

Nach­dem sie ein paar Krei­se um das ein oder an­de­re Haus ge­zo­gen hat­te, kam die Son­ne über den Ho­ri­zont gek­let­tert und be­schien den Trep­pen­ab­satz ei­nes nied­ri­gen Ge­bäu­des mit grün be­wach­se­nem Dach. Smil­la stell­te die Fut­ter­box ab und setz­te sich auf die un­ters­te Stu­fe. Sie schloss die Au­gen, reck­te das Ge­sicht gen Him­mel und ließ sich von den Son­nen­strah­len wär­men.

Ob Gior­gio sie wohl be­glei­ten wür­de, wenn sie ent­schied, zum See zu ge­hen? Er hat­te nie auf­ge­hört, sich wie ein Fremd­kör­per in der Fa­mi­lie der Schmie­ders zu füh­len. Ge­nau wie Smil­la. Die­ses Emp­fin­den ver­band sie. Er war der Ein­zi­ge – von Je­ra ein­mal ab­ge­se­hen –, auf den sie zäh­len konn­te. In die­ser Hin­sicht hat­te er in Smil­las Le­ben den Platz von An­na ein­ge­nom­men.

Ei­ni­ge Mi­nu­ten ver­stri­chen. Als sie schließ­lich auf­stand, um zum Quar­tier zu­rück­zu­keh­ren, ver­gaß sie für ei­ne Se­kun­de, dass sie Hüh­ner­ei­er in ihrem Pul­li trans­por­tier­te. Sie beug­te sich in ei­ner un­be­dach­ten Be­we­gung zu weit nach rechts und da fiel ei­nes der Ei­er aus der Ta­sche. Mit ei­nem Knir­schen lan­de­te es auf dem Trep­pen­ab­satz. Ei­gelb tröp­fel­te die Stu­fe hin­un­ter.

»Mist«, zisch­te Smil­la. Sie sah sich um. Aber wie zu er­war­ten, hat­te nie­mand ihr Miss­ge­schick beo­b­ach­tet. Sie streu­te ein paar Blät­ter über das zer­bro­che­ne Ei, um die Spu­ren ih­rer Un­acht­sam­keit zu ver­wi­schen. Sie hat­te in den letz­ten Ta­gen schon für ge­nug Un­mut in der Grup­pe ge­sorgt. Auf ei­ne neu­er­li­che Stra­fe we­gen ei­nes zer­schla­ge­n­en Ei­es konn­te sie ge­ra­de noch ver­zich­ten. Noch ein­mal sah Smil­la sich prü­fend um. Dann mach­te sie sich auf den Rü­ck­weg.

 

Als Smil­la ins Wohn­zim­mer des Quar­tiers zu­rück­kehr­te, wa­ren Sa­rah und Ma­rie be­reits auf­ge­stan­den. Auch Gior­gio war wach. Ma­rie deck­te den Tisch fürs Früh­stück, Gior­gio kämpf­te mit ei­nem un­ge­öff­ne­ten Ein­mach­glas vol­ler To­ma­ten und Sa­rah stand vor dem Ka­min, die Hän­de in die Hüf­ten ge­stützt, die Un­ter­lip­pe ein­ge­saugt.

»Ich ha­be Ei­er ge­holt«, sag­te Smil­la, durch­quer­te den Raum und leg­te die Ei­er be­hut­sam in die Mit­te des Kü­chen­ti­sches.

Sa­rah sah von der Feu­er­stel­le auf. »Ich glau­be, wir soll­ten heu­te früh lie­ber kein Feu­er ma­chen«, über­ging sie Smil­la. »Nicht, so­lan­ge wir nicht wis­sen, wer sich da drau­ßen neu­er­dings rum­treibt und was sie im Schil­de füh­ren.« Smil­la war si­cher, dass Sa­rah das Kom­man­do im Quar­tier über­neh­men wür­de, falls Ka­ren et­was zu­stie­ße. Sie war auch si­cher, dass sie und Je­ra nicht in die Grup­pe auf­ge­nom­men wor­den wä­ren, wä­re Sa­rah zu die­sem Zeit­punkt An­füh­re­rin ge­we­sen. Sa­rah moch­te Un­ge­wiss­heit noch viel we­ni­ger als Ka­ren und je­de neue Be­kannt­schaft in die­ser Welt oh­ne Re­geln stell­te ei­ne wei­te­re un­be­kann­te Va­ri­a­ble in der Glei­chung des Über­le­bens dar.

Gior­gio hat­te es leich­ter ge­habt, Sa­rahs Gunst zu er­lan­gen. Nicht nur, dass er sein Le­ben ri­ski­ert hat­te, um ih­re Schwes­ter An­na zu ret­ten. Er hat­te auch noch nütz­li­che In­for­ma­ti­o­nen über die Ver­lo­re­nen Jungs und wuss­te, wie man ih­nen am bes­ten aus dem Weg ging. Und als wä­re das nicht ge­nug, um Smil­la ans un­te­re En­de der Bun­ker-Hi­er­ar­chie zu drän­gen, war er oh­ne Zwei­fel Sa­rahs Typ.

