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Eezbeez

von Katharina Rauh (Autor:in)
344 Seiten

Zusammenfassung

Irgendetwas geht an Lukas Schule nicht mit richtigen Dingen zu. Und das zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Nicht nur, dass seine kleine Schwester Linda ihm noch mehr auf die Nerven geht als sonst, seit beide die gleiche Schule besuchen. Lukas kämpft um die Stelle des Stellvertretenden Chefredakteurs der Schulzeitung und es scheint beinahe aussichtslos. Merkwürdige Maschinen, die im Abstellraum der Schule stehen, Mitschüler, die Katzenfutter essen, sein Mathelehrer Herr Stretmanni ist auch nicht mehr derselbe... Und was ist eigentlich mit seiner Katze Eezbeez los? Bald findet sich Lukas in einer Welt aus Rache, einer neuen Technologie und an Orten wieder, die es eigentlich gar nicht gibt. Dabei muss er zu ungewöhnlichen Mitteln greifen, einige Regeln brechen und lernt neue Seiten seiner Freunde und seiner Schwester kennen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

Eezbeez

 

 

Roman

 

von

Katharina Rauh

 

 

 

 


Impressum

 

 

 

 

Autorin: Katharina Rauh, Äußere Großweidenmühlstraße 41, 90419 Nürnberg

Cazzeschreibt.de

Umschlaggestaltung: „Giessel-Design“ Christin Giessel

Lektorat: „Phönixlektorat“ Katherina Ushachov

Korrektorat: „Wortfinesse“ Tatjana Weichel

Satz: „ungecovert“ Kim Leopold

 

Dieser Roman enthält Triggerwarnungen/Content Notes. Diese findest du am Ende des Buches sowie auf cazzeschreibt.de


1

 

 

 

 

»Das darf jetzt nicht wahr sein.« Herr Schreiner stemmte die Hände in die Hüften. »Das wichtigste Schulzeitungstreffen in diesem Jahr und nur die Hälfte der Mitglieder ist anwesend. Und von euch anderen haben lediglich drei ihre Aufgaben erledigt.«

»Aber Herr Schreiner … in der Durchsage hieß es …«

»… dass in der ersten Woche kein Nachmittagsunterricht stattfindet«, unterbrach er David. »Wir haben das vor den Sommerferien alles ausführlich besprochen! Ich habe diesbezüglich mit dem Schulleiter eine Ausnahmeregelung getroffen, da wir ansonsten nicht rechtzeitig veröffentlichen können. Aber wenn sich niemand an die Absprachen hält, werden wir nicht einmal bis zum Ende eurer Schulzeit mit der Ausgabe fertig. Um Himmels willen! Ihr hattet sechs Wochen Zeit!« Er lief an seinem Pult auf und ab. »Das hat jedes Jahr geklappt, warum ausgerechnet dieses Jahr nicht?«

Lukas, der sich an den hintersten Computer verzogen hatte, musste sich zusammenreißen, um nicht herzhaft zu gähnen. Natürlich hatte es letztes Jahr schon nicht geklappt. Und vorletztes Jahr hatte Herr Schreiner genau die gleiche Rede gehalten. In genau dem gleichen Tonfall.

Mist. Er hätte es damals aufnehmen sollen. David hätte sich totgelacht.

Dass Lukas seinen Artikel fertigbekommen hatte, hatte er Frau Meder zu verdanken, die ihn nach einigem Bitten und Betteln in der Mittagspause in den Computerraum gelassen hatte.

»Mir ist klar, dass ihr freiwillig hier seid, aber ich erwarte doch ein bisschen mehr Einsatz von euch. Bis zum nächsten Mal muss alles eingetütet sein, damit wir es in den Druck geben können. Ihr kennt das Prozedere, die meisten von euch sind schon lange genug dabei.« Der Lehrer holte Luft. »Anja!«

»Ja?« Die Siebtklässlerin zuckte zusammen und versteckte ihr Smartphone in ihrem Ärmel.

»Frag die Klassensprecher der 6b gleich morgen noch mal wegen des Berichts der Klassenfahrt. Den wollten wir schon letztes Schuljahr bringen. Frau Orzelt bringt mich um, wenn wir ihn dieses Mal wieder nicht mit reinnehmen.«

Anja nickte und schrieb etwas in ihr Hausaufgabenheft.

»Und Roman, wenn du das Interview mit Frau Unke wieder verlegst, reiße ich dir höchstpersönlich den Kopf ab.« Herr Schreiner atmete tief durch und schien zu überlegen, wen er als Nächstes maßregeln könnte. Doch dann sah er auf die Uhr. »Gut, lasst uns für heute Schluss machen. Bis nächsten Dienstag, und wehe, es vergisst noch jemand etwas!«

Erleichtert räumten sie ihre Sachen in die Schultaschen und fuhren die Computer herunter.

»Lukas, David und Emma, ihr bleibt bitte noch kurz da.«

Lukas, der die ganze Stunde um einen Rüffel herumgekommen war, zuckte zusammen. Sie hatten ihre Sachen dabeigehabt, was wollte Herr Schreiner von ihnen? Hatte Frau Meder ihm doch gesteckt, dass er seinen Artikel auf den letzten Drücker erledigt hatte? Zögerlich packte er seine Sachen zusammen, bevor er mit vorsorglich gesenktem Kopf zu Herrn Schreiner ging. Aber warum sollten dann auch noch David und Emma hierbleiben? Hatte ihn Emma vielleicht verpetzt, dass er den Bericht über Social Games geschrieben hatte, obwohl es ausdrücklich Davids Aufgabe gewesen war? Mist, dabei hatte er extra ein paar David-typische Rechtschreibfehler eingebaut …

»So, ihr drei.« Herr Schreiner atmete tief durch, sobald der letzte Schüler die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Wie ihr wisst, hat Ramona ihren Abschluss gemacht. Das bedeutet, dass David vom stellvertretenden Chefredakteur zum Chefredakteur befördert wird.«

David grinste, als hätte er gerade die Weltherrschaft übernommen.

»Es gibt allerdings ein Problem. Lukas und Emma, ihr bringt beide die gleichen Voraussetzungen für den Posten des stellvertretenden Chefredakteurs mit. Ihr habt ungefähr die gleiche Erfahrung. Emma ist etwas zuverlässiger, aber Lukas’ Texte haben ein bisschen mehr …« Er schnippte mit dem Finger »… das gewisse Etwas.«

Lukas und Emma sahen einander an.

Natürlich, Lukas hätte es sich denken können. Ramona war weg. Jetzt kam David an die Reihe. Und wenn David nächstes Jahr seinen Abschluss machte, würde der jetzige stellvertretende Chefredakteur seinen Posten einnehmen.

Abgesehen von der schicken Zeugnisbemerkung konnte Lukas dann endlich Befehle erteilen. Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie er gemütlich auf seinem Chefsessel saß und den neuesten Artikel einer heftig schwitzenden Emma diktierte, während Roman seine Füße massierte. Seine Eltern würden seine Schreiberei endlich nicht mehr als sinnlosen Zeitvertreib ansehen. Er käme seinem Traumberuf ein Stückchen näher. Schließlich hatte Ramona dadurch ihren Ausbildungsplatz beim Griedloher Kurier bekommen …

»Natürlich bin ich besser geeignet.« Emma trat einen Schritt nach vorne und reckte das Kinn. »Ich kann als stellvertretende Chefredakteurin frischen Wind reinbringen. Zudem sind meine Artikel und Beiträge die beliebtesten.«

Lukas schnaubte. »Ja, der Kummerkasten und die Witzeseite. Das könnte ich auch. Meine Spieleberichte sind mehrere Seiten lang und sehr ausführlich.« Er hatte große Lust, ihr den Tafelschwamm ins Gesicht zu feuern. Hatte Herr Schreiner nicht gerade gesagt, dass seine Texte besser waren?

»Ja, und stinklangweilig.« Sie verdrehte die Augen.

Das konnte doch nicht wahr sein! Lukas musste erst einmal Luft holen, bevor ihm etwas Schlagfertiges einfallen wollte. »Das kannst du doch nicht …«

»Stopp, stopp, stopp.« Herr Schreiner hob die Hand. »Ich möchte euch nicht gegeneinander aufbringen. Ihr seid beide gut in eurer Rubrik.« Er rieb sich die Stirn. »Aber es ist gut, dass Emma das mit dem frischen Wind angesprochen hat. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der Grimmsche Kurier eine neue Rubrik vertragen könnte. Also werden wir daraus einen kleinen Wettbewerb machen. Ich gebe euch die Aufgabe, euch bis Ende nächsten Monats etwas auszudenken. Gerne könnt ihr auch schon früher zu mir kommen und eure Idee mit mir besprechen. Wir werden beides vorstellen. Wessen Rubrik besser ankommt, bekommt den Posten. In Ordnung?«

»Aber selbstverständlich, Herr Schreiner«, flötete Emma und grinste entschlossen, als hätte sie schon tausend Ideen im Kopf.

Mit einem siegessicheren Funkeln in den Augen sah sie zu Lukas, der auf Anhieb überhaupt keinen Plan hatte. Aber so leicht würde er sich nicht geschlagen geben.

Der Kampf war eröffnet!


2

 

 

 

 

Als Lukas zu Hause war, war ihm immer noch nichts eingefallen. Was sollte er Neues erfinden? Im Grunde gab es alles, was man in einer Schulzeitung erwartete. Die obligatorische Witze- und Neuigkeitenseite und Emmas Kummerkasten, den Lukas immer überblätterte. Es gab Berichte über Schulfahrten und Veranstaltungen wie den Elternabend oder ein Sammelprojekt für ein Dritte-Welt-Land. Wenn Roman es nicht wieder verpennt hatte, gab es ein mehr oder weniger lieblos geführtes Lehrkräfteinterview. Louisa stellte ein interessantes Buch vor, und David und er wechselten sich mit dem Testen von Computerspielen ab. Hin und wieder gab es einen Bericht zu einem bestimmten Thema, wie zum Beispiel dem Rauchverbot oder Flatrate-Saufen, doch das war auch schon alles. Sonderlich viel passierte an seiner Schule ja auch nicht.

Lukas seufzte und warf sich auf sein Bett. Dass sich Emma immer so aufspielen musste. Sie war doch keine zwölf mehr!

»Lukas, Abendessen!«

Die Stimme seiner Schwester erschreckte ihn. Verdammt! Konnte die nicht anklopfen? Er zog sich seinen Hoodie über sein T-Shirt und ging hinunter ins Esszimmer, wo der Rest der Familie schon versammelt war.

