Lade Inhalt...

Ruby

Sie war in der Hölle, doch sie kam zurück

von Dannie Rubio (Autor:in)
440 Seiten

Zusammenfassung

Sie war in der Hölle, Doch sie kam zurück. Ruby Bergmann ist eine 27-jährige Grafik Designerin, die bis zum heutigen Tag, gegen die Auswirkungen ihrer beschissenen Kindheit ankämpft. Als ihr gewalttätiger Vater stirbt, erhofft sie sich Befreiung von dem Grauen der Vergangenheit. Doch die Kleine Ruby, die in ihr lebt, ist unersättlich. Sie wünscht sich Rache. Ruby Bergmann findet einen nicht ganz konventionellen Weg, die kleine Ruby zum Schweigen zu bringen. Als Ruby den gut aussehenden Polizisten Nils Kramer kennenlernt, wird es für sie immer komplizierter, ihr Doppelleben aufrecht zu erhalten. Werden Sie Ruby lieben oder werden Sie Ruby hassen? Denn dazwischen gibt es nichts.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2021 Dannie Rubio

Herausgeber: HumanTalent & Me

Autor: Dannie Rubio

Umschlaggestaltung, Illustration: © Phönix Graphics Spain

Korrektorat: Human Talent & Me

Verlag & Druck: Human Talent & Me Verlag

Calle Bonitol 4

03110 Mutxamel

Spain

 

 

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

 

 

 

 

 

Es gibt immer einen Ausweg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog/ vor 20 Jahren


Die kleine Ruby spielt in ihrem Kinderzimmer. Vor kurzem hat sie ihren siebten Geburtstag gefeiert. In ihrem kleinen Reich ist Rubys Welt noch in Ordnung. Ihr Zimmer ist ihre sichere Zone. Ihr Schloss, ihre Burg, hier ist sie in Sicherheit, vor den Launen ihres gewalttätigen Vaters.
Unbeschwert striegelt sie ihr Stoffpferdchen und gibt ihm Holzkarotten zum Knabbern. Ruby liebt Pferde über alles. Ihre Sammlung reicht von Stoff-, Playmobil-, Plastik-, Holz- bis zu Legopferdchen in vielen Größen und Farben.
„Ruby, Schatz, komm doch bitte und hilf mir beim Tisch decken“, ruft ihre Mutter aus der Küche. Ruby zögert keine Sekunde, sie weiß, dass ihr Vater zu Hause ist und sie sich besser beeilt. Mit kleinen Sprüngen hüpft sie zur Tür, öffnet diese vorsichtig und geht in die Küche zu ihrer Mutter. Verstohlen schaut sie nach, wo ihr Vater ist, beruhigt stellt sie fest, dass er vor der Flimmerkiste sitzt. Ruby holt sich zwei Gläser aus der Küche, um sie auf den Esstisch zu stellen. Und da passiert es: Eines der Gläser kommt ins Wackeln und fällt schließlich mit Riesen-Gedöns auf den Holzboden. Ruby steht da wie gelähmt. Ihr Vater kommt mit großen Schritten auf sie zu.
„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“, zischt er sie voller Wut und Hass an. „Du bist zu nichts zu gebrauchen, nicht einmal ein Glas kannst du auf den Tisch stellen. Du bist ein Nichtsnutz, du bist nicht gut genug für nichts und niemanden, schreib dir das hinter deine schmutzigen Ohren. Ruby hat nur einen Ausweg aus dieser Situation, sie weiß genau, dass ihr Vater noch lange nicht fertig ist mit ihr. Angsterfüllt versteckt sie sich in ihrer kleinen Hölle. Es ist kein schöner Ort; es ist dunkel, es herrschen Traurigkeit, Einsamkeit und Angst. Aber es ist ihr einziger Weg, emotional aus dieser Situation zu entfliehen. Da zu sein, doch gleichzeitig nicht da zu sein. Ihr Vater schaut sie wütend von oben herab an. Ruby erhascht einen Blick auf ihre Mutter. Sie kocht in aller Ruhe, ohne die schreckliche Szene zu beachten.
„Mom?“, flüstert Ruby.
„Mom? Mom wird dir nicht helfen, weil Mom auf meiner Seite ist“, keift er sie an. Mit Schwung knallt seine rechte Hand mitten in ihr zierliches Gesicht. Sie fällt zu Boden.
„Steh sofort wieder auf!“ Mit Mühe und zitternd vor Angst steht sie auf. In ihrem Mund macht sich der unverkennbare Geschmack von Blut bemerkbar. Ungewollt beißt sie auf den kleinen Zahn, der sich vom Zahnfleisch gelöst hat. Sie möchte weinen, aber sie weiß, dass das ihren Vater nur noch wütender machen würde. Traurig schaut sie ihn an.
„Was glotzt du mich so an?!“ Wieder schlägt er zu. Diesmal kann sie sich auf den Beinen halten. „Was für ein unmögliches Kind“, sagt er verächtlich. „Und jetzt hilf gefälligst deiner Mutter beim Tischdecken und wehe, es fällt noch einmal etwas auf den Boden.“ Er lässt von ihr ab und widmet sich wieder dem Fernseher. Ruby spuckt den Zahn aus, in ihre kleine Hand. Sorgsam steckt sie ihn in ihre Hosentasche.

 

 

 

In der Gegenwart

1 Nils

„Könnt ihr bitte sofort zum Steglitz fahren. Ein Mann ist gestürzt, er bewegt sich nicht mehr. Laut Anruferin zeigt er kein Lebenszeichen“, ertönt das Funkgerät im Einsatzwagen von Nils Kramer und Ralf Teufel
„Wer hat angerufen?“, will Ralf Teufel wissen.
„Wohl seine Frau.“
„Wir sind in der Gegend und fahren gleich vorbei.“ Nils Kramer ist 41 Jahre alt, Polizist aus Leidenschaft. Er liebt seinen Beruf. Aber wenn Betrunkene im Spiel sind, ist er befangen. Betrunkene Menschen und Alkohol kann er nicht ausstehen, seit seine Frau bei einem Verkehrsunfall vor acht Jahren ums Leben kam, nach nur zwei Jahren glücklicher Ehe. Ein Besoffener knallte frontal mit seinem SUV in ihren VW-Käfer. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance, war sofort tot. Der Unfallverursacher hatte mit nur leichten Verletzungen überlebt. Nie hat er sich entschuldigt und es tat ihm auch nicht sonderlich leid. Leid tat ihm einzig sein zerstörter Wagen.
Nils ist ein gut aussehender Mann, ohne arrogant zu sein oder zu wirken. Es ist ihm schlichtweg nicht bewusst. Mit einer Größe von 1,88 Metern ist er schon ein Blickfang. Der Rest tut sein Übriges. Braune gelockte Haare, haselnussbraune Augen, eine perfekte Nase, leicht geschwungener Mund, sportlicher Körper. Die Natur meinte es gut mit Nils Kramer.
„Haus Nummer 14, wir sind hier.“ Sie stehen vor einem schmucken Einfamilienhaus. Es ist schon dunkel, drinnen leuchtet gedämpftes Licht. Vor dem Haus parken ein dunkelgrauer Audi TT und ein blauer Mercedes S 500.
„Hübsche Wagen“, sagt Ralf bewundernd. Ralf ist seit fünf Jahren Nils‘ Partner. Ein unkomplizierter Zeitgenosse, meist gut gelaunt; er versucht, die Welt immer positiv zu sehen. Ralf ist 35 Jahre alt, seit 16 Jahren verheiratet mit Maja. Ihre 7-jährige Tochter heißt Stefanie. Er ist ein durchschnittlicher Typ, kurze dunkelbraune, fast schwarze Haare, braune Augen, eine etwas zu groß gewachsene Nase und eher dünne Lippen. Hätte er nicht Probleme mit dem Gewicht, wäre sein Leben seiner Ansicht nach perfekt. Mal rauf, mal runter. Gerade steckt er in einer schlanken Phase. Sein größtes Problem ist seine Vorliebe für Süßigkeiten, er kann zu Donuts und Schokolade einfach nicht Nein sagen.
Ding-Dong. Nils drückt den Klingelknopf. Von drinnen dringt kein Laut nach außen. Sind sie hier richtig? Doch nach einer kurzen Weile öffnet sich zaghaft die Tür.
„Hallo, wir sind Nils Kramer und Ralf Teufel von der Polizei. Wir haben eine Meldung erhalten, dass hier ein Unfall passiert ist“, informiert sie Nils.
„Ja, kommen Sie rein“, sagt die Frau.
Ralf und Nils schauen sich an und treten ein. Die Frau ist zirka 55 Jahre alt, schätzt Nils, gepflegt, sympathisch, wirkt aber unsicher und eingeschüchtert. Sie hat dunkelblondes mittellanges Haar mit ein paar grauen Strähnen, braune Augen und einen wachen, aufmerksamen Blick. In der Küche angekommen, sehen sie das Opfer am Boden liegen. Ein Mann, vielleicht um die fünfzig. Schwer zu sagen, da er auf dem Bauch liegt. Er trägt eine schwarze Jeans, schwarze Halbschuhe und ein ehemals weißes Polo Shirt, welches jetzt blutdurchtränkt ist. Um seinen Kopf breitet sich eine riesige Blutlache aus.
„Was ist geschehen?“, fragt Ralf. Erst jetzt bemerkt Nils, dass noch jemand in der Küche steht. Eine jüngere Frau, die geschätzte Mitte zwanzig ist, klein, sportliche Figur, kurze verrückt gestylte Haare, die ihn an ein Meerschweinchen erinnern. Und wunderschöne blaue Augen. An der Lippe hat sie eine Verletzung, sie hält sich ein Taschentuch daran, um die Blutung zu stillen. Auch an ihrer rechten Handinnenfläche sieht er eine blutende Verletzung. Sein Blick bleibt an ihr hängen. Nils, reiß dich zusammen, ermahnt er sich selbst. Die junge Frau bemerkt es und schaut ohne Scham zurück. Ein tiefer Blick, traurig, unsicher, aber irgendwie auch herausfordernd und rebellisch. Nils wendet seine Augen von ihr ab und widmet seine ganze Aufmerksamkeit der Gattin des Verstorbenen.
„Er war betrunken. Wie so oft, wenn er zu viel getrunken hat, ist er gewalttätig“, erklärt Melissa, die Frau des Toten, stockend. Auch wenn er nicht betrunken ist, denkt Ruby, die Tochter des Opfers.
„Was ist genau geschehen?“, will Ralf nun wissen.
„Er hat Ruby geschlagen, weil sein Glas nicht sauber war. Dann hat er das Gleichgewicht verloren, fiel vorne über und hat sich die Halsschlagader mit dem zerbrochenen Glas geschnitten.“ Sonderlich traurig scheint sie über den Tod ihres Gatten nicht zu sein. Aber wer kann ihr das verübeln? Was für ein Arschloch, denkt Nils. Ralf zieht sich Latexhandschuhe an, kniet sich hin und tastet nach der Halsschlagader.
„Er ist tot“, sagte er leise.
„Er hat es verdient“, meldet sich die junge Frau zu Wort.
„Und Sie sind?“, will Nils wissen.
„Ruby Bergmann, seine Tochter. Er hat mein Leben zerstört. Wir hatten alles, alles, was man mit Geld kaufen kann. Aber er hat mich mein Leben lang nur geschlagen und erniedrigt. Ich musste mir jeden Tag anhören, dass ich nichts wert bin, dass er nie hätte Kinder haben sollen. Können sie verstehen, dass sich meine Trauer in Grenzen hält?“
Melissa legt ihre Hand auf Rubys Schulter. Eine tröstende Geste, aber sie scheint unbeholfen, unsicher. Nils beobachtet die Szene. Ruby scheint die Zuneigung ihrer Mutter nicht zu gefallen. Nils nickt zaghaft, es tut seinem Herzen weh, den Schmerz in ihren Augen zu sehen. Was löst diese Frau in ihm aus? Von draußen hören sie die Sirenen eines Rettungswagens. Zwei Sanitäter stürzen herein.
„Hier gibt’s nichts mehr für euch zu tun“, sagt Ralf trocken. Unbeirrt knien sich die Sanitäter hin und vergewissern sich, ob sie doch etwas tun können. „Er ist tot“, sagt einer der beiden.
„War er nur gewalttätig, wenn er betrunken war, oder auch in nüchternem Zustand?“, will Nils wissen.
Was tut das zur Sache?, wundert sich Ruby. Ihre Mutter will gerade das Wort erheben, als Ruby ihr dieses abschneidet.
„Er war ein böser Mann, Gewalt war seine Sprache. Besoffen oder nicht. Wenn er besoffen war, tat es mehr weh, das war der einzige Unterschied. Er war unberechenbar.“ Ihre Mutter schaut sie kritisch an und räuspert sich.
„Das stimmt nicht ganz, Ruby, er war auch liebenswert und charmant.
„Zu dir, Mom, du lebst in deiner Welt und willst es einfach nicht sehen. Er hat mich gehasst, weiß Gott, warum.
„Woher stammt die Verletzung an ihrer Hand?“, will Nils von Ruby wissen.
„Ich habe mich geschnitten, als ich nachgeschaut habe, ob er noch am Leben ist. Ich habe die Scherbe nicht gesehen“, erklärt Ruby.
„Brauchen sie einen Arzt?“, fragt Nils besorgt.
„Nein, geht schon“, versichert Ruby. Süßer Kerl, denkt sie.
Nils und Ralf schauen sich an.
„Vielen Dank für ihre Offenheit.“ Nils schaut erst zu Melissa, dann zu Ruby. Er schluckt und fährt fort. „Okay, dann warten wir die Obduktion ab und melden uns, sollte es weitere Fragen geben.“
„Ja, machen Sie das“, erwidert Melissa freundlich. Sie verabschieden sich und steigen ins Auto.
„Traurige Geschichte, nicht?“, sagt Ralf nachdenklich.
„Was stimmt nicht mit einem Menschen, der seine eigene Tochter ihr ganzes Leben lang terrorisiert? Ich denke, die Familie ist jetzt besser dran“, meint Nils ernst.
„Ja, das glaube ich auch. Aber sag mal, die Verletzung an der Hand der Kleinen, findest du die nicht etwas, mh, seltsam?“
„Nein, warum? Macht doch Sinn, sie hat sich hingekniet und in der Aufregung hat sie die Scherbe nicht gesehen“, antwortet Nils überzeugt.
„Kann es sein, dass du nicht ganz objektiv bist?“
„Was meinst du?“
„Sag du es mir. Hat dir die Kleine den Kopf verdreht? Ich habe deinen Blick schon gesehen. Ich sehe das, Nils, vor mir kannst du keine Geheimnisse haben.“ Er grinst.
„Blödsinn“, erwidert Nils.

 

2 Ruby

Ruby Bergmann ist 27 Jahre alt, sie ist mit ihren 1,58 Metern nicht die Größte. Auch sonst ist sie nicht der „Prototyp Traumfrau“. Trotzdem verdreht sie vielen Männern den Kopf. Mit ihren kurzen, wuscheligen blonden Haaren sieht sie frech und rebellisch aus; jemand, der in keine Schublade passt. Die kleine Nase fügt sich perfekt in ihr hübsches Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Ihre blauen Augen scheinen in die Menschen hineinzuschauen. Ihr Blick ist eine Mischung aus Traurigkeit, Hoffnung und Sehnsucht. Rubys Lachen ist echt und herzlich. Obwohl schon 27, hatte sie erst eine längere Beziehung, denn immer, wenn es ernster wurde, machte sie zu. Es ängstigt sie, sich zu öffnen, sich verletzlich zu zeigen. Ihre kleine Wohnung am Tempelhof liebt sie über alles. Sie liegt über einem kleinen Nähgeschäft. Ihr schmuckes Zuhause ist ihre Burg, ihre Festung, in der sich sicher fühlt und ihre Ruhe hat. Sieben Jahre wohnt sie nun nicht mehr bei ihren Eltern. Die beste Entscheidung, die sie je getroffen hat. Als sie damals ausgezogen ist, hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Mutter alleine mit ihrem Vater zurückließ. Aber sein Hass war ausschließlich auf sie gerichtet. Oft fragte sie sich, was sie getan hatte, dass er sie so hassen konnte. Anfangs erniedrigte er sie mit Worten, schrie sie an, sagte ihr immer und immer wieder, dass sie nichts kann und nichts ist. Als sie sieben Jahre wurde, begann er sie zu schlagen. In der Schule wurde gefragt, warum sie schon wieder blaue Flecken habe. Sie sagte dann immer, sie sei vom Pferd gefallen oder mit dem Bike gestürzt. Keiner hatte Verdacht geschöpft, sie waren die nette kleine Familie von nebenan. Gut situiert und unauffällig. Das Drama, das sich hinter der Haustür abspielte, konnte und wollte keiner erahnen. Heute noch leidet sie unter ihrer Vergangenheit, die sie geformt und geprägt hat. Ruby ist das Resultat lebenslanger Gewalt, Ablehnung, Hass und Erniedrigung. Damit wird sie ein Leben lang zu kämpfen haben, das weiß sie. Nie wird sie ganz frei sein.
Wenn es die Zeit erlaubt, besucht sie ihre Mutter einmal in der Woche. Das Verhältnis zu ihr würde sie als normal bezeichnen. Glaubt oder hofft sie zumindest. Auch wenn sie nicht verstehen kann, dass sie ihren Vater nie verlassen hat, liebt sie ihre Mutter. Beschützt hat sie Ruby nie, zu keiner Zeit ist sie vor ihrem Vater für sie eingestanden und hat sie verteidigt. Immer hat sie gekonnt weggesehen. Es gab strenge Regeln zu Hause. Über Gefühle sprach man nicht, niemals. Man erduldete alles und versuchte nicht aufzufallen. Man setzte sich nicht zur Wehr, hielt den Mund und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Was Vater sagte, war Gesetz, was er tat ein Geheimnis. Vor kurzem bedeutete ihr ihre Mutter, dass es ja nicht sooo schlimm war, sie meinte: „Wenigstens hat er dich nicht vergewaltigt.“ Da stellte Ruby fest, dass ihre Mutter in einer anderen Welt lebt. Den Missbrauch ihres Mannes an der eigenen Tochter hat sie sich schöngeredet, hatte keinen Bezug mehr zur Realität. Hätte sie die Wahrheit akzeptiert, wäre sie daran zerbrochen. Davon ist Ruby überzeugt. Melissa musste selber Angst vor ihrem Mann gehabt haben, nur so kann sie sich ihr Verhalten erklären.
Ruby hat einen guten Job, sie arbeitet als Grafikdesignerin bei GRAPHICS 4 YOU, einem kleinen Grafik Design Studio. Beim Chef, den Angestellten und den Kunden ist sie äußerst beliebt. Die Arbeit fällt ihr leicht, sie war schon immer kreativ und konnte Gefühle, Gedanken und Ideen in Bilder und Grafiken verwandeln. Was ihr schwerfällt, ist der Umgang mit Menschen. Sie möchte, dass die Leute sie mögen, sie ist auf der ständigen Suche geliebt zu werden. Auseinandersetzungen scheut sie. Wenn jemand wütend auf sie ist, wird ihr beinahe schlecht und sie fällt in ein tiefes schwarzes Loch. Ihre kleine Hölle, so nennt Ruby den Ort der absoluten Dunkelheit, der überwältigenden Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Manchmal dauert es Minuten, bis sie aus ihrer Hölle entfliehen kann, bisweilen Stunden. Menschen sind anstrengend, schwer zu verstehen und gefährlich. Heute lieben sie dich und morgen hassen sie dich. Aber Ruby hat auch eine andere Seite, in der sie patzig ist, rebellisch, zynisch und sarkastisch. Sie hat sie vereint die beiden Rubys, Yin und Yang, Jekyll und Hyde. In Perfektion.
Heute ist Mittwoch und mittwochs geht sie meist zu ihrer Mutter. Gemeinsam kochen sie etwas und spielen UNO. Angeregt unterhalten sie sich in der Küche, als ihr Vater sturzbesoffen zur Tür hereinstürzt. Eigentlich müsste er viel später nach Hause kommen.
Scheiße, was macht der denn schon hier? Erschrocken schaut Ruby zur Haustür. Mittwochs hat er meistens noch Besprechung mit Mitarbeitern. Seit Monaten hat sie ihn nicht mehr gesehen, sie geht ihm aus dem Weg. Da steht er nun und glotzt die beiden mit seinen glasigen Augen an. Die Pupillen winzig klein.
„Was macht die denn da? Will sie Geld? Kleines Miststück, ich will dich hier nicht mehr sehen, das habe ich dir schon x-mal gesagt. Wer weggeht, ist weg, der muss nicht mehr zurückkommen!“, brüllt er wütend. Ruby hat sich noch nie gegen ihn zur Wehr gesetzt. Sein Geschrei lähmt sie. Nicht so heute. Ihr Blutdruck steigt und sie spürt, wie etwas in ihr erwacht. Sie hat genug, sie hat die Schnauze voll. Ihr Herz rast, sie zittert am ganzen Körper. Tief durchatmen 1,2,3, beruhigt sie sich selber. Sie hat eine Atemtechnik gelernt, die ihr bei Panikattacken hilft.
„Du hast dieses missratene Ding auf die Welt gebracht, schämst du dich nicht!“, schreit er seine Frau an. Die steht in der Ecke und hat sich offensichtlich von dieser Welt verabschiedet, ist in ihre eigene kleine verdrehte Welt abgetaucht. Seinen hasserfüllten Blick mit den glasigen Augen und den kleinen Pupillen auf Ruby gerichtet, geht er auf sie zu, holt aus und schlägt ihr ins Gesicht. Ruby fällt nach hinten, kann sich aber an einem Stuhl festhalten. Ein Glas stürzt um und zerbricht in tausend Teile. Geschockt berührt sie ihre Lippe, Blut tropft von ihrem Finger. Tränen lösen sich aus ihren Augen. Sie blinzelt die Tränen weg. Ruby droht abzustürzen in ihre Hölle, aber sie darf es nicht erlauben. Nicht jetzt Ruby, bitte nicht jetzt. Sie weiß, was jetzt kommt. Er wird sie schlagen, bis er genug hat. Bis er zufrieden ist, sich stark und wichtig fühlt. Wenn sie Glück hat, wird er ihr keine Knochen brechen.
„Hast du Angst? Mach ich dir Angst? Du Nichtsnutz. Ich weiß nicht, kleine Ruby, warum ich dich so hasse. Es ist deine blanke Anwesenheit, die mich so wütend macht. Es ist deine Schuld. Du bist einfach ein Nichts, du bist nicht gut genug für nichts und niemanden“, spuckt er Ruby wütend ins Gesicht.
Ruby schaut ihm in die Augen, sie hat Angst, Todesangst. Trotzdem fühlt sie sich plötzlich mutig, rebellisch. Sie spürt … Hass, reinen Hass. Und das beflügelt sie.
Mutig fixiert sie seine Augen, seine kleinen fiesen Schweineaugen, die ihr, ihr Leben lang nur Abneigung entgegenbrachten. „Ich hasse dich, du feiges Schwein, du Abschaum, du bist widerlich, mitleiderregend“, flüstert Ruby ihm zischend zu. Ihr Vater guckt verdutzt.
Die Welt steht still, der Moment scheint ewig zu dauern. Bedrohlich nähert er sich Ruby. Sie schluckt.
„Oha, sind wir heute mutig? Du brauchst wohl noch ein paar Schläge mehr, hast nicht genug.“
Rubys Mutter Melissa weint kläglich. „Hört doch bitte auf“, fleht sie.
„Lass nur. Das klären wir unter uns, Vater und Tochter“, sagt er mit einem ruhigen, flüsternden Tonfall. Rubys Herz schlägt rasend schnell, als sie zu ihrem 1,80 Meter großen Vater aufschaut. Sie zittert. Ihre Wange brennt, sie spürt, dass Blut aus ihrer Lippe fließt. Er jedoch merkt nicht, wie Blut aus Rubys rechter Hand tropft.
„Es ist vorbei, du wirst mir keine Schmerzen mehr zufügen, das hast du schon viel zu lange getan“, flüstert sie. Verdutzt schaut er sie an.
„Wovon redest du, hast du getrunken?“ Er lacht laut und falsch. Als in diesem Moment Rubys rechte Hand blitzschnell nach vorne schnellt. Er sieht die Glasscherbe nicht, die sie in der Hand festhält, das Blut, das von ihrer Hand tropft. Die Scherbe schneidet tief in seinen Hals ein, sie dreht sie herum, schaut ihm dabei starr in die Augen. Das Blut spritzt aus seinem Hals wie aus einem Gartenschlauch. Er schaut sie mit großen Augen an.
„Was hast du getan, du Miststück?“, röchelt er, Blut läuft aus seinem Mund. Er blubbert vor sich hin.
„Auf diesen Moment habe ich 27 Jahre lang gewartet“, flüstert sie ihm zu. Er fällt auf den harten Küchenboden, röchelt und zuckt noch ein paarmal, bis das Leben aus ihm entschwindet. Sie genießt jede Sekunde davon. Dann ist es vorbei. Aus, Schluss, das war’s. Es fühlt sich seltsam an. Befreiend, ja, es fühlt sich gut an. Nächte lang hat sie ihn in ihren Gedanken auf jede erdenkliche Art ermordet und jetzt ist es real, sie hat es getan. Rubys Mutter kniet sich neben Karl hin.
„Was hast du getan, Ruby?“, fragt Melissa weinerlich.
„Das einzig Richtige“, antwortet sie kühl.
„Er ist, er ist tot“, stellt Melissa fest und betrachtet Ruby aus
verweinten Augen.
„Gut.“
Plötzlich steht Melissa auf und wäscht sich die Hände. Sie füllt Wasser in ein Glas. Gefasst trinkt sie einen Schluck und sagt ruhig:
„Er ist gestürzt, er hat das Gleichgewicht verloren und ist gefallen.“ Ruby und Melissa schauen sich an, es ist klar, was dieser Blick zu sagen hat. Es bleibt unser Geheimnis.


