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Haus im Nebel

ein Kathy O'Banion Mystery

von Alexandra Scherer (Autor:in)
294 Seiten
Reihe: Kathy O'Banion Mystery, Band 1

Zusammenfassung

Nach einem schweren Unfall sucht Kathy Heilung im Haus der Großmutter. Der Zeitpunkt ihrer Ankunft ist schlecht gewählt: Etwas stimmt nicht an dem Ort. Wenn Nebel aus dem Fluss aufsteigt, sterben Menschen. Weil das Haus der Großmutter am todbringenden Fluss liegt, beschließt Kathy, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, bevor sie selbst zum Opfer wird. Doch die Grenzen zwischen Verbündeten und Gegnern verwischen sich im Nebel ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Haus im Nebel

Kathy O‘Banion Mystery No. 1

Alexandra Scherer

Impressum

Texte: 2020 © Copyright: Alexandra Scherer
Umschlag:2020 © Copyright: Alexandra Scherer

Bild: © Steffen Bergs/Wangen
Verlag:A. Scherer

Armin-Winkle-Str. 17
89281 Altenstadt
wangenerkrimis@gmail.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.

Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

2.

Von der Straße betrat man über einen dunklen Gang die Wohnküche. Als kleines Mädchen hatte ich in diesem Haus viel Zeit verbracht, aber seit dem Tod meiner Mutter waren viele Jahre vergangen. Ich erinnerte mich nicht mehr allzu deutlich an die Aufteilung des Hauses. Großmutter stand neben der Türe und schien darauf zu warten, dass ihr jemand sagte, was sie tun sollte.

Silver und ich hatten darüber beraten, wie sie wohl reagieren würde, wenn ich auftauchte. „Erwarte nicht zu viel“, hatte er mir geraten. „Sie wird verwirrt sein. Es kann eine Weile dauern, bis sie sich daran gewöhnt hat, regelmäßig Umgang mit dir zu haben. Tu einfach so, als würdest du es nicht bemerken. Mit der Zeit taut sie auf." Silver hatte mich während meiner Rekonvaleszenzphase begleitet. Er war mein Mentor und Führer geworden. Wie nicht anders zu erwarten: ein Freund von Holly.

Im Haus war es eiskalt. Es roch ungelüftet und muffig. Die Möbel sahen schäbig aus und die Wände benötigten dringend frische Farbe.

Inzwischen klapperten mir die Zähne vor Kälte.

„Granny, es ist fürchterlich kalt. „Wo ist die Heizung?“

Sie musterte mich und meinte dann: „So mager wie du bist, wundert mich das nicht.“ Sie drehte sich um und

ich folgte ihr durch eine weitere Tür in das Wohnzimmer. Ein alter, durchgesessener Lehnstuhl war strategisch vor einem uralten Fernseher platziert.

Granny blieb mitten im Raum stehen und deutete stumm auf einen Kachelofen.

„Das ist nicht dein Ernst? Ich habe keine Ahnung, wie man so ein Ding an kriegt und wo ist das Feuerholz?“

Großmutter stand inzwischen vor dem Wohnzimmerfenster, das auf einen Innenhof hinausging. Auf der anderen Seite des Hofes, der voller Gerümpel stand, begrenzte eine haushohe Wand meine Sicht. Dort lag Feuerholz fein säuberlich aufgestapelt.

Es kostete mich große Mühe, so viel Material in den Korb im Flur zu schichten, dass es für die nächsten Stunden reichen würde.

Der Kachelofen wurde vom Flur aus beheizt. Vorsichtig ließ ich mich auf dem Boden vor dem Ofen nieder und schichtete kleinere Holzstückchen und Tannenzapfen, die im Korb gelegen hatten, in den Ofen. Dann zündete ich das Ganze mit Streichhölzern an, die sich ebenfalls im Korb befanden. Grandma stand unbeteiligt daneben und betrachtete die kleinen Flammen, die sich durch das Anfeuerholz fraßen.

„Hoffentlich brennt es richtig an.“ Meine Zähne klapperten so stark, dass es mir schwerfiel, die Worte auszusprechen. „Ich mache uns einen Tee. Zum Aufwärmen. Setz dich doch schon mal.“

Ich füllte den elektrischen Wasserkocher, der neben der Spüle in der Küche stand. Während ich darauf wartete, dass das Wasser kochte, riss ich die Fenster im Wohnzimmer und in der Küche auf, um zu lüften. Die hereinströmende Luft wirkte gegenüber der klammen Kälte im Haus warm. Von draußen klangen Straßengeräusche herein. Sirenen? Wahrscheinlich brannte es irgendwo.

Zurück in der Küche brodelte das Wasser.

„Hast du Tee da? Oder Kaffee? Im Hängeschrank?" Ich ging zu dem von ihr bezeichneten Schrank und inspizierte den Inhalt. Viel war es nicht. Ein paar alte Gewürzgläschen. Zwei Teedosen und eine Dose mit angegrauten Kaffeebohnen. Ich entschied mich für Teebeutel. Vielleicht würden sie noch etwas Geschmack enthalten.

Ich stellte vor Grandma, die inzwischen am Küchentisch Platz genommen hatte, einen Becher mit heißer Flüssigkeit ab und machte es mir auf dem Stuhl ihr gegenüber bequem. Sie sah deutlich besser aus. Die fahle Blässe in ihrem Gesicht hatte sich zurückgebildet. Sie schien nun fast rosig. Auch ihre Augen wirkten nicht mehr so eingefallen und leblos. Grandma betrachtete mich genauer.

„Das hat wirklich lange gedauert."

„Es tut mir leid. Aber du kanntest ja Dad." Ein kalter Luftzug wehte durchs Haus, die Fenstergläser zitterten in ihrem Rahmen.

Mühsam humpelte ich zu den Fenstern und schloss sie wieder. Der Ofen gab noch keine Wärme ab.

„Er war ein Dickkopf. Er gab mir die Schuld für den Tod deiner Mutter. Er hat mich und das was ich gemacht habe immer abgelehnt. Nach dem Tod deiner Mutter ist er mit dir nach Amerika. Er hat nie auf meine Briefe reagiert.“ Granny schüttelte den Kopf. „Wenn nicht diese Holly gewesen wäre, hätte ich von dir nie wieder gehört. Sie hat mir ab und zu Fotos von dir geschickt und mich auf dem Laufenden gehalten."

Ich nickte. „Holly hat ihm ganz schön den Kopf gewaschen, weil er mir den Kontakt mit dir verwehrt hat.“ Holly und ich hatten nach Dads Tod und nachdem ich aus dem Koma erwacht war, lange Gespräche geführt. „Aber das kann warten. Erzähl mal lieber, wie kann ich dir helfen?“

„Du musst noch einkaufen“, war Grannys Antwort.

Sie hatte recht. Morgen war ein Feiertag. Hier im Haus fehlte das Notwendigste. Aber der Gedanke, mich noch einmal durch die Altstadt kämpfen zu müssen und dann den Einkauf hierher zu bekommen, hatte nichts Erfreuliches an sich.

„Drüben auf der anderen Seite des Flusses gibt es ein Einkaufszentrum“, fuhr meine Großmutter fort. „Ich habe mir immer ein Taxi kommen lassen, um die Sachen zum Haus zu bringen. Beim Telefon findest du die Karte von meinem Stammfahrer. Tragen ist in meinem Alter nicht einfach und Autofahren tu ich schon lang nicht mehr. Wenn du einkaufen gehst, kannst du dann was fürs Grab besorgen? Ich habe es nicht mehr geschafft und morgen ist Allerheiligen."

Ich nickte. Die Frage, warum genau sie mich kontaktiert hatte, würde sie mir heute wohl nicht mehr beantworten. Also suchte ich nach einem Stück Papier und machte zusammen mit meiner Großmutter eine Einkaufsliste. Die Idee mit dem Taxi fand ich gut, wenn auch extravagant. Luftlinie waren es zum Shoppingcenter nur knappe fünfhundert Meter. Aber die Strecke würde ich heute wirklich nicht mehr zu Fuß bewältigen.

„Gut, dann geh ich besser gleich. Wenn ich zurück bin, reden wir darüber wie ich dir helfen kann.“

Die alte Frau nickte und verschwand ohne ein weiteres Wort.

3.

Nachdem ich das Taxi bestellt hatte, stand ich eine Weile vor der steilen Treppe im Gang. Grandma hinter mir, während ich auf einen dunklen Fleck auf dem Dielenboden starrte.
„Hier ist es also passiert“, sprach ich laut meine Gedanken aus. „Kannst du dich noch an den Unfall erinnern?“ Wie erwartet bekam ich keine Antwort. Die Gänsehaut auf meinen Armen wurde schlimmer. „Mensch Oma, es ist echt verdammt zugig hier drin.“ Ich wusste, dass ich vorwurfsvoll klang, aber wenn ich an einer Lungenentzündung erkrankte, konnte ich ihr nicht helfen.
Schweigend drehte Granny sich um und verschwand in die Küche. Nachdem sie sich zurückgezogen hatte, legte ich noch Holz nach, in der Hoffnung, dass das Haus sich aufwärmte, bis ich vom Einkaufen zurück wäre. Gerne hätte ich oben die Räume inspiziert, aber das musste warten. Bis das Taxi kam, schleppte ich noch mehr Holz von draußen herein.
„Entschuldigen Sie die Verspätung, aber vorne ist die Hauptstraße gesperrt und ich musste einen Umweg fahren“, erklärte der Taxifahrer wenig später, als er mir in den Wagen half.
Mehr aus Höflichkeit, denn aus Interesse fragte ich: „Ist was passiert?“
„Wie es scheint, ist jemand in den Fluss gefallen.“
Ich blickte zum Flussbett hinüber, in dem das Hochwasser dahin schoss. Kurz glaubte ich, eine Person verzweifelt mit den Fluten kämpfen zu sehen, bevor sie unterging. Ich schauderte.
Der Taxifahrer betrachtete mich besorgt im Rückspiegel. „Alles in Ordnung? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.“
„Es geht schon. Mir ist nur sehr kalt.“
„Ich drehe die Heizung auf. Wo darf ich Sie hinfahren?“
„Zuerst bitte zum Bahnhof. Ich habe mein Gepäck dort gelassen. Dann in ein Einkaufszentrum. Würden Sie dort auf mich warten? Ich muss Einiges besorgen.“ Mir war klar, dass dies teuer werden würde, aber was blieb mir anderes übrig?
Der Fahrer drehte sich im Sitz um und blickte mich an. „Darf ich fragen, ob Sie mit der alten Frau Grabherr verwandt sind?“
„Ich bin ihre Enkelin und werde eine Weile bleiben.“
„Das freut mich. Ich hätte da sozusagen als alter Freund der Familie einen Vorschlag: In einer Stunde ist meine Schicht zu Ende. Ich fahre Sie jetzt zum E-Center. Wenn Sie fertig sind, rufen Sie mich an und ich hole Sie ab und bringe Sie und Ihre Einkäufe heim. Dann kann ich noch ein paar Fuhren dazwischen packen. Wenn es für Sie in Ordnung ist, hol ich auch einfach die Koffer ab. Das kommt Sie billiger, als wenn ich die ganze Zeit auf Sie warte und der Taxameter läuft.“
Froh stimmte ich zu.
„Ich heiße übrigens Mike“, stellte er sich vor, als er mir aus dem Auto half und drückte mir eine Visitenkarte in die Hand. „Hier meine Visitenkarte. Einfach anrufen, ich komm dann.“
„Kathleen“, sagte ich. „… und danke.“
„Passt scho!“