»Na, wie war der erste Schultag?«, fragte sein Vater, legte seine Jurazeitschrift weg und schaufelte sich Lasagne auf den Teller. »Linda, wie gefällt es dir an deiner neuen Schule?«

»Voll öde.« Linda stocherte in ihrem Essen herum. »Wir haben voll viele Jungs in unserer Klasse, und unsere Klassenlehrerin ist total bescheuert. Frau Blabla, oder wie die heißt …«

»Frau Palan?« Lukas schnappte sich das Ketchup, bevor Linda wieder die ganze Flasche leer machen konnte. »Sie ist nicht bescheuert, das ist eine der besten Lehrerinnen, die dir an dieser Schule über den Weg laufen werden. Du wirst schon sehen.«

»Die ist bescheuert«, wiederholte Linda. »Die hat sich total gefreut, uns zu sehen und uns wie kleine Kinder behandelt. Dabei sind wir doch jetzt schon in der fünften Klasse! Und der ganze Englischkram, von dem sie die ganze Zeit geredet hat. Ich will kein Englisch, ich will viel lieber Latein. Am Luisengymnasium …«

»Jaja, das Luisengymnasium ist ja so viel besser … Keine Jungs, nur super Lehrer und Lehrerinnen und alles glitzerbunt und wundertoll. So ein Pech, dass du durch den Probeunterricht gefallen bist.«

»Das ist doch nicht mei-«

»Jetzt streitet euch nicht, Kinder. Lukas, wie war denn dein Tag?«

Lukas nahm noch einen Bissen. »Hat alles gepasst. Wir haben über Organisatorisches und so gequatscht. Wandertag, Klassenaufgaben und so weiter. Dann haben wir unsere Bücher bekommen. Daniel und ich sind zu seiner Mutter in den Laden und haben Hefte und das andere Zeug gekauft. Das Übliche.«

Linda warf ihm einen bösen Blick zu, den er nicht beachtete. Stattdessen warf er einen Blick auf ihre Hauskatze Eezbeez, die gerade gemütlich ins Esszimmer geschlendert kam und sich mit erwartungsvollem Blick vor Linda hinsetzte, in der Hoffnung, dass Linda ihr Lasagne zukommen ließ.

»Am Nachmittag hatten wir Treffen von der Schulzeitung. Herr Schreiner meint, ich könnte stellvertretender Chefredakteur werden.«

»Das sind doch prima Neuigkeiten.« Seine Mutter strahlte ihn an.

»Der Haken an der Sache ist, dass ich mir was Neues für die Schulzeitung ausdenken muss und Emma auch um den Posten kämpft.«

»Mach doch was mit Ponys. Ponys kommen immer gut an«, warf Linda ein.

»Garantiert nicht. Dann kann ich auch gleich aus der Schulzeitung austreten«, entgegnete Lukas.

»Du wirst schon was finden. Dir ist doch schon öfter nichts eingefallen, und plötzlich hattest du die genialsten Ideen«, sagte seine Mutter.

Lukas brummte skeptisch. Seine Fantasie war in letzter Zeit flöten gegangen. Sie saß bestimmt auf Hawaii in einer Basthängematte und genehmigte sich einen Cocktail. Wenn er den Kerl erwischte, der sie dort hingeflogen hatte.

Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten, ging Lukas wieder in sein Zimmer und suchte nach seiner verloren gegangenen Fantasie. Unter dem Bett war sie schon mal nicht. Verdammt, sie war vermutlich wirklich auf Hawaii.

Er warf sich zusammen mit seinem Handy und dem Schulzeitungsordner auf sein Bett. Jetzt musste er erst einmal Inspirationen sammeln.

Er blätterte durch die erste Ausgabe, bei der er mitgemacht hatte, und stieß auf die mit Rechtschreibfehlern vollgepackte Fortsetzungsgeschichte über den Hausmeister Rudi Rächer, der nach der Schule die Straßen vom Bösen mit seiner Wienerle-Kanone befreite. Nachdem Rudi in der Siebten in Rente gegangen war, war das Format eingeschlafen. Vielleicht konnte er es ja wieder mit dem neuen Hausmeister zum Leben erwecken …

»Nein, Lukas. Das ist nichts Neues«, hörte er die Stimme von Herrn Schreiner in seinem Kopf.

Mist. Dann musste er weitersuchen. Er wälzte sich durch die Seiten, bis ihn das Gesicht von Herrn Stretmanni angrinste. Klar, die Lehrkräfteinterviews waren schon immer der Renner gewesen. Wer wollte nicht wissen, was die Lieblingseissorte seines Lehrers oder seiner Lehrerin war? Herr Stretmanni: Schokolade. Frau Palan: Orange. Herr Schreiner: Pistazie. Das schien trivial, aber mit solchen Informationen konnte man super den Unterricht ablenken. Lukas musste lachen, als er daran dachte, wie sie in einer Unterrichtsstunde Herrn Schreiner mal dazu gebracht hatten, eine Viertelstunde über Pistazien zu schwärmen. Vor dem Erdkundetest hatte sie das allerdings trotzdem nicht gerettet.

Was war eigentlich seine Lieblingseissorte? Auch Pistazie? Oder Stracciatella? Er las sich die restlichen Fragen durch.

Und dann kam ihm eine Idee.


3

 

 

 

 

Lukas wurde am nächsten Morgen unsanft von seinem Handy-Wecker geweckt. Er murmelte wüste Beschimpfungen, während er versuchte, die Snooze-Taste zu treffen. Als das lärmende Teil endlich abgestellt war, drehte er sich wieder um und kuschelte sich zurück in die warme Decke. Gestern Nacht war er immer wieder aufgewacht, weil er weitere Ideen hatte. Seine Notiz-App auf dem Handy quoll über vor lauter im Halbschlaf getippter Gedanken. Er fühlte sich, als hätte er die Nacht durchgemacht.

Am liebsten hätte er weitergeschlafen, doch sein nerviger Wecker ließ ihn nicht. Nach fünf Minuten klingelte er wieder. Und zehn Minuten später noch einmal. Es hatte keinen Zweck.

Lukas quälte sich aus dem Bett und unter die Dusche, die ihn trotz kalten Wassers auch nicht wacher machte. Im Halbschlaf aß er sein Müsli, packte seine Sachen zusammen und schleppte sich in die Schule.

Seine Freunde waren noch nicht da, also nahm Lukas die Sachen für die erste Stunde raus, gähnte noch einmal und legte seinen Kopf auf die Tischplatte. »Powernapping« nannte das seine Mutter. Das machten auch erfolgreiche Manager. Und jetzt, wo die Führungsposition in greifbarer Nähe war, konnte das nur gut sein.

Gefühlt eine Sekunde später wurde ihm herzhaft auf den Rücken geklopft. Nix mit Powernapping.

»Moooorgeeeen, Lukas.« Daniel grinste ihn an und schwang sich auf den Sitz neben ihm. »Gestern zu viel gezockt, oder was?«

»Nee, wegen der Schulzeitung«, murmelte Lukas und stützte seinen Kopf auf seiner Hand ab. Wie konnte der plötzlich nur so schwer sein?

»Hat euch der Schreiner die ganze Nacht dabehalten? Ich wusste schon immer, dass er zu viel in die Sache reinsteckt.«

»Nein, ich hab …«

Die Tür ging auf, und Paulina und Ilona kamen zusammen mit einem Schwall weiterer Mitschüler herein. Da nun ihre Clique vollständig war, konnte Lukas endlich vom Gespräch mit Herrn Schreiner erzählen.

»Mensch, ist doch saucool.« Paulina freute sich sichtlich für ihn. »Und, hast du schon eine Idee?«

»Nun ja …« Lukas war sich noch immer nicht so sicher, ob seine Idee nicht der Fail des Jahrhunderts war. »Ich habe mir überlegt, dass ich eine Art Gegengewicht zu den Lehrkräfteinterviews mache. Ich interviewe die Leute hier. Also die Schülerinnen und Schüler. Und das nenne ich dann ›Das Grimmsche Interview‹. Was haltet ihr davon?«

Doch bevor einer von ihnen antworten konnte, stand Rebecka vor ihnen und musterte Lukas’ Heftstapel, den er auf seinem Tisch aufgebaut hatte.

»Ist das Französisch?«

Lukas sah auf die Hefte. »Oh, stimmt, wir haben ja Mathe. Falsches Heft rausgepackt.« Er wollte sie wieder wegräumen, doch Rebecka hielt sie fest.

»Du magst Frau Palan doch auch, oder?«, fragte sie unschuldig.

»Klar, aber was hat das jetzt mit meinem Heft zu tun? Und nimm gefälligst die Pfoten weg.«

Rebecka hob die Hände. »Es ist nur so, dass wir entschieden haben, dass wir bei Frau Palan orangene Heftumschläge nehmen. Weil das ihre Lieblingsfarbe ist.«

Lukas schnaubte. »Alles klar. Französisch oder Englisch?«

»Beides natürlich.« Rebecka sah ihn an, als hätte er sie gerade gefragt, was eins plus eins sei.

»Das ist auch total sinnvoll, für zwei Fächer dieselbe Heftumschlagfarbe zu nehmen. Außerdem hat Frau Palan gesagt, dass ihr das völlig egal ist, also was erwartest du von mir? Dass ich mir … sechs neue Heftumschläge kaufe? Weißt du, was das kostet?«

»Lukas, lass dich nicht darauf ein«, rief Marie aus der Reihe hinter ihm. »Rebecka will dich doch nur für ihre kindische Palanisten-Truppe gewinnen.«

Rebeckas Augen verengten sich zu Schlitzen. »Halt dich da bloß raus, Marie. Du bist doch auch nicht besser mit deinen Yildirimern. Wie war das letztes Jahr mit den Adidas-Jogginghosen in Sport? Das habt ihr doch auch nur gemacht, weil Frau Yilderim die immer trägt.«

»Ach komm, du hast mit den ›Join the Palans‹-Aufklebern angefangen!«

Lukas seufzte. »Ich glaub, ich muss mal an die frische Luft.« Er ließ die beiden Streitenden stehen, erhob sich und machte sich auf zum Kaffeeautomaten. Auch wenn er nach dieser Diskussion wirklich keinen mehr brauchte.

Ein Strom Kinder aus der Fünften rauschte an ihm vorbei, die Gesichter noch voller Euphorie über ihre neue Schule. Linda war nicht unter ihnen.

Gott sei Dank, sie konnte er gerade überhaupt nicht gebrauchen.

Auch am Kaffeeautomaten bildete sich bereits eine Schlange. Lukas atmete tief durch und kramte in seiner Hosentasche nach Kleingeld. Palanisten versus Yildirimer – der ewige Kampf, wer die bessere Lehrerin sei. Eigentlich wäre das guter Stoff für einen Schulzeitungsartikel. Vermutlich würden Rebecka und Marie ihn dann zu Hackfleisch verarbeiten und als Frikadellenbrötchen im Hausmeisterstand verkaufen. Nein, lieber kein Risiko eingehen. Er musste sich auf sein jetziges Projekt konzentrieren.

Nur noch einer vor ihm. Ein Winzling mit einem Schulranzen, fast größer als der ganze Kerl. In seinen Händen hielt er einen Block, auf dem eine ziemlich komplizierte Zeichnung einer Maschine abgebildet war. Neben ihm standen zwei weitere Jungs, die sich gerade um ein Snickers stritten.

Er konnte ja schon mal ein Testinterview führen. Dann sah Herr Schreiner gleich, was Lukas meinte. Doch wen sollte er dafür nehmen? Paulina, Ilona oder Daniel? Kam das nicht ein wenig einfallslos daher? Und wann war der Zwerg vor ihm endlich fertig?

Der Automat gab ein gurgelndes Geräusch von sich, und der Kleine zog den vollen Becher aus der Halterung. Mit dem riesigen Ranzen musste er aufpassen, dass er nicht vornüber kippte. Behutsam ging er mit dem randvollen Becher davon.

Als der kleine Kerl auf Lukas’ Höhe war, passierte es: Die Fünftklässler, die sich um ein Snickers stritten, schubsten sich gegenseitig, und der eine fiel gegen den Zwerg mit dem Becher.

Er stolperte und schüttete den ganzen Becherinhalt auf Lukas’ neue Jacke.


4

 

 

 

 

»Habt ihr Tomaten auf den Augen? Ihr weichgekochten Wiesenchampignons, ihr kleinen …«

Lukas war kurz davor, sein ganzes Arsenal an Schimpfwörtern auszupacken. Er roch an seiner Jacke. Auch noch Gemüsebrühe! Na toll, da konnte er sich den Kaffee auch sparen.