»Wir kön­nen die Ei­er heu­te Abend vor­ko­chen und mor­gen zum Früh­stück es­sen«, schlug Smil­la vor.

»Das hilft uns aber jetzt nicht«, kon­ter­te Sa­rah und kam von der Feu­er­stel­le zum Ess­tisch.

»Da­her die To­ma­ten«, ächz­te Gior­gio. Er hat­te die Au­gen zu­sam­men­ge­knif­fen und kämpf­te noch im­mer mit dem Ein­mach­glas.

»Du musst un­ten ge­gen den Bo­den hau­en, das ha­be ich dir schon hun­dert­mal ge­sagt.«

»Dan­ke für den Hin­weis, Smil­la«, ent­geg­ne­te Gior­gio und ließ für ei­nen Mo­ment von den ein­ge­koch­ten Früch­ten ab. »Aber ich schaf­fe das auch so.«

»Das se­he ich.«

Ma­rie und Sa­rah war­fen sich ei­nen Blick zu und Sa­rah lach­te lei­se.

»Was gibt’s da zu la­chen?«, frag­te Gior­gio, grins­te aber selbst breit.

Dann gab das Glas ei­nen lei­sen Plopplaut von sich und Gior­gio nahm den De­ckel ab. »Seht ihr? Ich brau­che eu­re Tipps und Tricks nicht. Nur pu­re Mus­kel­kraft.«

Sa­rah und Ma­rie lach­ten lau­ter.

Smil­la zog die Mund­win­kel zu ei­nem Lä­cheln nach oben. Dann nahm sie ein paar Tel­ler von Ma­rie ent­ge­gen, um da­mit die an­de­re Sei­te des Ti­sches zu be­stü­cken.

»Was lacht ihr so?«, er­klang Jeras Stim­me aus der Rich­tung ihres Schlaf­zim­mers und ei­nen Au­gen­blick spä­ter trat sie in ih­re De­cke gehüllt ins Wohn­zim­mer.

»Das fra­ge ich mich auch, Je­ra«, sag­te Gior­gio und steck­te ei­nen Löf­fel in das Glas vol­ler ro­ter, auf­ge­platz­ter To­ma­ten. »Ihr nehmt mich al­le nicht ernst ge­nug.«

Je­ra setz­te sich auf ei­nen Kü­chen­stuhl und schlang die De­cke en­ger um ihren Kin­der­kör­per. »Ich glau­be, Lars nimmt dich re­la­tiv ernst«, sag­te sie ver­söhn­lich und gähn­te.

»Dan­ke für dei­nen Zu­spruch«, lach­te Gior­gio. Sei­ne Au­gen wur­den zu dich­ten Krän­zen aus Wim­pern und si­chel­för­mi­ge Fal­ten bil­de­ten sich um sei­nen Mund. Ein La­chen, das ei­nen von in­nen auf­wärm­te. Um­so schwe­rer war es, zu glau­ben, dass die­ser Mann meh­re­re Jah­re bei den Ver­lo­re­nen Jungs ge­lebt, mit ih­nen Sied­lun­gen ge­p­lün­dert und Men­schen ver­schleppt und ge­tö­tet hat­te. Nie­mand von ih­nen wuss­te mit Si­cher­heit, was al­les auf sei­ner Lis­te von Un­ta­ten stand. Aber was zähl­te, war, dass er An­na hat­te hel­fen wol­len und dass er da­für den Hass der Ver­lo­re­nen Jungs ge­ern­tet hat­te. Bei­na­he hät­te er so­gar mit dem ei­ge­nen Le­ben da­für be­zahlt.

Was Falk wohl für Schand­ta­ten be­gan­gen hat­te? Wie sein Ge­sicht sich ver­än­der­te, wenn er lach­te? Smil­la konn­te sich nicht er­in­nern, ihn je la­chen ge­se­hen zu ha­ben, oder sie hat­te es ver­ges­sen.

»Gu­ten Mor­gen«, sag­te Ka­ren, die so­eben ins Wohn­zim­mer ge­tre­ten war. Ih­re silb­ri­gen Haa­re wa­ren an der ei­nen Sei­te platt ge­le­gen, auf der an­de­ren zer­zaust. »Ich bin da­für, dass wir heu­te früh kein Feu­er ma­chen. Um ge­nau zu sein, ma­chen wir ab so­fort nur noch in der Dun­kel­heit Feu­er, da­mit der Rauch kei­ne un­ge­be­te­nen Gäs­te an­lockt«, sag­te sie und ließ sich auf dem Stuhl ne­ben Je­ra nie­der. Sie rieb sich übers Ge­sicht und press­te die Fin­ger auf die Schlä­fen.

»Hat Sa­rah auch schon vor­ge­schla­gen. Ich ha­be ein Glas To­ma­ten auf­ge­macht«, sag­te Gior­gio und deu­te­te auf das Ein­mach­glas, das di­rekt vor Ka­rens Na­se stand.

»Das wird wohl kaum als Früh­stück aus­rei­chen«, ent­geg­ne­te sie und zog das Glas nä­her zu sich, um es ei­ner kri­ti­schen Mus­te­rung zu un­ter­zie­hen.