Wie sagt Holly immer? „Ein bisschen Vertrauen muss man schon haben.“
Mike, mit dem ich inzwischen per Du war. - „Wir sind altersmäßig nicht soweit auseinander und deine Oma hat mir immer sehr geholfen.“ - fuhr mich knapp zwei Stunden später nach Hause. Diesmal ging es über die Steinbrücke, die ich noch aus Kindertagen als Isnyer-Brücke kannte.
„Wie es scheint, haben Sie die Person gefunden“, bemerkte Mike. Er musste langsam fahren, denn die Straße war hier nur einspurig freigegeben und die Polizei regelte den Verkehr. Am Straßenrand stand ein Leichenwagen. Mir fiel eine ältere Frau auf, die neben einem Mann in dunklem Anzug stand und heftig auf ihn einredete. Ich nahm an, es handelte sich um den Fahrer des Leichenwagens. Besonders freundlich war er nicht, denn er ignorierte die Frau in ihrem schäbigen Aufzug komplett.
„Nicht sehr nett“, bemerkte ich und deutete mit dem Kopf auf die Szene. Ich saß auf dem Beifahrersitz, da sowohl Kofferraum als auch Rückbank des Taxis mit meinem Gepäck und Einkäufen vollgepackt waren.
„Na ja. Ist ja nicht unbedingt ein Beruf, der Freude macht“, meinte Mike und lenkte den Wagen in die Altstadt, um kurz darauf vor meinem Haus zu halten.
„Ich helfe dir noch beim Reintragen“, bot er an. „Ich denke, so wie du aussiehst, bist du ziemlich fertig.“
„Danke für das Kompliment“, meinte ich mit einem schiefen Grinsen. „Aber du hast recht. Ich bin ziemlich fertig. Der Flug, die Bahnfahrt und das Alles. Trotzdem … darf ich dich und deine Freundin zum Essen einladen? So in ein paar Tagen, wenn ich etwas besser eingerichtet bin?“
„Da haben wir ein Problem.“ Mike sah ernst auf mich herunter.
„Welches?“, fragte ich mit einem sinkenden Gefühl im Magen. Wahrscheinlich war er durch mein Aussehen und den desolaten Zustand meines Heimes abgeschreckt und wollte möglichst schnell Land gewinnen, um nichts mehr mit mir zu tun zu haben.
„Ich habe keine Freundin. Darf ich auch ohne kommen?“
Ich grinste ihn an. „Gerne.“
„Gut, dann melde dich, wenn du soweit bist. Meine Nummer hast du ja. Und pass auf dich auf. Geh nicht raus, wenn es nebelig ist. Nicht, dass dir noch was passiert.“

4.

Einige Stunden später lag ich in der Badewanne und ließ die Wärme des Badewassers in meine verkrampften Muskeln eindringen.

Wie erwartet, hatte ich an diesem Tag von meiner Großmutter nichts mehr gesehen. Ich war froh, dass sie mich erkannt hatte. Es wäre schwierig geworden, wenn sie sich geweigert hätte, mich ins Haus zu lassen. Silver hatte zwar gemeint: „Mach dir keine Sorgen. Deine Grandma hat dich um Hilfe gebeten. Also wird sie dich auch erkennen.“ Ich war mir da nicht so sicher gewesen, schließlich kannte sie mich nur als süßes kleines Mädchen mit langen Zöpfen und einer Vorliebe für Rosa. Die Zöpfe gehörten schon lange der Vergangenheit an und Rosa stand mir überhaupt nicht.

Viele Dinge hatten sich verändert, dachte ich, während ich in der Wanne lag. Nicht nur ich. Diese Kleinstadt war so ganz anders, als die Städte in den Staaten.

Das Einkaufszentrum konnte es zwar nicht mit den Shoppingmalls in Kalifornien aufnehmen, aber ich fand alles, was ich benötigte. Auch für morgen. Ich ließ noch etwas heißes Wasser ein. Als ich die Badewanne gesehen hatte, flippte ich vor Freude fast aus. Mit meinem angeschlagenen Bein wäre ich schwerlich in die Wanne und wahrscheinlich gar nicht ohne fremde Hilfe wieder heraus gekommen. Aber meine Grandma hatte ein höchst modernes Badezimmer installieren lassen. Eine große Eckbadewanne mit Tür. Dies ermöglichte den bequemen Ein- und Ausstieg und für mich den Luxus eines langen und ausgedehnten Vollbades.

Um mein Glück vollständig zu machen, gab es einen elektrischen Durchlauferhitzer für heißes Wasser und eine elektrische Heizung.

Ich genoss es, mir eine kreisförmige Massage mit dem seifigen Waschlappen zu geben. Vor einigen Monaten hatte ich nicht einmal ohne fremde Hilfe auf die Toilette gekonnt. Nun wusch ich mich selbstständig und zog mich selbst an. Diese Unabhängigkeit wusste ich durchaus zu schätzen.

Holly hatte mich nie spüren lassen, dass ich eine Belastung war, aber trotzdem … Schließlich hatte ich keinerlei verwandtschaftliche Ansprüche auf sie.

„Kathy, dear. Ich habe deinen Vater geliebt, trotz oder vielleicht wegen seiner Fehler. Du bist ein Teil von ihm und nur, weil er jetzt nicht mehr da ist, heißt das nicht, dass du mir plötzlich gleichgültig bist."

Sie war es auch gewesen, die mich mit Silver bekannt gemacht hatte. Ohne die Zwei wäre ich jetzt nicht hier.

Das Wasser kühlte aus. Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Seufzend ließ ich das Wasser ab, trocknete mich und humpelte in mein Schlafzimmer. Es war der Raum, in dem meine Mutter und ich immer wohnten, wenn wir Oma besuchten. Ich hatte mir frische Kopfkissen und Bettdecken sowie Bettwäsche im Einkaufszentrum gekauft. Die Matratze würde noch eine Weile halten müssen. Bis ich mir überlegt hatte, wie ich meine Zukunft gestalten wollte.

Bald lag ich gut zugedeckt und entspannt da und der Tag passierte noch einmal Revue. Die Ankunft am Flughafen bis hin zur Herfahrt, dem Treffen mit dem Anwalt und hier im Haus die Begegnung mit meiner Großmutter. Ich lächelte. Ob ihr morgen auffallen würde, dass ich den Blumenkasten neu bepflanzt hatte? Dort brannten einsam aber stetig ein paar Kerzen, in Gedenken an meine Toten. Die Seelenlichter schickten ihren rötlichen Schein durch die Nacht.

5.

Am späten Morgen erschien meine Großmutter in der Wohnküche. Dort saß ich im verhältnismäßig warmen Raum, neben mir eine dampfende Tasse Kaffee, deren Geruch das gesamte Haus zu durchdringen schien. Der Kachelofen hatte über Nacht seine Aufgabe zumindest teilweise erfüllt.

„Hallo Granny. Schön, dass du da bist. Möchtest du einen Kaffee?", fragte ich leicht abgelenkt durch mein Cellphone, das Probleme hatte, ein Netz aufrecht zu halten. Die Mauern des Hauses waren zu dick.

Großmutter trug heute ein schwarzes Wollkostüm, über ihrem Arm den dazu passenden Mantel. Ihr dünnes Haar war ordentlich frisiert und zu einem Dutt aufgesteckt. Als sie im Raum erschien, begleitete sie eine frische Brise. Sie schüttelte den Kopf. „Es wird Zeit, zum Grab zu gehen. Trödel nicht so. Komm! Hast du die Blumen und die Kerzen besorgt?"

Ich nahm einen Schluck Kaffee, um mich zu wärmen. „Ja. Aber ich kann nicht so weit gehen.“ Ich deutete auf meine Krücke, die neben mir am Tisch lehnte. „Wir müssen ein Taxi nehmen.“

„Dann ruf doch den Mike an“, meinte Großmutter.

„Mein Handy hat keinen Empfang. Hast du kein WLAN?“

„Wozu? Ich benötige so etwas nicht.“

Nachdenklich betrachtete ich meine Oma. „Stimmt. DU kommst ohne aus.“ Ich rappelte mich hoch, griff nach meiner Krücke und humpelte nach draußen auf den Gang, wo das Telefon stand. Es hatte noch eine Wählscheibe.

Wenig später stand ich mit meiner Großmutter draußen und wartete auf Mike. Ich überquerte die Straße, um einen Blick in den Fluss zu werfen, der gestern noch wild dahin geschossen war und einer armen Seele den Tod gebracht hatte.