Der Kleine mit dem Rucksack sah ihn mit großen Augen an, als würde er gleich zu heulen anfangen. »Ich kann nichts dafür, die haben mich geschubst.«

Die beiden anderen Übeltäter waren genauso uneinsichtig.

»Er hat mich geschubst.»

»Nein, er hat mich geschubst.«

»Du hast mir mein Snickers geklaut.«

»Du hast es mir doch geschenkt. Heute Morgen im Bus, weißt du nicht mehr?«

Die drei redeten mit ihren piepsigen Stimmen durcheinander, und Lukas hatte schon wieder genug.

»Ach, vergesst es einfach.« Er ließ sie stehen, bevor sein Kopf explodierte.

Auf der Toilette weichte er seine Jacke im Waschbecken ein und versuchte, den Gestank herauszubekommen. Doch nach ein paar Minuten stank die ganze Toilette nach Gemüsebrühe. Lukas gab auf. Er würde die Jacke heute nach der Schule einfach in die Waschmaschine stopfen. Wenn das Flecken hinterließ, dann konnten die drei aber was erleben!

Seine Laune war im Keller, als er wieder das Klassenzimmer betrat.

»Wo warst du so lange? Und warum ist deine Jacke nass?«

»Ich dachte, du wolltest dir nen Kaffee holen.«

»Was riecht das so nach Suppe?«

»Gemüsebrühe-Unfall«, murmelte Lukas resigniert und setzte sich wieder auf seinen Platz. Die nasse Jacke warf er ohne Rücksicht auf Verluste neben seine Schultasche auf den Boden.

Kurz darauf ertönte die Schulglocke, und die Tür öffnete sich wieder. Ein großer und ziemlich beleibter Mann kam herein, mit riesiger Opabrille und grauen Haaren.

»9c? Bin ich hier richtig?«

Als einzelne Jas durch das Klassenzimmer waberten, stellte er seine Tasche auf dem Pult ab und begann, seinen Namen an die Tafel zu schreiben.

»Manfred Stretmanni mein Name. Wir werden dieses Schuljahr die Ehre in Mathematik haben. Heute haben wir die ersten zwei Stunden miteinander, da Frau Palan noch ein paar Einführungsstunden mit ihren Neuen hat.« Er drehte sich um.

»Keine Sorge, das kommt nicht in der Schulaufgabe dran.«

Als Herr Stretmanni nach der Stunde das Klassenzimmer verließ, streckte sich Daniel auf dem Stuhl aus. »Also, ich habe das Gefühl, dass Mathe heuer nicht so stressig wird wie sonst. Stretmanni macht doch einen ganz gechillten Eindruck, oder? Jedenfalls besser als diese Bentheim-Ziege letztes Jahr. Vielleicht ist dieses Jahr sogar etwas Besseres als eine Vier drin.«

Sie packten ihre Sachen und verzogen sich in ihre übliche Ecke im Pausenhof.

Lukas holte seinen Block hervor. »Lasst uns noch mal auf das Thema ›Grimmsche Interview‹ zurückkommen. Was haltet ihr davon?«

»Ich finde es cool.« Ilona biss von ihrem Pausenbrot ab. »Mal was anderes und auch bestimmt interessant zu sehen, wie sich das entwickelt. Eine Person aus der fünften Klasse gibt in der zehnten Klasse bestimmt ganz andere Antworten.«

»Ich weiß nicht. Rebecka und Konsorten würden das bestimmt wieder als Plattform sehen, sich zu profilieren.« Paulina verzog das Gesicht.

»Das ist schon klar«, schob Lukas schnell dazwischen. »Ich will solche gar nicht drannehmen. Nur ganz normale Leute. Und Schulsprecher und so laufen dann unter Sonderausgabe oder so.« Er zückte wieder seinen Block. »Ich denke, es wäre das Beste, wenn wir erst einmal ein Testinterview durchführen, damit Herr Schreiner sieht, was ich meine. Meldet sich jemand freiwillig oder müssen wir das mit Schere-Stein-Papier ausknobeln?«

Die drei sahen sich an.

»Ich mach schon.« Ilona grinste. »Ich hätte bei Schere-Stein-Papier sowieso verloren«.

Lukas holte sein Handy hervor und wählte die Sprachaufnahme.

»Na dann … los geht’s!«


5

 

 

 

 

»Wie ist dein Name?«

»Willst du mich veräppeln? Das weißt du doch.«

Lukas schnalzte mit der Zunge. »Ja klar, aber für das Interview muss ich ganz von vorne anfangen.«

Ilona seufzte. »Na gut. Mein Name ist Ilona Becker, ich bin fast fünfzehn Jahre alt und gehe in die 9c der Gebrüder Grimm Realschule in Griedlohe.«

»Das brauchst du nicht sagen. Alle, die interviewt werden, gehen hier auf die Schule«, warf Daniel ein.

»Was denn jetzt?« Ilona verdrehte die Augen.

»Klappe! Daniel, du versaust das Interview.«

»Wollte ja nur helfen«, murrte er und biss in seine Pizza.

»So, weiter im Text: Was sind deine Lieblingsfächer?«

»Hmmm … Englisch eigentlich. Und Mathe.«

»Mathe? Und Englisch? Was ist denn das bitte schön für eine weirde Kombo?«

»Daniel, kannst du nicht einmal deine verdammte Klappe halten?«

Daniel hob mit einem breiten Grinsen die Hände.

Lukas atmete tief durch. Das war schon fast wie damals, als er in der Siebten Frau Palan interviewt hatte und dauernd irgendwelche aus der Fünften reingeplatzt kamen und Frau Palan fragten, ob sie denn schon die Schulaufgabe korrigiert hätte.

»Na schön, also Mathe und Englisch … und wer sind deine … Oh nein, was willst du hier?« Lukas brach wieder ab.

Linda stand unschuldig lächelnd vor ihnen, hinter ihr eine weitere kichernde Fünftklässlerin. »Kann ich mal dein Handy haben?«

»Nein, du siehst doch, dass ich es gerade selbst brauche. Was willst du überhaupt damit? Du hast doch auch eins.«

»Ja, aber das hat keine gute Kamera. Und ich will Lena doch die Bilder von Eezbeez zeigen.«

»Meine Güte, Mädchen, wenn du deiner Freundin unbedingt unsere Katze zeigen willst, dann nimm sie doch nach der Schule mit zu uns nach Hause.«

»Ja, aber gib mir mal trotzdem dein Handy.« Linda wedelte ungeduldig mit der Hand und griff danach.

»Nein.« Lukas steckte es demonstrativ in seine Jackentasche. »Und jetzt zieh Leine, sonst werde ich ungemütlich.«

Linda sah ihn mit ihrem Hundeblick an. Und dann fing sie auf einmal an, wie am Spieß zu brüllen.

»Frau Paaaaalaaaaaan!«

Der halbe Schulhof drehte sich zu ihnen um. War das peinlich!

»Frau Paaaaalaaaaan!«

»Schon gut, nimm es und hör auf, dich wie ein Kleinkind zu benehmen. Ich dachte, du magst Frau Palan nicht?«

Doch Linda grinste schon wieder und schnappte sich Lukas’ Handy. Als sie davonflitzte, rempelte sie versehentlich den Jungen an, der Lukas die Gemüsebrühe über die Jacke gekippt hatte. Er trug immer noch diesen komischen Block im Arm und umklammerte ihn wie seinen heiligsten Schatz.

Er erhaschte Lukas’ Blick und machte schlagartig ein bedröppeltes Gesicht.

Der Typ war ihm noch was schuldig …

Lukas drehte sich zu seinen Freunden um, die ihn anfeixten.

»Was? Wir können das doch auch schriftlich machen.«

»Kommt«, sagte Paulina mit einem Blick auf die Uhr. »Sonst scheißt uns Rebecka wieder zusammen, warum wir zu spät zu Französisch kommen.«

Im Klassenzimmer angekommen erwartete sie schon der strenge Blick von Rebecka, die ihre orangefarbenen Hefte fein säuberlich auf den Tisch gestapelt hatte.

»Fein.« Lukas knallte seinen Block auf den Tisch und kritzelte Ilonas Antworten zu seinen Fragen hin, bevor sie von Linda unterbrochen wurden.

»Und was sind deine Lieblingsle…« Bevor er seine Frage zu Ende formulieren konnte, ging die Klassenzimmertür auf und Frau Palan kam herein.

»Hello, everyone!« Sie strahlte alle an, als käme sie gerade frisch aus dem Urlaub.

»Falsches Fach!« Marvin, der gerade den Tafelanschrieb von Herrn Stretmanni wegwischte, grinste breit.

»Na, dann eben Salut tout le monde. Da sind wir doch flexibel, oder?« Frau Palan stellte ihre Aktentasche auf dem Stuhl ab und legte ihre Orange, die sie immer dabeihatte, auf ihr Pult.

Ilona deutete mit ihrem Stift in Richtung Frau Palan. »Das sollte deine Frage beantworten. Lass uns in der nächsten Pause weitermachen.«

Doch so weit sollte es nicht kommen.

»Das Büchereiteam trifft sich in der zweiten Pause in der Bücherei zur Besprechung.«

»Sorry, Lukas, da muss ich hin. Und wie ich Frau Hansen kenne, dauert das sicherlich die ganze Pause.«

Lukas japste. Irgendwie wollte das einfach nicht klappen heute. »Dann nimm den Fragebogen mit und füll die Fragen einfach zu Hause aus.«

Das war ja schwieriger unter einen Hut zu bekommen als die Lehrkräfteinterviews. Langsam hatte er Zweifel, ob sein Projekt wirklich so eine gute Idee war.


6

 

 

 

 

»So. Dann zeigt mal, was ihr euch überlegt habt.«

Lukas hatte den halben Nachmittag damit verbracht, Ilonas knapp hingekritzelte Antworten in eine annehmbare Form zu bringen. Deswegen wollte er seine Ergebnisse Herrn Schreiner direkt in der ersten Pause vorstellen. Leider war Emma auf die gleiche Idee gekommen.

So standen sie beide vor dem Lehrkräftezimmer und beäugten sich skeptisch, solang sie auf Herrn Schreiner warteten.

Während Lukas nur ein Blatt dabei hatte, fuhr Emma das komplette Arsenal auf, mit Tablet und einem randvoll gefüllten Ordner.

Wie die Motte vom Licht wurde Herr Schreiner natürlich von Emmas Tablet angezogen. Die nächsten zehn Minuten gingen dafür drauf, dass Lukas seinem Lehrer dabei zusah, wie er auf einen Bildschirm starrte und abwechselnd »Ah« und »Oh« sagte.

»Und statt der langweiligen Berichte machen wir spannende Video-Reportagen. Wir richten einen Kanal auf YouTube ein, und dann können wir die Videos auf der Homepage einbinden. Ich habe auch ein neues Design dafür entwickelt …« Emma tippte auf ihrem Tablet herum, worauf sich ein Inferno aus bunten Farben öffnete. »Ist doch viel besser als die alte Seite, oder?«

Herr Schreiner stand nur noch mit offenem Mund da.

»Aber zurück zur Schulzeitung. Ich habe meine Kummerkastenecke ein bisschen aufgemöbelt, die sieht jetzt so aus …« Sie zeigte ihnen einen ›Emmas Kummerkastenecke‹-Schriftzug in knalligem Pink, das Linda sicher gefallen hätte. Nach einigen Sekunden poppte Emmas Gesicht heraus. »Cool, oder?« Emma grinste siegessicher und funkelte Lukas über Herrn Schreiners Schultern an.