»Hol uns doch noch was von dem üb­ri­gen Dörr­fleisch, Gior­gio«, sag­te sie und deu­te­te in Rich­tung Vor­rats­kam­mer.

Gior­gio eil­te davon, und Ma­rie und Sa­rah be­rei­te­ten in Stil­le den Früh­stücks­tisch wei­ter vor.

 

Nach dem Früh­stück wur­den wie je­den Mor­gen Auf­ga­ben für den Tag ver­teilt, nur dass dies­mal wie­der stren­ger auf die be­ste­hen­den Re­geln ge­pocht und die neu­en un­miss­ver­ständ­lich be­tont wur­den. Nie­mand durf­te al­lein in den Wald (wo­bei Smil­la si­cher war, dass die­se Re­gel ei­gent­lich nur für Sa­rah und Ma­rie galt). Frem­de soll­ten um je­den Preis ge­mie­den wer­den. Kein lau­tes Re­den, Sin­gen oder Pfei­fen au­ße­r­halb der Bun­ker­mau­ern. Und so wei­ter und so fort.

Smil­la und Je­ra wur­den zum Nä­hen und Fli­cken ver­don­nert, Sa­rah und Lars soll­ten sam­meln ge­hen und Gior­gio und Ma­rie nach den Fel­dern und Bee­ten se­hen.

Die Stun­den zo­gen sich wie al­ter Si­rup. Nicht nur, dass Smil­la es ver­ab­scheu­te, son­ni­ge Ta­ge wie die­sen ein­ge­engt zwi­schen Mo­der­ge­ruch und un­ter­ir­di­scher Fins­ter­nis zu ver­brin­gen. Da war auch noch der ste­te Ge­dan­ke an den Ruck­sack und den Man­tel, die, so­fern sie noch un­ten am See la­gen, nur dar­auf war­te­ten, von ei­nem Frem­den ge­fun­den und mit­ge­nom­men zu wer­den. Zu al­lem Über­fluss be­gann die Wun­de un­ter der Mull­bin­de zu zwi­cken und zu po­chen, was Smil­la zu­sätz­lich be­un­ru­hig­te.

Nach dem Mit­tag­es­sen – kal­ter Wir­sing und ein ro­hes Ei für je­den – hol­te Smil­la das Ver­bands­zeug aus der Vor­rats­kam­mer. Ka­ren half ihr da­bei, den Ver­band zu wech­seln.

»Die sieht nicht gut aus«, raun­te sie in Smil­las Ohr, als sie die Mull­bin­de ent­fernt hat­te.

In­stink­tiv warf Smil­la ei­nen Blick zu Je­ra hin­über, die die Tel­ler vom Mit­tag­es­sen spül­te.

»Bist du ge­gen Toll­wut ge­impft?«

»Nein.«

»Te­ta­nus?«

»Ich weiß nicht, be­stimmt.«

Ka­ren mach­te ein Ge­räusch, das ei­ner Mi­schung aus Seuf­zen und Räus­pern glich, sag­te aber nichts wei­ter. Ih­re Ernst­haf­tig­keit be­un­ru­hig­te Smil­la. Nor­ma­le­r­wei­se sag­te sie et­was wie: »Ein In­di­a­ner kennt kei­nen Schmerz«, »Jetzt stell dich nicht so an« oder »Mor­gen sieht die Welt schon wie­der ganz an­ders aus«, wenn je­mand aus der Grup­pe sich ei­nen mehr oder we­ni­ger schmerz­haf­ten Krat­zer zu­ge­zo­gen hat­te. Doch dies­mal schien sie sich nicht si­cher zu sein, ob die­se Art von Arg­lo­sig­keit an­ge­bracht war.

»Viel­leicht soll­ten wir es nicht ver­bin­den, da­mit die Wun­de bes­ser trock­nen kann und nicht so warm wird.«

»Wenn du meinst, dass das hilft«, brumm­te Smil­la.

Ka­ren tupf­te die Wun­de tro­cken und trug dann et­was Des­in­fek­ti­ons­mit­tel auf. Smil­la biss die Zäh­ne zu­sam­men, als der Al­ko­hol sich in ihr Fleisch fraß.

»Jod­sal­be viel­leicht noch«, ent­schied Ka­ren.

Ih­re »viel­leichts« schür­ten Smil­las Be­un­ru­hi­gung.

»Wie fühlst du dich?«

»Ganz nor­mal«, sag­te Smil­la. »Ein biss­chen mü­der als sonst.«

»Viel­leicht gehst du noch mal zum See und schaust, ob die bei­den dei­nen Man­tel, die An­geln oder sonst ir­gend­et­was zu­rück­ge­las­sen ha­ben. Wenn wir für dich Me­di­zin und ei­nen neu­en Man­tel kau­fen müs­sen und dann auch noch der Fisch­fang aus­fällt, ha­ben wir gar nichts mehr, be­vor der Win­ter an­bricht.« Sie sprach mit ge­dämpf­ter Stim­me und sah sich auf­fäl­lig oft um, ob ir­gend­je­mand lausch­te.