Wen hatte man da gestern aus dem Wasser gefischt? Wie war die Person ins Wasser gelangt? War sie gesprungen? Ausgerutscht? Aber wo? Die Brücken, die über den Fluss führten, waren durch Geländer gesichert. Wie ich von meinem mühsamen Weg gestern durch den Nebel noch wusste und auch jetzt sehen konnte, war am Ufer des Flusses ein Geländer angebracht, welches verhinderte, dass jemand aus Versehen ins Wasser stürzen konnte. Versonnen blickte ich die Straße entlang, die auf der einen Seite von der alten Stadtmauer und von der anderen Seite vom Flussbett begrenzt wurde. Heute am ersten Tag im November waren viele Spaziergänger unterwegs, denn es war ein sonniger, wenn auch kühler Tag. Die Frau, die ich gestern bemerkt hatte, als sie auf den Fahrer am Leichenwagen eingeredet hatte, fiel mir auf. Langsam schlurfte sie mir auf der Straße entgegen und zog hinter sich eine dieser Einkaufstaschen auf Rädern her, wie sie Rentner oft benutzten. Sie blickte nicht links und nicht rechts und beachtete weder das sonnige Wetter, noch die Spaziergänger. Allerdings kümmerten sich die Passanten auch nicht weiter um sie. Ich überlegte, ob ich sie ansprechen sollte, war aber kurz abgelenkt, weil Grandma sich wunderte, wo das Taxi blieb. Als ich wieder hinguckte, war die Frau verschwunden.

„So sieht man sich wieder“, begrüßte mich Mike, als ich hinten auf der Rückbank Platz nahm.

„Schneller als gedacht“, stimmte ich zu.

„Mike ist nett, du solltest ihn mal zum Essen einladen“, bemerkte meine Großmutter, die neben mir saß. Ich blickte sie empört an.

„Es ist kalt geworden“, meinte Mike. „Ich drehe mal die Heizung hoch.“

Heute an Allerheiligen waren viele Menschen auf dem Friedhof unterwegs. Es war einer dieser goldenen letzten Herbsttage, bevor alles in Nebel und Depression versinken würde.

Großmutter sprach nicht, während wir über den Friedhof gingen. Mike hatte uns mit dem Taxi so nah wie möglich gefahren, trotzdem strengte mich der Weg an.

Mutter lag im Familiengrab auf dem alten Teil des Friedhofes. Ich kannte ihr Grab nicht. Ich war damals erst fünf gewesen. Nach ihrer Beerdigung war Dad mit mir sofort abgereist. Heute war das erste Mal, dass ich bewusst den Friedhof betrat. Ich hatte mir eine Stofftasche umgehängt, in der ich die Blumen und die Kerzen für das Grab meiner Mutter verstaut hatte. Der Stoffbeutel schlug in gleichmäßigem Takt gegen meine Hüfte, als ich mich durch den Gottesacker bewegte. Die Wege waren mit Kies bestreut. Der Schotter fühlte sich unter meinen Schuhsohlen seltsam an und knirschte laut bei jedem Schritt, den ich machte.

Ich ließ mir Zeit. Die hohen Laubbäume hatten schon einen Großteil ihrer Blätter verloren. Die Eiben und einige riesige Tannen und Föhren stachen heraus. Die Gräberreihen glichen kleinen geschmückten Blumenbeeten, liebevoll gepflegt und für diesen Feiertag speziell hergerichtet. Überall standen Kerzen in roten oder weißen Gläsern. Das ewige Licht, das den Seelen leuchtete. Auf dem alten Teil des Friedhofes gab es aber auch einige Gräber, die ungepflegt und vernachlässigt wirkten. Dazu gehörte das Familiengrab, in dem Mutter lag.

Granny stand vor dem Grab und starrte mit einem wütenden Ausdruck auf die Stätte. Keine Blumen. Nur immergrüne Bodendecker. Eine Reihe von Namen stand auf dem Grabstein. Der erste Name war mein Ururgroßvater, der an den Spätfolgen seiner Verletzungen im Ersten Weltkrieg gestorben war. Senfgas.

„Ich kann mich nicht mehr um das Grab kümmern. Was werden die Leute wohl denken? So ganz ohne Schmuck."

„Dafür bin ich ja jetzt da“, beruhigte ich sie. „Schau. Erika und Chrysanthemen und Kerzen. In Nullkommanichts haben wir das Grab schön."

Mühevoll kniete ich mich hin und fand zwischen den Ranken des Bodendeckers Platz für die Blumen, die ich aus meiner Stofftasche zauberte. Danach zündete ich einige Seelenlichter an.

Eine Weile standen wir Schulter an Schulter vor dem Grab.

„Deine Mutter war krank. Das hat sie deinem Vater nicht erzählt.“ Die Stimme von Granny klang brüchig. „Er war nicht gut mit Krankheiten.“

Ich wusste, was sie meinte. Wenn ich als Kind einen Schnupfen hatte, wollte Dad sofort den Notarzt alarmieren.

Oma erzählte weiter: „Weil er häufig für seine Firma unterwegs war, hat das auch geklappt. Offiziell kam sie mit dir, um mich zu besuchen, aber sie ging dann immer zur Behandlung. Nach der letzten Behandlung ist sie im Nebel über eine Brücke gegangen und muss ausgerutscht sein. Irgendwie ist sie in den Fluss gefallen und ertrunken. Dein Vater gab mir die Schuld."

„Dad war in vielen Dingen ein Sturkopf.“ Kurz dachte ich an mein letztes Gespräch mit ihm. Aber das war jetzt nicht das Thema.

„Gran, warum wolltest du, dass ich komme?“, fragte ich meine Großmutter.

Oma schwieg. Vielleicht hätte ich nicht so direkt sein sollen. Aber hier am Familiengrab, hatte ich mir gedacht, wäre sozusagen ein guter Ausgangspunkt.

„Das ist kompliziert“, meinte sie schließlich.

Ich stellte die für mich offensichtliche Frage: „Hat es mit deinem Unfall zu tun?“

„Unfall? Es war kein Unfall.“ Meine Oma sah mich wütend an. „Für wie tatterig hältst du mich eigentlich?“

„Nun, der Bericht, den wir bekommen haben, ging von einem Kreislaufproblem aus und die Treppe ist sehr steil.“ Ich verzog das Gesicht, als ich daran dachte, wie schwierig es für mich war, in den ersten Stock zu kommen und wie viel schwieriger, wieder herunter. Ich hatte mich schließlich auf den Hosenboden gesetzt und war langsam Stufe für Stufe nach unten gerutscht.

„Das hat er gut hingekriegt.“ Oma klang wütend. „Dumme alte Frau, leicht verwirrt und fällt die Treppe runter.“

„Wer?“, fragte ich.

„Deshalb bist du da. Du musst es herausfinden, denn ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern.“

6.

„Da verlangst du eine Menge.“ Ich blies die Backen auf. „Das ist schon eine Weile her.“

„Hab dich nicht so.“ Oma ließ meinen Einwand nicht gelten. „Du bist jung und clever. Lass dir was einfallen.“ Sie wandte sich um und ging den Weg zwischen den Gräbern entlang Richtung Ausgang.

Nachdenklich folgte ich ihr. Der Friedhof war angelegt wie ein großer Park. In der Sonne ähnelte das Ganze einem großen Familientreffen. Was fehlte, war das Picknick und Frisbee spielende Kinder.

„Das sind ja echt tolle Narben, woher hast du die denn?“ Plötzlich lief eine junge Frau neben mir her.

„Du siehst auch nicht besser aus“, schlüpfte mir heraus.

„Ehrlich auch noch. Super. Ich bin Hanna und du?“ Hanna ging langsam neben mir her und grinste mich freundlich an. Sie war sehr mager. In der schwarzen Röhrenjeans und der dazu passenden schwarzen Jacke, wirkte sie noch dünner. Piercings an Nase und Lippen bildeten helle Akzente.

„Kathleen“, antwortete ich, ohne meinen Weg zu unterbrechen.

„Klingt Englisch.“ Hanna hüpfte um mich herum. Mir fiel auf, dass sie rote Turnschuhe trug.

„Coole Schuhe“, meinte ich.

Hanna blieb kurz stehen und hob einen Fuß an, um ihre Sneaker zu betrachten. „Danke. Waren auch nicht ganz billig. Aber ich wollte sie unbedingt haben. Schließlich hab ich sie geschenkt bekommen.“

„Das klingt ja nett.“

„Ja, und das, obwohl ich mal wieder Scheiß gebaut hab. Aber ich hab die Kurve gekriegt. Kathleen, sag, woher hast du diese coolen Narben?“

Ich hatte nicht vor, Hanna hier auf dem Friedhof meine Lebensgeschichte zu erzählen, deshalb antwortete ich ausweichend: „Ist ne lange Geschichte und was ist mit dir? Bist du krank?“

„Weil ich so mager bin? Nicht mehr. Ich muss jetzt weiter. Man sieht sich.“

Hanna verschwand in Richtung Kapelle, während ich weiter Richtung Ausgang strebte, wo Grandma auf mich wartete. Die Unterhaltung mit der jungen Punkerin hatte mich auf eine Idee gebracht.

„Oma, wie heißt dein Hausarzt?“

„Was willst du denn vom jungen Doktor Hammel?“

„Nur so eine Idee. Außerdem brauche ich wohl auch einen Arzt, solange ich hier bin. Schau, da vorne wartet unser Taxi.“

„Ich find den Mike nett.“ Oma strahlte. „Der hat mich oft gefahren. Sehr höflich und zuvorkommend. Ein Student und trotzdem ein ganz guter Handwerker. Aus dem wird mal was.“

„Oma!“, flüsterte ich indigniert. Ich merkte, wie meine Wangen ganz warm wurden.

„Ich mein’ doch nur“, grummelte meine Großmutter, während sie vor mir auf den Rücksitz rutschte.

Mike sah mich komisch an. „Alles in Ordnung? Du bist so rot im Gesicht.“

„Der Besuch hier am Grab hat mich mehr angestrengt, als ich dachte“, redete ich mich heraus.

„So ein Grabbesuch kann einen ganz schön mitnehmen“, meinte Mike, als er das Auto startete.

„Hast du auch Familie auf dem Friedhof?“, versuchte ich mich linkisch an Konversation.

„Bleibt wohl nicht aus. Schließlich wohnt meine Familie hier schon seit ein paar Generationen. Aber meine Großeltern sind schon ewig tot und meine Eltern leben noch. Außerdem hab ich nicht so den Bezug zu.“

„Zu was genau?“, fragte ich neugierig.

„Na, diese Seelensache. Gedenken an die Toten. Grabpflege. Gedenktage… So Zeugs halt.“

„Glaubst du nicht an ein Leben nach dem Tod?“

Ich sah, wie Mikes Schultern sich kurz hoben und senkten. „Kann ich nicht sagen. Werd ich erst wissen, wenn ich selber tot bin. Ist schließlich noch nie jemand zurückgekommen, um davon zu berichten.“ Seine Stimme klang hart, als er fortfuhr. „Deshalb halt ich es mit: Lass die Toten sich um ihre Toten kümmern. Ich hab genug Probleme mit den Lebenden.“

7.