3 Donnerstag

„Hey Nils, die Obduktionsresultate sind soeben hereingekommen“, ruft Ralf dem gerade eben eintretenden Nils zu.
„Und?“ Ralf beißt von seinem Nutella-Brot ein großes Stück ab und spricht mit vollem Mund.
„Mh, ja, offiziell gestorben am Blutverlust.“
„Man spricht nicht mit vollem Mund, Ralf.“
„Ja, schon gut.“
„Also alles, wie sie es uns erzählt haben?“, will Nils wissen.
„Ja, außer“, er nimmt einen weiteren Bissen von seinem Brot. Ralf fährt fort, Nils verdreht die Augen.
„Es scheint, dass die Scherbe in den Hals eingedrungen ist, dann aber umgedreht wurde.“ Ralf imitiert die Bewegung mit seinen Händen.
„Mh, aber das kann ja beim Sturz passiert sein“, findet Nils.
„Ja, kann sein. Aber ich glaube, wir sollten die beiden nochmals besuchen und sie damit konfrontieren. Was meinst du?“
„Ja, wollen wir gleich los?“
„Ja, komm, gehen wir.
Im Honda Civic fahren sie von Nils nach Steglitz. Nach 22 Minuten Autofahrt erreichen sie ihr Ziel. Nils bemerkt, dass der Audi TT nicht vor dem Haus steht. Ralf klingelt an Melissas Haustür. Es vergehen wenige Sekunden, als sie von innen ihre Stimme wahrnehmen.
„Ja“, sagt sie und ohne auf Antwort zu warten, öffnet sie die Tür. Verdutzt schaut sie die beiden Polizisten an.
„Hallo, haben Sie noch Fragen? Ich bin müde und habe viel zu erledigen. Wir haben Ihnen alles gesagt.“
„Ja, soweit schon, es gibt nur eine kleine Unstimmigkeit. Dürfen wir hereinkommen?“, fragt Ralf höflich.
„Ja, bitte.“ Sie öffnet die Tür. Als die Beamten die Küche betreten, fällt ihnen auf, dass nichts mehr an den Unfall erinnert. Der Boden ist sauber und es riecht stark nach Reinigungsmitteln. Sie müssen gestern Abend noch ganze Arbeit geleistet haben.
„Wollen Sie einen Kaffee oder Tee?“, fragt Melissa jetzt deutlich entspannter.
„Nein, machen Sie sich keine Umstände“, erwidert Nils, doch Ralf fällt ihm ins Wort.
„Ein Kaffee wäre schön und vielleicht haben sie noch einen Keks? Oder zwei? Den Kaffee mit viel Milch und Zucker.“ Nils schaut seinen Kollegen an und schüttelt den Kopf.
„Ich brauche Zucker, Nils, ich muss in die Gänge kommen.“ Melissa scheint es nichts auszumachen. Mit langsamen Bewegungen bereitet sie den Kaffee zu und legt ein paar Schokoladenkekse auf einen kleinen Teller.
„Ich habe immer Kekse im Haus. Ruby liebt Kekse, Schokoladenkekse mag sie am liebsten.“
„Ist Ihre Tochter nicht hier?“, fragt Nils enttäuscht.
„Nein, sie muss arbeiten heute und geht danach zu sich nach Hause.“
„Ah, sie wohnt gar nicht hier?“
„Nein, sie ist vor sieben Jahren ausgezogen. Ruby hat es hier nicht mehr ausgehalten. Ich kann ihr das nicht übel nehmen. Ihr Vater hat sie regelmäßig geschlagen. Grundlos, ich konnte ihr nicht helfen. Ich bin eine schlechte Mutter.“ Traurig schaut sie die beiden an.
„Das finde ich nicht. Sie haben getan, was sie für möglich hielten. Keiner macht Ihnen einen Vorwurf“, meint Ralf.
„Er war nicht immer so. Ich glaube, er liebte Ruby, aber auf seine ganz eigene Art und Weise.“ Nils hebt die Augenbrauen.
„Er hat viel gearbeitet, hat uns ein schönes Leben ermöglicht mit allem Luxus, den man sich wünschen kann. Das ist doch auch eine Art von Liebesbeweis?“, schaut sie fragend die beiden Beamten an, „oder nicht? Er hat viel und hart gearbeitet, manchmal war er gestresst, kam nach Hause und ist explodiert, weil Ruby wieder irgendetwas angestellt hat. Daraufhin ging sein Temperament mit ihm durch. Mich hat er nie geschlagen, aber bei Ruby kannte er keine Grenzen. Und sie hat es hingenommen. Na ja, was hätte sie auch tun können, am Anfang versuchte sie noch, ihm alles Recht zu machen. Aber sie merkte schnell, dass, ganz egal was sie tat, es nie gut genug war.“
Nils kann sich nicht zurückhalten: „Sie hätte jemanden gebraucht, der zu ihr steht, der sie beschützt, vor ihrem eigenen Vater.“ Er schaut Melissa herausfordernd an, die seinen Blick erwidert, sich aber nicht dazu äußert.
„Und Sie haben eine Scheidung nie in Betracht gezogen?“, fragt Ralf etwas ungläubig. Er kann nicht verstehen, dass sie so viele Jahre nur zugesehen hat.
„Natürlich habe ich das, aber was hätte ich tun sollen? Ich habe nichts gelernt, habe früh geheiratet und in all den Jahren nie gearbeitet. Finanziell ging es uns gut. Karl war selbstständig, Immobilien, er hatte in der Finanzkrise ganz viele Schnäppchen gemacht. Die haben sich Jahre danach in wahre Goldgruben verwandelt. Aber er hatte auch vorher schon Geld von zu Hause aus. Seine Eltern waren vermögend und als einziges Kind war er Alleinerbe, als sie vor 15 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen.“ Nils zieht es den Magen zusammen.
„Wenn Ruby nicht da war und er nicht getrunken hatte, war er gar nicht so schlimm.“
„Mh, ja, okay“, erwidert Nils etwas verwirrt. Was war mit diesem Mann los? Warum hasste er seine eigene Tochter so sehr? Er räuspert sich.
„Hat er sie, hat er sie unsittlich berührt? Vergewaltigt?“ Entrüstet schaut Melissa ihn an.
„Natürlich nicht, so einer war er nicht. Er war streng, aber kein Perverser.“ Sie scheint beleidigt. Nils versteht die Frau immer weniger und fährt fort.
„Nun also, wir sind hier, weil die Obduktion ergeben hat, dass die Scherbe in den Hals Ihres Mannes eingedrungen ist, sich dann aber gedreht hat, gedreht wurde. Dadurch wurde die Halsschlagader durchtrennt. Können sie das erklären?“ Sie schaut ihn an und scheint nachzudenken.
„Wie gesagt, er ist gefallen und in die Scherbe gestürzt. Ich habe nicht gesehen, wie sie eingedrungen ist oder ob und wie sie sich gedreht hat. Es ging alles viel zu schnell“, erklärt Melissa geduldig.
„Verstehe. Wir würden gerne noch mit Ihrer Tochter sprechen. Wo können wir sie finden?“, will Ralf jetzt wissen.
„Sie arbeitet meist bis 18 Uhr, danach geht sie nach Hause oder in den Stall.“
„In den Stall?“, fragt Nils neugierig.
„Ja, sie liebt Pferde, schon seit sie klein ist. Sie hat ein eigenes Pferd. Ruby reitet auch Turniere, Reining oder so was. Ich kann mir den Namen nie merken,“ sagt sie verlegen, „das ist die amerikanische Reitweise.“ Zum ersten Mal hat sie ein Glänzen in den Augen. „Sie reitet sehr gut, hat schon viele Turniere gewonnen.
„Können Sie uns ihre Adresse geben? Dann werden wir heute Abend mal bei ihr vorbeigehen.“ Sie händigt Rubys Adresse aus und verabschiedet sich freundlich, aber nicht ohne Nils einen strafenden Blick mit auf den Weg zu geben.
„Nette Frau“, bemerkt Ralf.
„Na ja, ehrlich gesagt, kann ich nicht nachvollziehen, dass sie 27 Jahre zugesehen hat, wie ihr Mann ihre einzige Tochter schlägt und erniedrigt. Ich meine, bisschen egoistisch, nicht? Das liebe Geld, sie liebte das gute Leben und hat die Not ihrer Tochter einfach ignoriert. Ich verstehe das nicht. Der Arsch hat das Leben der Kleinen zerstört und sie hat zugesehen.“
„Ja, das stimmt schon. Meinst du, es steckt mehr dahinter? Hinter seinem Tod, meine ich?“
„Ich weiß es nicht, verübeln könnte man es ihnen nicht. Ich hätte es wahrscheinlich schon längst getan.“
„Das wäre dann Mord“, erwidert Ralf trocken.
„Ja, genau, Sherlock. Besuchen wir die Kleine heute Abend“, sagt Nils voller Vorfreude.
„Sehe ich da Begeisterung in deinem Gesicht?“
„Ralf, du nervst, halt die Klappe.“

 

4 Rubys Donnerstag

Es war eine schöne Nacht, seit einer Ewigkeit hat Ruby nicht mehr so wunderbar geschlafen. Keine Ängste, keine Alpträume. Oftmals fährt sie in ihren Träumen Fahrrad. Und plötzlich tauchen furchteinflößende Monster auf und rennen hinter ihr her. Monster mit riesigen Mündern und Händen, überdimensionalen Zähnen. Und sie sind wirklich riesig. Ruby tritt in die Pedalen, aber das Fahrrad wird statt schneller, langsamer. Die Monster kommen ihr immer näher, sie schreit, weint und hat Todesangst. Bis sie endlich schweißgebadet aufwacht. Sie glaubt, dass sie wirklich schreit, aber sie weiß es nicht, es ist keiner da, der es ihr sagen könnte. Keiner, der sie in die Arme nimmt und tröstet, ihr versichert, dass es nur ein Traum war und alles in Ordnung ist. Manchmal vermisst sie es, jemanden neben sich zu haben, jemanden, mit dem man das Leben teilt, die guten und die schlechten Zeiten. Aber sie hat Angst, Angst vor Beziehungen, Angst, den Erwartungen eines Mannes nicht zu genügen. Sie mag Männer, sie kann sehr gut mit ihnen umgehen, aber sie lässt keinen näher an sich heran. Wenn sie merkt, dass einer mehr will, zieht sie sich zurück. Ist es wegen ihres Vaters? Ziemlich sicher, aber sie will kein Opfer sein, will nicht einsehen, dass sie kaputt ist. Ein seelisches Wrack. Unfähig, Beziehungen zu haben, Gefühle zu äußern. Nicht, dass sie keine Gefühle hätte, sie fühlt intensiv, aber sie kann sie nicht in Worte fassen. Angst zu verlieren, was sie liebt, also am besten niemanden so nahe heranlassen, dass es wehtun könnte. Aber die Wurzel des Übels ist weg, er ist tot. Weg für immer und ewig. Sie hat ihn umgebracht mit ihren eigenen Händen und sie muss zugeben, dass es sich verdammt gut anfühlt. Frei wie ein Vogel, der sein Leben lang dachte, dass er nicht fliegen kann, und plötzlich fliegt er. Müsste ich mich nicht schlecht fühlen? Ich habe einen Menschen getötet, mit meinen eigenen Händen, nein, nicht irgendeinen Menschen, meinen eigenen Vater, mein Fleisch und Blut. Mein Alptraum, mein Dämon, mein Schmerz. Aber ich weiß, er wird immer in mir weiterleben, er wird auf seine Chance warten, in der er mir zuflüstert, dass ich nichts wert bin, nichts kann, er wird da sein. In mir weiterleben, denkt Ruby.
Viel früher hätte sie es tun sollen, aber sie hatte Angst davor zu morden. Angst davor, dass sie nicht damit leben kann. Dass sie daran zerbricht. Trotz allem, was geschehen ist, wird sie heute zur Arbeit gehen. Die Ablenkung wird ihr guttun, sie wird so tun, als täte ihr leid, was passiert ist. Aber jeder ihrer Arbeitskollegen weiß, wie ihr Vater war. Oft genug kam sie mit Verletzungen zur Arbeit. Sie fragten immer, warum sie ihn nicht anzeigen wolle. Was hätte das gebracht? Sie wird sich ein bisschen bedrückt geben, damit niemand Verdacht schöpft.
Abends wird sie zum Stall fahren und ihr Pferd Hipster reiten. Eigentlich heißt er Hipsters best Day, er ist ein 8-jähriger Buckskin Quarter Horse Wallach. Als er zwei Jahre alt war, hat sie ihn in Italien gekauft. Mit viel Liebe und Geduld hat Ruby ihn ausgebildet, worauf sie sehr stolz ist. Hipster ist ihr bester Freund, ihr Trost, ihre Ablenkung, ihr Therapeut – alles, was ein Pferd sein kann. Ihm hat sie alle ihre Probleme, Schmerzen und Sorgen erzählt. Er hat zugehört und nichts gesagt. Viele Turniere hat sie mit ihm bestritten, einige sogar gewonnen. Ruby ist ehrgeizig, aber nie auf Kosten des Tieres. Gäbe es doch nur einen Mann mit den Eigenschaften ihres Pferdes, den man nach Belieben rausholt, eine gute Zeit mit ihm verbringt, dem man alles erzählt, weil er es nicht weitererzählen kann. Danach kann man ihn ganz bequem wieder wegstellen und sich darauf verlassen, dass er beim nächsten Besuch noch da sein wird. Man gibt ihm eine Karotte und er ist glücklich. Diese Gedanken bringen sie zum Lachen. Nach dem Reiten wird sie sich an der Ecke beim Türken eine Pizza holen. Eine Pizza vom Türken, lustig. Danach will sie sich beim Internetsurfen entspannen.

5 Rubys Abend

Der Tag verging schnell im Büro. Ruby musste einen Flyer, für ein T-Shirt Print Shop gestalten. Mit viel Freiheit in der Gestaltung, einzige Bedingung war die Farbe Orange. Kann man Orange mögen? Ruby findet, dass Orange blöde aussieht, keinem steht Orange. Außer Orangen. Sie mag Pink. Als Kind hasste sie Pink. Als Kind wollte sie ein Junge sein, da war Pink ein absolutes No-Go. Tatsächlich sah sie fast wie ein Junge aus. Vielleicht würde ihr Vater einen Jungen mehr lieben. Dachte sie. Nein, im Gegenteil, es machte ihn wütend, er schrie sie an: „Bist du etwa lesbisch? Machst du überhaupt etwas richtig in deinem kleinen verdammten Leben?“ Und – Zack! – hatte sie wieder eine eingefangen. „Vielleicht hilft das ja“, zischte er sie an. Damals war sie dreizehn und dachte das erste Mal ernsthaft darüber nach, von einer Brücke zu springen. Aber da war immer der Glaube, dass es irgendwann und irgendwo Liebe gibt, auch für sie. Plötzlich schleicht sich der Polizist von gestern in ihre Gedanken. Wie hieß er noch mal? Mh, Nikolas? Sebastian? Nein, es war ein kurzer Name … Nils, ja genau, Nils. Ein attraktiver Mann mit seinen gelockten dunkelbraunen Haaren, die er etwas länger trug, sodass sie locker über die Ohren fielen. Die hübschen Zähne, wie Hasenzähne und ein bisschen schief, aber das machte sein Lächeln noch unwiderstehlicher. Groß, sportlich, doch was ihr besonders auffiel, waren seine Augen, dieser Blick. Da war mehr, da war Schmerz, eine Last. Ruby hat eine Gabe, die aber zugleich auch ein Fluch ist. Sie spürt Menschen. Wahrscheinlich, weil Worte in ihrer Kindheit spärlich gesät wurden. Sie musste lernen, Menschen zu lesen und zu fühlen. Wenn sie irgendwo eingeladen wird oder jemand zu Besuch kommt, überprüft sie die Launen jedes Einzelnen. Manchmal nervt sie das. Sie kann es nicht steuern, es passiert einfach. Es ist anstrengend und meistens interessiert es sie gar nicht, wie die Leute drauf sind. Dieser Nils strahlte etwas Trauriges, aber auch Hoffnungsvolles aus. Gebrochen, er scheint gebrochen.

 

 

6. Nils Abend

„Es ist 20 Uhr! Komm, Herr Kramer, lass uns gehen, sonst wird es zu spät“, meckert Ralf.
Sie fahren mit dem Honda Civic von Nils, weil sie nach dem Besuch bei Ruby gleich nach Hause wollen. Er wird Ralf nach Hause bringen und ihn morgen früh wieder abholen.
„Was für ein Scheiß-Auto, echt, Nils, kauf dir was Gescheites.“
„Es fährt und das zählt.“
„So findest du nie eine Frau. Verkaufe dein Fahrrad, mit dem Geld kannst du dir einen Luxuswagen kaufen.“
„Niemals“, erwidert Nils lachend. Ralf könnte recht haben. Er ist leidenschaftlicher Mountainbiker und hat ein Carbon Bike, ein GT, was ein Vermögen gekostet hat. Er hat es lieb, ja er liebt sein Fahrrad, dazu steht er. Nils liebt es so sehr, dass es seinen Platz an der Wand im Wohnzimmer hat, was schon manche Frau abgeschreckt hat. Und Frauenbesuch hatte er in den letzten Jahren öfters, wenn auch nie eine längere Beziehung. Wer sein Bike nicht akzeptiert, der kann auch ihn nicht haben.
„Hast du die Adresse?“, will Nils wissen.
„Ja, hab ich.“ Nach 15 Minuten Autofahrt kommen sie an. Das Glück ist auf ihrer Seite, sie finden einen Parkplatz genau vor der Wohnung. Ralf parkt hinter Rubys dunkelgrauen Audi TT.
„Ruby Bergmann, hübsches Mädel, hm“, bemerkt Ralf und sieht Nils forschend an. „Eine Mischung aus Pink und Meerschweinchen.“ Nils lacht, dasselbe hat er auch gedacht.
„Die wär was für dich.“
„Spinnst du? Die ist doch viel zu jung.“
„Sorry, habe vergessen, dass du ein alter Mann bist“, lacht Ralf. Nils sieht mit seinen 41 Jahren eher aus wie 35. Er hat noch kein einziges graues Haar, kaum Falten und ein jugendliches Lächeln.
„Ja, wer ist da?“, tönt es durch die Gegensprechanlage.
„Polizei. Nils Kramer und Ralf Teufel, wir würden gerne kurz mit Ihnen reden“. Scheiße, denkt Ruby, was wollen sie?
„Kommen Sie rauf.“ Die Tür surrt und lässt sich öffnen.
„Oh, hier gibt es sogar einen Fahrstuhl“, bemerkt Ralf begeistert.
„Ja, ich nehme lieber die Treppe, nimm du nur den Fahrstuhl“.
„Ach was, ich komm mit dir.“ Sie steigen die alte Holztreppe hoch, es riecht nach altem Haus, nach Putzmitteln und Essen. Außer Atem erreichen sie den dritten Stock. Ruby wartet schon mit einem unsicheren Lächeln an der Tür. Sie trägt abgetragene Jeans und ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Why“. In ihren weißen Sneakers sieht sie klein und verletzlich aus.
„Kommen Sie herein, ich bin gerade erst nach Hause gekommen“, begrüßt sie die beiden Beamten freundlich.
„Vom Reiten?“, fragt Nils. Überrascht schaut sie ihn an.
„Ja, genau, woher wissen Sie das?“
„Ihre Mutter hat uns heute Morgen erzählt, dass Sie wahrscheinlich erst spät zu Hause sind, da Sie sicher noch reiten gehen.“
„Ach so“, lacht sie. „Möchten Sie einen Kaffee? Tee? Was Kaltes? Ich habe Cola Light.“ Warnend schaut Nils Ralf an.
„Oh ja, gerne eine Cola. Vielleicht haben Sie noch Kekse oder so etwas?“
„Ralf“, mahnt Nils.
„Schon gut, ich habe Sie ja gefragt, und tatsächlich habe ich auch Kekse, Schokoladenkekse“, grinst sie. „Und Sie?“, fährt sie an Nils gerichtet fort. Ruby richtet ihren Blick auf ihn. Scheiße hat der schöne Augen, aber nicht nur das. Das gesamte Paket ist verdammt sexy. Ihm wird heiß, seine Hände beginnen zu schwitzen. Er schaut Ruby herausfordernd an. Reiß dich gefälligst zusammen, ermahnt er sich selber. Dann atmet Nils durch und wendet seinen Blick von ihr ab. Ruby grinst. Ralf beobachtet ihn fassungslos.
„Ja, auch gerne eine Cola Light, danke“, sagt er beiläufig. Ralf erklärt in wenigen Sätzen, warum sie hier sind. Ruby räuspert sich.
„Ich habe Ihnen gestern schon erklärt, was vorgefallen ist. Ich weiß nicht, wieso sich die Scherbe gedreht hat. Es muss beim Sturz passiert sein, anders kann ich es nicht erklären.“
„Ja, das glauben wir auch“, sagt Nils. Ralf schaut ihn überrascht an und denkt ... Ah ja, tun wir das?
„Aber wir müssen Sie fragen, weil wir allen Anhaltspunkten und Zweifeln nachgehen müssen“, erklärt Nils. „Und wie erging es Ihnen heute auf der Arbeit? Wollten Sie nicht lieber zu Hause bleiben? Schließlich war es trotz allem ihr Vater.“
„Ehrlich gesagt ging mir schon lange nicht mehr so gut wie heute. Wenn sie ihr Leben lang hören, dass sie nichts wert sind, dass sie besser nie geboren wären und dazu noch geschlagen werden, dann fällt es schwer, traurig oder betroffen zu sein. Jetzt, wo ich weiß, dass ich diese Stimme nie mehr wieder hören werde.“ Allerdings weiß sie, dass das nicht ganz stimmt. Seine Stimme lebt in ihr, ist immer da und wartet nur auf den richtigen Moment, sie daran zu erinnern, dass sie nichts wert ist, nicht würdig ist, geliebt zu werden. Dass sie einfach nicht gut genug ist, für nichts und niemanden.
Sie fährt fort: „Trotzdem habe ich ihn nicht umgebracht, wenn es das ist, was Sie denken.“
„Man könnte es Ihnen nicht übel nehmen“, fügt Nils hinzu. Spinnt der jetzt total, denkt Ralf, das kann er doch nicht sagen. Was ist los mit ihm? „Dann wollen wir Sie nicht länger belästigen.“ Die drei stehen auf und schlurfen langsam zur Tür. Nils schaut sich in der Wohnung um. Rechts ist wohl das Schlafzimmer, dann gibt es einen kleinen Korridor, von dem alle Zimmer abgehen, neben der Küche ist das Bad und rechts das Wohnzimmer. Es ist alles sehr farbig und fröhlich. Erstaunlich wie jemand, der so aufgewachsen ist, dermaßen farbig sein kann, denkt Nils. Eine Kämpferin. Ruby gefällt ihm immer besser. Es hat selbst gemalte Bilder an den Wänden, Herzen und Sterne in allen Farben.
„Haben Sie die gemalt?“, fragt Nils neugierig.
„Ja, ich bin wohl ziemlich kreativ. Manchmal muss ich es herauslassen, dann kommt so was dabei raus“, grinst sie verlegen.
„Schön, sie gefallen mir“, bemerkt Nils bewundernd. Ralf verdreht die Augen. Er schiebt seinen um einen Kopf größeren Kollegen vor sich her.
„Sollten wir noch Fragen haben, melden wir uns wieder. Vielen Dank für die Cola und die leckeren Kekse“, sagt Ralf.
„Bitte, gern geschehen. Ja, machen Sie das, tschüss.“ Sie schließt die Tür und lehnt sich erleichtert daran. Was war das denn? Scheiße, der ist süß. Hat sie sich eben verliebt? Die ewige Suche nach Liebe. Und trotzdem, das war jetzt irgendwie anders. Die Blicke, das Feeling. Ach, hör doch auf! Der ist viel zu alt! Obschon sie ältere Männer sehr anziehend findet, bei ihnen fühlt sie sich geborgen und sicher. Bis vor etwa acht Monaten hatte sie einen 10 Jahre älteren Freund. Michael. Am Anfang war alles ganz okay, richtig verliebt war sie aber nicht, also so, wie sie sich richtig verliebt sein vorstellt. Mit Schmetterlingen im Bauch, nervösem Kichern, Schweißhänden und dem ewig dummen Grinsen im Gesicht. Trotzdem hat sie Michaels Aufmerksamkeit genossen. Sie nahmen sich viel Zeit, um einander kennenzulernen. Nach zwei Monaten hatten sie den ersten Sex. Als sie jünger war, hatte sie den einen und anderen One-Night-Stand, fand aber keinen Gefallen daran. Für guten Sex muss sie verliebt sein, um sich hingeben zu können, die Intimitäten und die Berührungen zu genießen. Nach den One-Night-Stands fühlte sie sich stets mies, als wäre sie missbraucht worden. Mit Michael konnte sie gut reden, er hörte ihr zu und war auch immer für sie da. Und genau das nervte mit der Zeit. Als würde sein ganzes Leben sich nur um sie drehen. Dann wollte er immer mehr, wollte bei ihr einziehen und jede Sekunde mit ihr verbringen. Das wurde Ruby zu viel, sie fühlte sich eingeengt und eingeschüchtert wie ein verschrecktes Reh. Genervt machte sie Schluss, wollte ihm aber nicht wehtun. Also hat sie ihn ignoriert, die Haustür nicht mehr aufgemacht, Anrufe nicht entgegengenommen. Gehofft, dass er einfach aus ihrem Leben verschwindet. Wahrscheinlich hat ihn das mehr verletzt, als wenn sie ihm gesagt hätte, dass Schluss ist. Ruby hatte nicht den Mut, ihm ins Gesicht zu sagen, dass sie die Beziehung beenden möchte, also hat sie es ihm geschrieben. Per WhatsApp. Das Schlimmste, was man tun kann. Er hat sie danach einige Male nach der Arbeit abgefangen, hat geheult, sie in die Arme genommen und gesagt, dass sie füreinander geschaffen seien, er noch nie so verliebt gewesen sei und alles für sie tun wolle. Er hat sie umarmt und nicht mehr losgelassen. Dabei bekam sie fast einen Nervenzusammenbruch, hatte eine Panikattacke, als sie merkte, dass er sie nicht mehr losließ. Zitternd und in Todesangst hatte sie um sich geschlagen, ihn angeschrien, dass sie ihn nie mehr wiedersehen will. Er schaute sie an. Ernst und mit einem seltsamen Blick sagte er, dass er sie immer lieben werde, immer. Dabei wirkte er irgendwie kalt, ja fast besessen, und das machte ihr Angst. Aber er ging. Seither hat sie ihn nie wieder gesehen.