»Das ist ja wirklich kreativ!« Herr Schreiner konnte seine Augen kaum abwenden.

Lukas hatte genug. Die Sache war doch gelaufen für ihn. Warum jetzt noch Zeit und wertvolle Pause verschwenden, wenn Emma das Ding doch sowieso schon in der Tasche hatte? Er wollte schon wieder gehen, da wendete sich Herr Schreiner ihm zu.

»Und was hast du dir Schönes ausgedacht?«

Lukas schämte sich, sein mickriges DIN-A4-Blatt vorzuzeigen, das nicht einmal vollständig beschrieben war. Der Lehrer schaute sich sein Blatt lange nachdenklich an.

Emma warf einen Blick darauf und schnaubte verächtlich.

»Ich habe mir gedacht, wir drehen den Spieß mal um«, fügte Lukas als Erklärung hinzu, weil er nicht wusste, wie er Herrn Schreiners Blick interpretieren sollte. »Interviewen die Schülerinnen und Schüler anstatt der Lehrkräfte. Und das nennen wir dann ›Das Grimmsche Interview‹.«

Emma verschränkte die Arme. »Das ist doch nichts Neues.« Sie holte ihren Ordner hervor. »Ich habe noch viel mehr Ideen. Wenn Sie sich die auch anschauen wollen, Herr Schreiner.«

»Das ist mir eben spontan eingefallen«, verteidigte sich Lukas. Alles, was er jetzt nur noch wollte, war, dass ihm Herr Schreiner seinen Zettel zurückgab und er sich im Schulgarten vergraben konnte. Wieso hatte er auch erwartet, dass seine Idee gut ankommen würde? Geschweige denn, ihm den Posten als stellvertretenden Chefredakteur einbringen würde. Das konnte doch selbst Roman besser!

Herr Schreiner sah Lukas an. »Hast du das auch als Datei verfügbar?«

»Klar.« Lukas zog einen USB-Stick aus seiner Hosentasche. Was wollte Herr Schreiner damit? Sichergehen, dass er die Datei löschte, damit niemand diese Schande mitbekam?

»Sehr gut. Wir bringen das Interview in der nächsten Ausgabe, um zu testen, wie es ankommt.«

Lukas fiel die Kinnlade hinunter. Er musste sich beherrschen, nicht vor laute Freude die Fäuste in die Luft zu reißen, »Fuck, yeah« zu rufen und wilde Tanz-Moves aufzuführen.

Emma war ebenfalls perplex. »A-aber Herr Schreiner, was ist mit meinen Ideen? Die waren ja schließlich viel aufwendiger!«

»Ja, ich weiß, das war ja schließlich kein endgültiges Urteil. Und ich will damit auch nicht sagen, dass dein Projekt schlecht ist. Aber für dein Vorhaben muss ich erst mit dem Direktor sprechen und abwarten, dass er seine Zustimmung gibt. So was Kleines wie das von Lukas kann man zumindest mal testweise laufen lassen.« Er nahm den USB-Stick und steckte ihn in seine Tasche.

Lukas konnte sich sein Grinsen nicht länger verkneifen. Herr Schreiner ging seinen Beitrag noch einmal durch. »Aber für das nächste Interview würde ich noch ein paar kleine Dinge ändern. Die Frage nach dem Lieblingsessen, zum Beispiel. Wirkt viel zu trivial und hat auch keinen Schulbezug.«

»Außer wenn ich frage, was sein oder ihr Lieblingsessen vom Pausenverkauf ist«, schlug Lukas schnell vor.

Herr Schreiner lachte. »Zum Beispiel. Und hier kommt ein Komma hin. Außerdem solltest du dich noch um ein Foto der betreffenden Person kümmern. Das wirkt authentischer. Was hast du als Nächstes geplant?«

»Ich … habe da schon jemanden in Aussicht«, log Lukas, damit Herr Schreiner es sich nicht doch noch anders überlegte.

»Gut. Nimm bitte jemanden aus einer anderen Jahrgangsstufe. Und achte darauf, dass die Geschlechter ausgewogen sind und du auch mal jemanden mit Migrationshintergrund interviewst. Es sollte ein breites Spektrum abgedeckt sein.«

»Alles klar.« Lukas fühlte sich unbesiegbar.

»Na, dann schöne Pause noch euch beiden.« Herr Schreiner verschwand wieder im Lehrkräftezimmer.

»Yes!« Lukas ballte die Fäuste voller Freude.

»Ach, komm schon, das war doch gar nichts.« Emma verdrehte die Augen. Sie stopfte ihr Tablet in ihre Tasche und rauschte davon.


7

 

 

 

 

Lukas beschloss, sich auf diesen Erfolg erst einmal ein Käsebrötchen zu gönnen. Danach machte er sich wieder auf zu seiner Clique.

»Und? Was hat der Schreiner gesagt«, fragte Daniel, kaum dass Lukas in seine Sichtweite kam.

Mit vollen Backen grinste er und hob den Daumen.

»Hey, das ist ja toll!« Ilona klopfte ihm auf den Rücken. »Da habe ich dir ja zu einer steilen Karriere geholfen. Bekomme ich jetzt Rabatt für die Schulzeitung?«

»Es ist noch nicht entschieden. Emma hat ein super Projekt hingezaubert. Und wenn der Schulleiter sein O. K. gibt, war’s das für mich.«

»Dann lasst uns schnell weitermachen. Was hast du vor? Wer ist dein nächstes Opfer?«

»Keine Ahnung … Wie wäre es mit dem Fruchtzwerg, der meine Jacke ruiniert hat?«

»Der hätte eher eine Abreibung als eine Erwähnung in der Schulzeitung verdient.« Daniel knackste mit den Fingern.

»Herr Schreiner meinte, ich sollte jemanden aus einer anderen Jahrgangsstufe nehmen. Also kommt ihr erst einmal nicht mehr infrage. Außerdem ist er mir das schuldig, nachdem er mir die Suppe übergeschüttet hat. Und der ganzen Schule ist er das auch schuldig. Wer holt sich schon Suppe aus dem Kaffeeautomaten?«

Daniel ließ seine Hände sinken. »Fein. Was haben wir für Informationen? Name? Klasse? Blutgruppe?«

»Rein gar nichts. Ich weiß gerade einmal, wie er aussieht. Vielleicht Fünfte oder so. Kann aber auch Sechste oder Siebte sein.«

»Also optimale Ausgangsposition.« Paulina rümpfte die Nase.

»Lasst uns einfach mal sehen, ob er hier irgendwo rumläuft.«

Doch der Junge schien wie vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Er stand weder beim Pausenverkauf an noch war er auf dem Schulhof oder auf dem Sportplatz.

»Wo kann er denn sein?«, fragte Daniel genervt, als sie das komplette Außengelände einmal abgelaufen waren. »Müssen wir den jetzt die ganze Pause lang suchen?«

»Wir sollten reingehen, vielleicht versteckt er sich ja vor uns.«

Lukas und Daniel sahen auf den Toiletten nach und fanden dort nichts außer farbige Kontaktlinsen und vollgeblutete Taschentücher. Dann gingen sie zur Bücherei und in den Verwaltungsflur. Doch dort war er auch nicht.

Sie fingen an, jeden einzelnen Gang abzulaufen und vereinzelt in Klassenzimmer zu schauen, die nicht abgesperrt waren. Bereits nach dem zweiten Gang begann Lukas die Puste auszugehen.

»Mir ist noch nie aufgefallen, dass das Schulhaus so groß ist.«

Daniel lachte. »Dann musst du einfach mehr Ausdauer … oh, oh.«

Am Ende des Flurs stand Herr Donau und sah demonstrativ auf seine Uhr. »Na, na, na. Ich wüsste nicht, dass die Pause schon zu Ende wäre. Husch, husch, ab nach draußen und die frische Luft genießen.«

»Wir wollten doch nur …«

»Wie ihr inzwischen wissen müsstet, haben alle Schüler und Schülerinnen die Pause in der Aula oder auf dem Schulhof zu verbringen, außer sie haben etwas Wichtiges zu erledigen. So steht das in der Hausordnung«, betete Herr Donau mit leicht singendem Tonfall vor. »Wollt ihr vielleicht die Hausordnung noch einmal abschreiben, damit ihr sie euch besser merken könnt?«

»Nein, danke, kein Bedarf.«

»Wir gehen ja schon.«

Sie drehten um und verzogen sich wieder nach unten, während sie Herrn Donaus Adlerblick im Nacken spürten.

»Warum hat der eigentlich immer Pausenaufsicht?«, fragte Daniel, als sie unten angekommen waren. »Meldet er sich immer freiwillig, wenn der Pausenaufsichtsdienst vergeben wird, oder was?«

Lukas hob seine Hand in die Luft. »Ich melde mich freiwillig. Ich melde mich freiwillig als Pausenaufsicht.«

Sie lachten.

Lukas ließ seinen Blick nochmals über den Pausenhof schwenken. Immer noch nichts von dem Kleinen zu sehen.

»Okay, dann werden wir in die journalistische Trickkiste greifen müssen.«


8

 

 

 

 

Zu Hause angekommen kramte Lukas erst einmal den Jahresbericht vom letzten Schuljahr hervor und blätterte darin herum. Doch der Kleine war nicht darin.

Zumindest konnte er jetzt ausschließen, dass er in der Sechsten oder Siebten war. Er setzte sich an den Schreibtisch und begann mit seinen Deutschhausaufgaben. Dabei musste er an den Jungen denken. Wahrscheinlich war er nur krank. Oder Lukas hatte ihn mit seinem bösen Blick so verschreckt, dass er die Schule verlassen hatte.

Lukas beschloss, Deutsch auf nach dem Abendessen zu verschieben und schaltete seinen Computer an.

Wenn der Kleine wirklich ein Fünftklässler war, konnte er ja Linda nach ihm fragen. Schließlich hatte sie ja trotz anfänglicher Proteste erstaunlich schnell Anschluss gefunden.

Doch den Gedanken verwarf er schnell wieder. Selbst wenn sie ihn kennen würde, würde Linda ihm vermutlich nur eine Quatschantwort geben, dafür kannte er sie viel zu gut. Lieber fragte er da eine sichere Quelle. Facebook.

Eigentlich war Facebook erst ab dreizehn, aber so etwas hielt bekanntlich niemanden ab. Vermutlich hatte sogar Linda einen Account, obwohl sie weder ein internetfähiges Handy noch einen Computer hatte.

Nachdem Lukas alle Spieleanfragen und die Freundschaftsanfrage von Hendrick-Ignatius weggeklickt hatte, sammelte Lukas sich. Wo sollte er anfangen?

Er ging erst einmal auf Anjas Profil. Anja hatte die halbe Schule geaddet.

Aber der Kleine war nicht dabei.

Warum auch, dachte sich Lukas. Das Schuljahr hatte doch gerade erst angefangen, und warum sollte eine Siebtklässlerin einen Fünftklässler adden? Falsche Taktik, dachte er sich.

Nein, er durfte nicht so leicht aufgeben.

Über weitere Verknüpfungen fand er zumindest die Profile von den beiden, die sich um das Snickers gestritten hatten. Der eine hieß Kai, und der andere Michael. Auch deren Freundschaftslisten ging er durch, und wieder fand er nichts.

Lukas machte das Spiel so lange weiter, bis er zum Abendessen gerufen wurde. Tief in Gedanken lief er nach unten ins Esszimmer. Was sollte er tun? Kai oder Michael anschreiben und fragen, wie der Kerl hieß?