Da Samstag war, musste ich meinen Plan, Omas Hausarzt zu kontaktieren, verschieben. Also machte ich mir erst einmal einen Kaffee.

Während das Koffein anfing zu wirken, tauchte ich in das Feeling ein, das mir der Raum vermittelte.

Omas Wohnküche verbreitete das Gefühl von Geborgenheit, das ich als Kind mit dem Haus am Fluss verbunden hatte. Damals schien es immer nach frisch gebrühtem Kaffee, rauchigem Holzfeuer und Apfelkuchen zu riechen. Zumindest in meiner Erinnerung. Ich blickte mich um, während ich meinen Kaffee trank. Klar, Oma hatte früher darauf geachtet, dass alles sauber und staubfrei war. Aber das sollte ich mit etwas Wasser und Seife hinkriegen.

Mein Bein schmerzte deutlich weniger als die letzten Tage. Ich fühlte mich unternehmungslustig und würde die Stadt erforschen.

Die Straße am Flussufer war geteert und ich ging Richtung Isnyer Brücke. Was knappe einhundert Meter darstellen dürfte. Ich konnte hier relativ zügig gehen; nicht ohne Krücke, aber heute empfand ich sie nicht als Fremdkörper. An der großen Steinbrücke über den Fluss angekommen, wandte ich mich zunächst nach links und stützte mich auf der breiten Steinmauer auf. Die Mauer war hoch, mit meinen ein-Meter-fünfundsiebzig konnte ich gerade noch halbwegs bequem meine Arme auf die Mauer auflegen. Das Wasser, das am Tag meiner Ankunft so zornig dahin geschossen war, lag nun spiegelglatt vor mir. Nur an ein oder zwei auf ihm treibenden Blättern erkannte ich, dass es eine Strömung gab. Ich überquerte die Straße, um zu sehen, was sich flussabwärts befand. Ungefähr fünfzig Meter weiter erkannte ich ein Wehr, über das das Flusswasser hinunter rauschte. Rechts von mir stand ein niedliches kleines Haus, daneben der Parkplatz, auf dem nur zwei Tage zuvor Polizei, Krankenwagen und Leichenwagen gestanden hatten. Links von der Brücke war ein großer Blumenladen. Soweit ich das von meinem Aussichtsplatz erkennen konnte, befanden sich auf der Seite des Flusses keine Häuser mehr. Wahrscheinlich eine Art Park. Ich wollte meine Krücke wieder aufnehmen, die ich an die Brückenwand gelehnt hatte, aber meine umgehängte Stofftasche kam mir in den Weg. Plötzlich lag die Krücke am Boden und ich konnte mich gerade noch abfangen, sonst wäre ich vornüber ebenfalls auf die harte Straße gefallen. Sofort war es mit meiner inneren Ruhe vorbei. Ich spürte, wie ich zitterte.

Eine junge Frau in Polizeiuniform half mir, mich aufrecht zu stellen, während der männliche Polizist um mich herum ging und meine Krücke aufhob. „Polizeiobermeister Hubertus“, stellte sich der Beamte vor. „Das ist meine Kollegin, Polizeimeister Levent. Geht es Ihnen gut?“ Helle graue Augen musterten mich.

„Danke Officer, ich bin nur gestolpert. Es geht schon“, wehrte ich ab.

„Sicher?“, bohrte der Polizist weiter. Anscheinend war er nicht überzeugt. „Sie sehen ganz blass um die Nase aus. Was meinst du, Fatme?“

Die jüngere Kollegin stützte mich weiter leicht an meinem Ellbogen, während sie hinter mir hervortrat und mein Gesicht genauer anschaute. „Möchten Sie sich hinsetzen? Da vorne ist eine Bank“, schlug sie vor.

Ich nickte dankbar. Gestützt von den zwei Beamten ging ich zur Bank. „Mir geht es auch schon viel besser. Es war nur der Schreck. Danke vielmals, dass Sie mir geholfen haben, aber ich komme jetzt allein zurecht.“

Ganz hatte ich den Polizisten wohl noch nicht überzeugt. „Sollen wir Sie nach Hause begleiten?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wirklich nicht nötig. Ich wohne in der Nähe. Ich will nur vorne in dem Laden eine Kleinigkeit einkaufen und dann gehe ich nach Hause. Das schaffe ich auch ohne Hilfe.“ Ich deutete auf ein Lebensmittelgeschäft, vor dessen Tür Gemüse und Obst aufgestellt waren.

„Sicher?“, fragte der Polizist noch einmal.

„Ganz sicher. Es ist wirklich nicht weit.“ Ich nannte dem Mann meine Adresse. Bildete ich mir das nur ein, oder musterte mich der Beamte noch einmal genauer? Schließlich nickte er und meinte: „Das ist wirklich nicht weit. Aber passen Sie auf. Ein Unglück ist schnell passiert.“

8.

Ich betrat den Lebensmittelladen. Der Besitzer betrachtete mich neugierig, ließ mich aber nach einem freundlichen „Hallo“ unbehelligt. Ich nickte kurz als Gegenbegrüßung.

„Der wundert sich nur, weil du keine Stammkundschaft bist.“ Hanna tauchte aus einem Seitengang auf. „Das hat nichts mit deinem Aussehen zu tun.“

„Hallo Hanna, ich gebe zu, ich bin da etwas empfindlich“, begrüßte ich sie.

Sie grinste frech: „Man gewöhnt sich dran. Suchst du was Bestimmtes?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Eigentlich nicht. Ich wollte nur etwas frisches Obst und Gemüse kaufen und der große Supermarkt ist für mich zum Laufen zu weit.“

„Wohnst du in der Nähe? Ich hab dich vorher noch nie hier gesehen.“ Hanna blickte mich neugierig an.

„Ich bin grade erst angekommen. Ich wohne im Haus meiner Großmutter.“ Ich nannte ihr die Adresse.

„Bei der alten Ottilie? Cool. Die macht super Apfelkuchen. Hat mich öfter mal eingeladen. Echt nette Frau.“ Hanna lächelte.

„Komm doch mal vorbei, wenn du Lust hast“, lud ich sie ein.

„Mach ich. Wie ich vorher gesehen habe, hast du schon Bekanntschaft mit den lokalen Sheriff gemacht.“

„Sheriff?“ Ich blinzelte verwirrt.

„Na dem Hubertus“,erklärte Hanna. „Die junge Polizistin kenne ich nicht. Aber der Hubertus, der ist ganz cool. Hat mir öfters mal geholfen, wenn ich Probleme hatte. Für ’nen Bullen ganz in Ordnung.“

Ich nickte, leicht abgelenkt durch die Waren in den Regalen.

„Sag mir, was du suchst und ich helfe dir“, schlug Hanna vor, die meine Ratlosigkeit, ob der teilweise fremdländischen Namen auf den Verpackungen wahrnahm.

„Kaffee und Tee“, überlegte ich. „Wenn ich schon in einem türkischen Spezialitätenladen bin“, überlegte ich laut.

„Mokka und Baklava“, meinte Hanna. „Die haben hier echt super Baklava.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ist mir zu süß. Aber Mokka ist ne gute Idee.“

Hanna schwatzte mir noch ein paar Gewürze auf und begleitete mich dann zurück zur Steinbrücke. „Ich muss jetzt weiter. Aber wir sehen uns.“ Sie winkte mir und verschwand, während ich mich auf der Straße am Fluss entlang wieder zu Großmutters Haus bewegte.

Die gelben Chrysanthemen am Fensterbrett strahlten mir schon von Weitem entgegen. Sie erinnerten mich an kleine Sonnen. Als ich näher kam, erschrak ich. Durch die staubige Fensterscheibe blickte mich ein zerstörtes Gesicht an. Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass dort eine Puppe saß, die nach draußen blickte, fast als hielte sie Wacht.

Weil das Wetter schlechter wurde, beschäftigte ich mich den Rest des Wochenendes hauptsächlich mit Hausputz.

Ich begann mit der Wohnküche. Die anderen Räume wollte ich später in Angriff nehmen. Dinge, die ich aussortieren wollte, legte ich beiseite. Als Großmutter sich zeigte, nahm ich jeden einzelnen Gegenstand hoch und bekam meist die Erlaubnis, die alten kaputten Sachen in den von mir bereitgestellten Müllsack zu stopfen.

Bei der Puppe vom Fensterbrett, die mich so erschreckt hatte, leistete sie Widerstand. „Warum willst du denn ausgerechnet die behalten? Die ist doch kaputt“, meinte ich, als ich das Teil anstupste. Die Puppe trug ein Rüschenkleid und war mit einer Hochfrisur ausgestattet. Sie sollte wohl eine spanische Flamencotänzerin darstellen.

Die Puppe musste irgendwann einmal zu nah an ein Feuer gekommen sein, denn die eine Hälfte ihres Gesichtes war verschmort und zerstört.

„Die stammt von deiner Mutter. Esmeralda bleibt." Damit verschwand Granny.

Ich zuckte mit den Schultern und setzte die Puppe wieder auf das Fensterbrett, wo sie ihre Wacht wieder aufnahm. „Aber das staubige Kleid werd ich waschen“, sprach ich trotzig in den Raum.

Bei meiner Aufräumaktion war mir ein Kochbuch in die Hände gefallen. Blauer Einband, recht dick mit dem Titel: Das große Kochbuch. Ich war keine gute Köchin. Besonders geschickt war ich eigentlich nur mit dem Dosenöffner und mit der Mikrowelle.

Interessiert blätterte ich die Rezepte durch. „Ich zeig dir, wie man einen Apfelkuchen bäckt“, schlug Oma vor, die plötzlich neben mir stand. „Wenn du den jungen Mann zum Essen einladen willst, solltest du auch was Gutes auf den Tisch bringen. Außerdem ist morgen Sonntag und da gehört es sich, dass man Kuchen hat.“

Also lernte ich, wie man einen Apfelkuchen backt. Ich hatte Tisch und Stühle so verrückt, dass ich immer etwas in Reichweite hatte, auf das ich mich im Notfall aufstützen konnte.

„Perry, mein Physiotherapeut in den Staaten, würde wahrscheinlich schimpfen, wenn er mich jetzt sähe“, sagte ich zu Oma, während ich in der Küche ohne Krücke umher hüpfte.