 

7 Nils

„Sag mal, was war das denn?“, schnauzt Ralf Nils an.
„Was meinst du?“
„Du, da oben. Erst sagst du ihr, dass du verstehen würdest, wenn sie ihren Alten umgebracht hätte und dann schleimst du rum, wie hübsch die Bilder sind. Und diese Blicke... Ich dachte, sie sei zu jung für dich.“
„Die Bilder sind wirklich schön“, verteidigt sich Nils mit einem Grinsen.
„Na toll, unser Herr Kramer ist in eine Tatverdächtige verliebt.“
„Hey, sie ist nicht tatverdächtig, es war ein Unfall und Schluss. Selbst wenn sie es getan hätte, könnte man es als Notwehr durchbringen“, war Nils überzeugt.
„Ja, da hast du ziemlich sicher recht. Ein Arschloch weniger auf der Welt. Aber jetzt mal im Ernst: Gefällt sie dir?“
„Ja, ich finde sie sehr sympathisch.“
„Sympathisch“, wiederholt Ralf und zieht das Wort unnötig in die Länge. „Sympathisch ist der Hund von meinem Nachbarn.“ Nils lacht.
„Ich finde sie sehr ansprechend. Hübsch, interessant, bisschen jung vielleicht.“
„Es soll ja Frauen geben, die auf alte Männer stehen“, sagt Ralf mit gespielter Ernsthaftigkeit.
„Arsch“, lacht Nils.
Er fährt Ralf mit seinem Honda Civic nach Hause. Sein Partner wohnt in einem stillen Viertel im ehemaligen Osten.
„Vergiss nicht mich morgen um 8 Uhr abzuholen“, versichert sich Ralf.
„Keine Angst, ich vergesse dich schon nicht. Wie könnte ich auch, selbst wenn ich wollte?“, erwidert Nils.
Erschöpft kommt Nils zu Hause an, es war ein verdammt langer Tag. Müde schaut er auf die Uhr, 21:23 Uhr. Er hat Hunger, aber keine Lust, zu kochen. Schließlich entscheidet er sich für eine Schüssel Cornflakes mit Vollmilch und drei großen Löffeln Zucker. Während er sein Essen genießt, kommt sein Kopf nicht zur Ruhe. Hat er sich tatsächlich verliebt? Nach acht Jahren? Er hatte einige Beziehungen oder eher Bettgeschichten. Nicht ein einziges Mal war er verliebt. Fast alle Frauen sind kompliziert, ist er überzeugt. Sie sind hysterisch, langweilig und schränken ihn ein. Die meisten haben wenig Humor und nehmen alles viel zu ernst. Dann sind sie beleidigt, wenn man mal keine Zeit hat. Man kommt erschöpft nach Hause und sie stänkern herum. So etwas braucht kein Mensch. Helena, seine Frau, war da ganz anders. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, war es sofort um ihn geschehen. Das war vor elf Jahren in einer Buchhandlung. Er wollte ein Buch für seine kleine Schwester kaufen. Ein Thriller sollte es sein und davon hatte er keine Ahnung. Helena kam auf ihn zu, mit diesem Grinsen, das ihm so gefiel. Sie hatte auch kurze frech frisierte Haare.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie ihn.
„Ja, ich suche einen Thriller für meine kleine Schwester“.
Verschmitzt fragte sie: „Wie klein ist denn Ihre Schwester?“
Er lachte: „Na ja, schon erwachsen.“
„Dann empfehle ich was von Simon Beckett, der ist spannend und nicht zu gruselig.“
„Ja gut, wenn Sie meinen, dann höre ich auf Sie.“
„Da ist gerade ein neues Buch von ihm herausgekommen: Leichenblässe. Aber das ist der dritte Teil einer Reihe mit einem Typen, der David Hunter heißt“, erklärte sie freundlich und begeistert. „Sie müssten die drei Bücher kaufen, das wäre am sinnvollsten“, sagte sie verschmitzt. Tja, am Schluss verließ er die Buchhandlung mit den drei Büchern der David Hunter-Reihe.
Am nächsten Tag ging er wieder in die Buchhandlung und lud Helena einfach zum Kaffee ein. Er konnte nicht warten oder sich auf das Schicksal verlassen, dass sie irgendwie zusammenkommen; er nahm es selber in die Hand. Sie hat „ja“ gesagt. Fortan waren sie ein Paar. Zehn Monate später gaben sie ihre Heirat bekannt. Freunde und Familie waren geschockt, sie meinten, sie sollten sich mehr Zeit lassen. Aber die Entscheidung war getroffen, beide glaubten an die große Liebe. Nach genau einem Jahr läuteten die Hochzeitsglocken. Es war der glücklichste Tag in Nils‘ bisherigem Leben. Sie wollten Kinder, aber es wollte nicht klappen. Die Ärzte konnten nichts finden, weder bei ihm noch bei ihr, warum es nicht klappte. Aber es war kein Weltuntergang für sie. Sie wollten und konnten glücklich sein, mit oder ohne Kind. Er erinnert sich noch genau an den Tag, an dem die Polizei vor der Tür stand. Es war der 8. Oktober 2012, es war kühl und dunkel. Er hatte frei, war zu Hause und erwartete Helena mit einer selbst gekochten Lasagne.
„Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Frau heute bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist“, teilte ihm der junge Polizist mit. Man konnte ihm ansehen, dass er sich nicht wohlfühlte in seiner Haut und gerne woanders wäre. Nils ist zusammengeklappt. Er hat nicht geweint, nicht geschrien; es war einfach, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen entzogen. Er hatte einen Schock und wurde mit dem Krankenwagen ins Spital gefahren. Eine Woche lang sprach er kein Wort. Er nahm kaum etwas zu sich und rasierte sich in vier Monaten kein einziges Mal. Sein Leben, wie er es gekannt hatte, fand an diesem Tag ein tragisches Ende und ein neues seinen Anfang. Es tat sich schwer, in den Alltag zurückzufinden.
Der sturzbetrunkene Unfallverursacher kam mit einer viel zu milden Strafe davon. Seither hat Nils keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Heute hasst er Alkohol und kann nicht verstehen, dass Alkohol in der Gesellschaft akzeptiert ist. Für ihn ist es eine Droge, gefährlich und zerstörerisch, die unglaublich viel Schmerz über zu viele Menschen gebracht hat. Wie über Ruby, wie über ihn.
Er würde gerne Zeit mit Ruby verbringen, mehr von ihr wissen. Ihr süßes Lächeln genießen. Obwohl er bezweifelt, dass sie etwas mit dem alten Mann zu tun haben will, grinst er. Na ja, so alt ist er ja noch nicht.
14 Jahre Altersunterschied findet er akzeptabel. Er wird sie zu gegebener Zeit einfach mal besuchen.

 

8 Ruby

Heute ist Samstag, Rubys freier Tag. Es kommt vor, dass sie auch samstags arbeiten muss, um einen eiligen Auftrag fertigzustellen. Aber im Moment geht es eher ruhig zu. Hungrig macht sie sich auf zum Bäcker nebenan und holt sich ein paar Croissants oder Gipfeli, wie die Schweizer sagen. Auf der Arbeit hat sie eine Kollegin, die Schweizerin ist, und manchmal sagt sie diese komischen Wörter. Ruby findet sie irgendwie niedlich. Sehr speziell, dass Schweizer an allem ein -li anhängen. Herzli, Hundli, Käffeli und eben Gipfeli. Ein seltsames Volk, denkt sie amüsiert. Nun sitzt sie am Esstisch in der Küche und genießt ihr Gipfeli mit Butter. Oder sollte sie sagen: Butter mit Gipfeli? Dazu eine Cola Light. Kaffee trinkt sie nicht. Sie hat versucht, Kaffee zu mögen, aber sie mag den Geschmack einfach nicht.
Vor Jahren hatte sie das Online-Forum „Nein zur häuslichen Gewalt“ entdeckt. Ruby missfällt der Name, aber egal, der Inhalt zählt. Darin können Frauen und auch Männer ihre Sorgen und Schmerzen niederschreiben und mit anderen Betroffenen teilen. Ruby hat noch nie etwas geschrieben, sie ist stille Mitleserin. Aber sie chattet im privaten Fenster mit NoSense-Hope, sie trösten sich gegenseitig und versuchen sich zu helfen. Manchmal reicht es, jemanden zu haben, um über die ganze Scheiße zu reden. NoSense-Hope ist mit einem gewalttätigen Mann verheiratet und hat Angst um ihre kleine Tochter. Das Schlimmste ist, dass er ihr droht, sie umzubringen, wenn sie abhauen würde. Sie glaubt es ihm. Heute würde Ruby ihr am liebsten schreiben. „Hey, bring ihn einfach um, es fühlt sich super an und man ist wie neugeboren“, aber das wäre keine gute Idee. Ein paar Frauen aus dem Forum folgt sie interessiert. Eine ist User Lilly321, deren Mann eifersüchtig ist. Wenn er einen Eifersuchtsanfall hat, schlägt er sie. Schon zweimal war sie im Krankenhaus und hat dann Lügen von Haushaltsunfällen erzählt. Wieso verlässt sie ihren Mann nicht? Was für ein Scheißleben. Die Lösung ist so einfach. Es sollte straffrei sein, denkt sie. Man befreit die Welt von Abschaum, eigentlich müsste man dafür belohnt werden.
Heute will sie sich entspannen und genießen, das klappt am besten mit ihrem Pferd. Als sie vom Esstisch aufsteht, um sich umzuziehen, klingelt das Telefon: ihre Mutter. Was kann sie wollen? Ruby nimmt den Anruf entgegen. „Hi Mom.“
„Hallo Ruby“, begrüßt sie ihre Mutter mit dünner Stimme. „Hast du heute noch etwas vor?“
„Mh, ich wollte zu Hipster gehen, bisschen trainieren fürs Turnier in zwei Wochen.“
„Hättest du Zeit, zum Abendessen zu kommen, so gegen 19 Uhr“, sie macht eine kurze Pause, „es ist wichtig.“
„Ja, das kann ich einrichten, was ist denn los?“
„Sei einfach um 19 Uhr hier, wir reden dann“, sagt ihre Mutter nur.
„Okay, bis später“. Na toll, der Samstag ist im Arsch! Wie soll sie sich denn jetzt entspannen? Seltsamer Anruf. Ruby geht trotzdem reiten und versucht, sich nur auf Hipster zu konzentrieren.

 

9 Nachmittag

Nils hat sich heute Nachmittag freigenommen. Er ist müde und verwirrt. Ja, verwirrt, die kleine Ruby geht ihm nicht aus dem Kopf. Er muss sie unbedingt kennenlernen. Als er an seinem Computer sitzt, sieht er sich auf Facebook um, ob sie da ein Profil hat. Für RUBY BERGMANN gibt’s prompt drei Treffer. Das erste Profilbild ist ein Fußball, das zweite ein Pferd und ... Ist sie es? Er klickt darauf und – zack! – ist er auf ihrem Profil. Ihr Profilbild ist Ruby, lachend mit einem Pferd. Bestimmt ihr Pferd. Schönes Tier, denkt er. Er scrollt durch ihr Profil und ist überrascht, dass die meisten Beiträge für alle Leute zugänglich, also nicht privat sind. Gut für ihn. Pferde, Pferde, Pferde. Ein paar Selfies, einige in Schwarz-Weiß ... Was für ein hübsches Mädchen. Na ja, ein Mädchen ist sie nicht mehr. Er scrollt weiter. Anscheinend hat sie keinen Freund. Überhaupt gibt’s kaum Bilder von anderen Leuten, Freunden, Familie oder so. Ein Bild erweckt seine besondere Aufmerksamkeit. Ein schwarz-weißes Selfie mit der Überschrift „Genug“. Es zeigt Ruby mit verweinten Augen, verletzter Wange und aufgeplatzter Lippe. Er schaut auf die Kommentare, ein paar Tränen-Smilies, ein paar Freunde, die fragen, was los ist. Aber keine Antwort. Ein krasses Bild, findet Nils. Mutig, ein solches Bild zu posten. Es sagt so viel aus. 27 Jahre in der Hölle. Kann das spurlos an einem vorbeigehen? Hat sie ihn doch umgebracht? Er würde es verstehen. Neugierig scrollt er weiter, ein knappes Jahr zurück. Ein Bild mit einem Mann. Er scheint älter zu sein als sie, bestimmt 8 Jahre älter. Locker hat er seinen Arm um sie gelegt und zieht sie an sich. Er lacht, sie nicht. Überschrift „LOVE?“ Love, Fragezeichen – seltsam. Wohl eher nicht Love, weil das das einzige Bild mit ihm ist. Er liest die Kommentare. „Ihr seid so ein hübsches Paar“, „Ich will ihn kennenlernen, wenn ich das nächste Mal komme“. Keine Antwort auf keinen der Kommentare. Er schließt Facebook. Soll ich sie einfach anrufen? Oder vorbeigehen? Nein, ich warte besser ein paar Tage, bis der Fall abgeschlossen ist. Das ist er wahrscheinlich bald, da die Fakten eindeutig sind. Er denkt an Helena, seine verstorbene Frau. Sie würde wollen, dass er glücklich ist, sich wieder auf Beziehungen einlässt. Die Welt dreht sich weiter, sie bleibt nicht stehen, nur weil jemand nicht mehr da ist, den man liebt, Schmerzen hat, sich gebrochen und in Stücke geschlagen fühlt. Er muss lernen, damit zu leben, dass seine Frau nur noch eine Erinnerung ist, eine wunderschöne Erinnerung. Und am Ende ist es das Einzige was bleibt, egal wovon. Er muss lernen, die Erinnerungen zu genießen, dankbar zu sein für die Zeit, die er mit ihr hatte, auch wenn sie viel zu kurz war.

 

10 Samstagabend

Ruby hat ein ungutes Gefühl, als sie in ihrem Audi TT zu ihrer Mutter nach Steglitz fährt. Ihre Gedanken fahren Achterbahn. Was kann sie wollen? Entspann dich Ruby, gleich weißt du Bescheid. Aufgeregt klingelt sie an der Tür. Auch wenn ihre Mutter sagt, sie solle einfach eintreten, bevorzugt sie es, an der Tür zu klingeln. Melissa öffnet die Tür mit einem Lächeln. Okay, denkt Ruby. Lachen ist ein gutes Zeichen, sie weint nicht und hat nicht geweint. Gespannt tritt sie ein, legt ihre Jacke an der Garderobe ab. Es riecht nach Spaghetti Bolognese, lecker, denkt Ruby, sie hat seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
„Komm bitte ins Esszimmer“, sagt ihre Mutter. Als sie das Esszimmer betritt, ist sie überrascht: Da sitzt ein älterer Mann. Ruby schätzt ihn etwas älter als ihre Mutter. Er sieht gut aus, gepflegt, kurze grau, braune Haare, mittelgroß, blaue Augen. Er trägt Jeans und einen schwarzen Strickpullover. Irgendwie sieht er vertraut aus, als würde sie ihn kennen.
„Guten Tag“, sagt er etwas unsicher und steht auf, um Rubys Hand zu schütteln. Ruby gibt ihm die linke Hand, da die Rechte verbunden ist. „Oh, Entschuldigung, ich bin Bernd Fuchs.“
„Guten Tag“, sagt Ruby sichtlich verwirrt. „Und Sie sind? Wer?“ Ihre Mutter lächelt gequält, nimmt Rubys Hand in die ihre und sagt vorsichtig.
„Bernd“, sie macht eine Pause, „Bernd ist Dein Vater, Ruby“. Ruby setzt sich. Sie ist sprachlos, blockiert, gelähmt und versteht gerade gar nichts.
„Bernd und ich hatten vor 28 Jahren eine Beziehung, während ich schon mit Karl verheiratet war. Ich habe Bernd beim Bäcker kennengelernt, er hat seinem Vater in den Ferien ausgeholfen. Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Bernd fährt fort.
„Ich hab mich sofort in deine Mutter verguckt, ich wollte sie nicht einfach gehen lassen und habe sie zum Kaffee eingeladen. Sie erzählte, sie sei verheiratet, aber ihr Mann trinke immer öfter zu viel. Sie sei oft traurig und ihre Gefühle würden nicht erwidert. Ich sagte ihr, dass ich ihr Freund sein will und wann immer sie jemanden zum Reden
brauche, ich für sie da sei. Ich habe ihr meine Telefonnummer gegeben.“
Rubys Mutter übernimmt das Wort: „Karl hat am selben Abend irgendwas bemerkt, er sagte, ich sei so glücklich. Er war betrunken. Dann hat er angefangen, in meiner Jackentasche herumzuwühlen und es kam, wie es kommen musste: Er fand die Nummer von Bernd. Völlig außer sich hat er Bernd noch am selben Abend angerufen, ihn angeschrien, dass er seine Finger von mir lassen soll, oder er bringe ihn um. Dann hat er mich geschlagen, zum ersten und zum letzten Mal. Das hat mich erst recht in Bernds Arme getrieben.“ Bernd übernimmt wieder das Wort:
„Wir hatten uns jeden Tag getroffen, wenn Karl auf Arbeit war. Schnell kamen wir uns näher und waren auch bald intim an allen erdenklichen Orten, da wir nicht zu mir und nicht zu ihr konnten. Wir waren total verliebt. Deine Mutter hätte sich am liebsten scheiden lassen.“
„Dann ist es passiert, ich wurde schwanger“, fährt Melissa fort, „ich dachte, ich sage es Karl, ich musste es ihm ja sagen, er würde es ja früher oder später sowieso bemerken. Wir wünschten uns Kinder, obwohl Karl nie darüber reden wollte, aber eigentlich wollten wir eine Familie. Also sagte ich es ihm. Er schaute mich an, sein Blick wandelte sich, er sagte: „Wie lange treibt ihr es schon miteinander?“ Ich war erschrocken und bekam Angst, versuchte ihn zu überzeugen, dass es sein Kind sei. Feindselig schaute er mich an und schrie: „Ich bin impotent, mein Schatz! Ich kann keine Kinder haben!“ Ich musste mich setzen, mir wurde übel, ich hatte noch nie solche Angst in meinem Leben. Es ist aus, dachte ich, er bringt mich um. Doch er sagte: „Du wirst dieses Kind bekommen, es wird als mein Kind aufwachsen. Solltest du diesen Typen noch einmal sehen, dann ist er tot. Und wenn du irgendwann an Scheidung denkst oder deinem Kind sagen solltest, dass ich nicht sein Vater bin, dann seid ihr beide tot. Das ist ein Versprechen!“ So sah ich Bernd nur noch einmal. Wir weinten beim Abschied, weil wir wussten, dass wir uns nie wiedersehen. Später verließ Bernd Berlin und ging nach Köln“, erklärt Melissa.
„Ich hätte es nicht ertragen, Melissa auf der Straße zu begegnen mit unserem Kind. Ich musste weg. Und jetzt bin ich hier. Deine Mutter hat mich dank Facebook ausfindig gemacht und mir erzählt, dass ihr Mann einen tödlichen Unfall hatte. Ich kam sofort her, um dich kennenzulernen. Meine Tochter.“
„Es tut mir leid, Ruby“, sagt Melissa weinerlich. „Ich konnte es dir nicht sagen, er hätte zu seinem Wort gestanden und uns beide umgebracht.“ Hätte, hätte, Fahrradkette, denkt Ruby absurderweise. „Deswegen habe ich alles ertragen und mich nie gewehrt. Es tut mir so leid.“ Ruby sitzt stumm da und schaut ihre Mutter, dann ihren Vater an. Sie kann nicht reden, hat keine Worte, nur Gefühle. In ihrem Kopf tobt ein Sturm. Was für eine niedliche Geschichte. Jetzt kommt er zurück und will einen auf Happy Familie machen? Ruby kann ihre Gefühle nicht in Worte fassen. Dann meint sie gefasst:
„Essen wir, ich habe Hunger.“ Bernd schaut verdutzt, Melissa lächelt erleichtert.
Verstohlen blinzelt sich Ruby eine Träne weg. Was hätte ihr dieser Mann alles ersparen können.
„Ja kommt, setzen wir uns an den Tisch, sonst werden die Spaghetti noch kalt. Das wäre ja schade.“ Das Schlimmste, was passieren könnte, denkt Ruby sarkastisch. Also essen sie Spaghetti Bolognese und unterhalten sich über Belangloses. Melissa und Bernd reden, Ruby bleibt stumm. Sie fühlt sich zerrissen, betrogen und leer. Nach dem Essen gibt es Nachtisch. Philadelphia Cheesecake, ihre Mutter macht den besten. Ohne Appetit isst sie ein kleines Stück, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, und sagt:
„Ich bin müde, ich muss nach Hause.“
„Geht es dir gut, Ruby? Ich weiß, es ist ein Schock und du musst erst einmal darüber schlafen, aber willst du nicht darüber reden?“, fragt ihre Mutter besorgt.
„Nein Mom, danke, ich ruf an, tschüss.“ Und weg ist sie. Besorgt schaut Melissa Bernd an. „Sie braucht Zeit, gib ihr ein paar Tage“, versucht Bernd, sie zu trösten.