Das konnte er wohl kaum bringen.

Obwohl, in Facebook würden sie ihm wahrscheinlich eher antworten als in der Schule. Oder hatte der Kleine nur kein Profilbild von sich drinnen und Lukas hatte ihn einfach übersehen?

Schweigend aß er sein Abendessen und ging wieder in sein Zimmer. Seufzend setzte er sich erneut an seinen PC und wollte sich gerade weiter auf die Suche machen, als er in der Taskleiste auf seinem Bildschirm das Word-Symbol entdeckte.

Moment.

Er hatte doch gar kein Word-Dokument aufgemacht. Was war da los? Machte sich die Kiste schon selbstständig oder war da die NSA am Werk?

Neugierig klickte er auf das Symbol. Das Dokument vergrößerte sich.

Sein Herz rutschte ihm in die Hose. Auf dem Bildschirm stand in der größten Schrift, die möglich war:

»HÖR AUF ZU SUCHEN. DU WIRST IHN HIER NICHT FINDEN«


9

 

 

 

 

»Das ist doch voll creepy.« Daniel verzog das Gesicht.

Lukas konnte das nur bejahen. »Es war ja nicht so, dass mich jemand in Facebook angeschrieben oder mir eine E-Mail geschrieben hätte. Es war ein stinknormales Worddokument. Es war noch nicht einmal unter einem Dateinamen gespeichert. Das heißt, es muss jemand in meinem Zimmer gewesen sein.«

»Vielleicht deine kleine Schwester?«

»Das kann nicht sein«, gab Lukas zurück. »Sie war noch vor mir am Essenstisch, und ich war der Erste, der nach dem Essen wieder aufs Zimmer gegangen ist. Ich habe Linda die ganze Zeit gesehen. Sie ist noch nicht einmal aufs Klo gegangen.«

»Vielleicht ist er oder sie ja durchs Fenster reingekommen?«

»Kann auch nicht sein. Wir haben solche sauteuren Spezialsicherheitsfenster, und es war auch die ganze Zeit geschlossen. Der Einzige, der den ganzen Tag über in meinem Zimmer war, war mein Kater Eezbeez, aber der kann es ja schlecht gewesen sein.«

»Lukas, denk doch einmal nach. In Krimis bekommen die Guten doch auch oft solche Nachrichten. Und damit wollen die Gangster immer erreichen, dass sich der Gute aus der Sache raushält.«

Sie standen auf und machten sich auf den Weg zum Fußballplatz.

»Ich glaube nicht, dass ein Fünftklässler schon mit Gangstern zusammenarbeitet.«

»Vielleicht ist sein Vater ja bei der Mafia.«

Beide sahen einander an und mussten loslachen. Immer noch lachend, fingen sie an, sich aufzuwärmen. Bevor ihr Trainer sie noch zusammenschiss, dass sie das Training nicht ernst nahmen, fingen sie an, Runden um das Spielfeld zu laufen.

»Nein, wirklich, da ist was faul. Und das hat mit dem Jungen zu tun. Wir sollten dem nachgehen.«

»Aber wie? Ich weiß immer noch nicht, wie er heißt, geschweige denn, wo er wohnt oder sonst irgendetwas.«

Sie umrundeten das Spielfeld und sahen auf dem Nachbarfeld die D-Jugend, die sich gerade mit Hampelmännern warmtrainierte.

»Hey, das sind doch Kai und Michael. Die könnten uns helfen.« Lukas ignorierte die Pfeife seines Trainers und lief zur Absperrung.

»Sind die in seiner Klasse, oder was? Komm jetzt, sonst müssen wir noch Strafrunden laufen.«

»Keine Ahnung, aber sie waren in seiner Nähe, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Wenn die uns nicht helfen können, wer dann?«

Nach dem Training beeilten sich Lukas und Daniel mit dem Duschen und Umziehen, damit sie die beiden noch abfangen konnten. Sie hatten Glück: Kai und Michael standen auf dem Bürgersteig vor dem Sportcenter und hauten sich gegenseitig mit den Turnbeuteln, während sie auf ihre Abholung warteten.

»Hey, ihr zwei.«

Die Jungs hörten auf, ihre Taschen herumzuschleudern, und sahen Lukas etwas ängstlich an.

Kai flüsterte Michael etwas ins Ohr, worauf die beiden sich nervös umsahen und langsam rückwärts gingen.

»Keine Angst, ich beiße schon nicht.«

»Was willst du von uns? Du bist uns doch nicht böse wegen Mittwoch, oder?« Kai umklammerte seine Sporttasche wie einen Schutzschild.

»Du bist schuld. Du hast mich geschubst.« Michael sah Kai böse von der Seite an.

»Das hab ich nur gemacht, weil du mein Snickers geklaut hast.«

»Gar nicht, du hast es mir geschenkt, weißt du nicht mehr?«

»Leute, Leute, darum geht es doch gar nicht.« Lukas hob die Hände. »Ich wollte einfach nur wissen, ob ihr den Jungen kennt.«

Kai sah Lukas skeptisch an. »Naja, er geht mit uns in eine Klasse. Aber so genau kennen wir ihn jetzt auch nicht.«

»Aus welcher Klasse seid ihr denn?«

»5a«

»Okay, und wisst ihr, wie er heißt?«

»Paul heißt er. Paul Wenderstein. Und der ist irgendwie voll komisch. Er ist erst neu hergezogen und kommt aus der Nähe von Österreich, konnte aber Herrn Donau nicht sagen, woher genau. Und der isst irgendwie voll komisches Zeugs.«

»Was für komisches Zeugs?«

»Na, so rohes Fleisch und so. Mit nix dabei. Kein Brot oder Käse oder Gemüse.«

»Rohes Fleisch?«, wiederholte Lukas ungläubig. »Seid ihr euch da sicher?«

»Ja klar, ich schwöre. Am Mittwoch in der Zweiten hat der Peter aus unserer Klasse Paul zum Spaß seine Brotdose weggenommen. Und dann hat er die Box aufgemacht, weil er sehen wollte, was er dabei hatte. Es war Katzenfutter!«

»Katzenfutter?«, fragte Lukas. Langsam war ihm die Sache suspekt, und er fragte sich, ob die zwei ihn nur veräppeln wollten.

»Ja. Das hat total ausgesehen wie Katzenfutter, und da hat es Peter probiert und gesagt, das schmeckt wie das Katzenfutter, das seine Katze zu Hause immer frisst. Wir haben ihm die Box dann natürlich wieder zurückgegeben. Und der hat das dann auch noch gegessen! Ich meine … Katzenfutter! Als Pausenbrot!«

»Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Habt ihr ihn so gemobbt, dass er nicht wiederkommt?«

Die beiden rissen ängstlich die Augen auf. »Nein, wir haben ihn danach in Ruhe gelassen. Und er ist auch wirklich krank. Seine Mutter hat im Sekretariat angerufen und gesagt, dass er Windpocken hat. Michael musste ihm sogar die Hausaufgaben vorbeibringen.«

»Tatsächlich?« Lukas wandte sich an Michael. »Wo wohnt er denn?«


10

 

 

 

 

»Aufstehen, Lukilein, wir machen einen Ausflug. Wir fahren Eis essen.«

Lukas warf sein Kissen nach Linda, die aber kichernd auswich und wieder aus dem Zimmer hopste. Das war nicht gerade die bevorzugte Art, wie er geweckt werden wollte. Vor allem nicht sonntags früh um halb zwölf.

Er zog sich an, ging hinunter ins Esszimmer und setzte sich an den Mittagstisch. »Nenn mich nie wieder Lukilein.«

»Okay, Lukilein.«

Warnend hob Lukas seine Gabel.

»Kinder, streitet euch doch nicht. Heute ist so ein wunderschöner Tag. Wer weiß, wann es mal wieder so schön wird, jetzt, wo langsam der Herbst kommt.« Sein Vater war mal wieder allerbester Laune.

»Eigentlich hatte ich heute mit Daniel etwas vor.«

Linda zog eine Schnute. »Nein, hast du nicht. Du gehst mit uns Eis essen.«

»Ja, aber …« Lukas schnalzte mit der Zunge und warf Linda einen bösen Blick zu. »Es ist was für die Schule … Sozusagen.«

Linda zog die Augenbrauen hoch. »Von wegen. Ihr spielt doch bestimmt nur Fußball oder Computerspiele. Das kannst du doch immer machen. Die Eisdiele in Neustadt macht bald Winterpause, und dann gibt es kein Eis mehr.« Sie machte ein Gesicht, als wäre das der Weltuntergang.

»Nein! Wir betreiben Recherche für mein Schulzeitungsprojekt. Außerdem dauert es doch noch mindestens einen Monat, bis die Eisdiele zumacht. Und ich habe die ganzen Sommerferien vorgeschlagen, dass wir Eis essen gehen, aber du wolltest immer in diesen Kletterwald.«

»Ja, weil das auch gut für die Schule ist, nämlich für Sport. Und da kriegt man immerhin Noten drauf, im Gegensatz zu deiner ach so tollen Schulzeitung.«

»Ja, und deswegen willst du jetzt auch Eis essen? Es gibt zwar keine Noten für die Schulzeitung, aber es ist gut für Deutsch. Und das ist immerhin ein Hauptfach, im Gegensatz zu Sport.« Am liebsten hätte Lukas jetzt einen Mic drop gemacht.

Sein Vater legte seine Finger ans Kinn. »Lukas, es ist zwar löblich, dass du dich so für die Schule einsetzt, aber das Wochenende gehört der Familie. Zudem solltest du dich dieses Jahr vielleicht auch mal auf deine anderen Hauptfächer fokussieren, wenn du dich mit dem diesjährigen Zeugnis bewerben willst. Vielleicht schaffst du mit etwas Anstrengung ja etwas Besseres als eine Vier in Mathematik.«

Lukas atmete aus. Er musste es einsehen. Mathe war im Schulfachbattle einfach der oberste Trumpf. Und dabei hatte er sich schon darauf gefreut, Linda in einer Diskussion wenigstens einmal zu schlagen.

»Du kannst nach unserem Ausflug ja noch zu Daniel.« Seine Mutter tätschelte ihm beruhigend die Schulter.

Das war für Lukas nur ein schwacher Trost. Missmutig zog er sein Smartphone aus der Tasche und schrieb Daniel die schlechte Nachricht.

Linda unterdessen strahlte. Sie schnappte sich Eezbeez, der gerade aus seinem Futternapf fressen wollte, und tanzte mit ihm durchs Zimmer. »Wir machen eine Fahrradtour, Eezbeez. Wir fahren nach Neustadt und essen ein Eis. Ist das nicht toll?«

Die Katze sah gequält drein und maunzte kläglich.

Lukas ging das Ganze unheimlich auf die Nerven. Er hatte geplant, mit Daniel etwas über Paul Wenderstein herauszufinden, jetzt, da sie wussten, wo er wohnte. Doch das konnte er knicken, wenn heute der gesamte Tag aus Fahrradfahren und Linda-beim-Eisessen-Zugucken bestand. Morgen war wieder Schule, und Herr Schreiner wartete auf seine Ergebnisse. Bis Dienstag wollte Lukas wirklich nicht warten, wer wusste schon, was sich Emma bis dahin wieder ausgedacht hatte.

Nach dem Mittagessen holten sie ihre Fahrräder aus der Garage und machten sich auf den Weg nach Neustadt. Lukas fuhr als Letztes in der Gruppe, hinter Linda, die auf dem Fahrradweg wilde Schlangenlinien fuhr. Sie schien Lukas ihren Triumph richtig unter die Nase reiben zu wollen – sie war ausgesprochen gut gelaunt, sang lauthals mit schiefer Stimme und winkte den Leuten zu, die auf der Straße mit ihren Autos vorbeifuhren.