„Wenn du mit Doktor Hammel sprichst, lass dir doch ein Rezept ausstellen“, meinte Oma.

„Du hast recht, ich muss mir hier einen Physiotherapeuten suchen. Wenn ich ausgeruht bin, geht es auf ebener Strecke. Aber die steile Treppe in den ersten Stock hat es in sich.“ Ich blickte meine Großmutter an. „Ich hab echt Angst, ich könnte stolpern und mir den Hals brechen, wenn ich da morgens runter komme.“ Der dunkle Fleck, der sich unten auf dem Dielenboden abzeichnete gemahnte mich jedes Mal zur Vorsicht. „… und abends, wenn ich müde bin, ist das Hinaufklettern auch nicht so einfach.“

Oma ging auf meinen Wink mit dem Zaunpfahl nicht ein. „Du musst die Äpfel besser schälen und das Kerngehäuse sauber ausschneiden. Kocht man in den Staaten nicht?“

„Holly hatte Personal und im Krankenhaus gab es ebenfalls keine Gelegenheit“, entschuldigte ich mich bei meiner Großmutter. Ich schob den Apfelkuchen in den Ofen und öffnete die Fenster, um die Blumen vor dem Fenster zu gießen und neue Kerzen anzuzünden.

„Holly hat sich nach dem Unfall um mich gekümmert“, erzählte ich weiter. „Ich lag sehr lange im Koma. Nach Dads Tod war sie nicht verpflichtet. Wir sind keine Blutsverwandten. Aber sie war da. Sie ist eine gute Freundin." Ich werkelte an den Blumenkästen vor den Fenstern und erzählte Großmutter ein wenig von dem schweren Unfall.. Die Krücke und die Narben am Körper waren die letzten Überbleibsel - und meine Gabe. Die Krücke würde bald Vergangenheit sein, die Narben verblassen, so hoffte ich. Aber die Gabe würde bleiben, vermutete Silver.

„Du warst lange an der Grenze“, hatte er gesagt. „Da fällt es leichter, den Nebel zu durchdringen. Es ist nichts, wovor man Angst haben muss. Du machst das sehr gut."

Silver hatte mich von dieser Grenze zurückgeholt und mir gezeigt, wie ich mit meinen neu erworbenen Talenten umzugehen hatte.

„Ohne Silver und Holly hätte ich dich nicht besuchen können“, nahm ich den Faden wieder auf. „Ich säße in New Orleans fest, in einem Sanatorium. Davor haben die Zwei mich bewahrt." Großmutter schien interessiert zuzuhören. Ich war mir nie so ganz sicher, wie viel sie wirklich aufnahm von dem, was ich erzählte, denn ich bekam nicht immer Antwort. Ich wechselte das Thema, um zu testen, wie weit sie mir Aufmerksamkeit schenkte. „Schaut doch jetzt toll aus. So mit den Chrysanthemen und Astern. Hoffentlich lässt der Frost noch eine Weile auf sich warten."

„Hier unten am Fluss, da ist es zwar nasskalt, aber es dauert immer, bis es friert. Sie haben noch lang an den Blumen. Schön, dass das Haus jetzt bewohnter wirkt.“

Ich sah von meiner Arbeit auf. Vor mir stand ein Mann auf der Straße und sprach mich durch das geöffnete Fenster an. Die dunkle Kleidung ließ ihn dürr wirken. Er überragte mich um gut zwei Köpfe.

„Mein Name ist Jorg. Ich wohne in der Nähe. Sicherlich treffen wir öfters aufeinander. Man sieht sich.“ Nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte, blickte ich ihm nach, wie der Mensch gewordene Jack Skellington im Regen verschwand.

9.

Nervös blickte ich auf die Zeitangabe auf meinem Laptop. Ich war zu früh dran. Die Zeitverschiebung von hier zur Westküste war knapp neun Stunden. Ich saß im einzigen Internetcafé der Stadt und wartete auf Silver.

Ich winkte der Kellnerin zu. „Ich habe Hunger“, sagte ich zu ihr, als die Frau zu mir an den Tisch trat. „Könnten Sie mir einen Snack vorschlagen?“

„Wir haben belegte Seelen. Kalt und warm“, meinte sie.

„Seelen? Was ist das denn?“

„Eine hiesige Spezialität. Früher hat man den Armen spezielles Brot geschenkt, um sich Pluspunkte im Jenseits zu verdienen. Die Seelen eben“, meinte Hanna, die sich mir gegenüber hinsetzte. „Sind echt lecker. Probier sie ruhig.“

„Gut, also nehme ich eine“, bestellte ich. „Und suchen Sie eine aus, ich lass mich überraschen.“

Fünf Minuten später stand meine Order vor mir: ein längliches Brot, bestreut mit Kümmel und Salz, es war der Länge nach durchgeschnitten, mit gekochtem Schinken sowie Emmentaler belegt und im Backofen heiß gemacht.

„Schaut aus wie Pizza“, meinte ich. „Schmeckt aber sehr viel besser“, belehrte mich Hanna. „Hab ich früher gern gegessen.“

„Willst du was ab?“, fragte ich mehr der Form halber, denn ich kannte die Antwort schon.

„Nein. Vertrag ich nicht mehr so, seit meiner Krankheit.“

„Aber wieso Seele?“, fragte ich.

Hanna kicherte. „Es gibt zwei Erklärungen. Die eine bezieht sich auf die Form. Das lang ausgezogene mit den zwei dickeren Enden und dem etwas schlankerem in der Mitte soll anscheinend einem Oberschenkelknochen ähneln.“

Ich verzog das Gesicht. „Kannibalismus? Wieso sollte jemand einen Knochen essen wollen?“

Hanna zuckte mit den Schultern. „Gibt doch die alten Witzblattbilder. Die haben im Mittelalter geglaubt, die Seele sitzt im Oberschenkelknochen. Deshalb die Form von dem Brot.“

„Aha. Und warum sollte man die essen?“ Irgendein Gedanke kitzelte mein Hirn, kam aber nicht gleich hervor… etwas mit Seelenessen … Nein: Sünden.

Hanna schien zu überlegen. „Na ja stell dir vor, jemand verschlingt die Seelen und löscht sie somit aus.“

„Ich fixierte mein Gegenüber. „Glaubst du an so was? Klingt ja wie aus ’nem Horrorfilm.“

„Ich muss los. Er mags nicht so, wenn ich mich hier rumtreibe. War spannend mit dir zu reden. Bis bald“, verabschiedete Hanna sich abrupt.

Irritiert biss ich ein Stück der Seele ab.

„Na schmeckt es?“

Vor mir stand der dünne Kerl, der mich am Tag zuvor angequatscht hatte, als ich den Blumenkasten herrichtete.

„Hallo…“- „… Jorg“, ergänzte er. „Du wohnst bei Frau Grabherr.“ Er setzte sich unaufgefordert hin. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mich zu dir setze.“

Kurz überlegte ich, ob ich „Doch schon“, sagen sollte. Aber da ich ja etwas mehr über Omas Unfall herausfinden wollte, und er Oma zu kennen schien, schluckte ich meinen Unmut über Jorgs seltsame Manieren hinunter und biss stattdessen in meine Schinken-Käse-Seele. Ich stieß einen überraschten Laut aus. „Oh Gott.“

Jorg sah mich überrascht an und grinste dann. „Dein erstes Mal?“

Ich nickte. „Das ist so was von genial. Wenn ich das im Krankenhaus bekommen hätte …“ Ich kaute hingerissen und biss sofort wieder ab. Das Brot war etwas zäher, als ich es gewohnt war, aber hatte eine angenehme Konsistenz. Der Emmentaler und der gekochte Schinken …

„Die mit rohem Schinken sind auch sehr lecker. Oder einfach mit dick Butter bestrichen“, bemerkte Jorg.

„Das wäre ein Exportschlager. Warum hab ich davon noch nie gehört“, fragte ich zwischen zwei Bissen.

„Lokale Spezialitäten müssen nicht in jedem Supermarkt auf der ganzen Welt erhältlich sein“, dozierte mein Gegenüber. „Bringst mir auch eine? Aber mir Rauchfleisch und Zwiebel“, orderte er von der Bedienung, die an den Tisch getreten war.

Kurz überlegte ich, ob ich noch eine zweite dieser Köstlichkeit bestellen sollte, ließ es dann sein.

„Kaum zu glauben, dass dieses Brot früher an die Armen und Bedürftigen verteilt wurde“, meinte mein Gegenüber.

„Was genau meinst du?“

„Seelen schmecken auch ohne Butter recht gut. Und ich denke, früher waren die Leute zwar angehalten, wohltätig zu sein, aber ich wunder mich immer wieder, dass sie da auch großzügig waren.“

„Du klingst zynisch. Warum sollte man nicht das Beste geben?

„Sollte man, tut man das aber?“ Jorg nickte der Kellnerin dankend zu, die ihm seine Bestellung brachte. „Magst probieren?“, bot er mir an. „Da ist Salz drin. Das zeigt dir, dass ich nicht böse bin.“

„Was ist das jetzt für eine Bemerkung?“ Jorg war tatsächlich seltsamer, als ich dachte.

„Kennst du Ali Baba?“

„Die Band?“

„Das Märchen“, meinte mein Gegenüber kopfschüttelnd. „Was lernen die Leute in Amerika denn in der Schule? - In Ali Baba und die vierzig Räuber kommt der Räuberhauptmann verkleidet ins Haus von Ali Baba und behauptet, er dürfe kein Salz essen.“

„Ja und? Vielleicht war er nierenkrank.“ Ich stellte mich dümmer, als ich war, aber der Typ mir gegenüber war mir einfach zu blöd.

„Jemand, der Salz meidet, ist böse.“ Jorg sagte das, als wäre das eine unumstößliche Tatsache, die jedes Kind wissen sollte.

Ich zuckte die Schultern und meinte: „Tausend Trivia, die man nicht wissen muss. Bist du so eine Art Magier?“

„Was hat mich verraten?“ Jorg sah nicht aus, als würde er scherzen.