»Ja, ma­che ich«, ant­wor­te­te Smil­la. Ins­ge­heim war sie er­leich­tert über Ka­rens Vor­schlag. Sie woll­te ihren Ruck­sack zu­rück – noch viel dring­li­cher, als sie ihren Man­tel, das Mes­ser oder die An­geln wie­der­ha­ben woll­te.

»Ich glau­be nur nicht, dass ich noch je­man­den ent­beh­ren kann, um dich zu be­glei­ten. Wir kom­men so­wie­so schon kaum mit der Ar­beit hin­ter­her.« So viel zu Nie­mand geht al­lein ir­gend­wo hin.»Kein Pro­blem. Ich komm schon al­lein klar.«

»Ich weiß.« Ka­ren lä­chel­te flüch­tig. »Pass trotz­dem auf dich auf.« Dann leg­te sie die Tü­cher weg, mit de­nen sie Smil­las Schul­ter ge­säu­bert hat­te. Mit dump­fem Schre­cken sah Smil­la, dass sie gelb von Ei­ter wa­ren. Und das nach noch nicht ein­mal vier­und­zwan­zig Stun­den.

Ka­ren sor­tier­te die Arz­nei­en zu­rück in den Ver­bands­kas­ten. Dann wand­te sie sich ab und ging in Rich­tung Vor­rats­kam­mer davon.

Smil­la stand auf und mus­ter­te Je­ra, die am Kü­chen­tisch saß und der er­mü­den­den Ar­beit des So­cken­stop­fens nach­ging.

»Ich muss noch mal zum See, Je­ra. Ich muss gu­cken, ob un­se­re Sa­chen noch dort sind.«

Mit gro­ßen Au­gen sah Je­ra von ih­rer Ar­beit auf. »Du willst zum See? Aber das ist be­stimmt ge­fähr­lich. Was, wenn die bei­den von ges­tern dort lau­ern?«, pro­tes­tier­te sie.

»Nein«, ver­si­cher­te Smil­la ihr und schüt­tel­te den Kopf. »Die ha­ben Wich­ti­ge­res zu tun, als am See zu war­ten, ob wir viel­leicht zu­rück­kom­men.« Ob das stimm­te, des­sen war Smil­la sich selbst nicht si­cher. Aber so­lan­ge es Je­ra die Angst nahm, war die­ses Ar­gu­ment gut ge­nug.

»Au­ßer­dem ist das Son­nen­licht be­stimmt gut für die Wun­de«, setz­te sie hin­ter­her, als Je­ra sie wei­ter­hin kri­tisch mus­ter­te.

»Okay«, gab Je­ra schließ­lich zu­rück und senk­te ihren Blick wie­der auf die löch­ri­ge So­cke in ih­rer Hand.

»Spä­tes­tens zum Abend­es­sen bin ich zu­rück.«

»Ist gut.«

Smil­la husch­te in ihr Zim­mer, schlüpf­te has­tig in ih­re zer­lö­cher­ten Turn­schu­he und eil­te zum Aus­gang, be­vor Je­ra noch auf die Idee kam, sie zu be­glei­ten. Die Son­ne stand mitt­ler­wei­le hoch am Him­mel und hat­te den Bo­den auf­ge­wärmt. Die Vö­gel zwit­scher­ten in­ni­ger als sonst und die Luft war er­füllt vom Sum­men der In­sek­ten. Es schien, als tank­ten al­le Le­be­we­sen dank­bar die letz­ten Son­nen­strah­len vor dem Win­ter­ein­bruch.

Smil­la lief zwi­schen den Ku­lis­sen­häu­sern ent­lang und bog dann in Rich­tung Kir­chen­ru­i­ne ab. Auf dem Wan­der­weg, der die Hoch­flä­che durch­zog, hielt sie in­ne. Es fühl­te sich nicht rich­tig an, dort­hin zu­rück­zu­ge­hen, wo sie vor ei­nem Tag bei­na­he Hun­de­fut­ter ge­wor­den wä­re. Aus ir­gend­ei­nem Grund er­schien es ihr nun wahr­schein­li­cher, feind­lich Ge­sinn­ten in die Ar­me zu lau­fen, als noch ges­tern. Doch sie wuss­te, dass sie so oder so ir­gend­wann dort­hin zu­rück­keh­ren muss­te. Sie brauch­ten den Wald und den See zum Über­le­ben, als Quel­le für Fisch und Ei­cheln. Er war ge­nau­so ihr Freund, wie er ihr Feind war. Zeit für Trau­ma­be­wäl­ti­gung gab es dort nicht. Al­so hol­te Smil­la Luft, als woll­te sie tief tau­chen. Dann be­gab sie sich ins Di­ckicht und mach­te sich auf den Weg zum See.