»Süllebong Darwin Jong, Lollidose, Lollidose …«

Lukas stellte sich vor, wie Frau Palan reagieren würde, wenn sie erfuhr, wie Linda das Lied verunstaltete. Vermutlich würde sie ihr mit einem riesigen Geodreieck den Kopf abhacken und ihn dann mit einem Vollspannschuß gegen den Transporter befördern, der gerade vorbeibrauste. Wo er dann langsam und quietschend die Seitenscheibe hinuntergleiten würde, direkt vor den Augen eines Jungen, der genauso aussah wie …

Paul Wenderstein!

Was machte der hier? Sollte er nicht mit Windpocken zu Hause liegen? Oder hatten Kai und Michael ihn angelogen? Er musste es herausfinden!

Lukas trat schneller in die Pedale.

KNALL.

Es haute Lukas beinahe über den Lenker, als er schwungvoll gegen Lindas Hinterreifen fuhr.

»Was zum Teufel … Linda, du kannst doch nicht so einfach stehen bleiben!« Er richtete sein Fahrrad wieder auf und sah dem Transporter hinterher, der hinter einer Kurve Richtung Neustadt verschwand.

»Meine Kette ist abgesprungen, ich kann nichts dafür«, jammerte sie. »Du könntest vielleicht mal aufpassen, hast du denn keinen Sicherheitsabstand gehalten?«

Missmutig zog er die Fahrradkette an Lindas Rad fest, und die Fahrt ging weiter.

Da stimmte doch etwas nicht. Er hatte den Kleinen zwar nur kurz gesehen, aber er hatte keinen Zweifel, dass er es war. Und er hatte auch keine Windpocken im Gesicht gehabt. Der glatzköpfige Fahrer hatte ihm auch überhaupt nicht ähnlich gesehen. Was hatte das zu bedeuten?

Eine halbe Stunde später hatten sie Neustadt und die Eisdiele erreicht. Und mit einem riesigem Nusseisbecher ließ es sich gleich viel besser denken.

Vielleicht waren das Verwandte von ihm, die ihn zum Arzt gefahren hatten. Aber warum dann ausgerechnet nach Neustadt? Es war ja nicht so, dass es in Griedlohe nicht auch Ärzte gab.

In diesem Moment klingelte sein Handy laut in seiner Hosentasche, und sein Vater blickte ihn strafend an. »Muss das jetzt sein?«

Lukas holte sein Handy heraus und verschwand hinter der Ecke, bevor er das Gespräch annahm. »Was ist los, Daniel?«

»Hör mal, ich hab mich allein zu der Adresse aufgemacht, die uns Kai und Michael gegeben haben. Und ich habe da einfach mal geklingelt und nach Paul Wenderstein gefragt.«

»Und?«

»Das ist alles ganz komisch. Es war nur seine Schwester zu Hause. Die war erst mal sauunfreundlich und hat gesagt, dass ihre Eltern seit Dienstag verreist sind. Wurde der Paul aber nicht am Donnerstag von seiner Mutter krankgemeldet? Ganz komisch, die Sache. Das hab ich ihr auch gesagt, und sie ist auf einmal ganz klein geworden. Hat gesagt, dass Paul am Mittwoch von der Schule nicht zurückgekommen ist. Und gestern hat sie dann einen Drohanruf von einer Frau bekommen.«

»Was?« Lukas zuckte zusammen. Das war schlimmer, als er angenommen hatte. »Hat sie die Polizei gerufen?«

»Nein. Sie hat noch nicht einmal ihren Eltern etwas erzählt. Und dann hat sie mir gesagt, dass mich das eigentlich auch nichts anginge, weil das eine Sache zwischen ihr und der Frau sei.«

»Sie kennt die auch noch?«

»Ja, aber sie wollte mir nichts Weiteres verraten und hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen!«

»Wow«, sagte Lukas matt. »Das passt aber irgendwie alles zusammen. Es kann ja sein, dass die Frau in der Schule angerufen hat, um Paul zu entschuldigen, damit keiner Verdacht schöpft. Abgesehen davon: Ich hab vorhin auf dem Weg nach Neustadt einen Transporter mit zwei Glatzköpfen und Paul drin gesehen.«

»Waaaaaas?«

Lukas musste sich sein Handy einen halben Meter vom Ohr weghalten.

»Und das sagst du erst jetzt? Ich komm sofort vorbei! Wo bist du? Hast du dir wenigstens das Kennzeichen gemerkt? Oder die Automarke?«

»Nein, das ging alles so schnell, da konnte ich nichts erkennen. Es war ein weißer Transporter. Ford Transit oder so«, gab Lukas kleinlaut zu. »Und ich bin …«, er ging ein paar Schritte weiter, um das Schild lesen zu können, »… beim Eiscafé Italia in der Fußgängerzone. Du weißt schon … das gegenüber vom Media Markt.«

»Ich bin in einer halben Stunde da«, brüllte Daniel hektisch ins Telefon, und schon war nur noch ein Tuten zu hören.


11

 

 

 

 

Kaum hatte Lukas seine Eltern überzeugt, dass er mit Daniel noch ein wenig in Neustadt bleiben durfte, kam sein Freund schon mit seinem Fahrrad um die Ecke geschossen.

Doch er war nicht allein. Ihn begleitete ein Mädchen in ihrem Alter, mit kurzen schwarzen Haaren und ziemlich vielen Sommersprossen im Gesicht.

»Nora Wenderstein.« Sie sah Lukas skeptisch an. »Und du hast meinen Bruder gesehen?«

»Ja, und da waren auch noch zwei Glatzköpfe dabei. Ich dachte erst, das wären Verwandte. Sie sind in Richtung Froschweiherviertel gefahren.«

»Gut.« Nora sprang wieder auf ihr Fahrrad, sodass es den Fahrradanhänger fast aus der Kupplung riss. »Ich dachte erst, die Entführerin wollte mich einfach nur aus dem Haus locken, damit ihre Handlanger bei uns einbrechen können. Kommt mit.«

Lukas sah Daniel fragend an.

»Sie hat gelauscht, als ich dich angerufen habe. Als sie erfahren hat, dass du ihren Bruder gesehen hast, hat sie sich bereiterklärt, mitzukommen.«

Wenig später bogen sie mit ihren Fahrrädern auf das Gelände einer stillgelegten Schokoladenfabrik ein.

»Was zum Teufel machen wir hier?«, fragte Lukas.

Nora holte einen USB-Stick aus ihrer Hosentasche. »Meine Eltern sind … so was wie Erfinder. Und sie haben eine Sache entwickelt, auf die Madame und ihre Kumpanen ganz scharf sind. Deswegen haben sie Paul entführt.«

»Und was haben wir für einen Plan?«, fragte Daniel. »Reinstürzen und mit unseren nicht vorhandenen Waffen rumballern?«,

»Nein. Wir gehen rein. Ich gebe ihnen, was sie wollen. Wir schnappen uns Paul. Und dann hauen wir wieder ab. Kapiert?«

»Du kannst denen doch nicht einfach das Geheimnis deiner Eltern verraten. Was, wenn es eine geheime Weltzerstörungsformel ist?«

»Nein, es ist keine geheime Weltzerstörungsformel.«

»Was denn dann?«

»Geht dich einen feuchten Dreck an. Und jetzt Ruhe.«

Das Eingangstor zur Fabrik stand leicht offen, sodass sie ganz leicht reinhuschen konnten. Ihre Schritte hallten in der leergeräumten Halle. Lukas kam sich wie in einem James-Bond-Film vor, nur dass er sich nicht gerade fühlte wie James Bond, sondern eher wie der Statist, der bei der ersten Gelegenheit vom Bösewicht umgelegt wurde. Die rostigen Ungetüme, die mal Maschinen gewesen waren, und die eingeschlagenen Fensterscheiben trugen nicht gerade zur Beruhigung seiner Nerven bei.

»Hallo?«, rief Nora.

»Schhh …«, machte Daniel. »Wir müssen doch erst die Lage sondieren.«

Nora schnaubte verächtlich. »Wohl zu viele True-Crime-Podcasts gehört, oder was?« Dann hob sie wieder die Stimme. »Hallo, hier ist Nora Wenderstein. Könnten Sie bitte die Freundlichkeit haben, herauszukommen, denn ich habe heut noch etwas anderes vor.«

Sie hörten vom anderen Ende der Halle ein Lachen. Ein typisches, schauriges Bösewicht-Lachen.

Lukas stellten sich die Nackenhaare auf. Wie gerne hätte er jetzt eine Waffe, auch wenn er damit nicht umgehen könnte. Nur irgendwas, um sich zu verteidigen. Und sei es nur eine Wasserspritzpistole.

Sie hörten Schritte.

Die zwei Glatzköpfe, die Lukas schon gesehen hatte, schritten mit ihren klackernden Männerschuhabsätzen durch die Halle, bis sie direkt vor ihnen standen. Paul war nirgends zu sehen.

»Wer sind die da?«, fragte einer und musterte Lukas und Daniel gründlich. Er starrte Lukas erst in die Augen und dann auf seine Hände.

»Freunde«, erwiderte Nora.

»Das sind keine von uns, oder?«, fragte der Glatzkopf, der Lukas besehen hatte. »Hast du hier ein paar Winformierte angeschleppt?«

»Weder noch. Ich dachte einfach, ich hole mir moralische Unterstützung. Ihr seid doch auch zu zweit.« Nora sah den Glatzkopf mit zugekniffenen Augen an.

Was meinte er mit ›Keine von uns‹?

Der andere Glatzkopf schnaubte verächtlich. »Das ist ja noch schlimmer. Hast du denn keine Ehre?«

Lukas sah hinter Noras Rücken Daniel fragend an. Doch der hatte, seinem Gesicht nach zu schließen, genauso wenig Ahnung wie Lukas.

Was redeten die da für eine Geheimsprache?

»Wo ist sie?« Nora steckte ihre Hände in die Hosentaschen und sah lässig die beiden Männer an, doch Lukas sah, wie ihre Schulterpartie zitterte. »Ich dachte, ich würde sie hier treffen.«

»Oh, liebe Nora, wir haben von unserem Auftraggeber alle verschiedene Jobs bekommen. Sie war zuständig für die Kontaktaufnahme, weil sie ja so eine charismatische und liebenswürdige Frau ist. Also perfekt für den Job geeignet.«

»Genug geredet. Wo ist Paul? Wir gehen hier nicht ohne ihn.« Daniel verschränkte seine Arme und hob die Brust.

Der eine Glatzkopf sah ihn spöttisch an. »Er ist wohlauf und macht hinten in der Kammer ein kleines Schläfchen. Wir mussten ihn vor der Fahrt hierher betäuben, weil er nicht gewillt war, freiwillig mitzukommen. Dabei kapiert der kleine Fratz nicht einmal, dass das alles zu unserem Wohl geschieht.«

»Was für ein Wohl denn? Worum geht es hier eigentlich? Und was sind bitte schön Winformierte?«, fragte Lukas.

»Mein lieber Junge, das darf ich dir nicht sagen. Und selbst wenn ich dürfte, würde ich es dir nicht verraten.«

»Dann werden wir es eben selbst herausfinden. Nora?«

Doch Nora schüttelte den Kopf.