„Im Ernst?“ Ich schüttelte den Kopf. „Schon mal in den Spiegel geguckt? Komplett schwarze Klamotten, die Piercings und dann noch diese Bemerkung über Salz und böse Einflüsse. Ist das deine Masche, um Mädchen anzubaggern? Funktioniert sie?“

Er grinste. „Was glaubst du? Wir reden jetzt schon gute zehn Minuten.“

Ich deutete auf meine Krücke, die ich hinter mir quer auf die Sitzbank gelegt hatte. „Ich bin nicht so schnell auf den Beinen.“

„Unfall?“

„Ja.“

Jorg bohrte nicht nach, sondern meinte. „Scheint ja in deiner Familie häufig zu sein.“

„Du meinst wegen Oma? Weißt du was darüber?“

Er legte den Kopf schräg und betrachtete mich eingehend. „Nicht viel. Es hieß, sie sei die Treppe runter gerasselt, weil sie verwirrt war.“

„Und?“

„Deine Oma und geistig verwirrt?“ Er schüttelte den Kopf und grinste. „Ich glaub von Ottilie Grabherr so einiges. Stur, uneinsichtig, rechthaberisch ja. Aber geistig verwirrt?“ Er schüttelte den Kopf. „Auch wenn ihr Rechtsanwalt das so propagiert.“

„Doktor Mühlgruber?“ Ich blinzelte überrascht und überlegte, ob er mir gegenüber irgendetwas gesagt hatte, das mich an Omas Geisteszustand hätte zweifeln lassen können. „Wieso sollte er so was behaupten?“

„Was könnte ein Rechtsanwalt gewinnen, wenn seine Klientin nicht mehr ganz dicht ist?“

Jorgs Grinsen ließ mich schaudern.

10.

Kurz darauf war Jorg gegangen und ich hing meinen Gedanken nach. Ich blickte auf die Uhr. Endlich! Ich startete mein Laptop, stöpselte den Ohrhörer ein und starrte gebannt auf den Bildschirm. Tausende von Lachfalten strahlten wie Sonnenstrahlen mir entgegen. In Silvers leicht schräg stehenden Augen blitzte der Schalk auf, als er in Manier von Winnetou und Old Shatterhand die rechte Hand auf die Herzgegend legte, um dann einen Halbkreis zu beschreiben. „Ich grüße dich, edle Squaw. Weit bist du entfernt von meinem Lagerfeuer. Ich hoffe, die Geister deiner Ahnen sind gut zu dir.“

Ich verdrehte die Augen.

In einem schwachen Augenblick hatte ich ihm davon erzählt, dass ich als Kind gedacht hatte, alle Indianer wären wie Winnetou. Er hatte daraufhin die besagten Bände von Karl May gelesen und sich auf Youtube die Filme angesehen. Seitdem machte er sich einen Spaß daraus, mich mit Karl May Zitaten oder Zitaten aus den alten Filmschinken mit Pierre Brice zu traktieren.

„Jedenfalls hat meine Großmutter mich ins Haus gelassen und die meiste Zeit kann ich mich mit ihr unterhalten“, berichtete ich. „Allerdings hab ich immer noch keine Ahnung, warum sie mich gerufen hat.“

„Gib ihr Zeit.“

Ich verzog mein Gesicht. „Du hast gut reden. Es ist immer so verdammt kalt. Ich trag schon Leggins unter den Jeans und zwei Paar Socken und eine Weste über dem Pulli.“

Silver grinste. „Mach dir warme Gedanken.“

Mein Gesichtsausdruck muss ganze Romane erzählt haben, denn Silver brach in lautes Lachen aus. Sein Gesicht verschwand ein paar Mal vom Bildschirm, während er sich krümmte und vor Lachen auf die Schenkel schlug. Als er sich wieder beruhigt hatte, erklärte er: „Wenn du diese Kälte spürst, dann stell dir ein wärmendes Feuer vor oder einen heißen Tag am Strand. Stell dir vor, wie die Wärme dich umhüllt wie einen schützenden Mantel. Du kannst dir auch einen Mantel aus Flammen vorstellen. Oder eine Sonne in deinem Bauch. Hab ich dir das etwa nicht beigebracht?“

Ich fühlte mich in die Ecke gedrängt. „Schon …, aber zuerst hab ich es vergessen und dann auch erst mal auf das Haus geschoben, schließlich ist es alt und zumindest für die Wand zur Straße hin sind Steine aus dem Flussbett verbaut. Von Isolation haben die im Mittelalter anscheinend nichts gewusst … und die Heizung war lange nicht in Gebrauch … und es ist doch meine Großmutter.“

„Du sollst ja keinen Bann aussprechen, sondern nur dafür sorgen, dass du nicht erfrierst. Ihnen ist die Temperatur egal. Also versuch es.“

„Hast ja recht“, gab ich nach.

„Ich würde sie gerne kennenlernen“, meinte Silver. „Denkst du, wenn wir das nächste Mal skypen, könntest du sie bitten, mir mal Hallo zu sagen?“

„Ich hab zwar den Antrag gestellt, aber es wird noch ein paar Tage dauern bis ich Internet im Haus habe. Grannys Phone ist doch tatsächlich noch analog.“

Silver schüttelte ungläubig den Kopf. „Funktioniert das überhaupt noch?“

Ich verzog das Gesicht. „Ja, aber du hast immer so ein komisches Klopfen im Ohr. Ich sag dir, da hält man die Gespräche gern kurz.“

„Apropos kurz. Erzähl mal, was so in den Tagen passiert ist, seitdem du angekommen bist. Vielleicht kommen wir dahinter, warum deine Großmutter dich kontaktiert hat.“

Ich überlegte. So spontan fiel mir nichts Besonderes ein. „Na ja, das Wetter war eher grausig.“

„Definiere grausig.“

„Nebel. Regen. Selten Sonne. Anscheinend war das ganze Jahr eher nass.“

Ich konnte mir gut vorstellen, dass Silver mit Nebel wenig anfangen konnte, schließlich war Nevada ein Wüstenstaat und auch ich hatte die letzten Jahre weniger mit Nebel als mit Sonne zu tun gehabt. Er fragte auch gleich nach: „Wie muss ich mir das vorstellen? Wallt da Nebel durch die Stadt, so wie in alten Gruselfilmen?“

Ich musste lachen. „Nein. Auch nicht wie in Frisco, wo der Nebel vom Meer her reinzieht. Früher war da eine Stadtmauer, die parallel zum Fluss verlief.“

„Gute Verteidigungslage“, meinte Silver anerkennend.

„Stimmt. Jedenfalls hat man später die Mauer stehen lassen und dahinter Häuser gebaut. Wie Reihenhäuser. Vom Fluss her steigt oft Nebel auf. Vor allem um diese Jahreszeit. Am Tag meiner Ankunft konnte ich teilweise keinen Meter weit sehen.“

„Hmm“, brummelte der Schamane. „Ist dir an dem Tag was aufgefallen?“

„Nun, es war saukalt. Nicht nur im Haus von Granny. Und Granny schien total verwirrt. Murmelte irgendwas vom Nebel.“

„Sonst noch was?“ Silver blickte mich streng an.

„Na ja, ich hab so das Gefühl, dass der Rechtsanwalt, dieser Doktor Mühlgruber, nicht ganz koscher ist.“ Ich erzählte Silver von den Andeutungen, die Jorg gemacht hatte.

„Klingt doch schon mal vielversprechend“, freute sich Silver. „Ein betrügerischer Rechtsanwalt.“ Ich sah, wie er sich die Hände rieb, während er fortfuhr. „Natürlich wäre auch interessant, herauszufinden, warum ein wildfremder junger Mann, dir einfach so etwas erzählt.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, vielleicht wollte er sich nur wichtig machen. Scheint ein bisschen im Okkulten herumzuspielen.“ Ich erzählte von Jorgs Andeutungen mit dem Salz.

Silver sah ernst aus. „Klingt nach einem Sohn des Trickster. Der Kojote streut gerne Unfrieden. Hat der Typ irgendwas mit deiner Großmutter zu tun?“

„Keine Ahnung. Ich werd sie fragen“, versprach ich.

„Eigentlich schon eine nette Liste“, meinte Silver. „Ein Denunziant, ein betrügerischer Rechtsanwalt. Sonst noch was?“

Ich rutschte unsicher hin und her auf meinem Stuhl.

„Na ja. Anscheinend ist irgendjemand im Nebel in den Fluss gefallen und ertrunken, an dem Tag, als ich ankam.“

„… und du sagst, dass du keine Hinweise erhalten hast.“ Silver schüttelte am anderen Ende der Welt den Kopf. „Finde heraus, wer die Person war, die da ertrunken ist. Frag nach, ob so was öfters vorkommt und vor allem: Schau, dass du raus findest, was für ein Wetter war, an dem Tag, als deine Großmutter das erste Mal Kontakt mit dir aufgenommen hat.“

Ich stöhnte. „Sag mal, spinnst du? Wie soll ich das denn machen? Ich weiß ja nicht einmal, wann ich ihren Ruf das erste Mal bewusst wahrgenommen habe. Ich lag im Koma.“

Silver blieb ungerührt. „Der große Geist wird dich führen. Du hast deine Gabe nicht umsonst bekommen …“

„… es gibt keine Zufälle. Du musst nur genau hinschauen“, beendete ich mit meinem Mentor gemeinsam sein Credo. Wie oft hatte ich mir das schon anhören müssen?

„Eben. Also schau dich um. Du bist ein kluges Mädchen und wirst die Zeichen erkennen. Schick mir ’ne Mail, wenn du was herausgefunden hast. Dann reden wir wieder.“

11.

Meine Putzaktion in Kombination mit Omas Backlektion schien ihre Wirkung zu tun. Das Haus wirkte weniger trist. Es roch nach zitronigem Putzmittel und Apfelkuchen. Die dicken Steinmauern speicherten langsam die Wärme. Entweder das oder ich gewöhnte mich an die Kälte.

Ich war zu aufgekratzt, um schon ins Bett zu gehen. Also beschloss ich, im Wohnzimmer die Kanäle in Omas altem Fernseher durch zu zappen.

Überall kamen Halloween Filme. Danach war mir gerade nicht zumute. Schließlich blieb ich bei einen Film hängen, der mir eine typische Liebesgeschichte zu sein schien: Eine Gouvernante kam auf einem Landgut in England an, um sich um zwei Kinder zu kümmern. Das Setting war viktorianisch.

Oma kam hinzu und machte es sich bequem.