 

3  Das Ge­schenk

Als sie vom Di­ckicht in den Tan­nen­wald ge­lang­te, be­schleu­nig­te Smil­la auf ei­nen schnel­len Lauf­schritt. Der Ge­dan­ke an ihren Man­tel und den Ruck­sack ihres Va­ters trie­ben sie an und ver­dräng­ten die Mü­dig­keit in ihren Glie­dern. Sie wa­ren die ein­zi­gen Din­ge, die von zu Hau­se noch üb­rig wa­ren. Die­ser Ge­dan­ke er­in­ner­te sie an ihren Bio­lo­gie­un­ter­richt der elf­ten Klas­se: Die obe­re Haut­schicht des Men­schen er­neu­er­te sich ein­mal im Mo­nat kom­plett. Da­zu pro­du­zier­te der Kör­per in ei­ner Mi­nu­te vier­zig­tau­send neue Haut­zel­len. Das hieß, dass sich ih­re Haut, seit­dem die Pla­ge über die Men­schen her­ein­ge­bro­chen war, schon dut­zen­de Ma­le er­neu­ert hat­te. Wie selt­sam, sich vor­zu­stel­len, dass sie nicht mehr in der­sel­ben Haut steck­te wie da­mals, wohl aber noch den­sel­ben Man­tel, die­sel­ben Schu­he und den­sel­ben Ruck­sack trug. Wenn nicht ein­mal ih­re Haut die al­te blieb, dann brauch­te sie Man­tel und Ruck­sack um­so drin­gen­der zu­rück.

Nach et­wa ei­ner hal­b­en Stun­de ge­lang­te sie vom Tan­nen­wald in den lich­teren Laub­wald. Kur­ze Zeit spä­ter er­reich­te sie die Fels­vor­sprün­ge, bei de­nen Je­ra Na­d­ja ab­ge­hängt hat­te. Als Smil­la am un­te­ren En­de des Mas­sivs wie­der wei­chen Laub­bo­den un­ter den Fü­ßen hat­te, mus­ter­te sie ih­re Um­ge­bung nach Spu­ren des Kamp­fes, aber sie konn­te kei­ne er­ken­nen. Oh­ne­hin war sie kei­ne gu­te Fähr­ten­le­se­rin. Sie hät­te die Spu­ren ver­mut­lich nicht ein­mal dann er­kannt, wenn sie ge­stol­pert und mit dem Ge­sicht zu­erst dar­auf ge­fal­len wä­re. Gior­gio war dar­in we­sent­lich bes­ser. Als er noch bei den Ver­lo­re­nen Jungs ge­lebt hat­te, hat­te er für sie Wild auf­ge­spürt und ver­folgt. Und manch­mal auch Men­schen. Gior­gio sag­te, dass sie die Men­schen nur als Ar­beits­kräf­te oder als Han­dels­wa­ren ge­fan­gen ge­nom­men hat­ten und nie, um sie zu ver­spei­sen. Aber manch­mal frag­te Smil­la sich, ob er nicht viel­leicht ge­lo­gen hat­te, um sich zu schüt­zen. Wenn sie je­man­dem zu­trau­te, an­de­re Men­schen zu ver­spei­sen, dann wa­ren es die Ver­lo­re­nen Jungs. Dass sie bis auf Gior­gio nie ei­nen von ih­nen per­sön­lich ge­trof­fen hat­te, mach­te da­bei kei­nen Un­ter­schied. Sie hat­te ge­nug über sie ge­hört.

End­lich kam der See in Sicht. Spie­gel­glatt brei­te­te sich das Was­ser vor ihr aus und re­flek­tier­te die Far­ben der um­lie­gen­den Wäl­der. Un­will­kür­lich lief Smil­la schnel­ler, be­sann sich aber ei­nes Bes­se­ren, als sie wahr­nahm, wie laut ih­re Schrit­te im tro­cke­nen Laub wa­ren.

Als der Hang lang­sam ab­flach­te und in ein stei­ni­ges Ufer über­ging, kam et­was An­or­ga­ni­sches in Sicht. Un­weit des Plat­zes, an dem sie ges­tern ge­ses­sen und ge­an­gelt hat­ten, lug­te dunk­ler Stoff hin­ter ei­nem Baum her­vor. Die wein­ro­te Far­be und die ab­ge­rie­be­nen Stel­len dar­in hät­te sie auch in hun­dert Jah­ren noch wie­der­er­kannt: Es war ihr Ruck­sack.

Als sie fast bei dem Baum an­ge­langt war, sah sie plötz­lich, dass der Ruck­sack nicht das ein­zi­ge war, das hier nicht hin­ge­hör­te. Ab­rupt blieb Smil­la ste­hen. Hin­ter dem Baum rag­te ein Paar Bei­ne in ab­ge­wetz­ten grü­nen Ho­sen und eben­so ab­ge­wetz­ten Le­der­schu­hen her­vor. Dort saß je­mand an den Baum ge­lehnt, den Blick auf den See ge­rich­tet und den Ruck­sack ne­ben sich, als ge­hör­te er ihm.

In­stink­tiv mach­te Smil­la ei­nen Schritt rück­wärts. Da war er, ihr Ruck­sack, zum Grei­fen nah. Und doch war es, als be­fän­de er sich auf der an­de­ren Sei­te ei­ner Schlucht. Je­mand an­de­res hat­te ihn vor ihr ge­fun­den. So sehr sie auch an ihm hing, sie wür­de sich nicht mit ei­nem Frem­den dar­um strei­ten. Sie wich noch ei­nen Schritt zu­rück – und trat auf ei­nen tro­cke­nen Ast, der kra­chend un­ter ihr nach­gab.