 

11 Sonntag

Was für eine schreckliche Nacht. Ruby hat von ihrem Vater geträumt, also er war ja nicht ihr Vater, Himmel, wie soll sie ihn denn nennen? Ihr Folterer, Quäler, ihr Dämon, ihr Teufel? Na ja, auf jeden Fall kam er zurück, er blutete aus der Kehle und schrie sie an mit einem grässlichen Blubbern: „Du hast wohl gedacht, du kommst damit durch, du kleines Miststück. Du entkommst mir nicht, nie, niemals!“ Ihr ist klar, dass es stimmt, sie wird ihm nie entkommen. Noch kann sie es nicht verstehen, sie hat einen Vater, der sie vielleicht lieben kann. Mit dem sie sich unterhalten, über ihre Probleme und Ängste reden kann. Vielleicht. Dann aber kann sie nicht erklären, dass ihre Mutter nie etwas gesagt oder getan hat. Okay, sie hatte Angst gehabt, dass er sie und ihre Ruby umbringen würde, wahrscheinlich hätte er es auch getan. Nein, ich kann ihr keine Vorwürfe machen. Ruby hat eine große Kapazität, Menschen zu vergeben, ihnen nicht nachtragend zu sein. Es fällt ihr leicht, sich in andere hineinzuversetzen, was ihr dann eine ganz andere Sicht der Dinge verleiht. Auch wenn ihre Gedanken Karussell fahren, hat sie sich entschieden, dass sie zum Stall fährt, um Hipster zu trainieren. In zwei Wochen hat sie ein Turnier, und es gibt noch einige Manöver zu verbessern. Unterwegs bemerkt sie immer wieder, wie ihre Gedanken kreisen und sie den Verkehr kaum noch wahrnimmt. Pass auf Ruby. Aber sie kommt unversehrt im Stall an. Auf dem Hofplatz begegnet ihr Lukas, der Stallbesitzer. Ein netter Kerl. Er freut sich immer auf ein Schwätzchen über Gott und die Welt. „Hallo Ruby“, ruft er ihr quer über den Hof zu. „Hallo Lukas“, begrüßt sie ihn freundlich. „Bitte geh weiter, bitte, bitte rede nicht mit mir“, flüstert sie beschwörend. Er verschwindet durch die Tür. „Glück gehabt“, sagt Ruby zu sich selber. Manchmal stellt sie besorgt fest, dass sie Menschen eigentlich nicht mag. Es ist nicht so, dass sie sie hasst, im Gegenteil. Sie möchte, dass alle glücklich sind, deshalb ist sie auch immer freundlich. Aber sie interessieren sie einfach nicht; sie mag nicht über das Wetter, die Wäsche und das Essen reden. Es strengt sie an, sich auf Menschen einzulassen. Für sie ist es ein Drahtseilakt, ohne Auffangnetz. Bei wenigen Leuten hat sie das Gefühl, dass sie wirklich sich selbst sein kann, niemandem etwas vormachen muss, in keine Schublade oder Vorstellungen passen muss. Eigentlich gibt es nur eine Person, bei der sie so sein kann. Mirjam, ihre beste Freundin seit der vierten Klasse. Mirjam wusste von ihrem Vater, bei ihr konnte sie sich ausweinen. Ruby weiß nicht, was ohne Mirjam aus ihr geworden wäre. Leider ist sie vor drei Jahren nach England ausgewandert. Für sie war es, als hätte man ihr das Herz aus der Brust gerissen. Seither sehen sie sich nur noch einmal im Jahr. Dann sind sie so vertraut, als wäre Mirjam nie weg gewesen. Zusammen reden, lachen und weinen sie. Es tut gut und sie ist jedes Mal traurig, wenn sie wieder geht. Aber sie hat gelernt, auch damit umzugehen. Ihre Gefühle wie so oft zu ertränken, im Meer der Schmerzen und der Sehnsucht.
Ihr Buckskin Wallach Hipster begrüßt sie freundlich. Er wiehert aber nicht, weil er sich freut, sondern weil der schlaue Kerl genau weiß, dass sie eine Karotte dabei hat.
„Gutes Pony“, sagt sie liebevoll und streichelt ihm über die Nüstern. „Na, Lust auf ein bisschen Arbeit?“ Sie macht sich nichts vor, Ruby weiß genau, dass er viel lieber auf der Weide Gras fressen würde. Aber er ist ein fleißiges Pferd, arbeitet immer motiviert mit. Am Putzplatz angekommen, bindet sie ihn an und striegelt ihn einmal kräftig durch. Er genießt die Zuwendung und steht still da. Um seine Beine zu schützen, bandagiert sie ihm alle vier und wirft danach mit Schwung den schweren Westernsattel auf seinen muskulösen Rücken. Sie ist froh, dass Hipster so klein ist. Mit seinen 1,48 Meter ist er ein durchschnittliches Quarter Horse, aber für einen klassischen englischen Reiter ist er ein Pony. Ruby findet, dass er perfekt zu ihr passt, sie ist mit 1,58 Meter auch eher ein Pony. Jetzt noch das Bit ins Maul schieben und sie sind bereit für das Training.
Ruby öffnet das große Hallentor und atmet erleichtert auf. Keiner hier, sie sind allein. Gemütlich reitet sie zuerst im Schritt. Sie spürt, dass sie heute nicht ganz bei der Sache ist. Hipster scheint auch etwas unruhig. Normalerweise ist er die Ruhe selbst. Immer wieder driften ihre Gedanken ab zu ihrem Vater. Ihr Leben wäre völlig anders verlaufen, wenn ihre Mutter und Bernd nicht so feige gewesen wären. Diese verdammte Traurigkeit wäre nicht ständig präsent. Dann denkt sie über den Mord nach. Kann man es so nennen? Wieso fühlt es sich so gut an? Sie hat nicht das Gefühl, etwas Schlechtes getan zu haben. Im Gegenteil, sie fühlt sich beflügelt, findet, dass sie eigentlich gefeiert werden sollte. Ein Arschloch weniger auf der Welt. Ruby gibt Luftküsschen, das Zeichen für Hipster anzugaloppieren. Er reagiert zuverlässig und sie galoppieren in mäßigem Tempo auf dem Zirkel. Ihre Gedanken schweifen wieder ab, diesmal zu Nils. Ein interessanter Mann. Diese Augen, dieser Blick, diese Verletzlichkeit, aber gleichzeitig strahlt er auch Sicherheit und Stärke aus. Was ist wohl seine Lebensgeschichte? Ich würde ihn gerne kennenlernen. Wie alt wird er wohl sein? Bestimmt ist er verheiratet oder hat eine Freundin. Ein Kerl, der so aussieht. Einen Ehering hat er nicht, darauf hat sie geachtet. Gedankenversunken merkt sie nicht, dass jemand an die Hallentür klopft, um bekannt zu geben, dass er hereinkommt.
„Tür frei!“, ruft der Reiter. Ruby hört ihn nicht und galoppiert genau auf die Tür in der Hallenmitte zu. Mit Schwung geht diese auf, Hipster erschrickt, bremst ab und dreht elegant 180 Grad nach links. Ruby hat keine Chance, sie fliegt und schlägt unsanft mit dem ungeschützten Kopf zuerst am Boden auf.

 

12 Spät abends

„Frau Bergmann, hören Sie mich?“ Ruby sieht kleine weiße Lichtpunkte vor ihren Augen tanzen. Langsam öffnet sie die Augen.
„Na, da sind Sie ja, Sie haben sich ja ordentlich Zeit gelassen“, sagt die freundlich aussehende junge Frau in ihrer weißen Arbeitskleidung. Eine Krankenschwester?
„Wo bin ich?“, fragt Ruby mit schwacher Stimme. Ihr Kopf fühlt sich an, als würde er gleich explodieren.
„Sie befinden sich im Martin-Luther-Krankenhaus. Sie hatten einen Sturz von ihrem Pferd, haben keinen Helm getragen und sind mit ziemlicher Wucht auf ihren Kopf gefallen. Sie müssen einen Helm tragen, wenn sie reiten, das ist ein gefährlicher Sport“, sagt die Schwester besorgt. Im Western Sport trägt man keinen Kopfschutz, denkt Ruby, aber sie hat keine Kraft, es laut auszusprechen. Die Krankenschwester fährt fort:
„Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung, eventuell ein Schädel-Hirn-Trauma, wir müssen ein CT machen. Aber für mindestens drei Tage werden Sie noch hier bleiben müssen.Scheiße, denkt Ruby. Das Turnier kann ich vergessen. Auf Arbeit hätte sie noch so viel zu tun gehabt. Am Freitagabend kam ein neuer Auftrag rein. Ein Logo für eine Kleidermarke.
„Wir haben Ihre Mutter angerufen, sie wird in wenigen Minuten hier sein. Ich hoffe, das ist in Ihrem Interesse.“
„Ja, danke“, sagt Ruby. Sie fühlt sich mies. Furchtbar, sie hasst Schmerzen.
In diesem Moment stürmt ihre Mutter ins Krankenzimmer: „Ruby, mein Schatz, was machst du denn für Sachen?“ Besorgt will sie Ruby umarmen.
„Nein Mom, bitte nicht, berühre mich bitte nicht“, wehrt Ruby sie ab, „ mein Kopf schmerzt ganz fürchterlich.“ Jetzt erst bemerkt sie, dass sie Bernd mitgebracht hat, etwas verloren steht er neben der Tür. Unsicher begrüßt er sie. Sind sie jetzt ein Paar? Eigentlich will sie es gar nicht wissen, noch nicht.
„Ich habe bei deiner Wohnung Halt gemacht, um deinen Laptop mitzubringen. Ich weiß ja nicht, wie lange du hierbleiben musst. Und ich weiß doch, dass Internet-Surfen dich entspannt.“
„Vielen Dank Mom, du hast einen Schlüssel zu meiner Wohnung?“, fragt sie verwundert.
„Ja, weißt du nicht mehr? Du hast ihn mir gegeben, als du eingezogen bist, für Notfälle.“ Wird wohl so sein. Am liebsten hätte sie gesagt, dass sie wieder gehen sollen. Aber ihre Mutter bemerkt, dass es ihr
schwerfällt, die Augen offenzuhalten.
„Wir lassen dich schlafen, wir kommen morgen wieder, okay?
Brauchst du noch etwas?“
„Nein“, sagt Ruby knapp und kann die Augen kaum noch offenhalten, bis sie schließlich in einen tiefen traumlosen Schlaf eintaucht.

 

13 Nils Montagmorgen

„Hey, schöner Mann“, begrüßt Ralf seinen Partner.
„Hallo, kleiner Mann“, kontert dieser.
„Ja, danke. Schon gehört?“
„Ich weiß nicht, was denn, dass heute Montag ist?“, erwidert Nils augenrollend.
„Der Fall Bergmann.“ Nils hört nun aufmerksam zu.
„Akte geschlossen, Unfall.“
„Gut“, sagt Nils knapp.
„Jetzt hast du freie Bahn, mein Schöner“, grinst Ralf verschmitzt.
„Ach, du spinnst doch“, erwidert Nils, ebenfalls mit einem Grinsen im Gesicht.
„Jaja“, sagt Ralf allwissend. „Darf ich dir was ans Herz legen?“, fragt Ralf ernst.
„Ja, klar.“ Nils schaut ihn gespannt an.
„Das ist kein Mädchen für einen One-Night-Stand, die hat schon genug durchgemacht. Die braucht jemanden, der sie liebt, in die Arme nimmt und für sie da ist.“ Erstaunt über die Bemerkung seines Kollegen fehlen Nils die Worte.
„Mh, ja, ich weiß“, stottert er.
„Ich wollte es nur gesagt haben“, erwidert Ralf und wendet sich wieder seinem Computer zu.
Wie recht er doch hat, denkt Nils. Ich werde sie anrufen, heute noch. Und dann? Einfach zum Kaffee einladen? Oder zur Coke oder was auch immer. Er steht auf und schlendert Richtung Tür.
„Wo gehst du hin?“, fragt Ralf neugierig.
„Schnell was beim Bäcker holen. Ich habe Hunger, willst du auch was?“
„Ja, ja“, erwidert Ralf. „Lass nur, ich habe schon gefrühstückt.“ Grinsend schaut er ihm nach.
Gott, ich hasse es, dass er mich so gut kennt, denkt Nils und verlässt die Polizeistation. Er holt sein Telefon hervor und sucht die Nummer von Ruby, die er gestern gespeichert hat in der Hoffnung, dass er sie bald benutzen wird. Ruby, er drückt auf das grüne Telefonsymbol. Aufgeregt lauscht Nils dem Rufaufbau. Er nimmt einen tiefen Atemzug. Die Verbindung wird hergestellt.
„Hallo“ sagt eine schwache Stimme am anderen Ende. Ups, habe ich Sie geweckt, es ist 9.00 Uhr, wenn sie arbeitet, müsste sie jetzt eigentlich auf Arbeit sein oder aber zumindest wach.
„Ahm, Nils Kramer hier, ist es ein schlechter Moment? Habe ich sie geweckt?“
„Ah, guten Tag, nein, es ist ... ich, ich bin im Krankenhaus“, antwortet Ruby knapp, aber jetzt hellwach.
„Oh nein, was ist passiert, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin vom Pferd gestürzt, habe wohl eine schwere Gehirnerschütterung“, antwortet Ruby jetzt mit klarer Stimme.
„Das tut mir sehr leid, brauchen Sie etwas? Kann ich etwas für Sie tun?“, fragt er nervös.
„Nein, danke, ich habe schon alles, was ich brauche. Meine Mutter versorgt mich mit allem.Was will er überhaupt?, fragt sich Ruby. Wieso ruft er an? Er hat eine schöne Stimme, männlich, aber nicht prollig. Sie gefällt Ruby.
„Das ist gut zu hören. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass die Akte Bergmann geschlossen wurde. Es wird nicht weiter ermittelt.
„Oh, das ist gut.“
Frag sie! Los, du Feigling, frag sie!, versucht Nils sich zu motivieren, nein, nicht jetzt, das ist nicht der richtige Moment.
„Ja, das ist auch schon alles. Falls ich irgendetwas für Sie tun kann, geben Sie mir Bescheid. Meine Nummer haben Sie ja“, sagt er stattdessen. Feigling.
Ja, Sie könnten mir Rücken massieren, in den Haaren herumfummeln, die Füße kneten. Den Nacken küssen, träumt Ruby.
„Ja, vielen Dank, sehr nett. Auf Wiederhören.“ Peng, Leitung tot. Mh, das war jetzt nicht das, was er erwartet hatte. Vielleicht bildete er sich nur ein, dass eine Art Verbindung zwischen ihnen war. Andererseits ist sie gerade vom Pferd gefallen. Wahrscheinlich hat sie Schmerzen und ist müde, denkt er. Ich gehe sie ganz einfach besuchen, heute Abend. Zufrieden lächelnd über diesen Einfall sagt er laut zu sich selbst: „Ja genau, das werde ich tun.“ Als er wieder in die Polizeistation eintritt, schaut ihn Ralf erwartungsvoll an:
„Und?“
Gott, dieses dämliche Grinsen, denkt Nils.
„Nichts, sie ist im Krankenhaus.“
„Was? Warum?“, fragt Ralf entsetzt.
„Vom Pferd gefallen. Gehirnerschütterung.
„Oh Mann, gefährlicher Sport, kannst sie ja besuchen gehen“, erwidert Ralf wieder mit diesem dämlichen Grinsen.
„Ja, das kann ich“, schmunzelt Nils.
„Übrigens, Nils…“
„Ja?“
„Du hast vergessen, zum Bäcker zu gehen.

 

14 Montagabend

Ruby hat den Nachmittag schlafend verbracht, sie fühlt sich ein bisschen besser, lebendiger. Zaghaft klopft es an der Tür. Wer kann das noch sein? Ihr Chef? Nein, der hat am Nachmittag angerufen und gute Besserung gewünscht. Freundlich hat er ihr versichert, dass sie sich keine Sorgen um die Arbeit machen muss.
„Herein“, sagt sie neugierig. Langsam öffnet sich die Tür.
„Hallo, ich hoffe, ich störe nicht“, wird sie von Nils Kramer unsicher begrüßt. Was für eine positive Überraschung. Mist, ich habe die Haare nicht gewaschen, keine Schminke, nichts.
„Hallo, ich bin ein bisschen ... überrascht.“
„Hoffentlich angenehm.“ Mehr als angenehm, denkt Ruby. „Ich wollte sicher sein, dass es Ihnen gut geht.“ Er geht zu ihr, nimmt ein Riesenpack Schokoladenkekse aus der Tasche und streckt sie ihr grinsend entgegen. „Und ich wollte diese“, er zeigt auf die Kekse, „noch bei Ihnen abladen.“ Ruby verliert sich gerade in seinen Augen, sie muss sich zwingen, wegzusehen.
„Oh, vielen Dank, das ist sehr ... aufmerksam.“ Verlegen schaut sie auf die Kekse.
„Geht es Ihnen besser?“ Er setzt sich auf den Stuhl, der neben ihrem Bett steht. Das Siezen nervt sie.
„Nennen Sie mich doch bitte Ruby, ich fühle mich uralt, wenn Sie mich siezen.“
„Oh ja gerne, dann bin ich Nils.“ Sie grinsen sich an. Sie fühlt sich wie ein verliebter Teenager. Als Jugendliche hatte sie nie einen Freund. Ihr Interesse an Männern ist erst erwacht, als sie 19 war. Sie war ein Spätzünder. Aber das hier fühlt sich unglaublich gut an.
„Soll ich wieder gehen? Willst du dich ausruhen?“, fragt Nils besorgt.
„Nein nein, ich habe schon den ganzen Tag geschlafen.“
„Wann wirst du entlassen?“
„Hoffentlich morgen. Wenn alle Tests okay sind, darf ich morgen nach Hause.“ Soll ich fragen? Einen Angriff starten? Nils ist nervös. Ich bin zu alt, um lange um den Brei zu reden. Entweder sie mag mich und sagt ja – oder eben nicht, denkt Nils. Ruby spürt seine Unsicherheit.
„Hattest du frei heute?“, fragt sie, um die peinliche Stille zu beenden.
„Nein, ich bin direkt nach der Arbeit hergekommen“, überwindet er sich endlich. „Ich will ehrlich zu dir sein.“
Jetzt kommt’s, denkt Ruby ängstlich.
„Also, ich finde dich sehr sympathisch und so.“ Was bitte bedeutet
´und so´, denkt Ruby amüsiert. Sie ist froh, dass seine Unsicherheit nicht darauf zurückzuführen ist, dass er sie noch des Mordes verdächtigt. Er ist total süß. Ihr ist bewusst, dass es Männern nicht gefällt, wenn man sie als süß betitelt. Aber Nils ist süß, vor allem jetzt, wie er angestrengt nach Worten sucht.
„Ahm, ja, ob du vielleicht einmal Lust hättest, mit mir etwas trinken oder essen zu gehen, oder so.“ Ruby muss lachen. Da war es wieder, dieses ´oder so`. „Ich würde dich gerne besser kennenlernen. Aber wenn du nicht willst, weil ich zu alt bin oder so…“ - das ist echt lustig, amüsiert sich Ruby - „… dann sag das bitte ohne Scham. Mir ist es lieber, du sagst es gleich.“
Erwartungsvoll schaut er sie mit einem schrägen Grinsen an.
„Wie alt bist du denn?“
„41.“
„Uff, ganz schön alt“, sagt sie ernst und sieht, wie Nils unsicher in sich zusammenfällt. Schnell fügt sie hinzu: „Nein, Scherz. Ich stehe auf alte Männer.“ Sie grinst. Er scheint etwas überfordert zu sein.
„Und… und… du, wie alt bist du?“, stottert er.
„27.“
„Das hab ich mir gedacht.“
„Ja“, sagt Ruby, „ich würde sehr gerne etwas essen oder trinken gehen mit dir, ich finde dich ebenfalls äußerst sympathisch oder so.“ Sie grinst, er schließlich auch.
„Dann soll ich dich anrufen? Oder wollen wir gleich etwas abmachen?“ „Ruf mich an. Ich weiß ja nicht, wie lange ich zu Hause noch liegen muss und so.“
Er bemerkt ihre Anspielung nicht.
„Sehr schön, das werde ich machen.“ Die Tür geht auf. Eine kleine rundliche Krankenschwester kommt mit schnellen Schritten herein.
„So, alle nach Hause, die Besuchszeit ist um.“
„Ja okay, dann…“ am liebsten würde er Ruby auf die Wange küssen, aber er ist sich nicht sicher, ob es nicht zu viel wäre. Immer langsam mit den jungen Pferden.
„Dann rufe ich dich am Mittwoch an?“
„Ja, Mittwoch ist perfekt, meine Nummer hast du ja.“
„Ja, tschüss, gute Nacht“. Und weg ist er. Was war das denn jetzt? Was für ein spezieller Mann. Seine Ausstrahlung, seine Art.
Ich habe mich tatsächlich ein bisschen verliebt, denkt Ruby beflügelt. Es fühlt sich gut an, aber schnell schleichen sich Zweifel und Ängste ein. Sie kann nicht über Gefühle sprechen, noch nie hat sie zu jemandem „Ich liebe dich“ gesagt. Vielleicht war ich bisher nie richtig verliebt. Wenn der Richtige kommt, kann ich auch „Ich liebe dich“ sagen, denkt sie. Männer wollen hören, dass man sie liebt; sie wollen wissen, wie man sich fühlt. Aber sie kann das nicht. Das stresst sie, es macht ihr Angst. Es ist ja nicht so, dass sie nichts fühlt. Im Gegenteil, sie fühlt sehr viel und sehr intensiv. Nur darüber zu sprechen, fällt ihr schwer. Aber den meisten Menschen sind Taten und Gefühle nicht genug, sie wollen es auch hören. Und dann fühlt sie sich wieder so verdammt beraubt. So furchtbar beraubt um ihre Kindheit, einen Vater, der ihr Fahrradfahren beibringt, eine Mutter, die sich sorgt und kümmert. Manchmal fühle ich mich einfach verloren, allein und winzig klein, in einer großen lauten Welt, denkt sie traurig. Sie hat sich immer gewehrt, sich als Opfer zu sehen, traurig zu sein oder nichts Gutes mehr von Menschen zu erwarten. Vielleicht hat sie überlebt, weil sie sich in ihre kleine, heile Welt geflüchtet ist. Ruby ist eine äußerst positive Person, sie glaubt an das Gute im Menschen. Sie ist sehr beliebt, kann Gespräche führen, hat einen guten Sinn für Humor und gewinnt Menschen für sich, ihre Ideen und Weltansichten. Aber es ist Arbeit, sich mit Menschen abzugeben; die meisten ihrer Beziehungen sind oberflächlich. Es ist ihr ein Rätsel, wie jemand zehn und mehr Freunde haben kann. Sie hat eine Freundin und die ist weit weg. Es wäre ihr unmöglich, sich auf mehr als zwei Personen einzulassen. Vielleicht haben die meisten einfach andere Ansprüche an eine Freundschaft. Freundschaft ist etwas sehr Zerbrechliches, man weiß, dass man alles besprechen kann, man auffängt und aufgefangen wird. Man nicht verurteilt wird und selber nicht verurteilt. Man hält fest und lässt los – und das ist das Schlimmste. Loslassen tut weh, und sie hasst Schmerzen, vor allem körperliche und seelische. Freundschaft muss wachsen und gedeihen.
Aber jetzt freut sie sich darauf, mit Nils etwas trinken zu gehen, ihn kennenzulernen. Und wer weiß, was daraus entstehen wird.

 

15 Ruby, Freitagmorgen

Es ist Freitag Morgen. Seit Dienstagabend ist Ruby wieder zu Hause. Am Mittwochmorgen kam ihre Mutter vorbei, allein, sie hat Essen gebracht und ein bisschen nach dem Rechten gesehen. Gut sah sie aus, gelöst und glücklich. Bernd kam nicht mit. Ruby wusste nicht, wo er war, aber es war ihr auch egal. Gekonnt haben sie das Thema umgangen, als ob nichts gewesen wäre. Gewisse Dinge ändern sich nie. Mittwoch Abend hat Nils angerufen. Sie haben sich für Samstagabend verabredet in der Pizzeria Venezia. Pizza passt immer. Begeistert nahm sie seinen Anruf entgegen. Außergewöhnlich ist die Anziehung die er auf sie ausübt. Ruby schmiert sich ein Brot, das ihre Mutter gestern vorbeigebracht hat. Butter und Nutella, gibt’s was Besseres? Dazu eine Cola Light. Entspannt setzt sie sich auf das Sofa und stellt den Fernseher an. Normalerweise schaut sie vor 21 Uhr nie fern, aber es sind ja auch keine normalen Umstände. Das Bedürfnis, sich zu bewegen, ist nicht vorhanden. Soll sie auch nicht, hat der Doc gesagt. Er meinte, sie solle bis mindestens Freitag im abgedunkelten Raum liegen. Ist es nur ihr Eindruck, oder läuft jeden Tag dasselbe in der Flimmerkiste? Dieselben Filme, dieselben Serien, dieselben Shows, dieselben Gesichter. Gelangweilt zappt sie sich durch das Programm, bis sie bei den Nachrichten hängen bleibt. Ehetragödie in Berlin-Mitte steht neben dem Sprecher in schwarzer Schrift geschrieben. Gespannt stellt sie die Lautstärke höher. - Eine junge Frau und ihre 6-jährige Tochter wurden Opfer von häuslicher Gewalt. Der betrunkene Ehemann und Vater des Kindes hat beide in der Nacht auf heute erstochen. Danach hat er sich der Polizei gestellt. Er wurde festgenommen. - „Was, was, was“, sagt Ruby laut. „Scheiße, das war doch nicht Rebecca? NoSense-Hope?“ Nein, Ruby! Weißt du, wie viele Menschen es in Berlin gibt, wie viel häusliche Gewalt? Hastig klappt sie ihren Laptop auf. Nervös tippt sie die Webadresse des Forums Nein zur häuslichen Gewalt. Neue Beiträge. User Carolw hat einen neuen Post geladen: RIP User NoSense-Hope... Nein, verdammt, nein! Das darf nicht wahr sein! So ein Schwein! Wie konnte er das tun? Wieso hat sie nichts getan, ist abgehauen, verdammt? Nein. Wieso kann die Polizei nichts tun? Solche Schweine einsperren, bevor sie jemanden umbringen. Ruby weint. Obwohl sie User NoSense-Hope nicht persönlich gekannt hatte, ist es, als hätte sie ihre beste Freundin verloren. Oft haben sie gechattet, haben in dunklen Stunden zueinandergehalten. Ruby hat ihr immer nahegelegt, ihren Mann zu verlassen. Aber sie wollte nicht: „Wo soll ich denn hin? Wovon soll ich leben? Ich habe keine Ausbildung, nicht einmal einen Schulabschluss. Es wird bestimmt besser, wenn die Kleine etwas größer ist. Er hat im Moment viel Stress.“ Rebecca hat ihren Mann immer beschützt, der sie geschlagen, erniedrigt und missbraucht hat. Sie dachte, sie sei das Problem. Und plötzlich ist sie weg, für immer. Ich hoffe, du und deine Kleine, ihr seid glücklich da, wo ihr jetzt seid. Ruby weiß nicht, wohin mit ihren Gefühlen. Wut und Trauer mischen sich zu einem Brei. Ich muss irgendetwas tun. Ich werde es selber in die Hand nehmen.