»Viel Spaß dabei, du Meisterdetektiv.« Der Glatzkopf lachte. »Okay. Weil ich einen guten Tag habe, werde ich es dir verraten: Wir wollen Freiheit. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist doch was Gutes, oder, mein Junge? Also kannst du aufhören, dir dein kleines Köpfchen darüber zu zerbrechen.«

Nora kramte in ihrer Tasche und holte einen kleinen USB-Stick hervor. »Es ist nicht so, dass wir die eurem Auftraggeber vergönnen. Aber es ist weder richtig fertig noch wurde es auf Nebenwirkungen überprüft.«

»Das lass mal unsere Sorge sein, Mädchen, und nicht deine.«

»Zuerst Paul.«

»Du kannst ihn, wenn das alles vorbei ist, an unserem Auto abholen. Wir treiben keine fiesen Tricks, Mädchen. Da kannst du uns vertrauen.«

»Ich will ihn trotzdem zuerst sehen.«

Der Glatzkopf rollte mit den Augen. »Du bist schon eine kleine Zicke. Aber na gut, wenn du unbedingt drauf bestehst …« Er nickte seinem Begleiter zu.

Der grummelte missmutig und verließ durch die Hintertür die Halle. Ein wenig später kam er mit Paul, quer über seine Schulter geworfen, wieder zurück. »Da hast du ihn. Sind nur einfache K.-o.- Tropfen. Müsste in ein paar Stunden wieder auf dem Damm sein.« Er ließ ihn Nora wie einen Sack Mehl vor die Füße plumpsen. »Und jetzt den USB-Stick.«

Nora streckte die Hand mit dem USB-Stick aus.

»Nein«, rief Lukas und wollte ihre Hand zurückhalten. Doch Nora gab ihm mit dem Ellbogen einen so heftigen Stoß in die Seite, dass Lukas fast zu Boden ging. Wie konnte ein Mädchen nur so fest zuschlagen?

»So, das wäre dann getan. Wir gehen jetzt. Kommt, Jungs, helft mir mal.« Zusammen hievten sie Paul hoch.

»Moment, Mädchen, wir wollen schnell noch testen, ob du uns nicht verarscht hast. Nur eine reine Formalität.«

Der Glatzkopf holte ein Tablet aus seiner Tasche und steckte den USB-Stick in den dazugehörigen Slot.

Nora hob bedeutend die Augenbrauen und ihre Augen zuckten in Richtung Ausgang. Die beiden Glatzköpfe starrten wie gebannt auf das Tablet. Und plötzlich verfinsterten sich ihre Mienen schlagartig. Wütend sahen sie sich an.

»Das Liebesleben des Europäischen Aals? Was zum …«

»Los!«, brüllte Nora.

Das ließ sich Lukas nicht zweimal sagen. Er warf sich wie ein Footballspieler nach vorne, und sie hasteten, so schnell es mit Paul zwischen ihnen ging, gen Ausgang. Verdammt, auch wenn er so klein und schmächtig aussah, er war verdammt schwer!

Nora stieß ihnen das Tor auf, und …

Klick, klick, klick.

Sie wurden mit dem Geräusch von Gewehren begrüßt, die gerade entsichert wurden. Auf dem Platz vor dem Fabrikgebäude standen ungefähr ein halbes Dutzend Männer und Frauen, allesamt bewaffnet - und zwar mit richtigen Waffen, keinen Wasserspritzpistolen.

»Ach, du Scheiße«, quiekte Daniel.

Von hinten kamen die beiden Glatzköpfe angerannt, ebenfalls bewaffnet.

Lukas und Daniel, die beide Paul untergehakt hatten, hoben die je freie Hand. »Bitte nicht schießen«, jammerte Daniel.

Lukas hatte einen dicken Kloß im Hals. Sie waren umzingelt. Keine Chance zu entkommen. Da konnte nur noch ein Wunder helfen.

»Soso, dachtet ihr, ihr macht mal schnell auf James Bond und zieht uns einfach so über den Tisch? Da müsst ihr aber noch viel üben, Kinners.« Einer der Glatzköpfe lachte und packte Lukas am Shirt.

Die Meute lachte.

Was sollten sie tun? Konnte jetzt nicht einfach rein zufällig eine Polizeistreife vorbeikommen? Oder Superman? Irgendjemand? Er sah zu Nora, die jedoch auch nur geschockt, ratlos und ängstlich dreinschaute.

»Na gut, dann werdet ihr eben alle vier …« Der Glatzkopf stoppte und ließ Lukas los. Er fasste sich an den Kopf. Auch die anderen sahen überrascht aus. Es vibrierte in Lukas’ Hose, und wenige Sekunden später fing sein Handy auch zu bimmeln an. Der Kontrollanruf von Mama? Den konnte er im Moment nicht gebrauchen.

Doch die Leute mit den Waffen reagierten komisch. Sie fingen an, sich die Köpfe zu halten. Einige fielen auf die Knie, und einer der Glatzköpfe musste sich übergeben.

Daniel und Lukas schauten sich bedröppelt an und warfen einen Blick zu Nora, die sich auch den Kopf hielt und ganz angestrengt dreinsah.

Lukas entsperrte sein Handy, und sein Finger war schon halb auf dem roten Telefonsymbol, da schlug ihm Nora das Telefon aus der Hand.

»Spinnst du? Das ist fast neu!«, schrie er sie an, doch Nora hatte, keuchend wie ein Boxer nach dem Kampf, Paul schon wieder auf die Schulter genommen und trieb Lukas und Daniel an.

»Los, los, los!«

Lukas warf einen Blick nach hinten und sah sein vibrierendes Handy auf dem Boden liegen, während ihre Widersacher Abstand hielten, als wäre es eine gefährliche Giftschlange.

Sie umrundeten das Gebäude und kamen wieder bei ihren Fahrrädern an, wo Nora ihren kleinen Bruder in den Fahrradanhänger setzte und ihn mit ihrem Hoodie festband.

Und dann sahen sie zu, dass sie Land gewannen. Nora, Daniel und Lukas traten in die Pedale, was das Zeug hielt.

Erst als sie das Griedloher Ortsschild passiert hatten, wagte Lukas wieder durchzuatmen. Daniel bremste neben ihm, der Kopf feuerrot.

»Alter, was war das denn?«

»Keine Ahnung, lass uns Nora fragen.«

Doch Nora und ihr Bruder waren wie vom Erdboden verschluckt.


12

 

 

 

 

Eigentlich wollte Lukas nach diesem Vorfall das Gelände der Schokoladenfabrik nie wieder betreten, wäre da nicht sein Handy gewesen. Und da für Sonntagabend Regen gemeldet war, machte er sich zusammen mit Daniel nach dem Sonntagsfamilienessen auf, um das Einzige zu retten, was bei dieser Mission Schaden genommen hatte (abgesehen von seiner Psyche natürlich).

Da lag es nun, mit gesprungenem und schwarzem Display.

Sein treuer Gefährte.

Gefallen im Kampf.

»Ich glaub nicht, dass das die Garantie übernimmt«, murmelte Daniel dumpf.

Lukas versuchte es anzuschalten. Wenige Sekunden später begrüßte ihn sein Startbildschirm. Er atmete aus. »Wenigstens etwas.« Sofort versuchte er probeweise, einige Apps zu starten. Es funktionierte alles, wenn auch nicht mehr so schnell wie früher.

»Glück gehabt, Junge.« Daniel klopfte ihm auf die Schulter. »Ich hab noch Displayschutzfolie zu Hause, die sollte fürs Erste reichen. Aber du solltest das mal bei so einem Reparaturshop erneuern lassen. Ich kenne da in Neustadt ’nen ganz guten …«

Lukas steckte sein Handy in die Hosentasche. »Danke, aber nach Neustadt bringen mich vorerst keine zehn Pferde mehr. Lass uns erst einmal zu den Wendersteins fahren. Ich will nach Paul sehen.«

Sie radelten wieder zurück nach Griedlohe. Doch bei Noras und Pauls Zuhause angekommen, war kein Licht zu sehen, und auch nach mehrmaligem Klingeln öffnete niemand.

Schließlich gaben sie auf.

Als sie am nächsten Tag vor der Schule noch mal nachsehen wollten, sahen sie gerade, wie ein Umzugswagen wegfuhr. Lukas hatte Paul auch den ganzen Tag nicht in der Schule gesehen.

»Ich schätze, das war’s dann mit dem Kapitel Wenderstein.« Lukas seufzte, als er den Umzugswagen in der Ferne verschwinden sah.

Das stellte nun für ihn ein Problem dar, denn jetzt brauchte er eine neue Person für sein Interview. Und da er die ganze Zeit so fixiert auf Paul gewesen war, hatte er sich überhaupt keine Gedanken über eine Alternative gemacht.

Verdammt, das schmälerte seine Siegeschancen natürlich ungemein.

Lukas setzte sich auf seinen Platz und überlegte, wie er das Herrn Schreiner verklickern sollte, der ihn sicher danach fragen würde.

»Lukas, hast du das Geld für den Wandertag dabei?«

Lukas schreckte auf, als er Tanja hörte, die direkt vor ihm stand und mit ihren gefalteten Händen fast aussah wie Schwester Lucrezia.

»Nein, habe ich nicht. Hab’s vor lauter Aufregung vergessen.«

Tanja sah ihn ratlos an und warf dann einen Blick zu ihrer Zwillingsschwester Sophia, die gerade von Hendrick-Ignatius die Hausaufgaben für Wirtschaft abschrieb.

»Er macht nur Späße, Tanjalein. Komm, Junge, ich leg es dir aus, habe meinen Lohn bekommen.« Daniel stapelte die Euros zu einem Turm und schob ihn hinüber zu Tanja. »Zweimal Wandertag zum Mitnehmen, bitte.«

Tanja warf ihm ein Lächeln zu und hakte zweimal auf ihrer Liste ab.

»Tanja? Tafeldienst!« Sophie sah von ihrem Heft auf und schnippte energisch zur Tafel, wo noch das Gekritzel von Frau Meder drauf war.

Verschreckt eilte Tanja zur Tafel und warf beinahe Herrn Schreiner um, der gerade zur Tür hereinkam.

»Herr Schreiner? Was machen Sie denn hier?« Marvin warf einen Kontrollblick in das Heft von Kim. »Wir haben doch Mathe jetzt, oder?«

»Kleine Planänderung.« Herr Schreiner lächelte und stellte seine Tasche auf dem Pult ab. »Herr Stretmanni ist kurzfristig erkrankt, das verschafft uns eine Doppelstunde, und …« Er klatschte in die Hände. »Nachdem wir uns in der letzten Woche überwiegend mit Organisatorischem beschäftigt haben, starten wir doch heute richtig intensiv mit Deutsch durch. Also, wer kann mir …« Der letzte Teil seines Satzes ging in einer Welle angestrengter Seufzer unter.

Gegen Ende der zweiten Stunde hatte Lukas das Gefühl, sein Gehirn hätte zwei Stunden auf voller Stärke in der Mikrowelle verbracht.

Also war er nur begrenzt begeistert, als Herr Schreiner zu ihm kam und mit unerschüttertem Grinsen verkündete: »Komm in der Pause zum Lehrkräftezimmer, ich habe dir und Emma etwas bezüglich unseres kleinen Wettbewerbs zu verkünden.«

Lukas hatte schon halb seine Entschuldigung, weshalb er kein neues Interview hatte, vorgegurgelt, da winkte Herr Schreiner ab.

»Das macht nichts. Lass dich einfach überraschen.«

In der Pause verzogen sie zu dritt in ein leeres Klassenzimmer.