Un­gläu­big husch­te Smil­las Blick zu ihren Fü­ßen. Der Wald hat­te sie ver­ra­ten. Als sie wie­der auf­sah, war der Frem­de schon um den Baum her­um ge­kom­men und sah sie an.

Ihr ers­ter Ge­dan­ke lau­te­te Flucht. Viel­leicht war sie noch weit ge­nug von dem Frem­den ent­fernt, um ent­kom­men zu kön­nen, wenn sie jetzt um­dreh­te und los­lief. Aber dann er­kann­te sie, dass es Falk war, dem sie ge­gen­über­stand und et­was an sei­nem An­blick ließ den Ge­dan­ken an Flucht ver­glü­hen.

»Ich ha­be auf dich ge­war­tet«, sag­te Falk. Sei­ne Stim­me klang wei­cher als bei ih­rer letz­ten Be­geg­nung, sein Blick war we­ni­ger über­le­gen.

Als Smil­la nichts er­wi­der­te, setz­te er nach: »Oder viel­mehr: Ich ha­be ge­hofft, dass du wie­der­kommst, um dei­ne Sa­chen zu su­chen.« Er deu­te­te flüch­tig auf den Ruck­sack.

»Na, dann herz­li­chen Glück­wunsch, hier bin ich«, ant­wor­te­te Smil­la.

»Dei­ne Bü­cher sind auch noch im Ruck­sack«, er­klär­te er. »Den Man­tel, die An­geln und das Mes­ser konn­te ich nicht ret­ten. Die ge­hö­ren jetzt Na­d­ja.« Sei­ne Mund­win­kel form­ten ein ent­schul­di­gen­des Lä­cheln.

Smil­la über­leg­te, ob sie drauf und dran war, in ei­ne Fal­le zu tap­pen.

»Ist dein Hund hier ir­gend­wo?«

»Kei­ne Angst«, sag­te Falk. »May­hem beißt nur, wenn ich ihm das sa­ge.«

»Da bin ich ja be­ru­higt«, mein­te Smil­la und scann­te mög­lichst un­auf­fäl­lig die Um­ge­bung nach wei­te­ren po­ten­zi­el­len Fein­den. Das hat­te sie in­ner­halb der letz­ten Ta­ge so oft ge­tan, dass ih­re Nach­kom­men die Au­gen wohl seit­lich am Schä­del ha­ben wür­den, wie es die Evo­lu­ti­on für Flucht­tie­re vor­ge­se­hen hat­te. Dann wand­te sie sich wie­der Falk zu.

Für ei­ni­ge Se­kun­den stan­den sie sich ge­gen­über, oh­ne dass je­mand von ih­nen et­was tat oder sag­te. Schließ­lich er­griff Falk das Wort: »Ich le­ge dei­nen Ruck­sack jetzt hier­hin, okay?« Er mach­te zwei lan­ge Schrit­te nach vorn und leg­te ihn ins Laub. Dann zog er sich zu­rück.

Doch Smil­la rühr­te sich nicht. Sie be­griff nicht, war­um er hier war. Wes­halb mach­te er sich die Mü­he, ihr ihren Ruck­sack zu­rück­zu­ge­ben, der in den Au­gen an­de­rer voll­kom­men wert­los sein muss­te? Die Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen er­schie­nen ihr wich­tig. Im schlimms­ten Fall so­gar über­le­bens­wich­tig.

»Was tust du hier?«, frag­te sie statt­des­sen.

»Na ja, wie ich eben ge­sagt ha­be: Ich ha­be ge­hofft, dass du zu­rück­kommst.«

»Ja, aber war­um?«

Er schau­te ver­un­si­chert drein. »So blöd das jetzt auch klin­gen mag«, setz­te er dann vor­sich­tig an. »Ich ha­be mich ge­freut, dich wie­der­zu­se­hen. Ich ha­be mich ge­freut, dass du noch lebst.«

»Du hast recht, das klingt ziem­lich blöd«, gab Smil­la kühl zu­rück. In ein paar Jah­ren wür­de sie hof­fent­lich dar­über la­chen kön­nen, dass sie Falk aus­ge­rech­net auf die­se Wei­se wie­der­be­geg­net war. Aber nicht jetzt, wo der Schreck des Über­falls noch in ihren Mus­keln wohn­te und May­hems Biss bei je­dem Atem­zug schmer­z­te.

»Ja, schon klar«, mur­mel­te Falk be­drückt. »Und des­halb ha­be ich auch ge­hofft, mich ent­schul­di­gen zu kön­nen. Hät­te ich ge­wusst, dass… ich ha­be ja nicht so­fort er­kannt, dass du…« Er ver­stumm­te. Der Satz, den er be­gon­nen hat­te, be­saß kein En­de, das ihn in ein bes­se­res Licht rü­cken konn­te. Das hat­te er nun wohl auch ein­ge­se­hen.

Aber Smil­la in­ter­es­sier­te sich oh­ne­hin nicht für sei­ne Ent­schul­di­gung. Viel wich­ti­ger war, mit wem sie es ei­gent­lich zu tun hat­te. Dass Falk ihr Nach­hil­fe­schü­ler und Nach­bar ge­we­sen war, lag lan­ge zu­rück und die Pla­ge hat­te die Kar­ten des Schick­sals für je­den Über­le­ben­den neu ge­mischt.