 

16 Freitagabend

Weinend verbrachte Ruby den ganzen Vormittag. Hungrig bestellt sie etwas Leckeres beim Chinesen. Chicken Sweet Sour, das schmeckt immer gut. Es war ihr voller Ernst, das Problem mit den gewalttätigen Männern selber in die Hand zu nehmen. Nur wie soll sie herausfinden, in welchen Haushalten häusliche Gewalt vorkommt? In welchen Wohnungen Männer ihre Frauen schlagen oder Frauen ihre Männer, gibt’s ja auch, wird aber meist nur belächelt und nicht ernst genommen. Für einen Mann muss die Hemmschwelle noch viel höher sein, sich jemandem anzuvertrauen und Hilfe zu holen. Plötzlich kommt ihr die zündende Idee. In Computerprogrammierung und Hacken ist sie ziemlich fit. Eine Online-Bekanntschaft hat sie vor ein oder zwei Jahren, sie kann sich nicht genau erinnern, in die spannende Welt des Hackens eingeführt. Es faszinierte sie. Auf ihrem Laptop hat sie neben Windows auch Kali Linux installiert. Ein Betriebssystem, das Hacken einfacher macht. Ihr frisch geschmiedeter Plan: Sie will sich in die Webseite der Berliner Opferhilfe für häusliche Gewalt einhacken. Die ist mit Google schnell gefunden. Konzentriert schaut sie sich dort um. Ein paar Klicks da, ein paar Klicks dort, und schon ist sie als Admin drin. Einfacher als gedacht, die Seite ist erstaunlicherweise kaum gesichert. Verschiedene Ordner werden angeklickt, bis sie den gesuchten schließlich findet. Perfekt, Namen und Adressen, die einzelnen Fälle sind schön aufgelistet, mit einer Kurzbeschreibung des Sachverhaltes. Mh, mal sehen. Okay, also Karen Maier hat sich bei der Opferhilfe gemeldet, weil ihr Mann sie regelmäßig schlägt. Der Eintrag wurde vor zwei Tagen geschrieben. Für Montag kommender Woche wurde ein Termin ausgemacht. Das wäre ein Anfang. Ruby notiert die Adresse. Plötzlich hält sie inne. Ich weiß gar nicht, wie er aussieht! Und was will ich überhaupt machen? Denkt sie. Ich kann doch nicht einfach herumlaufen und Männer niederknüppeln? Doch, genau das werde ich tun! Karen hat einen Termin am Montag. Ruby könnte sie beobachten und hoffen, dass sie irgendwann mit ihrem Mann auftaucht. Sie kann am Montag sicher frei machen, schließlich hat ihr Chef gesagt, sie solle sich keine Sorgen um die Arbeit machen. Ja, genau das werde ich tun. Die Rächerin zu spielen, fühlt sich verdammt gut an. Ich will ihnen nur einen Denkzettel verpassen. Sie sollen spüren, wie es ist, wenn man Todesangst hat, denkt Ruby.

17 Nils Samstagabend

Es ist 19 Uhr, in einer Stunde ist die Verabredung mit Ruby. Nils ist schon geduscht und bekleidet, bereit für sein Date. Er ist nervös und wundert sich über sich selbst: Was ist nur los mit mir, worüber sollen wir denn reden? Ganz ruhig, das wird sich von allein ergeben. Nils trägt eine dunkelblaue Jeans, ein schwarzes Hemd und weiße Adidas Retro Sneakers. Trägt man die noch? Sind die nicht total out? Whatever, wenn es daran scheitert, dann ist es sowieso nichts wert. Noch ein bisschen Parfum, Davidoff Cool Water. Um 19:30 Uhr fährt er los, wenn er zu früh ist, wird er vor dem Restaurant warten. Ganz ungezwungen und entspannt, wir gehen nur zusammen essen, denkt er. In diesem Moment meldet sein Smartphone den Eingang einer WhatsApp. Es ist eine Nachricht von Ralf:
„Benimm dich, alter Mann“. Nils lacht. Er antwortet:
„Natürlich, so wie immer.“ Darauf Ralf: „Kotz Smiley, bitte nicht so wie immer“. So ein frecher Kerl. Er fährt mit seinem Honda Civic los und findet, dass Ralf doch recht hat. Der Wagen ist Müll. Ihn trifft die rote Welle, alle Ampeln stehen auf Rot, und so erreicht er fast pünktlich das Restaurant. Soll er schon reingehen? Draußen warten? Ist sie schon drin? Meine Güte, er benimmt sich ja wie ein Teenager. Er steht neben dem Wagen und schaut sich um, als ein dunkelgrauer Audi TT auf den Parkplatz einbiegt. Die Musik voll aufgedreht.

18 Ruby Samstagabend

Ruby ist aufgeregt. Sie duscht sich und stylt ihre Haare. Die Leute denken immer, dass sie mit ihrer Frisur kein Styling benötigt, weil sie wild in alle Richtungen stehen. Was sie nicht wissen: Jedes einzelne Haar liegt an seinem Platz. Nichts wird dem Zufall überlassen. Neulich war sie beim Zahnarzt, als die Empfangsdame ihr sagte, dass sie die Haare auch gerne tragen würde wie sie. So könnte sie morgens einfach aufstehen und losgehen… Darauf hat Ruby den Zahnarzt gewechselt. Ihre Entscheidung fällt auf ihre Lieblings-Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt, das bisschen Dekolleté sehen lässt, aber nicht zu viel. Western Boots, die einzigen Schuhe, die sie neben Turnschuhen noch hat. High Heels gehören nicht zu ihrem Repertoire. Solche Folterteile hat sie in ihrem Leben noch nie getragen. Wie können Frauen damit gehen und zur Hölle… warum? Noch ein bisschen Parfum. Ruby liebt Parfum und hat eine kleine Sammlung. Welches soll sie denn auftragen? Ich nehme Ralph, von Ralph Lauren. Um 19:40 Uhr fährt sie aufgeregt los.


19 Samstag Verabredung

Audi TT, denkt Nils, interessanter Wagen. Er geht Ruby entgegen. Sie sieht toll aus. Mit einem Lächeln kommt sie auf ihn zu. Gerne würde er sie zur Begrüßung umarmen, hält sich aber zurück und gibt ihr ein Küsschen auf die Wange. Mh, sie riecht gut. Jung sieht sie aus, jünger als 27. Was werden die Leute denken? Was will denn der Alte mit dem Mädchen? Oder sie vermuten, dass er ihr Vater ist. Es könnte ihm nicht gleichgültiger sein. Er ist seit Langem wieder glücklich. Aber auch vorsichtig. Er kennt sie ja nicht. Und genau das ändern wir jetzt. Hör auf, dir Sorgen zu machen und genieße den Abend, denkt Nils. Ruby findet, dass Nils toll aussieht. Das schwarze Hemd, die obersten zwei Knöpfe offen, wie es sich gehört, die braunen Locken, diese Augen und der Duft. Ruby nimmt einen tiefen Atemzug. Sie liebt Männer, die gut riechen. Sie weiß sogar, welches Parfum es ist: Davidoff Cool Water. Sie hat es in der Damenausführung. Nebeneinander schlendern sie zur Pizzeria. Er ist 1,85 Meter groß, schätzt sie, vielleicht sogar ein bisschen größer. Sie ist klein, 1,58 Meter, jetzt vielleicht 1,62. Aber es fühlt sich gut an. Fast ein bisschen stolz läuft sie neben ihm her und denkt: Guckt hierher, ihr blöden Tussen, die kleine wilde Ruby hat sich den Schönsten geschnappt. Innerlich grinst sie zufrieden. Als sie in die Pizzeria eintreten, kommt auch schon ein gut frisierter Italiener auf sie zu.
„Buona notte, haben sie eine Reservierung?“, sagt er überfreundlich in gebrochenem Deutsch.
„Ja, auf Kramer, Nils Kramer.“
„Ah ja, hier, due Persona, richtig?“
„Ja.“ Sie werden an einen kleinen Tisch in der Ecke begleitet.
„Prego, nur für Sie“, sagt er und verschwindet. Gespannt setzen sie sich hin und bewundern das Lokal. „Es ist schön hier“, sagt sie.
„Warst du noch nie in dieser Pizzeria?“, fragt Nils.
„Nein, ich kenne es nicht einmal.“
„Die Pizza schmeckt sehr gut hier.“ Wie aufs Stichwort kommt der Kellner mit den Speisekarten. Beide bestellen sich einen Salat mit französischer Sauce und eine Pizza. Nils eine 4 Stazioni, Ruby eine Prosciutto.
„Möchten Sie noch einen Wein?“, fragt der Kellner. Beide verneinen. Ruby beginnt die Unterhaltung.
„Bist du geschieden? Oder hast du nie geheiratet?“ Nils atmet tief ein.
„Ich bin Witwer.“
Na super, 100 Punkte für das Fettnäpfchen des Abends. „Das tut mir sehr leid, das wusste ich nicht.“
„Kein Problem, das konntest du nicht wissen. Helena, meine Frau, starb vor acht Jahren bei einem Verkehrsunfall. Ein Betrunkener ist frontal in ihren Wagen gefahren, sie war sofort tot. Der Unfallverursacher hat leicht verletzt überlebt. Er hat seine Strafe abgesessen und ist wieder auf frei.“
„Das ist wirklich sehr traurig und unfair.“ Daher also die traurige Ausstrahlung. Ich muss herausfinden, wie der Typ heißt, der kommt auf meine Liste, denkt Ruby und ist von diesem Gedanken selber etwas überrascht. Langsam kommt das Gespräch in die Gänge, sie unterhalten sich über alles Mögliche. Filme, Musik, Bücher. Nur über ihre Familien reden sie nicht. Ein heikles Thema. Doch dann erzählt Ruby.
„Mein Vater“, fast hätte sie gesagt, den ich umgebracht habe, „der bei dem Unfall gestorben ist, war nicht mein leiblicher Vater.“ Erstaunt schaut Nils sie an.
„Aber in den Akten stand, dass es dein Vater war.“
„Ja, das dachte ich auch bis vor einer Woche, bis meine Mutter mir meinen echten Vater präsentiert hat.“ In wenigen Sätzen erzählt sie Nils die ganze Geschichte.
„Wow, das ist ziemlich heftig“, sagt er baff. „Wie geht es dir damit? Ist das positiv oder eher negativ für dich?“
„Ich weiß es, ehrlich gesagt, noch nicht. Scheint ein netter Typ zu sein. Aber ich brauch ein bisschen Zeit, um einzuordnen, was das für mich bedeutet.“
„Hast du denn wenigstens mit deiner Mutter darüber gesprochen?“
„Wir sind können nicht gut über Gefühle sprechen, wir ignorieren sie lieber“, antwortet Ruby und lächelt Nils verlegen an. „Aber genug von mir“, fährt sie fort, „hast du Geschwister?“ Sie hofft inständig, dass er keine verstorbenen Geschwister hat.
„Ja, eine kleine Schwester, sie ist 10 Jahre jünger als ich. Wir
verstehen uns ziemlich gut.
„Das ist schön, aber ein ziemlicher Altersunterschied, nicht?“
„Was soll ich sagen, sie war nicht geplant, aber willkommen.“ Ruby spürt ein komisches Gefühl, ist das etwa Neid auf die glückliche Familie? Manchmal findet sie es ungerecht, wenn andere von ihren perfekten kleinen Familien und ihrer perfekten süßen Kindheit erzählen. Doch im selben Moment findet sie es auch schön. Welch furchtbares Gefühlschaos lebt da in ihr.
Nach der leckeren Pizza bestellen sie noch Nachtisch. Hausgemachtes Tiramisu mit zwei Löffeln zum Teilen. Lecker! Der Abend verläuft perfekt, entspannt, locker und natürlich. Nils ist sich jetzt sicher, dass er verliebt ist. Er konnte sich den ganzen Abend nicht an Rubys Augen sattsehen. Der Spiegel zur Seele. Und er konnte in ihnen lesen. Tiefe, Schmerz und ganz viel Hoffnung. Ruby geht es nicht anders. Es sind seine Augen, die sie so faszinieren, auch wenn das ganze Paket sehr ansprechend ist. Die Augen sprechen ihre eigene Sprache, und die beherrscht sie perfekt. Beglückt über den Verlauf des Abends begleitet Nils Ruby zum Wagen.
„Tolles Auto“, bewundert Nils Ruby’s Audi.
„Finde ich auch. Ich habe lange dafür gespart.“ Sie lächelt ihn an.
Nils schaut sie mit einem tiefen, eindringlichen Blick an. „Es war ein wunderschöner Abend, danke Ruby Bergmann. Ich würde das gerne wiederholen, natürlich nur, wenn du das auch möchtest.“
Rubys Schmetterlinge im Bauch drohen, sich selbstständig zu machen.
„Sehr, sehr gerne Nils Kramer.“ Verliebt schauen sie sich an, und es kommt, wie sie es sich erhofft hat. Er neigt sich zu ihr hinunter, drückt sie sachte an den Wagen und lässt sie keine Sekunde aus den Augen. Und dann der magische Moment, als seine Lippen auf die ihren treffen. Boom! Es durchfährt ihren ganzen Körper, ein wunderschönes, warmes, intensives Gefühl. Schmetterlinge flattern wild in ihrem Bauch. Dieser Moment müsste ewig anhalten. Halt ihn fest, lass ihn nie mehr los. Leidenschaftlich küssen sie sich, können kaum voneinander ablassen. Seine Hände streichen durch ihr Haar. Sanft hält er ihren Kopf und schaut sie an:
„Du bist etwas ganz Besonderes, Ruby, lass dir das von niemanden ausreden.“ Gerührt von seinen Worten, hält sie eine Träne zurück, doch gleichzeitig platzt sie fast vor Glück. Nach der intensiven Verabschiedung gehen sie nach Hause – jeder zu sich, auch wenn es schwerfällt.

 

 

20 Sonntag

Ruby hat kaum ein Auge zugetan, zu unreal war der Samstagabend mit Nils. Fast eine Hollywood-Lovestory. Zwei gebrochene Seelen finden zueinander und stellen sich wieder her. Hofft sie zumindest. Mit Michael, ihrem letzten Freund, mit dem sie vor knapp einem Jahr Schluss gemacht hat, war es anders. Sie hatte nie Schmetterlinge im Bauch, sie mochte ihn, ja, aber es war keine Liebe. Ihrerseits nicht. Er hingegen liebte sie abgöttisch. Sieben Monate waren sie ein Paar. In den letzten zwei Monaten ihrer Beziehung hatte sie ihn immer öfters abgeschoben. Wollte ihn nicht mehr anfassen, keine Hände halten. Er war ihr zu aufdringlich, zu aggressiv. Nicht körperlich aggressiv, aber in seinem Drang nach Liebe. Er hätte alles für sie getan, alles. Und genau das wurde ihr zu viel. Sie wollte einen Mann, der wusste, was er will, der ihr auch mal sagte, dass er etwas blöd fand. Viele Frauen wünschen sich einen Freund, der ihnen jeden Wunsch von den Lippen abliest. Ruby nicht. Nach einigen Monaten konnte sie es nicht mehr ertragen. Zärtlichkeit und Sex waren eine Zwangsübung, es fühlte sich schrecklich an. Bis sie sich nicht mehr selbst belügen konnte. Bis zuletzt hoffte sie, dass er sich noch ändert, dass es nur die erste Verliebtheit war, in der er ihr zu Füßen lag, aber dem war nicht so. Einmal fragte sie ihn, ob er der Meinung sei, dass eine Beziehung wie die ihre okay sei, was er bejahte. Er merkte nicht einmal, dass sie ihn nicht mehr liebte und auf Abstand hielt. Schließlich wollte sie Schluss mit ihm machen, konnte es aber nicht aussprechen. Also schrieb sie ihm eine WhatsApp. Ja, ziemlich billig, das fand sie auch, aber es ging nicht anders. Er drehte total durch, lauerte ihr auf, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Umarmte sie gegen ihren Willen, flehte sie an, ihrer Liebe noch eine Chance zu geben. Aber sie wollte und konnte nicht mehr. Er spionierte sie über Monate aus, beobachtete sie, schenkte ihr Blumen. Endlich sah er ein, dass es keinen Sinn hatte. Mit seinen „Aktionen“ hat er sie nur noch weiter von sich entfernt.

21 Sonntagnachmittag

Eigentlich wollte Ruby heute reiten gehen, aber ihr Kopf fühlt sich noch ein bisschen ... komisch an. Ihr Arzt war der Meinung, dass sie in den nächsten zwei Wochen nicht reiten solle. Das Turnier kann sie somit abschreiben. Heute gibt es einen entspannten Sonntag. Ein bisschen die Wohnung aufräumen, Musik hören und einfach abhängen. Plötzlich klingelt das Telefon. NILS steht auf dem Display. „Hallo“, sagt sie und versucht, nicht zu begeistert zu klingen.
„Hi, ich bin’s, Nils.
„Hi.“
„Wie geht’s dir?“
„Gut, danke. Mein Kopf fühlt sich noch ein bisschen schwammig an, aber sonst gut. Und dir?“
„Mir geht es gut. Ich wollte fragen, ob du Lust und Zeit hast, später noch etwas zu unternehmen. Aber wenn du Kopfschmerzen hast, erübrigt sich die Frage.“ Er klingt enttäuscht. Ruby denkt kurz nach.
„Wenn du magst, könnten wir bei mir etwas kochen. Und später was Nettes auf Netflix schauen.
Oha, denkt Nils zufrieden. „Das klingt fantastisch. Soll ich noch etwas von unterwegs mitbringen?“ Kondome, denkt Ruby grinsend. Sie weigert sich, die Pille zu nehmen, dieses Gift will sie ihrem Körper nicht antun. „Vielleicht noch etwas zu trinken, ich habe kaum noch etwas im Kühlschrank.“
„Cola Light?“
Er lernt schnell. „Perfekt“, erwidert Ruby.
„Um 18 Uhr okay?“
„18 Uhr ist super.“
„Dann bis später.“


22 Sonntagabend

Nils steht Punkt 18 Uhr vor Rubys Haustür. Sie öffnet. Wie immer sieht sie toll aus. Wilde Haare, Gott, wie ich diese Haare liebe. Natürliches Make-up, Jeans und weißes T-Shirt. Und da sind sie wieder, diese Augen, die traurigsten lachenden Augen, die ich je gesehen habe.
„Hi“, sagt er und küsst sie sanft auf die Lippen. Verliebt erwidert sie seinen Kuss.
„Komm herein.“
„Ich habe Coke mitgebracht und Schokoladenkekse“, grinst er.
„Ich werde noch kugelrund“, lacht Ruby. „Hast Du Hunger? Wollen wir gleich kochen?“
„Oh ja, gerne“. Zusammen kochen sie Spaghetti Bolognese und unterhalten sich ausgelassen. Immer wieder berühren sie sich ganz „zufällig“. Als sie nach dem Essen die Teller in die Spüle stellen, klingelt es an der Tür. Erschrocken schaut Ruby Nils an.
„Erwartest Du jemanden?“, fragt Nils überrascht.
„Nein.“ Sie geht zur Tür, schaut durch den Spion. Nils bleibt in der Küche sitzen und beobachtet Ruby gespannt. „Scheiße“, hört er sie flüstern. Fragend schaut er sie an. Ruby dreht sich zu ihm um und flüstert: „Meine Mutter.“ Er hebt die Augenbrauen. Ist das ein Problem?, fragt er sich. Widerwillig öffnet Ruby die Tür.
„Hi Mom.
„Hallo Ruby.“ Verunsichert schaut sie ihre Tochter an, als diese keine Anstalten macht, sie eintreten zu lassen.
„Störe ich?“ Jaaaa, wie noch nie zuvor, denkt Ruby, sagt aber:
„Was soll ich sagen, ich bin nicht allein.“
„Du bist erwachsen, Kind, du kannst tun und lassen, was du willst. Ich gehe auch gleich wieder. Willst du mich nicht hereinlassen?“ Nein. Ruby öffnet die Tür und lässt sie eintreten.
„Ihr kennt euch ja schon“, sagt sie etwas genervt. Rubys Mutter steht erstaunt vor Nils.
„Sie?“, fragt sie verdutzt. Nils steht auf und begrüßt sie mit einem Hände schütteln.
„Guten Abend, Frau Bergmann“, sagt er freundlich. „Sie sind...“, stottert sie ungläubig.
„Der Polizist“, ergänzt Nils mit einem schiefen Grinsen.
„Ja, entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen ... überrascht“, lacht sie verlegen.
„Das kann ich verstehen“, erwidert Nils. Ruby steht an den Türrahmen gelehnt, zwischen Küche und Korridor.
„Was willst du, Mom?“, fragt sie und wünscht sich, sie hätte die Tür nicht aufgemacht.
„Seid ihr… ich meine, seid ihr ein Paar? Seid ihr zusammen?“ Ruby ist sich nicht sicher. Irgendwie schon oder nicht?
„Ja, das sind wir“, antwortet Nils und vernichtet jeden Zweifel.
„Das ging ja schnell. Sind Sie nicht, ich meine, sind Sie nicht ein bisschen zu alt für Ruby?“
„MOM!“, ermahnt Ruby ihre Mutter.
„Ja, Entschuldigung, es geht mich ja nichts an, du hast recht. Aber ich will doch nur das Beste für dich.“
„Warum bist du hier, was willst du?“, fragt Ruby jetzt sichtlich
genervt.
„Ich wollte dich nur fragen, ob du Lust hast, kommende Woche mit uns, also Bernd ...“, sie schaut Nils an, als könnte sie an seinem Blick ablesen, ob er Bescheid weiß, „und mir.“
„Ja, Mom, das können wir machen. Ich rufe dich morgen an, okay?“ Das hätte sie mich auch am Telefon fragen können.
„Fein“. Stille füllt den Raum. Nils schaut Ruby an, Ruby ihre Mutter und ihre Mutter abwechselnd Ruby und Nils. Es fällt ihr sichtlich schwer, die Wohnung zu verlassen.
„Ja, dann geh ich wohl besser wieder.“
„Das wäre schön.“ Kaum hat die Mutter die Wohnung verlassen, hat Ruby ein schlechtes Gewissen. War sie zu unfreundlich zu ihrer Mutter? Sie hasst es, immer das Gefühl zu haben, dafür verantwortlich zu sein, dass es allen gut geht. Deine Mutter ist erwachsen, sie wird damit klarkommen. Konzentriere dich jetzt auf Nils und vergiss sie einfach.
„Sie schien überrascht“, bemerkt Nils.
„Jepp“, grinst Ruby.
„Ich bin also zu alt.“
„Ja, wusstest du das nicht?“ Sie lachen beide.
Später begeben sie sich ins Wohnzimmer, setzten sich auf das von Ruby über alles geliebte Pinke Leder Sofa. Vor ihnen Cola Light Dosen, eine Schüssel mit Eiswürfeln und Schokoladenkekse.
„Willst ‚nen Keks“?, fragt Nils und streckt sich zum Tisch vor, um sich einen zu ergreifen.
„Natürlich“, erwidert Ruby.
„Was wollen wir schauen?“
„Was magst du?“
„Ich mag Serien lieber als Filme“.
„Ich auch“, erwidert Ruby erstaunt. „Kennst du „The Good Place“?“
„Schon gehört, aber noch nicht gesehen.
„Die Serie hab ich schon lange auf der Liste der Filme, die ich sehen möchte. Da kommen Menschen, die gestorben sind, in einen Himmel. Da gibt’s eine Hauptperson, die auch dahin kommt, aber irgendwie sollte sie gar nicht in den Himmel, sondern eher in die Hölle für ihre Taten. Irgendwie so.“
Flink loggt sie sich auf ihrem Smart-TV bei Netflix ein und wählt „The Good Place“. Eng nebeneinander sitzen sie auf dem bequemen pinken Sofa. Nils schmerzen die Augen bei all den Farben. Sanft fährt er mit seiner Hand durch Rubys Haare.
„Ich liebe deine Haare.
„Meine Haare sind wie ich: widerspenstig, wild und rebellisch, aber eigentlich ganz sanft.“ Er lacht und macht weiter. Oh, mein Gott, bitte tu das die ganze Nacht lang. Nur eine kleine Geste, aber Ruby fühlt sich in diesem Moment geliebt. Langsam dreht sie sich zu ihm um und schaut ihn an. Scheiße, was für ein schöner und interessanter Mann. Schon küssen sie sich, zuerst sanft und zaghaft, dann immer leidenschaftlicher. Langsam wandern Nils Hände mit den langen Fingern zu ihren Brüsten, zärtlich berührt er sie. Und wandert dann tiefer, gekonnt öffnet er den Reißverschluss ihrer Hose und streift sie ab. Er hält inne: „Das Krümelmonster, im Ernst? Du trägst Unterwäsche mit dem Krümelmonster darauf“?
„Ja, stört es Dich?“, grinst Ruby.
„Du bist echt speziell, Ruby.“ Er küsst sie liebevoll auf den Mund, sanft, aber fordernd. Dieser Mann weiß genau, was er tut, denkt sie verträumt. Sachte öffnet sie seine Jeans. Weiße Boxer, sie hätte es richtig erraten. Die Lust und das Verlangen nach einander lassen sich kaum noch bändigen. Scheiße, das Kondom, denkt sie.
„Nils“, unsicher hält er inne. „Lass mich ein Kondom holen.“
„Du nimmst nicht die Pille?“, fragt er überrascht.
„Nein, ich erkläre es Dir später. Sie gehen ins Schlafzimmer und lieben sich wild und leidenschaftlich.
Da liegen sie nun erschöpft und glücklich. Nils hat seine Arme um sie geschlungen. „Ich liebe Dich, Ruby“, flüstert er ihr zärtlich ins Ohr. Scheiße, da ist es, jetzt müsste sie es auch sagen, aber sie kann nicht. Langsam dreht sie sich zu ihm um und gibt ihm einen zärtlichen Kuss. Das muss reichen.
„Hast du was von „The Good Place“ mitbekommen?“, will er wissen. „Nein“, kichert Ruby, „und du?“
„Nicht einmal das Intro“. Sie lachen. Gott, sie ist glücklich wie noch nie. Ist das die Liebe, auf die sie gewartet hat? Ironischer Weise musste sie ihren Vater umbringen, um die Liebe ihres Lebens zu finden. Die Liebe, von der sie wusste, dass sie irgendwo ist. Ich bin es wert, geliebt zu werden, sagt sie zu sich selber. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Was für ein blöder Spruch, denkt sie. Als könnte die Wahrheit nicht schön sein. Sie schrecken beide hoch, als es an der Tür klingelt. Nils schaut auf die Uhr, es ist 23:15 Uhr.
„Wer besucht dich denn um diese Zeit? Hast du empfindliche Nachbarn?“, will Nils wissen.
„Nein, meine Nachbarin in der Wohnung unter mir ist halb taub. Keine Ahnung, wer das sein kann“, sagt sie ein bisschen ängstlich. Schnell ziehen sie sich an und gehen an die Tür. Ruby guckt durch den Spion, sieht aber niemanden. Zaghaft öffnet sie die Tür. Keiner da. Nils bückt sich und hebt etwas vom Boden auf.
„Was ist das?“, fragt Ruby neugierig.
„Ein Stoffherz. Hast du einen heimlichen Verehrer?“
„Nicht, dass ich wüsste“, erwidert Ruby verwundert. Verwirrt gehen sie zurück in die Wohnung. „Musst Du nach Hause, Nils?“, fragt sie und hofft, dass er die Nacht bei ihr verbringen kann.
„Nicht, wenn Du nicht willst, dass ich gehe. Ich habe keinen, der auf mich wartet.“
„Dann bleib doch bitte hier.“
„Mit größtem Vergnügen.“ Er geht auf Ruby zu, schaut ihr tief in die Augen und küsst sie. Voller Hingabe erwidert sie seinen Kuss.
„Es ist schon spät. Ich glaube, wir müssen ins Bett“, sagt Nils zwischen Küssen und Lachen.
„Ja, ich glaube auch.“ Das wird eine lange Nacht. Vergnügt starten sie in eine zweite leidenschaftliche Runde.