„Wenn du mich fragst, wird nachher der Vormund der Kinder auftauchen und sich in die junge Gouvernante verlieben“, bemerkte ich und nahm mir eine Handvoll Kartoffelchips. „So wie bei Jane Eyre“, versuchte ich Omas Filmgeschmack herauszufinden. Aber mochten ältere Damen nicht alle einen guten Liebesfilm mit Happy End?

Oma blieb stumm und konzentrierte sich auf die Story. Als nach zehn Minuten der Vormund die Gouvernante immer noch nicht geküsst hatte, verlor ich das Interesse. Mein Gedanken gingen zurück zu dem Gespräch mit Jorg.

„Oma, was hältst du von Herrn Mühlgruber?“, fragte ich deshalb.

„Doktor Mühlgruber“, berichtigte sie mich. „Der Bastian nimmt es sehr genau mit seinem Titel.“

„Wieso das denn?“

„Manche Akademiker sind da seltsam. Die halten sich für was Besseres.“ Omas Stimme klang amüsiert. „Dein Vater zum Beispiel hatte da ähnliche Ansichten.“

„Könnten wir deine und Dads Meinungsverschiedenheiten außen vor lassen?“, knurrte ich. „Wie kommt es, dass gerade dieser Mann sich um dein Vermögen kümmert?“

„Er war ein Schulkamerad deiner Mutter. Sie hatte zwei Verehrer. Der Basti und der Matze, die hingen fast die ganze Zeit bei uns rum. Bastis Mutter musste arbeiten, es gab keinen Vater. Der Matze, bei dem daheim war’s auch nicht so rosig. Er ist mit seinem Stiefvater nicht gut ausgekommen. Mir gings da ja besser mit der Witwenrente und den Mieteinnahmen. Da hab ich halt die zwei öfters mit durchgefüttert. Ob ich jetzt für zwei oder für vier gekocht hab, das war grad egal. Mitzi, deine Mutter …“, erklärte Oma, als sie meinen verwirrten Gesichtsausdruck sah. „Mitzi, hab ich sie immer genannt.“ Oma lächelte und ihr faltiges Gesicht strahlte, als sie in ihrer dünnen Alte-Frauen-Stimme anfing zu singen: „Itzi, bitzi Mitzi… Süßes kleines Mädele …“

Ich war peinlich berührt. „Oma, mir kringeln sich die Zehennägel. Bitte.“

„Du warst mein Kätzle“, fuhr Oma ungerührt fort.

„Was ist nun mit dem Mühlgruber?“, fragte ich, bevor sie anfangen konnte, einen Kinderreim mit Kätzchen anzustimmen.

„Der Basti hat sich durchgebissen. Abitur, dann Studium.“ Oma betrachtete die Szenen im TV vor sich. Ein Mann stand im Wasser und eine Frau am Ufer. Das Ganze war recht verworren. Anscheinend doch keine Liebesgeschichte zwischen dem Hausherrn und der Gouvernante.

„Als er dann in Wangen in der Kanzlei anfing, hab ich ihm die Verwaltung meiner Grundstücke übergeben. Das hat gut gepasst, weil mein alter Rechtsanwalt damals gerade in Rente gegangen ist.“

Grundstücke? Doktor Mühlgruber hatte mir gegenüber nur Omas Haus erwähnt. Könnte es sein, dass Jorg mit seiner Vermutung recht hatte?

„Der Film ist ganz schön verworren“, lenkte Oma meine Gedankengänge ab. „Du glaubst doch wohl nicht, dass Geister Verstorbener in die Körper von Kindern fahren, um dann ihre Liebe auszuleben? Absoluter Quatsch!“ Damit verschwand sie.

Ich musste ihr recht geben, der Film war sehr verschwurbelt. Ich schaltete den Fernseher aus und ging ins Bett.

12.

„Schön, die Blumen in den Kästen.“

Ich war soeben mit dem Gießen der Pflanzen fertig geworden und wollte die Fenster wieder schließen, als mich von draußen eine ältere Frau ansprach. Sie trug eine blumige Kittelschürze über einem Trainingsanzug und hielt eine Packung Kekse hoch.

„Ich wohne drei Häuser weiter. Ich habe mir gedacht, ich komme mal kurz vorbei und sag Grüß Gott. Mein Name ist Müller."

Hinter mir, von der Tür zum Flur her, zog es kalt in meinen Nacken und ich hörte Großmutter abfällig schnauben. „Pass auf. Die Elsa, die schwätzt einem Esel das Hinterbein ab. Die und die Petra. Furchtbare Ratschen!“

Die Nachbarin winkte mit den Keksen vor meiner Nase. „So als kleines Willkommensgeschenk. Vielleicht machen Sie uns ja einen Kaffee dazu. Haben Sie das Häusle gemietet?"

Ich überlegte kurz. Hier bot sich mir eine Möglichkeit, ein bisschen mehr zu erfahren, was hier so passierte. Natürlich nur, wenn Granny sich nicht einmischte. Ich blickte kurz zu meiner Großmutter, die sich nicht von ihrem Platz gerührt hatte. Hoheitsvoll nickte sie. Ich nahm es als Zustimmung.

Also wandte ich mich wieder der Dame vor meinem Fenster zu und meinte: „Ich bin die Enkelin und wohne jetzt hier. Kommen Sie in einer Viertelstunde wieder vorbei, dann hab ich alles fertig und uns auch einen Kaffee gemacht.“

Elsa verbarg ihre Enttäuschung darüber, dass sie nicht sofort in mein Haus stürzen konnte, um ihre Neugier zu befriedigen. Sie nickte. „S Enkele? Ihre Großmutter hat ja immer so gehofft, dass Sie sie mal besuchen kommen… Gut, dann bis gleich.“

Ich schloss die Fenster und machte es Esmeralda wieder an ihrem Stammplatz bequem.

„Wahrscheinlich bringt sie jetzt noch ihre Freundin, die Petra Schmied mit.“ Granny, bekleidet mit einer fast identischen Kittelschürze wie Elsa, schniefte abfällig.

„Oma“, flehte ich.

„Tu einfach so, als wäre ich gar nicht da. Ich bin mucksmäuschenstill und setz mich ins Wohnzimmer.“

Ich nahm dies als Zustimmung und setzte Wasser für den Kaffee auf. Während das Wasser heiß wurde, räumte ich die Putzutensilien weg und legte noch einmal Holz nach.

Ich hatte gerade Wasser auf das Kaffeemehl im Filter gegossen, da klingelte es schon. Ich griff mir meine Krücke und humpelte zur Haustür. Wie vorhergesagt, war Elsa Müller mit Verstärkung angerückt.

„So, da sind wir. Ich habe noch die Frau Schmied mitgebracht und den Jorg.“ Jack Skellington vom Vortag nickte mir grüßend zu, während sie fröhlich weiter sprach. „Der dürfte in Ihrem Alter sein, dann isch es a bissle ausgwoga.“ Ich hörte Großmutters Lachen aus dem Wohnzimmer und rollte mit den Augen. Dann nahm ich mich zusammen und gab den Weg ins Haus frei. „Kommen Sie doch rein. Entschuldigen Sie die Unordnung, aber ich bin erst vor Kurzem eingezogen.“

Neugierig drängten sich die zwei Damen an mir vorbei, während Jorg mit amüsierten Blick langsam folgte. Nach meiner Unterhaltung mit Silver stand ich Jorgs Verhalten misstrauisch gegenüber.

Gleich im Hausflur vor der steilen Treppe nach oben blieben alle stehen.

„Jessasmaria, schau mal Petra, da muss es passiert sein.“

„Gruselt Sie des nett?“, wandte Petra Schmied sich an mich.

Ich beantwortete ihre Frage mit Absicht ausweichend. „Ich gebe zu, die Treppe ist extrem steil und es kostet mich schon Überwindung, sie rauf- oder runterzusteigen, vor allem mit meinem Handicap.“ Ich deutete auf meine Krücke und mein Bein.

„Oh je und das alles nach dem Unglück … “ Frau Schmied beäugte mich eingehend. „Wie lang ist es denn jetzt her?“

„Mein Unfall? Fast drei Jahre.“

„A bissle später also.“ Frau Müllers Knopfaugen musterten mich von oben bis unten.

„Du musst ja einen richtig schlechten Eindruck von uns bekommen“, mischte sich nun Jorg ein.

„Gehen wir doch in die Küche. Der Kaffee dürfte fertig sein.“ Ich hatte keine Lust, das Thema zu vertiefen.

„Ich habe uns vorne beim Bäcker noch Kuchen besorgt“, meinte Jorg und stellte die Leckereien auf den Tisch.

„Das ist aber freundlich, dann benötigen wir noch Teller. Würdest du mir bitte helfen? Sie sind da drinnen.“ Ich deutete auf den Schrank.

„So isch recht. Die junge Leit sollten sich duzen“, meinte Frau Schmied und ihre Kumpanin nickte erfreut.

Aus Richtung Wohnzimmer hörte ich Omas spöttisches Lachen. Jorg legte den Kopf schief, als hätte er auch etwas gehört.

Kurz darauf saßen wir alle am Küchentisch. Von meinem Platz aus konnte ich Oma durch die geöffnete Wohnzimmertür sehen. Sie saß in ihrem Fernsehsessel und strickte.

Elsa Müller rieb sich die Arme. „Mir ist kalt, es zieht.“

„Ich bin noch nicht lange hier und das Haus war sehr ausgekühlt“, erklärte ich. „Ich habe den Kachelofen an, aber es ist für mich nicht so einfach mit dem Holz.“ Ich grinste. „Zentralheizung wäre einfacher.“

„Oh Sie Arme. Jorg, du hilfst ihr doch sicher?“

Jorg nickte, wenn ich auch den Eindruck bekam, so ganz recht war es ihm nicht, dass Frau Müller über seine Arbeitskraft verfügte. Silvers Kommentare über den Trickster waren mir noch gut im Kopf. Überhaupt konnte ich ihn schwer einordnen. Einerseits brachte er Kuchen mit, andererseits wirkte er durch seine Kleidung und den Silberschmuck, den er trug, eher freaky.