»Wo lebt ihr?«, frag­te sie al­so, in der Hoff­nung, wert­vol­le In­for­ma­ti­o­nen über ihn und sei­ne Grup­pe be­kom­men zu kön­nen.

»In Sei­fen­au­el. Wir ha­ben dort ge­campt, als die Pla­ge aus­ge­bro­chen ist. Das ging al­les so schnell, dass wir es vor dem to­ta­len Cha­os nicht mehr nach Köln zu­rück ge­schafft ha­ben.«

Dann ge­hör­te er nicht zu den Ver­lo­re­nen Jungs. Die leb­ten schließ­lich in der Or­dens­burg Vo­gel­sang. Al­ler­dings hieß das nicht zwangs­läu­fig, dass von ihm und sei­ner Grup­pe kei­ne Ge­fahr aus­ging.

»Wie vie­le seid ihr?«

»Es gibt kein rich­ti­ges Wir, da sind ein paar Leu­te, die nicht aus Sei­fen­au­el weg konn­ten oder woll­ten.«

»Und dei­ne Fa­mi­lie? Ha­ben sie die Pla­ge über­lebt? Sind sie auch in Sei­fen­au­el?«

Er schüt­tel­te den Kopf und schau­te be­drückt zu Bo­den.

»Na­d­ja – wie lang ist sie schon bei euch?«

Falk zuck­te die Schul­tern, sicht­lich ir­ri­tiert von Smil­las Fra­gen. »Ich weiß nicht. Ein paar Mo­na­te viel­leicht.«

»Wo­her kennst du sie?«

»Sie hat uns letz­ten Win­ter sehr ge­hol­fen. Wir wa­ren im Wald an­ge­grif­fen wor­den und hat­ten ei­nen Schwer­ver­letz­ten bei uns, als wir ihr be­geg­net sind. Sie hat an­ge­bo­ten, ihn wie­der ge­sund zu pfle­gen, wenn wir sie im Ge­gen­zug auf­neh­men. Sie war die letz­te Über­le­ben­de aus ih­rer Fa­mi­lie und hat An­schluss ge­sucht.«

»Und dann habt ihr sie ein­fach so auf­ge­nom­men?«, frag­te Smil­la skep­tisch. Be­vor sie Falk ihr Ver­trau­en schenk­te, woll­te sie ganz ge­nau wis­sen, zu wem er in der Welt da­nach ge­wor­den war. »Ich mei­ne, das ist im­mer­hin ein wei­te­rer Ma­gen, der ge­füllt wer­den will. Und dann auch noch je­mand Schutz­be­dürf­ti­ges wie ei­ne Frau? Klingt nach ei­nem schlech­ten Deal, wenn du mich fragst.«

Falk schüt­tel­te leicht den Kopf, als wä­re er über­for­dert. «Es war aber kein schlech­ter Deal. Na­d­jas El­tern wa­ren Apo­the­ker. Sie weiß ei­ne Men­ge über Er­kran­kun­gen, Ver­let­zun­gen und wie man sie be­han­delt. Mehr als wir an­de­ren zu­sam­men. Und was sol­len über­haupt die gan­zen Fra­gen?«

Smil­la ver­schränk­te die Ar­me und mus­ter­te Falk von oben bis un­ten. »Ich möch­te nur wis­sen, wer hier vor mir steht.«

Er hob die Hän­de, als wol­le er sich er­ge­ben. »Aber du kennst mich doch.«

»Ich kann­te dich vor der Pla­ge. Und auch da nicht be­son­ders gut.«

»Du hast nichts von mir zu be­fürch­ten«, sag­te er sal­bungs­voll.

Als er nichts wei­ter sag­te, be­schloss Smil­la, ihren Ruck­sack zu neh­men und zu ge­hen. Sie mach­te ei­ne schnel­le Be­we­gung und schnapp­te nach dem Ruck­sack­trä­ger. Doch von der ruck­ar­ti­gen Be­las­tung schwoll der Schmerz in der Wun­de an. Mit ei­nem lei­sen Stöh­nen ließ Smil­la den Ruck­sack wie­der fal­len. In­stink­tiv hob sie die Hand zu ih­rer Schul­ter, be­sann sich aber ei­nes Bes­se­ren und fass­te die Wun­de nicht an.

»Was ist los?«, frag­te Falk.

»Willst du mich ver­ar­schen?«, zisch­te sie und bück­te sich er­neut nach dem Ruck­sack. Dies­mal vor­sich­ti­ger.

»May­hems Biss?«

»Was denn sonst?«

Falk senk­te den Blick. Ei­ne Ges­te, die ihn ei­nen Kopf klei­ner wir­ken ließ. »Magst du mir die Wun­de mal zei­gen?«, frag­te er dann. Sei­ne Au­gen wa­ren auf Smil­la ge­rich­tet, aber er hat­te den Kopf im­mer noch ge­senkt, als wol­le er sich die Mög­lich­keit of­fen­hal­ten, schnell wie­der zu Bo­den zu bli­cken.