 

23 Montagmorgen

Nils benötigt so gut wie nie einen Wecker, er wacht jeden Morgen um Punkt 7.00 Uhr auf. Segen und Fluch. Leise steht er auf und geht duschen. Er ist glücklich, seit langer Zeit fühlt er sich zufrieden, im Gleichgewicht. Er genießt die erfrischende Dusche und staunt über geschätzt zwanzig verschiedene Duschgels. Von blumig bis coco und von Mint zu Karibik ist alles vorhanden. Nils entscheidet sich für coco, er muss ja noch arbeiten und will nicht nach Blumen riechen. Ralf hätte seine helle Freude an ihm. Erfrischt zieht er sich seine Boxer über und geht zurück ins Schlafzimmer. Ruby schläft tief und fest. Er schaut sie an. Wie schnell alles gegangen ist. Letzten Montag hab ich sie das erste Mal gesehen und jetzt – eine Woche danach – haben wir schon die erste Nacht zusammen verbracht. Es fühlt sich gut und richtig an. Er weckt Ruby, um sich zu verabschieden.
„Hey Ruby, hey Schlafmütze.“ Sie grunzt und stöhnt, kehrt sich zu ihm um und haucht ihm ein müdes „Hi“ entgegen.
„Ich muss los, zur Arbeit. Ich ruf dich später an, okay?“
„Ja, super.
„Gehst du arbeiten heute?“, fragt er.
„Nein, ich bleibe lieber noch einen Tag zu Hause.“ Wenn er wüsste, was sie für heute geplant hat. Er hätte ein anderes Bild von seiner süßen Ruby.
„Das ist gut, bis später dann.“ Er küsst sie sanft auf die Stirn. Diese kleinen Gesten machen Ruby fast wahnsinnig, es steckt so viel Liebe darin. Glücklich lauscht sie, wie er ins Bad geht und nach 5 Minuten nochmal ins Zimmer schaut.
„Bye.“
„Bye-bye.Was für eine Nacht. Normalerweise lässt sie es langsam angehen. Mit Michael vergingen zwei Monate, bis sie zum ersten Mal Sex hatten. Einfach Sex ohne Gefühle und Leidenschaft. Danach war sie immer froh, dass es vorbei war. Mit Nils ist das ganz anders. Sie waren eins, irgendetwas verbindet sie auf eine fast unheimliche Art und Weise. Er ist ihr so unglaublich vertraut. Gemächlich steht sie auf und verbringt den Morgen damit, zu frühstücken, das Geschirr von gestern abzuwaschen und ein paar Grafiken fertigzustellen. David hat angerufen und sie gebeten, ein Logo für ein neues Café zu entwerfen. Es soll blau und grün sein. Ansonsten hat sie alle Freiheiten in der Gestaltung. Ein paar Entwürfe hat sie bereits erstellt und ist schon ziemlich zufrieden damit. Ein ganz einfaches simples Design wurde gewünscht, so wie es heute in Mode ist. Zufrieden sendet sie es David per E-Mail. Mal sehen, was er meint. Die Zeit vergeht wie im Fluge. Um 14.00 Uhr will sie los, um vor dem Gebäude der Opferhilfe für häusliche Gewalt auf, wie hieß sie nochmal, Karen Maier zu warten. Heimlich will sie ein paar Bilder von ihr machen, sie muss ja wissen, wie sie aussieht. Danach fährt sie zu Karen nach Hause, die Adresse hat sie. Wartet im Auto vor der Tür und hofft, dass sie sich mit ihrem Mann zeigt. Laut Akte der Opferhilfe hat sie um ein Treffen gebeten, weil er sie immer öfters schlägt, beschimpft und zum Geschlechtsverkehr zwingt. Karen weiß nicht, was sie tun soll, und hat Angst vor den Konsequenzen, wenn sie etwas gegen ihren Mann unternimmt. „Du weißt genau, was zu tun ist, Karen! Hau ab, hau ab, solange du kannst“, denkt Ruby laut. Auf Google Maps hat sie gesehen, wo sie wohnt. Mit der Satellitenansicht ist es, als wäre man direkt vor Ort. Zudem konnte sie sehen, dass es vor direkt dem Haus Parkplätze gibt, von denen nur einer frei sein muss.

 

24 Montagnachmittag

Scheiße, was mache ich hier eigentlich?, denkt Ruby, als sie vor dem Haus der Opferhilfe steht. Es ist richtig Ruby, irgendjemand muss etwas unternehmen, versucht sie selber einzureden. Verrückt, ich gehe mit einem Polizisten aus und bin auf dem Weg, das Gesetz zu brechen. Ich muss es tun, ich schulde es ihnen, ich schulde es mir.
Ich werde dem Schwein einen netten, schmerzhaften Denkzettel verpassen. Auf Facebook hat sie Karen Maier gesucht und ein paar Einträge gefunden. Ein ziemlich gängiger Name. Sie hat die Profilfotos ausgedruckt und wird die Bilder mit jeder Person, die ins Haus geht, abgleichen. Hoffentlich gibt es eine Übereinstimmung. Es dauert nicht lange, bis die erste Person sich auf den Weg zum Haus der Opferhilfe macht. Eine blonde Frau mit Altfrauenrock und Brille, unscheinbar, aber selbstsicher. Nein, das ist sie nicht. Zwei Minuten später kommt noch eine junge Frau, nein, auch nicht. Und da ist sie. Sie sieht genauso aus wie im Facebook-Profil. Unsicher schaut sie sich um, als hätte sie Angst, dass jemand sie sehen könnte. Blasses Gesicht, schwarz gefärbte Haare, Sonnenbrille. Ruby geht davon aus, dass sie die Brille nur benutzt, um ein geschundenes Auge zu verbergen, da die Sonne kaum durch die dicke Wolkenschicht dringt. Zwischen 30 und 32 Jahre alt, schätzt Ruby. Karen trägt enge modische Jeans, ein dunkelblaues Shirt und vermittelt das Gefühl, dass sie nicht hier sein will. Nicht hier und auch nirgendwo sonst. Sie würde gerne verschwinden aus dieser Welt, aus diesem Leben. „Okay Ruby, Zeit für den zweiten Schritt. Komm Herkules, los geht’s!“ Herkules ist der Name ihres Audi TT, sie hat ihn so getauft, weil sie der Meinung war, dass ein Auto einen Namen haben soll und Herkules passt wunderbar. Ohne Eile fährt sie zur Adresse von Karen Maier, die der Akte der Opferhilfe zu entnehmen war. Nach 15 Minuten ist sie schon am Ziel. Und siehe da: ein freier Parkplatz genau vor der Haustür. „Guck an, dem Universum gefällt mein Plan, was meinst du Herkules?“ Sie stellt den Motor ab und surft auf ihrem Smartphone ein bisschen im Internet. David hat geantwortet, hat ihr eine E-Mail gesendet. Ihm gefällt das Logo ganz gut, aber ein paar kleine Änderungen würde er trotzdem vornehmen wollen. Morgen im Büro möchte er es gerne besprechen. Es vergehen zwei lange Stunden, bis Karen plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht. Hastig verschwindet sie in der Haustür, keine zwei Minuten später kommt sie auch schon wieder heraus. Mit einem Typen. Ist er das? Scheiße, woher soll sie das wissen? Gespannt beobachtet sie die beiden. Er geht zwei Meter vor ihr, sein Gesichtsausdruck zeigt Ruby, dass er genervt ist. Karen scheint ihm etwas zuzurufen und hat sichtlich Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Er bleibt stehen, dreht sich schnell zu ihr um und schreit sie an. Er fuchtelt wild mit den Armen. Ein Arschloch, wie es im Buche steht. Knips-knips! Ruby macht Bilder, das muss er sein. Er schreit Karen immer noch an. Ruby kann Stimmen hören, aber nicht, um was es geht. Der Typ hebt die Hand, und Karen duckt sich weg. Jepp, eindeutig, das ist er!



25 Montagabend

Ruby ist auf dem Nachhauseweg, als Nils anruft. Erfreut nimmt sie seinen Anruf entgegen.
„Hi“, sagt sie.
„Hallo, bist du unterwegs?“, will Nils wissen.
„Ich bin gerade im Auto, auf dem Nachhauseweg.“
„Du fährst und bist am Telefon?“, fragt er ermahnend.
„Ja, du hast mich angerufen“, grinst Ruby verschmitzt.
„Mh ja, also dann schnell, ich habe in einer halben Stunde Feierabend. Soll ich etwas zum Essen bringen, oder willst du lieber allein sein, oder
so?“Oder so, da ist es wieder, zu süß.
„Ich fände es sehr schön, wenn du kommen würdest.“
„Okay, dann bis gleich, bye.“ Vierzig Minuten später steht er lächelnd vor der Tür.
„Was gibt’s zu essen?“, fragt Ruby hungrig. Es ist schon 20:30 Uhr, und sie hat seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen. „Ich habe was vom Chinesen geholt. Reis und Teigwaren, Chicken Sweet Sour, und noch so ein Curry Chicken. Ich hoffe, du magst was davon.“
Dieser Mann ist einfach zu allem zu gebrauchen. „Du hast voll ins Schwarze getroffen, Chicken Sweet Sour ist perfekt.“ Ruby bedankt sich mit einem Kuss. Gut gelaunt genießen sie ihr Essen und reden angeregt. Danach stellen sie das Geschirr in die Spüle. Ruby findet, dass die Küche der Hölle entsprungen sein muss. Du räumst auf, und im nächsten Augenblick ist es wieder schmutzig.
„Wollen wir „The Good Place“ weiterschauen?“, kichert Ruby. „Vielleicht bekommen wir diesmal etwas mehr von der Serie mit.“ Schon küssen sie sich wieder leidenschaftlich, verliebt, innig wie zwei zusammengehörige Puzzleteile.
„Was hast du mit mir angestellt, Ruby Bergmann? Du hast mir den Kopf verdreht, du kleines verrücktes Ding.“ Sie muss lachen.
„Ich weiß es nicht, großer alter Mann.“
Er schaut sie gespielt empört an: „Also hör mal!“ Mit Schwung wirft er sie sich über die Schulter, geht ins Wohnzimmer, setzt sie sanft aufs Sofa und sagt:
„Ich liebe dich.“ Sie schaut ihn an, ihr wird heiß und kalt. Scheiße, er erwartet, dass sie jetzt auch „Ich liebe dich“ sagt. Wieso kann sie es nicht? Er schaut sie an und merkt, dass sie sich unwohl fühlt.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragt er unsicher.
„Nein, Nils, es ist nur, es ist so: Ich habe Probleme, Gefühle in Worte zu fassen. Ich fühle viel, stark und tief, aber ich kann es nicht in Worte fassen. Ich kann es nicht sagen, ich habe in meinem Leben noch nie zu jemanden gesagt, dass ich ihn oder sie liebe. Es geht einfach nicht. Es verunsichert mich, es sind drei Worte mit so viel Kraft und Verantwortung, Verletzlichkeit und Angst. Es geht einfach nicht, noch nicht.“ Ruby ist überrascht, wie leicht es ihr gefallen ist, ihm das zu sagen. Sie ist erleichtert, fühlt sich befreit.
„Nimm dir alle Zeit der Welt. Ich muss es nicht hören, um es zu fühlen“, sagt er und schaut ihr tief in die Augen. Oh, mein Gott, dieser Mann ist direkt vom Himmel vor ihre Füße gefallen. Als Dank und vor Erleichterung küsst sie ihn und hält ihn fest. Er erwidert ihre Umarmung. Sie will diesen Moment festhalten und nie mehr loslassen. Nach einer Weile lösen sie sich und küssen sich leidenschaftlich und innig. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemals über den ersten Teil von „The Good Place“ hinauskommen, ist sehr
gering.
Verträumt und irgendwie entrückt liegen sie im Bett, als sie vom Klang der Türklingel in die Realität zurückgeholt werden.
„Schon wieder? Was soll das?“, fragt Ruby in den Raum hinein.
„Warte“, sagt Nils. Er hebt seine Hose vom Boden auf und zieht seine Waffe aus dem Holster.
Beeindruckt schaut sie ihn an. Ihr ist vorhin schon aufgefallen, dass er eine Waffe trägt.
„Ich bin Polizist, ich habe eine Lizenz dafür.“ Er zwinkert ihr zu und geht zur Tür. Nils blickt durch den Spion: niemand zu sehen. Vorsichtig öffnet er die Haustür. Weit und breit keine Menschenseele. Er schaut nach unten, da liegt wieder ein Herz aus Stoff, ein schwarzes Herz.
„Bist du sicher, dass du keinen heimlichen Verehrer hast?“, fragt er unsicher.
„Nein“, sagt sie ängstlich.
„Jemand spielt ein Spiel mit dir“, bemerkt Nils. Er geht zum Fenster und schaut auf die Straße hinunter. Nichts Auffälliges, nur ein paar einzelne Fußgänger.
„Das gefällt mir gar nicht.“
„Mir auch nicht, aber wir können jetzt nichts tun“, bemerkt Ruby. „Oder willst du die Polizei rufen?“ Sie grinst.
„Ich habe eine bessere Idee. Wollen wir noch ein bisschen „The Good Place“ schauen?“
„Den ersten Teil?“ Sie lachen. Doch dann fragt er besorgt:
„Aber du musst doch raus morgen. Es ist schon sehr spät, vielleicht sollten wir etwas schlafen.“
„Ja, Papa“, erwidert sie augenrollend. Er packt sie und wirft sie aufs Bett.
„Du hast es so gewollt.“ Sie können einfach nicht genug voneinander kriegen. Wie zwei verliebte Teenager.

 

26 Dienstagmorgen

Nils ist wie immer zuerst wach, er duscht und denkt über die geheimnisvollen Herzen nach. Was soll das bedeuten? Wer legt diese Herzen jedes Mal, wenn sie zusammen sind, vor die Tür? Ist Ruby in Gefahr? Er sorgt sich. Das nächste Mal treffen sie sich bei ihm, beschließt er. Als er zurück ins Schlafzimmer geht, schläft Ruby noch immer tief und selig.
„Hey, Dornröschen.“
„Nein, es ist viel zu früh.“„Du wolltest gestern nicht schlafen, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Aber du kannst noch eine halbe Stunde liegen bleiben. Ich muss los. Wollen wir uns heute bei mir treffen?“
„Wo wohnst du?“
„Ich sende dir die Adresse später per WhatsApp.“
„Okay“, sagt sie. Doch plötzlich schreckt sie hoch: „Nein, ich kann ja heute nicht, ich gehe mit meinem Vater, also Bernd, essen. Wie wär’s morgen?“, lügt sie.
„Oh, das hast du mir gar nicht erzählt. Okay, dann morgen gegen 20 Uhr?“
„Ja, das klingt perfekt.“ Müde lächelt sie ihn an. Er lehnt sich über sie und küsst sie sanft auf die Stirn. Oh, er macht es wieder, ich liebe es, wenn er das tut.
„Tschüss, ich wünsche dir einen schönen Tag.“ Er schickt eine Kusshand und verschwindet. Selig sitzt sie im Bett. Ich bin glücklich und verliebt. Und heute werde ich etwas tun, was alles in Gefahr bringen kann. Was, wenn mich jemand erwischt? Wenn die Polizei auftaucht? Wenn Nils kommt? Es darf nicht passieren, du musst gut sein, Ruby, jeder Handgriff muss sitzen, du hast nur einen Versuch, denkt sie. Sie packt ihren schwarzen Hoodie ein, das schwarze Gesichtstuch, schwarze Hosen und den Schlagstock ihrer Oma mütterlicherseits. Eine liebe Oma, sie hat sie nicht oft gesehen, aber wenn sie bei ihr zu Besuch war, hatte sie immer das Gefühl, dass Oma sich für sie interessierte. Natürlich wusste Oma nicht, welches Martyrium Ruby zu Hause durchlebte. Wenn sie Ruby fragte, woher sie die Verletzungen hatte, hat Ruby jedes Mal gelogen: Vom Pferd gefallen, mit dem Bike gestürzt… Ob Oma es geglaubt hat? Sie hat immer gesagt: „Du bist mein kleines Teufelsmädchen.“ Sie liebte es, wenn Oma das sagte. Ruby fand, dass es sich verwegen anhörte, nach jemandem, der sie mal sein wird, irgendwann, wenn sie älter ist. Oma hatte eben diesen Schlagstock neben ihrem Bett. Ein massiver Eisenstock, den man auf Knopfdruck ausfahren konnte. Oma hatte Angst vor Einbrechern, an ihrer Haustür hatte sie vier Schlösser und zwei Ketten. Nach ihrem Tod war Ruby sehr traurig. Nach kurzer schwerer Krankheit verschied sie innerhalb weniger Wochen. Ruby war Omas Liebling. So, Schlagstock eingepackt. Überzeugt von ihrem Vorhaben, fährt sie mit Herkules zur Arbeit. Herkules ist ihr Traumauto, ihrer Meinung nach passt er perfekt zu ihr: frech, klein, stark. Ist sie stark? Sie weiß es nicht, aber sie glaubt es gerne.
Der Tag vergeht schnell, denn sie hat viel zu tun. Um 16 Uhr ruft ihre Mutter an.

„Hallo, Ruby.“
„Hi Mom.“ Ihre Mutter nervt sie langsam.
„Du wolltest doch anrufen“, sagt sie vorwurfsvoll. „Wegen des Essens.“
„Sorry, hätte ich noch gemacht.“ Ruby hat es vergessen.
„Bist wohl beschäftigt mit deinem ... Freund.“
„Ja, bin ich.“
„Ich finde ja, dass er zu alt für dich ist. Wie alt ist er überhaupt?“
„Mom!“ Sie hätte gerne gesagt, dass sie das nichts angeht, will aber die Gefühle ihrer Mutter nicht verletzen. „Er ist 41“, antwortet Ruby widerwillig.
„41!“, schreit sie ins Telefon. Ruby hält den Hörer auf Distanz. „14 Jahre, er ist 14 Jahre älter als du, das geht doch nicht, er könnte fast dein Vater sein! Dieser Mann hat doch ganz andere Lebensansichten, Träume und Wünsche. Er will sicher bald Kinder. Das willst du doch
nicht, Ruby, oder?“
„Mom, wann wolltest du essen gehen?“ Ruby nervt es, dass sie sich in ihr Leben einmischt, weil sie als Mutter und Ehefrau versagt hat. Sie hätte einen Ausweg suchen müssen, aus der beschissenen Situation, für sie und vor allem für Ruby. Es gibt immer einen Plan B und C und D. Das Alphabet hat 26 Buchstaben, und so viele Auswege gibt es! Aber wahrscheinlich fand sie das bequeme Leben angenehm. Sie musste nicht arbeiten, hatte alles, und geschlagen hat er ja nur Ruby. Jetzt ist sie wütend, und es kommt alles hoch, die Anklage, der Schmerz. Aber sie schluckt es hinunter. Wie immer keine Gefühle, einfach Schnauze halten und weitermachen, als ob nichts gewesen
wäre.
„Behandelt er dich denn anständig? Ist er gut zu dir?“ Schließlich explodiert Ruby:
„Vertrau mir Mom, ich mache nicht denselben beschissenen Fehler wie Du und heirate einen Arsch, nur weil er Kohle hat. Noch nie hat mich ein Mann so gut behandelt wie Nils, es war dein Mann, der mich misshandelt hat, vergiss das nicht!“ Totenstille am Telefon, dann:
„Wie wäre es morgen?“, fragt ihre Mutter, als hätte sie Ruby nicht gehört. Ruby spielt mit.
„Morgen geht nicht, da bin ich bei Nils zu Hause. Dann haben wir die ganze Nacht wilden, zügellosen Sex. Donnerstag geht.“
Wieder werden Rubys Worte gekonnt ignoriert. „Dann also Donnerstag im Kartoffelkönig?“
„Ja, ist gut um 20 Uhr?“
„Ja, sehr schön.“
„Lebt er jetzt bei dir?“, fragt Ruby gereizt.
„Was?“
„Bernd, wohnt er bei dir?“
„Für den Moment schon.“ Das ist natürlich okay, normal und wunderbar, denkt Ruby. „Also bis Donnerstag.“

 