„Ist halt ein Altbau. Die Fenster sind sicher auch nicht alle dicht. Der Herr Mühlgruber hat ja versucht, das Haus zu verkaufa oder zu vermieta. Aber irgendwie sind die Leute immer schnell wieder abg‘sprunga“, meinte Elsa Müller

Petra Schmied nahm einen ausführlichen Schluck Kaffee und sah sich gründlich um. „Hier hat sich aber gar nichts verändert. Guck mol Elsa: Sogar die Puppe sitzt noch im Fenster. Dees alte Klump. I weiß no, wie die Puppe früher aussah. Richtig hübsch. Als i das erste Mal hier vorbeiging und mi dieses kaputte Gesicht angeguckt hat durch die Scheibe, da wurde mir ganz anders.“ Sie griff sich ans Herz.

Ihre Freundin stimmte zu. „Hosch recht. Vor allem bei Nebel. Da ist es eh schlimm …“

„Als ich vor ein paar Tagen ankam, da war auch Nebel“, bemerkte ich. „Ist das normal?“

Die zwei Frauen warfen sich einen Blick zu.

„Na ja, hier unten am Fluss kommt das schön öfters vor“,erklärte Petra. „Vor allem im Herbst und dieses Jahr war auch der Sommer eher nasskalt.“

„Bleiben Sie bei dem Wetter unbedingt daheim“, warnte Elsa.

„Leute rutschen aus und verletzen sich“, fügte Petra hinzu. „Oft bildet sich Blitzeis, wenn jetzt in der kalten Jahreszeit der Dunst vom Fluss her hochsteigt. Sehr gefährlich. Ist besser, dass man bei so einem Wetter daheim bleibt.“

„An dem Tag, als ich ankam, muss auch was passiert sein“, bohrte ich nach. „Wenn Sie nur ein paar Häuser weiter wohnen, haben Sie das sicher auch mitgekriegt, Frau Müller.“

Die zwei Freundinen tauschten Blicke aus.

„Ich kümmer mich um meine eigenen Angelegenheiten.“ Elsa drehte ihre Tasse unruhig zwischen den Händen. „Es ist wirklich kalt hier.“

„Ich habe Sirenen gehört und vorne an der großen Steinbrücke bei der Hauptstraße, da stand die Polizei. Ich glaube, es ist jemand ertrunken“, fuhr ich ungerührt fort.

„Das hast du mir gar nicht erzählt, Tante“, wandte sich Jorg an Petra Schmied.

„Bloß die alte Landstreicherin. Wahrscheinlich betrunken und dann ausgerutscht und im Wasser gelandet. Es war Hochwasser“, meinte Petra Schmied.

Mein Magen verkrampfte sich. „Wollen Sie damit sagen, dass Landstreicher und Betrunkene nicht wichtig sind? Dass sie ruhig sterben können?“, konnte ich mir nicht verkneifen.

„So hab ich das nicht gemeint“, verteidigte sich die Frau.

„Wie dann?“, bohrte ich weiter.

„Du warst zu dem Zeitpunkt verreist und bis du wieder da warst, hab ich es halt vergessen“, sprach sie mit ihrem Neffen und ignorierte meine Frage.

„Du weißt doch, es ist wichtig, mir alle Vorkommnisse zu erzählen“, tadelte Jorg sie. „Weißt du, wie sie hieß?“

„Ich glaub, es war die alte Lies. Eine von den Tipplern, die unter der Gallusbrücke hinten am Einkaufszentrum kampieren.“ Petra Schmied stand auf. „Mir ist kalt, ich geh jetzt. Elsa, kommst mit? Der Nebel zieht wieder rauf. I möcht nicht allein am Fluss entlang geha.“

Ich war froh, dass die zwei alten Weiber sich verabschiedeten. Die Bemerkung von Petra Schmied hatte mich verärgert. Zugegeben, ich ging Landstreichern und Bettlern auch aus dem Weg. Es war mir unangenehm, mich mit der Armut und der sozial schwachen Seite des Lebens auseinanderzusetzen. Aber seitdem ich selbst nicht mehr zu den Schönen und Begehrenswerten gehörte, war ich etwas sensibler geworden und ich hätte Petra Schmied gerne die Frage gestellt, ob es auch nicht weiter wichtig wäre, wenn ich, die aussah wie Frankensteins Braut, ertrunken wäre.

13.

„Ich bleibe noch, wenn es okay ist“, meinte Jorg, als die zwei alten Damen sich zum Aufbruch rüsteten.

„Ich habe ja versprochen, beim Holz zu helfen. Ihr zwei kommt gut allein zurecht, oder?“, wandte er sich an Petra und Elsa, die zögerlich zustimmten.

„Mach dir nichts draus, meine Tante meint es nicht so. Sie schaltet nur manchmal ihr Hirn nicht ein, bevor sie redet.“

„Ist sie wirklich deine Tante? Sie ist doch altersmäßig eher bei meiner Oma einzuordnen?“, fragte ich.

Jorg blickte in die Richtung, in der gerade noch meine Großmutter gestanden hatte und meinte dann: „Eigentlich ist sie die Schwester meiner Großmutter. Also eine Großtante, aber Tante lässt sich leichter aussprechen. Wo ist das Holz?“

„Draußen im Hof. Ich habe da einen alten Kinderwagen gefunden, den benutze ich als Schubkarre, damit geht es eigentlich ganz gut. Du musst mir also nicht helfen“, versuchte ich abzuwimmeln. Ich fühlte mich plötzlich unwohl allein mit Jorg.

„Wenn ich schon mal da bin, hole ich dir ein paar Fuhren rein.“

Ich beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen und fragte geradeheraus: „Was ist hier eigentlich los? Läuft hier ein Mörder rum? Deine Tante und Frau Müller sind nicht die Ersten. Jeder macht so komische Bemerkungen über den Nebel.“

„Irgendwas läuft schief. Wenn es nebelig ist hier am Flussufer, dann passieren Unglücksfälle“, erzählte Jorg.

„Du willst doch nicht behaupten, dass hier immer, wenn sich eine dieser Erbsensuppen bildet, jemand stirbt?“, fragte ich ungläubig.

„Nein. Leute rutschen aus, brechen sich ein Bein, solche Sachen. Manchmal allerdings kommt es auch zu Todesfällen.“

Ich zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, dass ich das Ganze für übertrieben hielt. „Ach komm, wenn da jemand im Nebel lauern würde, hätte die Polizei das doch schon längst untersucht.“

Jorg schüttelte den Kopf. „Meist hat die Polizei bei ihren Ermittlungen einen Unfall festgestellt. Aber ich denke, sie liegen falsch.“

„Du denkst, immer wenn der Nebel aufsteigt, treibt ein Mörder sein Unwesen?“ Ich lachte. „Zuviel über Jack the Ripper gelesen? Hier in einer deutschen Kleinstadt? Ich bitte dich!“

Jorg fixierte mich mit seinen blass-blauen Augen. „Ich denke nicht, dass es ein Mörder ist. Ich denke, es ist ein Dämon.“

„Dämonen? Komm, du nimmst mich auf den Arm.“ Jetzt war mein Lachen nervös.

„Gerade von dir hätte ich eigentlich weniger Skepsis erwartet.“

„Was soll das heißen?“

„Ich kann Auren sehen und deine erzählt mir, dass du die Grenze schon überschritten hattest.“

„Wenn du damit meinst, dass ich lange im Koma lag und fast gestorben wäre, dann ist das kein so großes Geheimnis. Deine Tante kann das vom Rechtsanwalt aufgeschnappt haben.“

„Klar hat sie sich mit ihm unterhalten. Schließlich ist sie neugierig und Mühlgruber hat ja auch damals deine Großmutter gefunden.“

„Das wusste ich gar nicht. Ich dachte, es sein ein Nachbar gewesen.“ Ich nahm mir vor, den Rechtsanwalt ein bisschen auszuquetschen.

„Anscheinend hat er was mit ihr zu besprechen gehabt, und als sie nicht aufmachte, hat er die Polizei verständigt“, berichtete Jorg. „Aber der ist halt Rechtsanwalt durch und durch. Der gibt nichts preis, was mit seinen Klienten zu tun hat. Er hat damals nur gemeint, die Angehörigen seien irgendwo in Amerika und verhindert. Sie könnten sich nicht selbst um alles kümmern.“

Verhindert war gut. Dad und ich hatten einen Autounfall, den er nicht überlebte und der mich monatelang ins Koma warf.

„Jetzt bin ich aber da und kümmer mich und ich will alles wissen. Nicht diese Andeutungen über Dämonen und finstere Mächte. Fakten!“ Der Kerl war eindeutig ein Spinner. Hätte ich mir doch denken können, bei seinem Aufzug, wahrscheinlich trug er irgendwelche seltsamen Tattoos unter seinem schwarzen Pulli.

Warum grinste Jorg so? Er ließ mich einfach stehen und ging Richtung Innenhof, dabei warf er mir über die Schulter noch eine Bemerkung zu, als er zur Tür raus ging. „Du willst Fakten? Wie wäre es mit dem Fakt, dass deine Oma eine Hexe war? Ich muss es wissen, ich hab schließlich bei ihr gelernt.“

Ich stand wie vor den Kopf geschlagen da.

.

„Ich will nicht, dass du nach Deutschland fährst. Deine Großmutter war eine alte Hexe. Sie ist schuld, dass deine Mutter tot ist.“ Vaters Stimme klang kalt und abweisend, als er das sagte.

Ich saß auf dem Beifahrersitz, die Hände so fest zu Fäusten zusammen gekrallt, dass die Fingernägel mir in die Handflächen schnitten. Ich hätte ihn am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt, aber das ging nicht. Es war Nacht, ein Unwetter tobte und wir befanden uns auf dem Rückweg von einem Kletterurlaub im Yosemite Nationalpark. Irgendwie waren wir darauf zu sprechen gekommen, wie ich mir meine Zukunft vorstellte, jetzt da ich das College abgeschlossen hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752114904
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Unterhaltung Wangen im Allgäu Grusel Jugendroman Geister Detektivinen starke Frauen Coming of Age Entwicklungsroman Esoterisch Horror Cosy Crime Whodunnit Krimi Ermittler Fantasy

Autor

  • Alexandra Scherer (Autor:in)

Alexandra Scherer geboren und aufgewachsen in Wangen im Allgäu. Verbrachte einige Jahre in der Südsee und las dort aus purer Langeweile eine komplette Bücherei aus. Deshalb liest und spricht sie sehr gut Englisch. Ihr Humor und literarischen Vorlieben sind stark britisch geprägt. Seit 2019 lebt sie am Rande des Allgäus in Altenstadt an der Iller.
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Titel: Haus im Nebel