»Zu­fäl­lig nicht, nein.« Glaub­te er wirk­lich, dass sie aus­ge­rech­net sei­ne Für­sor­ge woll­te? Er hat­te ihr das Gan­ze doch erst ein­ge­brockt. Die Wut stieg ihr heiß den Hals hoch.

»Ich könn­te dir Me­di­ka­men­te be­sor­gen. Aber da­zu müss­te ich mir erst ein­mal an­gu­cken, wie es aus­sieht.«

»Bist du jetzt plötz­lich Arzt, oder was?«, frag­te Smil­la und schob sich be­hut­sam den Trä­ger des Ruck­sacks auf die un­ver­letz­te Schul­ter.

»Nein, aber es tut mir leid und ich will es wie­der gut ma­chen.«

»Hät­te es dir auch leid ge­tan, wenn du mich nicht ge­kannt hät­test?«

Er leck­te sich über die Lip­pen und sah für ei­nen Au­gen­blick zur Sei­te. »Ich glau­be nicht, ehr­lich ge­sagt. Und das hat mich selbst er­schreckt. Des­halb will ich es ja wie­der gut ma­chen.«

»Du hast ges­tern ge­sagt, eu­er An­griff sei ein Miss­ver­ständ­nis ge­we­sen. Was hast du da­mit ge­meint?«

Kurz run­zel­te Falk die Stirn, als er­gä­be das, was Smil­la sag­te, kei­nen Sinn. Dann hol­te er tief Luft und at­me­te lang­sam wie­der aus. »Na gut«, setz­te er an, als hät­te er so­eben ein in­ner­li­ches Streit­ge­spräch mit sich selbst ver­lo­ren. »Wir woll­ten se­hen, ob ihr even­tu­ell wert­vol­le Ge­gen­stän­de bei euch habt, die wir…« Er zö­ger­te.

»Die ihr rau­ben könnt«, ver­voll­stän­dig­te Smil­la den Satz. Sie fi­xier­ten ein­an­der ei­nen Mo­ment lang. Schließ­lich hielt Falk Smil­las Blick nicht län­ger stand, senk­te den Kopf und nick­te. »Ja. Und das tut mir leid. Das tut es wirk­lich.«

»Du hast dei­nen Hund auf mich ge­hetzt, weil ich mög­li­cher­wei­se et­was Nütz­li­ches bei mir hat­te«, sag­te Smil­la. Sie konn­te noch im­mer nicht ganz glau­ben, dass aus­ge­rech­net Falk ei­ner der Men­schen war, den die Pla­ge mit Rück­sichts­lo­sig­keit und Ego­is­mus in­fi­ziert hat­te.

In ei­ner hilf­lo­sen Ges­te hob Falk die Hän­de. »Wir hat­ten nie vor, euch ernst­haft zu ver­let­zen. Und du hast doch si­cher­lich nach der Pla­ge auch schon Din­ge ge­tan, auf die du nicht stolz bist, oder?«

Smil­la ver­schränk­te die Ar­me vor der Brust, wo­bei ih­re Wun­de schmerz­haft ziep­te. »Ich ha­be mal ein Buch aus der Bü­che­rei ge­klaut. Das ist nicht ver­gleich­bar.«

Er ließ ein kur­z­es, freud­lo­ses La­chen er­klin­gen. »War­um ha­be ich mir das nicht selbst ge­dacht? Die per­fek­te Smil­la – nicht ein­mal die Pla­ge bringt et­was Schlech­tes in dir her­vor.«

Der Klang ihres Na­mens aus sei­nem Mund traf sie un­ver­mit­telt. Sie fühl­te sich mit ei­nem Mal ech­ter, grö­ßer, we­sent­li­cher und zu­gleich wur­de ihr flau davon. Ganz kurz war es, als wä­re sie wie­der zu Hau­se. Als wür­de Falk gleich sei­ne Schul­sa­chen pa­cken und ge­hen, und sie wür­de in ihr Zim­mer lau­fen und Mu­sik hö­ren oder ih­rer Mut­ter beim Ko­chen hel­fen oder mit Je­ra auf dem gro­ßen, flau­schi­gen Wohn­zim­mer­tep­pich spie­len oder… Falks Stim­me riss sie in die Re­a­li­tät zu­rück.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783948736071
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Eifel Erster Band Dystopie Deutschlandroman Schwesternliebe Starke Frauen Pandemie Humanistische Philosophie Weibliche Heldin Trilogie Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Jana Taysen (Autor:in)

Jana Taysen wurde 1992 in Hagen geboren und lebt mit Freund und Hund im abenteuerlichen Köln. Dort arbeitet sie in einem Marktforschungsinstitut. Zuvor studierte sie English Studies und Medienwissenschaften im Bachelor und Markt- und Medienforschung im Master. Das Schreiben war schon von klein auf ein wichtiger Teil von Janas Leben und eine ihrer liebsten Freizeitbeschäftigungen. Sie liebt es, neue Welten und Charaktere zu erschaffen und selbst ganz und gar in die Geschichten abzutauchen.
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Titel: Wir Verlorenen