27 Dienstagabend

Es ist 19 Uhr, Ruby hat vor dem Wohnblock geparkt, in dem Karen Maier und ihr Mann wohnen. Bei McDonald’s hat sie sich einen Chicken Burger geholt und isst ihn jetzt im Wagen. Sorry, Herkules, ich weiß, dass du es nicht magst, wenn du nach McDonald’s riechst. Sie hört ein Hörbuch, einen Thriller von Sebastian Fitzek; es ist spannend, aber sie kann sich nicht konzentrieren und macht den Ton aus. Gelangweilt wartet sie darauf, dass der Mann seine Wohnung verlässt. Hoffentlich hat sie Glück. Die Zeit vergeht, es ist schon 21:15 Uhr, langsam kommen ihr Zweifel. Vielleicht ist der Plan zu verrückt? Will ich wirklich alles aufs Spiel setzen, nur um irgendwelchen Horror-Ehemännern eins auszuwischen? Ruby denkt nach. Ja, ich will. Plötzlich kommt der Typ tatsächlich aus dem Haus. Alleine, sie kann ihr Glück kaum fassen. Ruby steigt aus und folgt ihm möglichst unauffällig, die Kapuze ihres Hoodies tief ins Gesicht gezogen. Wo will er hin? Gespannt folgt sie ihm, über mehrer Straßen, ihr ist klar, wo er hin will: Er geht in die nächste Bar. Und jetzt? Soll sie draußen warten, drinnen warten? Nein, zu viele Menschen, zu viel Alkohol. Aufgeregt setzt sie sich auf eine Bank auf der anderen Straßenseite, von der aus sie die Bar im Blick hat. 23:20 Uhr. Wann schließt so eine Bar? Piep, eine Whatsapp-Nachricht von Nils.
„Hi, wie war dein Abend? Bist du schon zu Hause?“
„Hi, nein, bin noch unterwegs, schlafe vielleicht bei meiner Mutter“, schreibt sie, falls er mit dem Gedanken spielt, die Nacht bei ihr verbringen zu wollen.
„Okay, schlag gut. Freue mich auf morgen“. Hat er wirklich „schlag gut“ geschrieben? Ruby lacht. Noch ein Wink des Schicksals.
„Das werde ich, ich liebe dich“, schreibt sie und empfindet es auch von
ganzem Herzen. Gefühle niederzuschreiben, macht ihr keine Probleme, nur sie auszusprechen.
„Ich dich auch“. 00:10 Uhr. Endlich geht die Tür der Bar auf und der Typ kommt raus. Offensichtlich total besoffen. Ruby stellt sich Karen vor, wie sie gelähmt vor Angst zu Hause auf ihren Mann wartet und genau weiß, in welchem Zustand ihr Mann zur Tür reinkommt. Wer weiß, was er mit ihr anstellt. Ruby überquert die Straße und verfolgt ihn. Der ist so besoffen, der würde nicht einmal bemerken, wenn ich seine Schuhe während dem Laufen zusammenbinden würde. Abschaum, Widerling, ich hasse dich, ohne dich zu kennen. Ruby ist wütend, es fühlt sich an, als ob dieser Mann sie missbraucht hätte. Er biegt in eine dunkle Straße ein. Jetzt muss es schnell gehen. Aufmerksam schaut sie sich um, zieht den Stock ihrer Oma aus der Tasche, drückt auf den Knopf, der zuverlässig wie ein Schweizer Taschenmesser aufspringt. Träge dreht sich Karens Mann um. Ruby schlägt zu, auf den Kopf, sie trifft nicht gut, er strauchelt und flucht. „Was willst du?“, lallt er. Sie darf nicht sprechen, er darf nicht wissen, dass sie eine Frau ist. Noch ein Schlag, diesmal auf die Stirn. Blut spritzt aus einer großen Wunde. Er geht zu Boden und bleibt schwer atmend liegen. Ruby zieht einen Zettel aus ihrer Hoodietasche. Den Text hat sie aus Zeitungsschnipseln zusammengesetzt: FÜGE DEINER FRAU NIE MEHR SCHMERZEN ZU ODER DU BIST TOT. Das Papier legt sie in seine Hand und schließt sie zu einer Faust. Schnell rennt sie davon. Im Auto angekommen, zieht sie ihren Hoodie aus. Zitternd vor Aufregung lässt sie den Motor an. „Schnell weg von hier“, sagt sie laut. Sie fährt nach Hause, fühlt sich high von dem Adrenalinausstoß. Das war einfacher als gedacht. Hat sie die Welt ein bisschen besser gemacht? Sie fühlt sich stark, ein Teufelsmädchen. Sie hat ihr Leben im Griff, ist kein Opfer, kann Dinge ändern und keiner hat Macht über sie. Über die Art und Weise kann man ja diskutieren, aber… Extreme Situationen erfordern extreme Maßnahmen, denkt sie und fährt zufrieden nach Hause.
Daheim angekommen, trinkt sie noch ein Glas Milch, es ist schon 1:00 Uhr. Eine Coke wäre jetzt nicht schlecht, aber das Koffein würde sie nicht schlafen lassen. Es wird ohnehin schwer sein, zur Ruhe zu kommen. Sie vermisst Nils, hat Lust auf ihn. Das wäre die Krönung des Abends, heißer Sex mit meinem heißen Lover. Sie grinst. Ach, was soll’s, heute ist die wild und frei. Beflügelt geht sie zum Kühlschrank und holt sich eine eiskalte Cola Light.

 

28 Mittwoch

Immer wieder hat Ruby die Online-Nachrichten aufgerufen. Wird etwas über ihren Anschlag berichtet? Aber sie hat nichts gefunden. Klar, was will der Kerl denn erzählen? Die Polizei würde ihn fragen, was der Zettel zu bedeuten hat. Nils hat seine Adresse gerade per WhatsApp gesendet. Kreuzberg, wow, nette Gegend. Ruby ist gespannt auf seine Wohnung. Hoffentlich hat er keine Bilder von seiner verstorbenen Frau an der Wand hängen. Das wäre schräg. Die Zeit bei der Arbeit vergeht schnell, wie eigentlich immer. Sie liebt ihre Arbeit. Kreativ zu sein, schafft ihr die Befriedigung, aus nichts etwas Schönes zu erschaffen, zu kreieren, das ist eine tolle Sache. Auch wenn es manchmal Aufträge gibt, die nicht so spannend sind. Wenn die Kunden genau wissen, was sie wollen und sie überhaupt keine Freiheit in der Umsetzung hat, findet sie das langweilig. Aber zum Glück kommt das eher selten vor.
Was soll ich denn mitbringen? Ich habe ihn gar nicht gefragt, ob ich etwas mitbringen soll. Ich weiß gar nicht, was wir unternehmen. Essen? Ob er Netflix hat?, denkt Ruby. Gut gelaunt tippt sie schnell eine WhatsApp-Nachricht: „Soll ich etwas mitbringen?“ Die Antwort kommt sofort:
„Kondome, Lach-Smiley, Lach-Smiley, Lach-Smiley“. Ruby muss lachen
„Wirklich?“
„Nein, schon für Vorrat gesorgt, bring ein paar Dosen Coke mit, das Zeug macht süchtig.“ „Okay.“ Ruby und fährt los, unterwegs macht sie Halt bei einer Tankstelle und holt ein paar Dosen Cola Light und... ein kleines Stoffeinhorn. Das findet er sicher albern, aber egal. Ruby findet es süß. Gespannt auf den heutigen Abend parkt sie genau vor dem Haus, in dem sich Nils‘ Wohnung befindet. Sein Auto steht da. Voller Vorfreude steigt sie die Stufen hoch und platzt fast vor Neugier. Sie klingelt. Augenblicklich öffnet Nils die Tür und grinst.
„Hallo“, sagt er und küsst Ruby auf den Mund. Er sieht sensationell aus, trägt beige Shorts und ein weißes Hemd.
„Hi.“ Sie folgt ihm in die Küche. Die Wohnung ist modern und groß, die Decke extrem hoch. Die Küche ist rot-weiß mit einer kleinen Kochinsel und wurde vermutlich noch nie benutzt.
„Wow“, sagt Ruby ehrlich beeindruckt.
„Wow was?“
„Die Küche.“
„Ah so ja, die Wohnung wurde vor einem Jahr neu renoviert, drum sieht alles noch neu und ungebraucht aus.“
„Ich habe irgendwie etwas anderes erwartet“, sagt Ruby.
„Was hast du denn erwartet?“
„Weiß nicht genau, irgendwie eine Altmännerwohnung.“ Er schaut sie mit großen Augen an, sie lacht.
„Ein Altbau oder so irgendwas, ich weiß nicht, kleiner. Verdient man so gut als Polizist?“ Er lacht: „Nein, aber meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben und hat mir eine gute Summe Geld vererbt. Das habe ich in meine Wohnung investiert.“ Schlauer Mann und so vernünftig. Seine Mutter scheint jung gestorben zu sein. Aber sie wird sich hüten, ihn danach zu fragen.
„Darf ich den Rest der Wohnung auch sehen?“
„Ja, klar.“ Ruby folgt ihm durch die Wohnung. „Hier ist das Wohnzimmer.“ Beeindruckt tritt Ruby ein, ihr Blick fällt auf das an der Wand hängende Mountainbike.
„Ein Bike an der Wand, echt?“
„Ja, mein ein und alles.“ Gespannt beobachtet Nils Rubys Reaktion.
„Muss ich eifersüchtig sein?“
Er lacht: „Nein, stört es dich?“
„Ich finde es super.“ Er küsst sie. Die erste Frau, die das sagt.
„Und du lachst über meine Unterwäsche.“
Das Bad ist hell und riesig. Die Dusche hat Düsen mit vielen verschiedenen Einstellungen. Der Boden ist dunkelgrau, die Kacheln hellblau. Wunderschön.
„Auf ins Schlafzimmer“, sagt Nils beschwingt. Das Schlafzimmer ist hell wie die ganze Wohnung. Das Bett ist schwarz und riesig, breit, lang, überdimensional.
„Wie viele Leute können in diesem Bett schlafen?“ Das ist eine heikle Frage, bemerkt Ruby.
„Zwei oder mehr, fünf maximal“, meint Nils verschmitzt. Ruby ignoriert ihn. Hat er es schon ausprobiert? Sie will es nicht wissen.
„Toll, deine Wohnung ist wirklich wunderschön. Aber dir fehlen Bilder“.
„Ich weiß. Ich habe keine Idee, was ich aufhängen könnte.“
„Ich male dir mal ein paar Bilder“, sagt Ruby.
„Versprochen?“
„Willst du?“
„Ja sicher.“
„Na dann.“
„Ich male dir ein Einhorn.“
Er lacht: „Okay, ich hänge es auf.“
„Oh, da wir gerade von Einhörnern sprechen: Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht.“
„Geschenk, das klingt gut.“ Sie gehen zurück in die Küche. Ruby nimmt die Cola aus der Plastiktasche und hebt sie das kleine weiße Einhorn in die Höhe.
„Das bin ich“, bemerkt sie.
„Das sehe ich“, sagt er und küsst sie auf die Wange.
„Woran siehst du, das?“ Will sie wissen.
„An den Augen, es hat deine Augen.“
Ruby schaut das kleine Einhorn nochmals an. Verrückt! Stimmt, es hat meine Augen.
„Danke, das werde ich immer bei mir tragen.“ Sie ist gerührt. „Was wollen wir kochen?“
„Ich weiß nicht, was hast du im Kühlschrank?“
„Ich dachte an Chicken mit Reis und Curry.
„Klingt super.“ Gemeinsam schnippeln und kochen sie, danach machen sie im Team alles sauber.
„Wie war dein Tag?“, fragt er.
„Gut.“ Okay, das klingt nicht so überzeugend, denkt er.
„Gut, und sonst nichts? Wie war es mit deiner Mutter und deinem Vater?“
„War okay. Ich muss mich daran gewöhnen, an die Situation, ich brauche noch etwas Zeit“, lügt sie. Wie gerne würde sie ihm ausführlich erzählen, was sie wirklich getan hat. In allen Details und wie gut sie sich danach gefühlt hat, stark und überlegen. Aber sie sagt:
„Er ist nett. Vielleicht gehe ich mal alleine mit ihm essen, er lebt jetzt bei meiner Mutter.“
„Oh, das ging ja schnell.“
„Übrigens glaubt sie immer noch, dass du zu alt für mich bist. Sie
meint, du könntest fast mein Vater sein.“
„Und was glaubst du?“, will Nils wissen.
„Dass ich auf alte Männer stehe“, sagt sie, küsst ihn auf den Mund und spaziert lächelnd ins Wohnzimmer.
„Das ist ein tolles Rad, benutzt du es auch?“
„Klar, immer, wenn ich Zeit habe. Das Bike ist mein Ventil, meine Freiheit. Auf dem Bike kann ich vergessen, da gibt’s nur mich und das Fahrrad. So wie bei dir das Pferd.“
„Ich würde Hipster auch gerne an die Wand hängen, wenn ich könnte.“
„Das arme Pferd“, lacht er.
„Ach, wenn er genügend zu fressen hätte, wäre es ihm egal, ob er an der Wand hängt.“
Ruby betrachtet nun das Fahrrad ganz genau. „Ist das Carbon?“
Er guckt sie verdutzt an: „Das Bike?“
„Nein, das Sofa. Natürlich das Bike, was denn sonst?“ Jetzt ist er absolut sicher, dass Ruby seine Traumfrau ist.
„Ja, es ist Carbon. Gut erkannt,“ sagt er beeindruckt.
„Hast du Netflix?“, fragt Ruby. „The Good Place?“ Sie müssen Netflix gar nicht einstellen, nur aussprechen, und sie fallen übereinander her.


29 Donnerstag

Heute steht für Ruby ein Essen mit ihrem „Vater“ an. Sie weiß nicht, warum sie so unmotiviert ist, ihn zu sehen. Es ist doch was Schönes. Anstatt einem Scheißvater, der gewalttätig ist, hat sie einen, der den Schwanz eingezogen und das Weite gesucht hat. Na ja, vielleicht wird es ja trotzdem ganz nett. Um 20 Uhr haben sie beim Italiener abgemacht. Pizza geht immer. Ihre Mutter und Bernd – sie bevorzugt es ihn Bernd zu nennen als Vater, Vater hört sich falsch an – stehen schon vor der Pizzeria und erwarten sie freudig. Rubys Freude ist gedämpft, sie fühlt sich rebellisch, bockig, genervt. Viel lieber wäre sie jetzt mit Nils beim Netflix gucken. „Hi Mom, Hi Bernd.“
„Hallo Ruby“, sagen sie im Chor. Meine Mutter sieht gut aus, erholt, glücklich, sie blüht auf. Schön für sie. Wir gehen rein und setzen uns an den uns zugewiesenen Tisch. Ich schaue Bernd an, okay, jetzt weiß ich, woher ich die blauen Augen habe. Ich habe mich immer schon gefragt, von wem ich die blauen Augen habe. Meine Mutter hat braune Augen, mein Vater oder eben nicht Vater hatte auch braune Augen. Bernd ist ein gut aussehender Mann, sympathisch, gepflegt, es hätte mich schlimmer treffen können. Wir machen ein bisschen Small-Talk, bis die Pizzen kommen. Als sie endlich eintreffen, esse ich konzentriert meine Prosciutto.
„Du magst Pferde?“, fragt Bernd plötzlich. Oh Gott, er spricht mit mir wie mit einem kleinen Mädchen.
„Ja, ich mag Pferde.“
„Hast du ein eigenes?“ Als wüsste er das nicht schon.
„Ja, hab‘ ich.“ Ihre Mutter fühlt sich sichtbar unwohl und fragt sie nach Nils.
„Ist er gut zu dir, Kind?“ Ruby kann es nicht fassen.
„Noch nie war ein Mann so gut zu mir“, sagt sie schnippisch.
„Ich finde ja, dass der Letzte viel besser zu dir gepasst hat, wie hieß er nochmal?“
„Er hieß Michael, Mutter. Und nein, wir passten nicht zusammen, deshalb sind wir es auch nicht mehr. Er war ein Psychopath.“ Was glaubt sie eigentlich, wer sie ist?
Rubys Mutter bemerkt nicht, dass Ruby kurz vor einer Explosion steht, und spricht weiter:
„Ich glaube, er nutzt dich nur aus. Sex zu haben mit einer so jungen Frau kann für einen älteren Mann sehr aufregend sein.“
Ruby spürt, wie Röte in ihr Gesicht steigt und ihr Herzschlag sich um das Zehnfache beschleunigt.
„Ich bin früher auch geritten“, versucht Bernd die Unterhaltung zu retten.
„Ah ja?“, fragt Ruby nur aus Höflichkeit.
„Ja, ich bin an manchen Wochenenden im Rennstall in Köln im Training geritten. Ich hatte einen Freund, der ein Rennpferd hatte. Er hat mich zum früh Training eingeladen und es hat mir so gut gefallen, dass ich jedes Wochenende zum Rennstall ging.“
„Ah cool“, sagt sie und meint es auch so. Ruby ritt früher auch im Rennstall, wollte die Amateurlizenz machen, aber irgendwie kam es nie zustande. „Jetzt reitest du nicht mehr?“
„Nein, leider nicht.“ Wieso leider? Wenn er reiten will, kann er es ja wieder tun. Denkt sie feindselig. Da sitzen sie und meinen, sie können einen auf heile Familie machen. Ruby ging durch die Hölle, weil keiner der beiden den Arsch in der Hose hatte, etwas dagegen zu machen. Jetzt ist die Gefahr vorbei und sie kommen angekrochen. Nicht mit ihr, nicht heute.
„Mom, ich muss schon wieder gehen. Ich habe noch Arbeit, die bis morgen fertig sein muss.“
„Oh, wie schade.“
„Ja, finde ich auch. Ihr könnt ja noch bleiben und euch unterhalten. Ich gehe jetzt lieber, sonst wird es zu spät.“ Ihre Mutter und Bernd haben kaum Zeit zu reagieren.
„Willst du nicht noch einen Nachtisch? Ein Tiramisu?“
„Nein Mom, ich muss jetzt wirklich, sorry.“
Ruby steht auf, gibt ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, sieht Bernd an. „Tschüss“, sagt sie knapp und verlässt hastig das Lokal.
Was erwarten sie von Ihr? Melissa hat jahrelang zugesehen, wie ihr Mann Ruby misshandelt hat, ihr nur Hass und Ablehnung entgegenbrachte, wie sie nie gut genug für ihn war. Und immer hat sie weggesehen, es einfach ignoriert, so getan, als ob die Welt in Ordnung sei. Und jetzt fragt sie allen Ernstes, ob Nils gut zu ihr ist. Nils, sie braucht ihn sofort.
Ruby nimmt ihr Smartphone raus und sendet ihm eine WhatsApp. Sie hasst es zu telefonieren. Zum Sprechen muss sie das Gesicht des Anderen vor sich haben, sonst fehlen ihr wichtige Informationen. Am Telefon fühlt sie sich unsicher. Also geht sie möglichst jedem Anruf aus dem Weg.
„Hey, alter Mann“, schreibt sie.
„Hey, junges Küken“, antwortet er prompt.
„Hast du Lust, noch vorbeizukommen?“, will Ruby wissen und hofft es inständig.
„Würde ich so gerne, aber sie haben mich für die Nachtschicht eingeteilt, weil ein Kollege ausgefallen ist. Ich bin die ganze Nacht
unterwegs. Alles okay mit dir?“
„Ja, das Essen war ein bisschen anstrengend.“
„Das tut mir leid, ich habe erst Samstagabend wieder frei. Morgen hab ich auch Nachtschicht.“ Trauriges Smiley.
„Oh, das ist traurig, aber ich verstehe es.“
„Wollen wir am Samstag essen gehen?“, fragt Nils.
„Ja, gerne. Wo?“
„Wie wär’s mit Griechisch?“
„Ja, okay, schick mir die Adresse.“
„Okay, ich liebe dich Ruby.“
„Ich dich auch.“ Wieso arbeitet er nachts? Denkt sie enttäuscht. Sie braucht ihn so sehr. Würde sie Alkohol trinken, wäre jetzt der Zeitpunkt, an dem sie in eine Bar gehen und sich betrinken würde, als gäbe es kein Morgen.
Sie hasst diese Momente, wenn ihre Seele im freien Fall ist. Wenn sie sich alleine, ungeliebt und abgelehnt fühlt. Zu Hause trinkt sie eine kalte Cola Light und setzt sich vor ihren Laptop. Konzentriert sieht sie sich die Akten an, die sie aus der Hilfe für Opfer der häuslichen Gewalt heruntergeladen hat. Die Seite war erstaunlich leicht zu hacken. Wer erwartet auch, dass sich jemand auf so eine Website einhackt? Zuerst hat sie ein VPN-Programm benutzt, um ihre IP-Adresse zu verändern, für den Fall, dass jemand auf sie aufmerksam würde. Danach hat sie herausgefunden, mit welchem CMS die Seite erstellt wurde. WordPress wird am meisten genutzt. Danach hat sie nach Schwachpunkten gesucht und überraschend schnell gefunden.
Aufmerksam klickt sie sich durch die Namen und Geschichten. Bei einer bleibt sie hängen. Sybille Kalkhoff. Ihr Mann schlägt sie seit 3 Jahren. Die übliche Geschichte, sie lesen sich fast alle gleich. Sybille hat Angst, dass ihr Mann sie umbringt, sollte sie sich trennen wollen. Also erträgt sie die Qualen. Er hat ihr schon einen Arm und den Kiefer gebrochen. Und viele Male zum Sex gezwungen. Er heißt Horst Kalkhoff. Noch ein Widerling, der eine Lektion verdient hat. Findet Ruby
Sie sucht und findet sein Facebook-Profil. Es gibt nur einen Horst Kalkhoff in Berlin. Logisch mit diesem Namen. Schnell hat sie sich durch die wenigen Bilder durchgeklickt. Mukimann, groß, kräftig. Sieht schon wie ein Idiot aus. Die meisten Bilder zeigen ihn mit Freunden in der Bar, mit glänzendem rotem Gesicht und glasigen Augen. Ein paar Bilder im Gym beim Gewichte-Stemmen und ein Bild mit seiner Frau. Eine hübsche Frau, schlank, blonde mittellange Haare, braune traurige Augen. Unsicher lächelt sie in die Kamera, er zieht sie an sich und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Es macht den Eindruck der Präsentation eines Besitzes. Ruby druckt sich ein paar Fotos aus. Morgen wird sie sich um ihn kümmern.

 

30 Freitagabend

Es ist 18 Uhr. Ruby verlässt das Büro. Nils hat ihr den ganzen Tag über tolle Whatsapp-Nachrichten gesendet. Beim Bäcker holt sie ein paar Gipfeli und eine Coke, danach läuft sie zum Wagen. Es ist alles gut vorbereitet, in ihrer Sporttasche befinden sich ihr schwarzer Hoodie, Handschuhe, Feuchttücher, um sich das Gesicht abzuwaschen, und Omas Schlagstock. Sie darf sich keine Fehler erlauben heute, der Typ ist groß und stark. Einmal kräftig zuschlagen, damit er K.O. geht und mit heftigen Kopfschmerzen in der Gosse aufwacht. So nahe wie möglich parkt sie Herkules bei seiner Wohnadresse. Trotzdem muss sie aussteigen, es ist unmöglich, die Haustür vom Wagen aus im Auge zu behalten. Ruby setzt sich auf eine Bank in der Nähe und surft ein bisschen auf Facebook. Er wird ja wohl am Freitagabend mit seinen coolen Freunden auf Sauftour gehen. Darauf verlässt sie sich. Gespannt schaut sie auf Facebook nach, ob Nils ein Profil hat. Nils Kramer gibt sie ein. Facebook spuckt verschiedene Nils Kramer aus. Keiner so hübsch wie meiner, denkt sie lächelnd. Aus Berlin ist aber nur einer mit einem Fahrrad auf dem Profilbild. War ja klar. Er hat ein Bild von seinem Bike und drei Freunden, die ihm zu seinem Geburtstag am 17. November gratuliert haben. Einer davon ist sein Kollege Ralf Teufel. Wie kommt man zu so einem Nachnamen? Und eine Christina Schneider. Eine Blondine mit langen Haaren, dummem Gesicht und noch dümmeren Augen. Sie schreibt: „Sag Bescheid, wenn du feiern willst“. Was soll das denn bedeuten, blöde Kuh. Bin ich eifersüchtig? Da sieht sie im Augenwinkel, dass die Tür des Wohnblocks aufgeht. Wow, wie sie Horst so vor sich sieht, ist er wirklich beeindruckend, ein Bär von einem Mann. Du hast einen Plan und den ziehst du durch, du bist kein Feigling. Teufelsmädchen, denkt sie. Unauffällig folgt sie ihm, er kehrt in die dritte Bar ein, an der er vorbeikommt. Ruby setzt sich draußen hin; gut, dass überall Sitzbänke stehen. 21:30 Uhr. Es wird mindestens zwei oder drei Stunden dauern, bis er wieder rauskommt. Gelangweilt surft sie im Netz. Zum Glück hat sie ihr Smartphone im Geschäft aufgeladen. Gelangweilt besucht sie Reitsport-Shops, legt 1.000 Produkte in den Warenkorb und geht dann zum nächsten Shop. Es macht ihr Spaß, Warenkörbe zu füllen, ohne etwas zu kaufen, obwohl ein neues Kopfstück für Hipster gar nicht schlecht wäre. Hipster, denkt sie sehnsüchtig. Schon fast zwei Wochen war sie nicht mehr bei ihm. Er vermisst sie bestimmt nicht, aber sie ihn. Sonntag wird sie Reiten gehen.
Die Zeit vergeht wie im Fluge. Hätte sie alles gekauft, was sie in den Warenkörben der verschiedenen Onlineshops eingepackt hat, hätte sie eine Unsumme ausgegeben. Am Ende hat sie ein neues Kopfstück und ein Bit erworben. Ein hellbraunes Kopfstück mit pinken Swarovski-Perlen am Stirnband, sehr hübsch. Langsam wird sie nervös. Es ist 00:10 Uhr. Ungeduldig starrt auf die Tür. 00:33 Uhr: die Tür geht auf. Horst kommt – sternhagelvoll. Mit einem Freund. Freund, hau ab! Als hätte der Freund sie gehört, biegt er nach rechts ab, Horst nach links. Unauffällig folgt ihm Ruby. Er bemerkt sie nicht. Sie biegen in eine dunkle Seitenstraße ein. In Zeitlupe und mit größter Vorsicht holt sie Omas Schläger aus der Hoodietasche, schleicht sich an Horst ran… 3,2,1 und Nein! Genau in diesem Moment dreht sich der Berg von Mann um und wehrt den Schlag ab.
„Was soll das?“, ruft er ungläubig. Ruby reagiert schnell und schlägt gleich noch einmal zu. Er geht zu Boden. Sie muss wiederholt zuschlagen! Er ist am Boden auf allen vieren, sie holt weit aus und schlägt nochmal zu. Er regiert kaum. Scheiße, ist der Typ aus Stahl? Ruby gerät in Panik, sie nimmt noch einmal anlauf, doch Horst hält sie am Bein fest und zieht sie mit einem Ruck zurück. Unsanft geht sie zu Boden. Ihr Kopf schlägt auf dem Asphalt auf. Blut läuft aus einer Wunde an der Stirn, Sterne tanzen vor ihren Augen. Sie hat sie Angst, Todesangst. Er setzt sich auf sie, schlägt ihr ins Gesicht, sie spürt, wie Blut aus Mund, Stirn und Nase über ihr Gesicht läuft. Er drückt ihre Arme auf den Boden. Ruby kriegt kaum Luft, er sitzt mit seinem ganzen Gewicht auf ihrem Bauch. Japsend lechzt sie nach Luft.
„Was soll denn das, du dummer Junge, willst du mich etwa ausrauben? Hättest dir jemanden in deiner Größe zum Spielen gesucht“, lacht der Berg von einem Mann. Er zieht ihr die Kapuze weg.
„Du bist ja ein Mädchen! Was hast du denn vor? Willst mich vergewaltigen?“ Er lacht dumm und laut. Ich hasse dich, ich hasse dich, Abschaum. Er schaut sie an, sein Blick hat jetzt etwas Anzügliches. Oh nein, bitte nicht, denkt sie völlig außer sich vor Angst davor, was jetzt passieren wird. Verzweifelt zappelt sie, aber er rührt sich nicht. „Du willst spielen? Na dann, spielen wir ein bisschen.“ Er öffnet den Reißverschluss seiner Hose. Langsam fahren seine großen, groben Hände von ihrem Hals über ihre Brüste bis zu ihrer Hose. Er öffnet sie und lässt sie dabei nicht aus den Augen.
„Das wird ein Spaß“, sagt er gierig. Ruby wird schlecht, sie zittert am ganzen Körper, kriegt kaum Luft. Eine Panikattacke ist im Anmarsch. Es gibt immer einen Plan B, immer, immer. Das nicht, bitte nicht das, das darf nicht passieren. In ihrer puren Verzweiflung entwickelt sie fast unmenschliche Kräfte, vergisst ihre Schmerzen. Mit allerletzter Anstrengung hebt sie flink das rechte Bein an und rammt es mit voller Kraft in seine Weichteile. Er stöhnt vor Schmerz und kippt nach rechts von ihrem Körper. Schnell springt sie auf, in ihrem Kopf dreht sich alles, sie wankt von einer Seite zur anderen, sie kann kaum sich auf den Beinen halten. Komm schon, Ruby, nicht jetzt, das ist deine letzte Chance. In Panik schaut sie sich um, wo ist Omas Schlagstock? Da! Sie hebt ihn auf und schlägt zu. Einmal, zweimal, dreimal immer wieder auf den Kopf. Sie weint. Blut spritzt ihr ins Gesicht. In ihrem Kopf sieht sie ihren Vater vor sich, wie er sie schlägt, immer und immer wieder. Und sie schlägt zu, wieder und wieder. Horst bewegt sich schon lange nicht mehr. Sein Kopf ist eine undefinierbare Masse. „Hey!“, ruft plötzlich jemand aus der Ferne. Ruby läuft, als wäre der Teufel hinter ihr her. Das ist er ja auch. Ihr ganz persönlicher Teufel. Nach wenigen Minuten erreicht sie ihren Wagen. Schluchzend versichert sie sich, dass niemand sie beobachtet. Sie zittert und weint. Ihr Kopf schmerzt. Sie wagt es, sich im Rückspiegel anzusehen und erschrickt. Alles ist voller Blut: Stirn, Lippen, Nase. Ob die gebrochen ist? Die Augen rot verweint. Ich habe ihn umgebracht, er ist tot. Nicht, dass es ihr leidtun würde, aber es war nicht geplant. Doch was hätte sie tun sollen? Er hätte sie vergewaltigt. Es ist wirklich nicht schade um ihn. Mit einem Feuchttüchlein wischt sie sich vorsichtig das Blut aus dem Gesicht. Dann fährt sie nach Hause und duscht ausgiebig. Eine geschlagene Stunde steht sie unter der Dusche, sieht das Geschehene wieder und wieder in ihren Gedanken passieren. Wie erkläre ich die Verletzungen im Gesicht? Was sage ich Nils? Das hätte so nicht passieren dürfen. Dennoch hat sich gut angefühlt. Als hätte sie ihr altes Leben totgeschlagen. All die Jahre, in denen sie sich gegen ihren Vater nicht zur Wehr setzen konnte. Die Jahre, in denen sie seine Gewalt stumm ertragen musste, sie sind vorbei. Heute hat sie ihren Vater zum zweiten Mal ermordet.

 

31 Nils Freitagnacht

Nils ist soeben mit Ralf am Tatort eingetroffen.
„Was haben wir da?“, fragt Nils seinen Kollegen Philip, der schon eine Weile vor Ort ist.
„Horst Kalkhoff, 38 Jahre, wurde brutal erschlagen.“ Nils hebt die Decke an, die über Horst ausgebreitet wurde.
„Wow, da hat jemand ganze Arbeit geleistet, sein Kopf ist vollkommen entstellt. Sieht für mich nach Rache aus. Jedenfalls steckt da ganz viel Wut dahinter“, ist sich Nils sicher.
„Ganz sicher kein Raub“, ergänzt Ralf. „So schlägt jemand zu, der wütend ist, der in einen Rausch gekommen ist.“
„Raub können wir tatsächlich ausschließen, offenbar wurde nichts gestohlen. Alles noch da. Smartphone, Geldbörse mit 50 Euro Bargeld. Kurios, dass seine Hose offen steht“, informiert Philip mit verblüfftem Gesicht.
„Die Hose steht offen?“, wiederholt Nils ungläubig.
„Ja, aber er war sturzbetrunken. Kann sein, dass sie nie zu war.“ Er grinst verlegen. „Er wurde mit einem harten Gegenstand erschlagen, einem Baseballschläger oder Ähnlichem. Wir nehmen an, dass mindestens zwanzigmal zugeschlagen wurde. Der Täter wollte sicher sein, dass er tot ist.“
„Verheiratet?“, fragt Ralf.
„Ja, wir haben seine Frau bereits informiert. Es ist zwar schon spät, aber ihr könnt hin, um sie zu befragen. Sie hat ihr Einverständnis gegeben. Sie wohnt gleich hier um die Ecke in dem Wohnblock.“
„Wie heißt sie?“, will Nils wissen.
„Sibylle Kalkhoff.“
„Dann gehen wir gleich los, komm Ralf.“
Frau Kalkhoff erwartet sie schon, öffnet freundlich die Tür und lässt
die beiden Beamten eintreten. Sybille weint nicht und hat auch nicht geweint.
„Es tut uns leid, was passiert ist“, sagt Nils einfühlsam.
„Danke“, erwidert sie knapp. Schüchtern führt sie die beiden Beamten in das Wohnzimmer. Dieses ist kaum eingerichtet, ohne persönliche Gegenstände, kein Schnickschnack, ganz ohne Persönlichkeit. Nils räuspert sich und fragt vorsichtig:
„Hatte ihr Mann Feinde? Probleme mit irgendwelchen Leuten, die ihm den Tod wünschten?“
„Er hatte Probleme mit vielen Leuten. Er war schwierig, aggressiv, eckte überall an. Aber ich wüsste niemanden Spezifisches.
„Hatten Sie Probleme mit ihm?“
Sie schweigt einen Moment, dann schaut sie Nils an.
„Ganz ehrlich?“ Nils und Ralf nicken. „Ich habe ihn gehasst. Ich bin froh, dass ich ihn nie mehr wiedersehen werde. Wenn ich könnte, würde ich mich bei der Person, die es getan hat, bedanken.“ Nils und Ralf schauen sich erstaunt an. „Er war ein Tier, nein, Tiere sind nicht so. Er hat mich geschlagen, ohne Grund und mit Grund. Wenn das essen zu salzig war, wenn es zu wenig salzig war, wenn es zu kalt oder zu heiß war. Er fand immer einen Grund. Und wenn er Sex wollte, dann holte er ihn sich, ob ich wollte oder nicht. Dabei war er brutal und egoistisch, es ging ihm nur um seine eigene Befriedigung. Ich war ihm egal. Er hatte kein Mitgefühl, mit nichts und niemandem.“ Unsicher fragt Ralf: „Wieso haben sie sich nicht getrennt oder Hilfe
gesucht?“
„Weil er gedroht hat, mich umzubringen, wenn ich zur Polizei gehe, oder an Scheidung denke. Und glauben sie mir, er hätte es getan. Letzte Woche ging ich erstmals zur Opferhilfe für häusliche Gewalt, um mich zu informieren, was ich tun kann. Aber es war keine große Hilfe. Mir wurde die Flucht ins Frauenhaus angeboten. Aber da hätte er mich gefunden, ganz sicher.“ Unwillkürlich denkt Nils an Ruby und
ihre Geschichte.
„Wo waren sie heute vor ungefähr einer Stunde?“, fragt Ralf.
„Ich war hier und hatte Angst davor, was er mir heute wohl antun würde. Aber das kann niemand bezeugen, ich war alleine.
„Ganz ruhig“, sagt Nils, „wir glauben Ihnen.“ Ralf schaut ihn an, er scheint nicht so überzeugt zu sein wie Nils. „Wir wollen Sie nicht länger belästigen. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns.“
Sie verlassen die Wohnung.
„Sie hat das perfekte Motiv“, meint Ralf.
„Ja, aber sie war es nicht, ich bin mir sicher.“
„Aha“, sagt Ralf. „Sie hätte tausend andere Möglichkeiten gehabt, ihn umzubringen, als ihm nachts aufzulauern und ihn zu erschlagen. Außerdem sieht es nicht nach der Tat einer Frau aus.“
„Ah, wie sieht denn die Tat einer Frau aus?“, fragt Ralf interessiert.
„Weiß ich nicht, anders, nicht so.“
„Wohl im Moment etwas hormongesteuert, die Kleine macht dich ganz weich.
„Ach du.“
„Doch das stimmt, du bist plötzlich so ...“, er denkt nach ...„Nett.“
Nils lacht: „War ich das bisher nicht?“
„Doch, schon, aber immer mit so einer Wolke über dem Kopf; die ist weg.“

 

32 Samstag Ruby

Ruby wacht auf. Jeder Zentimeter an ihrem Körper schmerzt. Wie gerädert bleibt sie im Bett liegen, bis sie mutig genug ist, aufzustehen. In ihrem Kopf dreht sich alles. Sofort setzt sie sich wieder. Ihr wird übel, mit schnellen Schritten geht sie ins Bad und übergibt sich. Wahrscheinlich wieder eine Gehirnerschütterung, denkt sie besorgt. Das Gesicht, das sie im Spiegel sieht, kann nicht ihres sein. Ihre Lippe ist geschwollen, so wie die Nase, um ihr linkes Auge ist alles blau-violett gefärbt, auf der Stirn präsentiert sich eine Riesenbeule und eine offene Verletzung, die wahrscheinlich genäht werden muss. Die Augen sind rot unterlaufen. Ich muss zum Arzt, stellt sie nüchtern fest. Was soll ich nur sagen? Ich habe einen Mann totgeschlagen, und es lief nicht ganz so, wie ich es geplant hatte. Er hätte nicht sterben sollen, aber er war ein böser Junge, er wollte mich vergewaltigen, also habe ich ihn wie eine Irre niedergeknüppelt, mit dem Schlagstock meiner Oma, die ich sehr lieb hatte. Keiner wird ihm nachheulen. Ich muss zum Arzt, jetzt sofort. Mit langsamen Bewegungen zieht sie sich frische Sachen an. Dann ruft sie sich ein Taxi. In diesem Zustand möchte sie nicht Auto fahren. Ich werde erzählen, dass ich überfallen wurde, dass mir jemand ins Gesicht geschlagen hat und ich dann hingefallen bin. Das Taxi ist in fünf Minuten da. Mitleidig sieht der Taxifahrer sie an.

„Wo soll es hingehen, junge Frau?“

„Martin-Luther-Krankenhaus.“

„Gute Idee“, erwidert er unnötigerweise. Im Krankenhaus angekommen, fällt der ganze Druck von ihr ab und sie geht sie zu Boden. Eine Krankenschwester kommt angerannt und hilft ihr, sich in einen Rollstuhl zu setzen. Eilig pilotiert sie Ruby zum Notfall. Der behandelnde Arzt, der laut Namensschild Christian Lauterbach heißt, untersucht sie. Er glaubt ihr die Geschichte vom Überfall.

„Wollen Sie Anzeige erstatten?“, fragt er.

„Ich habe nichts gesehen, es ging alles so schnell.“ Nicht gerade behutsam drückt er auf ihrer Stirn herum. Autsch, das tut weh, denkt Ruby. Angestrengt versucht sie nicht laut aufzuschreien.

„Die Wunde an der Stirn muss genäht werden, die Nase geröntgt, sie ist eventuell gebrochen. Die Lippe muss auch genäht werden. Wahrscheinlich haben Sie eine Gehirnerschütterung. Sie sollten die Nacht zur Beobachtung hierbleiben.

Nicht schon wieder, denkt Ruby. „Nein, ich gehe lieber nach Hause und leg mich einfach hin.“

„Haben Sie jemanden, der nach Ihnen schauen kann?“, fragt er fürsorglich.

„Ja, habe ich.“ Er brummt wieder „Mh.“

„Dann flicken wir Sie mal wieder zusammen. Wollen sie psychologische Betreuung in Anspruch nehmen?“

„Wozu?“, fragt Ruby verdutzt.

„Um das Erlebte zu verarbeiten“, sagt er mit hochgezogenen Augenbrauen und brummt wieder.

„Nein, danke. Geht schon.“ Der Psychotante sagen, dass ich aus einem Mann Hackfleisch gemacht habe? Nein, danke. Ich muss Nils schreiben, dass ich nicht zum Essen kommen kann. Ihres Erachtens nicht gerade zimperlich näht der Arzt die Verletzungen. Er verlässt den Raum, kommt kurz darauf zurück mit dem Röntgenbild, das er zuvor gemacht hat. „Sie haben Glück.“ Wenn er wüsste, wie recht er hat.

„Ihre hübsche Nase ist nicht gebrochen.

„Dann kann ich jetzt nach Hause gehen?“ „Ja, ich würde Ihnen nach wie vor empfehlen, eine Nacht zur Beobachtung hierzubleiben, aber Sie wollen ja nicht. Legen Sie sich in einen abgedunkelten Raum und trinken Sie viel Wasser. Aufstehen nur wenn nötig und auch sonst keine unnötigen Bewegungen.“ Ruby verabschiedet sich, ruft ein Taxi und fährt nach Hause. Dort schreibt sie Nils eine Nachricht.

„Hey“.

„Hey, bin gerade aufgestanden, war eine lange Nacht“. Stimmt, er hatte ja Nachtschicht. War er am Tatort?

„Ich kann heute Abend nicht essen gehen.“

„Warum?“

„Ich wurde gestern überfallen, als ich rausging, um essen zu holen.“

„Was? Bist du okay?“
„Ich komme gerade vom Arzt, meine Lippe und Stirn mussten genäht werden, außerdem habe ich wieder eine Gehirnerschütterung.“

„Warst du bei der Polizei?“

„Nein, können wir ein andermal weiterreden, ich will schlafen.“

„Ich komme vorbei, in einer Stunde bin ich da.“

„Okay.“

 

33 Samstagabend

Ruby ist gerade auf dem Sofa eingeschlafen, als Nils keine Stunde später an der Haustüre klingelt. Sie öffnet und fühlt sich schrecklich, der Kopf tut schon wieder weh, und ihr ist speiübel. Morgen wird sie Hipster nicht reiten können. Geschockt bleibt Nils in der Tür stehen.

„Ruby, du siehst ... schlimm aus!“

„Danke!“

„Meine Güte, wieso hast du nicht gleich angerufen?“

„Du warst im Dienst, ich wollte dich nicht stören.

„Ich wäre sofort gekommen.“ Sie glaubt ihm. „Leg dich hin. Willst du etwas essen? Trinken?“

„Nein danke, gerade nicht. Ich leg mich aufs Sofa.“

„Okay, vielleicht kommen wir endlich dazu „The Good Place“ zu schauen“. Sie grinst.

„Ganz sicher.“ Er bringt zwei Cola Light aus der Küche und Schokokekse. Nils setzt sich und schaut sie besorgt an.

„Es tut mir so leid.“

„Du warst es ja nicht.“

„Ja, aber du machst gerade so viel durch, und jetzt auch noch das.“

„Geht schon.“

„Du hast geweint“, stellt er fest.

„Ja“, erwidert Ruby kurz, um nicht gleich wieder loszuheulen. Der Schock sitzt tief.

„Tut es weh?“ Dumme Frage.

„Ja, ziemlich sogar.“

„Kann ich etwas für dich tun?“

„Sei hier und halte mich fest.“ Sie weint.

Nils nimmt sie in die Arme und hält sie einfach fest. Aber es ist kein besitzergreifendes Festhalten, es ist ein tröstendes, liebendes Festhalten. „Lass mich nie mehr los“, schluchzt sie.

„Ich bringe den, der dir das angetan hat, eigenhändig um, wenn ich ihn erwische“, sagt Nils wütend. Habe ich schon erledigt, denkt Ruby.

 

34 Sonntagmorgen

Die Nacht war alles andere als erholsam, zweimal musste Ruby Schmerztabletten nehmen, ihr Kopf drohte zu platzen. Und sie hatte einen Alptraum. Sie hat von diesem Horst geträumt – Er hat sie angeschrien mit seinem zerschlagenen Schädel:

„Ich kriege dich noch, du miese kleine Mörderin!

Nils steht wie immer früh auf, obwohl er heute frei hat. Er kann nicht anders. Ruby hört ihn im Bad, danach in der Küche. Er kommt ins Schlafzimmer. Ihre Augen sind geschlossen, aber sie weiß ganz genau, dass er sie anschaut. Langsam öffnet sie die Augen.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen“, erwidert sie.

„Wie fühlst du dich?“

„Besser. Noch etwas erschöpft, aber dem Kopf geht’s besser. Wahrscheinlich dank den Schmerztabletten. Aber egal, Hauptsache besser.“

„Willst du aufstehen?“

„Ja, ich setze mich ein bisschen aufs Sofa.“ Nils hilft ihr. „Geht schon.“ Er ignoriert ihren Einwand. Wenn sie steht, kommen die Kopfschmerzen zurück, also hinsetzten oder hinlegen. Erschöpft legt sie sich aufs Sofa.

„Kannst du bitte die Fensterläden herunterlassen, es ist so hell“, bittet sie.

Nils lässt die Fensterläden runter, geht dann in die Küche, um Cola Light und Toastbrote zu bringen.

„Siehst echt schlimm aus“, bemerkt Nils betroffen. Ihre Wange und die Stirn präsentieren sich in verschiedenen Blau-, Grün- und Violett-Tönen. Wäre es nicht in ihrem Gesicht, fände sie die Farbkombination wunderschön. Die Nähte an der Stirn und an der Lippe sehen brutal aus.

„Wäre ich nur bei dir gewesen, gestern Abend.“

Das wäre nicht gut gewesen, denkt Ruby. „Wie war Dein Tag?“, fragt sie, um vom Thema abzulenken.

„Wir wurden zu einem Mord gerufen.“

„Ah ja? Wo denn?“

„In einer Gasse nahe der Friedrichstraße.Ups, das war sie.

„Habt ihr den Mörder?“

„Nein, keine Spur von ihm. Das Opfer war besoffen und laut seiner Frau kein netter Zeitgenosse.

„Was soll das heißen?“, fragt Ruby mit gespielter Neugier.

„Na ja, sie meinte, sie würde sich gerne bedanken bei der Person, die das getan hat.“ Yes, ich wusste, dass sie froh sein wird. Mission erfüllt, ein Arschloch weniger. Bitteschön, gern geschehen, denkt sie zufrieden. „Ziemlich krass“, sagt sie gefasst.

„Ja, er hat sie wohl oft geschlagen und missbraucht.“

„Arsch.“

„Du hättest die Leiche sehen sollen.“ Hat sie doch. „Da hat jemand ganz kräftig zugeschlagen, von seinem Kopf war nichts mehr übrig.“

„Wow, habt ihr schon einen Verdächtigen?“

„Nein, noch nicht. Aber mit Sicherheit ein Mann.“

„Wieso ein Mann?“, fragt Ruby erstaunt.

„Der Kopf war Brei, es wurde mindestens zwanzigmal auf ihn eingeschlagen, da war so viel Wut, Kraft und Gewalt dahinter. Ich schreibe das einem Mann zu. Außerdem war der Typ riesig, ein Schrank von einem Mann.Ich habe ganze Arbeit geleistet. Das Teufelsmädchen hat zugeschlagen.

„Ehrlich gesagt, würde ich den Fall am liebsten abschließen, der Täter hat der Welt einen Gefallen getan.“ Ruby fühlt sich bestätigt. Sie hat den Täter zum Opfer gemacht und das Opfer zum Täter. Passt schon. Wenn man die Moral und die Gesetze beiseitelässt, war ihre Tat 100-prozentig richtig. Moral ist überbewertet, eine von Menschen erfundene Sache. Tiere zum Beispiel haben keine Moral. Die wollen überleben, und wenn sich da einer blöd in den Weg stellt, wird er kalt gemacht. Und keiner heult rum. Heute muss jeder leben und überleben, leben über alles. Leben ist völlig überbewertet. Nicht jedes Leben sollte denselben Wert haben. Plötzlich fühlt sie sich schlecht, schlecht weil sie gerade neben dem wunderbarsten Mann liegt, den sie je kennengelernt hat und zudem noch Polizist ist. Was würde er tun, wenn er es wüsste? Sie fallenlassen? Sich vor ihr ekeln? Sie alleine lassen? Sie hat Angst, Nils zu verlieren, ihn zu verletzen. Besorgt bemerkt sie, wie ihr inneres Kind die Macht übernimmt. Das verletzte Kind, die kleine Ruby, die Rache will. Rache für all die Jahre der Qual, der Ablehnung. Das Kind, das traurig in der Ecke steht, nicht weiß, was es falsch gemacht hat; nicht weiß, was es anders machen kann. Dieses Kind will Rache. Aber sie weiß auch, dass dieses Kind nie genug haben wird. Weil es nie geheilt sein wird. Niemals. Es wird in Ruby weiterleben, verletzt und traurig ihr Leben lang. Ihr läuft eine Träne über die Wange. Schnell wischt sie sie weg.

„Bist du okay?“

Ihm entgeht nichts. „Ja, ich bin nur müde. Du brauchst nicht den ganzen Tag hier zu sein.“

„Ich weiß, aber wenn ich das will?“

„Dann darfst du das.“ Müde fallen ihr die Augen zu, sie schläft erschöpft ein.

 

35 Sonntagabend

Ruby schläft fast den ganzen Tag, um 19:20 Uhr wacht sie auf, weil sie auf Toilette muss. Wo ist Nils? Wankend geht sie ins Bad, ihr ist bisschen schwindelig, aber sie fühlt sich bedeutend besser. Schlafen wirkt Wunder. Das Bad ist frei. Ausgiebig duscht sie und putzt sich die Zähne. Jetzt fühlt sie sich noch besser, geduscht und in frischen Klamotten. Aber wo ist Nils? In der Küche öffnet sie eine Dose Cola Light und setzt sich an den Tisch. Beeindruckt schaut sie sich um. Er hat aufgeräumt. Sie muss ihn behalten. Dann wie aufs Stichwort öffnet sich die Haustür.

„Hey, du lebst“, sagt er mit seinem wunderschönen Lächeln.

„Ja, mehr oder weniger.“

„Du siehst schon bisschen besser aus“, bemerkt er.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752133646
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Rache Thriller Spannung Psychothriller

Autor

  • Dannie Rubio (Autor:in)

Dannie Rubio ist im beschaulichen Städtchen Schaffhausen in der Schweiz aufgewachsen. Schon in der Schule liebte sie es, Aufsätze zu schreiben, Geschichten zu erzählen und auf Papier zu bringen. Ihr Lebensweg hat sie durch verschiedene Etappen geführt. So lebte sie in Los Angeles, Madrid, Solothurn, Extremadura, Zürich, Luzern und schließlich in Alicante, wo sie mit ihrem Mann, Sohn und Hund sesshaft geworden ist.