»So, Freunde.« Der Lehrer rieb sich die Hände. »Ich habe gestern den Schulleiter wegen eurer Projekte gesprochen, und er war zuerst einmal begeistert von eurem Engagement. Besonders von deinem, Emma.« Er lächelte ihnen zu.

Emma strahlte.

»Allerdings meinte er, dass wir Emmas Projekt nicht umsetzen können. Wegen des Aufwandes und der Kosten, glaubt er, werden wir das nicht lange halten können.«

»Was, aber …« brachte Emma wütend heraus.

Herr Schreiner hob seine Hand, und Emma verstummte.

»Allerdings wäre es ungerecht, dir, Emma, nun den Posten zu verwehren, nur wegen Herrn Orzels Entscheidung. Wiederum wäre es ungerecht gegenüber dir, Lukas, dass du gegen Emma verlierst, als Entschädigung, weil dein Projekt nicht genommen wird. Deswegen habe ich entschieden, euch beide zu stellvertretenden Chefredakteuren zu machen und bin mir sicher, dass ihr als Team …«

»Was soll das?« Emma schnaufte. »Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, nur um mir am Ende den Posten mit diesem Morchelbecherling zu teilen.«

»Hey!«

»Emma, sind das nicht ein bisschen zu harsche Worte?«

»Nein, ich habe keinen Bock mehr auf diesen Müll. Ich habe mir voll Mühe gegeben, die Schulzeitung etwas moderner zu gestalten. Aber nein, wir wollen weiter in der Steinzeit leben. Und das nur, weil das so ein alter Grufti sagt, der bestimmt noch nicht einmal einen PC daheim hat.«

»Emma!« Herr Schreiner legte seine Stirn in Falten. »Nicht in diesem Ton. Das gibt eine Strafarbeit. Ich bin sicher, dass Herr …«

Doch Emma knallte ihren Schulzeitungsschnellhefter vor Herrn Schreiners Füße. »Ich habe keinen Bock mehr. Macht euer Zeug doch allein.« Dann stürmte sie aus dem Klassenzimmer.

Herr Schreiner nahm seine Brille ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Fein, fein. So soll es also sein.« Er drehte sich zu Lukas. »Nun denn … Herzlichen Glückwunsch zum Posten des stellvertretenden Chefredakteurs, Lukas.«


13

 

 

 

 

»Wer bin ich?«

Die Überschrift prangte ihm entgegen. Lukas hatte Glück, dass es für das Schulzeitungsteam freie Ausgaben vorab gab, sonst hätte er vermutlich keine mehr bekommen. Noch nie war eine Schulzeitung so schnell ausverkauft gewesen.

Und damit hatte sich das Problem der fehlenden Interviewpartner auch in Luft aufgelöst. Lukas besah sich den Stapel der ausgefüllten Vordrucke, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Das reichte, bis Linda ihren Abschluss machte. Inklusive zweimal durchfallen.

Er musste nur noch die ganzen Hieroglyphen entziffern. Meine Güte, was manche für eine Handschrift hatten …

»Ping«

Das Geräusch seines Messenger ließ ihn aufschrecken. Es war Daniel.

Hey, weißt du, was wir in Chemie aufhaben?

 

Lukas blätterte in seinem Hausaufgabenheft.

Seite 5, Aufgabe 1 – 3. Ach ja, und die Blätter lernen, die wir bekommen haben.

 

Urgh, glaubst du, die Unke schreibt morgen was?

 

Keine Ahnung, hoffentlich nicht. Lukas warf noch einen Blick auf den Stapel neben sich. Ich war am Sonntag noch mal bei den Wendersteins. Keine Spur, wo sie hin sind. Was die Leute mit ›Winformierte‹ gemeint haben, habe ich auch nicht rausgefunden.

 

Er bekam einen erschöpften Smiley zurück.

Junge, entspann dich mal. Das Ganze ist jetzt schon eine Woche her. Vergiss die Zwei mal.

 

Lukas streckte sich auf seinem Schreibtischstuhl aus. Er konnte das Wochenende einfach nicht vergessen, und das nicht nur, weil sein kaputtes Handy ihn jedes Mal, wenn er drauf sah, daran erinnerte. Was hatte es mit dieser komischen Erfindung auf sich? Eine Erfindung, die Freiheit brachte. Etwa ein Allzweckbolzenschneider? Der ultimative David-Copperfield-Entfesselungs-Guide? Und warum haben die Leute auf sein Telefon so extrem reagiert? Waren die allergisch auf Handystrahlen?

Er wandte sich gerade wieder seinem Schreibprogramm zu, als seine Zimmertür aufgerissen wurde und jemand hereingestürmt kam. Er verdrehte die Augen. Nicht schon wieder!

»Schon mal was von anklopfen gehört?« Er zog seine Tasche aus ihrer Reichweite, bevor sie ihm ausgeräumt wurde.

»Ich brauche aber einen pinken Edding.« Linda schnappte sich die Tasche trotzdem und durchwühlte sie. Dabei warf sie seine Bücher und Ordner auf den Boden, als wären es Kartoffeln. »Wir müssen in Bio ein Plakat machen. Da kriegen wir sogar Noten für.«

Lukas zog die Tasche wieder aus ihren Händen. »Erstens, lass mein Zeug in Ruhe. Hast du denn keine eigenen Stifte? Und zweitens habe ich keinen pinken Edding. Es gibt nicht einmal pinke Eddings.« Er stellte seine Tasche zwischen seinen Beinen ab und fuhr mit seinem Schreibtischstuhl so weit unter den Tisch, dass Linda nicht herankam. Doch sie fing stattdessen an, seine Schreibtischschubladen zu durchwühlen.

»Lena hat sich meine Stifte ausgeliehen.« Sie hatte das Fach mit seinen Ersatzstiften gefunden. »Hast du auch lila?«

»Nein!« Er packte Linda am Handgelenk und zog ihr die Stifte wieder aus der Hand. Dann schubste er seine Schwester auf seinen Sitzsack.

Linda hopste wie eine Katze wieder auf und rannte erneut in Richtung Schreibtisch.

Lukas breitete seine Arme aus und kam sich vor wie ein Torhüter, auf den der Ball zugeschossen kam.

»Und rosa?«

»Auch nicht.« Lukas fing Linda ab, doch sie tänzelte einfach um ihn herum. »Wir müssen das Plakat aber morgen abgeben. Ich will keine schlechte Note.« Sie zog einen Schmollmund und sah ihn mit Kulleraugen an.

Das war eindeutig eine neue Dimension von Nervigkeit. Und das Schlimme war: Linda konnte so etwas stundenlang durchhalten.

Er hatte keine Zeit für diesen Mist.

»Na, gut.« Resigniert kramte er nach seinem Mäppchen.

»Ich habe schwarz, rot und blau.« Er warf ihr die Stifte zu. »Und jetzt hau wieder ab.«

Linda flitzte davon, aber nicht, ohne ihm vorher die Zunge rausgestreckt zu haben.

Das »Wiedersehen macht Freude« ging im Knallen seiner Zimmertür unter.

Endlich wendete er sich wieder seinem Computer zu und wollte weiterschreiben, doch Daniel hatte ihm schon wieder eine Nachricht geschrieben.

 

Der neue Vertretungsplan kam online. Stretmanni ist wieder da. Wir haben morgen Mathe.

 

Mist, dann musst du deine Hausaufgaben ja in Zukunft tatsächlich zu Hause machen.

 

Seeeeeehr witzig. Bin dann weg. Basketballtraining. Bis morgen!

 

Bye.

Er klickte wieder in die Datei und überflog den Text. Fünf Interviews waren abgeschrieben, gefühlte fünfzig noch zu machen. Und wann wollte er eigentlich mit Chemie anfangen?

Erst mal Pause.

Er stand auf, um sich in der Küche etwas zu trinken zu holen.

Aus Lindas Zimmer drang die Musik von Justin Bieber, lauthals sang sie mit.

Lukas ging zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Mineralwasser heraus. Hier in der Küche war der Bieber wenigstens nicht mehr so laut. Er mochte das leise Plätschern, als er sich das Wasser einschenkte, und das leise Prickeln der Kohlensäureperlen, die im Glas tanzten. Lukas nahm einen Schluck und genoss, dass er endlich mal allein war.

Plötzlich hörte er eine Männerstimme. Er zuckte zusammen und hätte fast sein Glas fallen lassen. War sein Vater schon aus der Kanzlei zurück? Er hörte näher hin. Es war wegen Lindas Justin -Bieber-Musik nicht gut zu hören, doch es klang so, als würde es aus dem Wohnzimmer kommen.

Er stellte sein Wasserglas auf den Küchentisch und schlich auf Zehenspitzen dorthin. Vermutlich hatte Linda mal wieder den Fernseher angelassen. Er öffnete schwungvoll die Tür.

»Erwischt«, rief er und machte wilde Kampfbewegungen.

Doch das Wohnzimmer war menschenleer. Der Fernseher war auch aus.

»Komm raus, Linda, ich weiß, dass du da bist.« Er suchte ihre üblichen Verstecke ab. Hinter der Tür war sie nicht. Hinter dem Sofa fand er nur den USB-Stick, den sich Linda vor einigen Wochen von ihm ausgeborgt hatte. Er steckte ihn ein und erhob sich wieder.

Auf der Sofalehne saß ihre Hauskatze Eezbeez und leckte sich das Fell. Als Lukas näherkam, hörte der Kater mit dem Putzen auf und sah ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an.

Lukas zuckte mit den Schultern und ging wieder in sein Zimmer. Komisch war das schon. Er war sich sicher, eine Männerstimme gehört zu haben.

Schweren Mutes wendete er sich endlich seinen Chemiehausaufgaben zu, mit dem Gedanken, dass hier einiges nicht mit rechten Dingen zuging.


14

 

 

 

 

Ein wenig morgenmuffelig schlurfte Lukas ins Klassenzimmer, wo schon Daniel, Ilona und Paulina saßen.

»Morgen, Leute.« Er ließ sich auf seinen Platz fallen und hätte am liebsten weitergeschlafen. Automatisch zog er seine Chemiehausaufgaben hervor und reichte sie Daniel.

»Danke, Luk. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen.« Daniel grinste ihn an und fing sofort an, abzuschreiben.

Ilona hatte ihr Erdkundeheft vor sich liegen und malte den Schnee ihrer Alpenzeichnung pink an. »Lukas, hast du für Chemie nur im Buch gelernt oder auch die Arbeitsblätter?«, fragte sie.

»Beides, warum?«

»Also Dirk meinte, dass Frau Unke gesagt hat, dass wir die Arbeitsblätter nicht lernen müssen«, warf Daniel ein. »Da hast du mir gestern Müll erzählt.«

»Und warum steht es dann in meinem Hausaufgabenheft?«

»Vielleicht, weil du es mit Musik verwechselt hast?«

»Quatsch, als ob Herr Kruse Arbeitsblätter austeilen würde.«

»Was ist dann das?« Paulina zog ein Blatt aus ihrem Musikheft und hielt es ihm vor die Nase. Ihr Gesicht wurde nun von Mozart verdeckt, der ihn ganz finster ansah.

»Mist, das hab ich doch …« Er durchwühlte seine Sachen, checkte, ob es vielleicht nicht versehentlich in sein Matheheft gelangt war. »… nicht. Ich kopiere es mir mal schnell.« Lukas zog den böse blickenden Mozart aus Paulinas Händen und flitzte nach unten ins Sekretariat.

Dort ging es hektisch zu. Als Lukas hereinkam, schrillte das Telefon von Frau Nowak, der Sekretärin. Lukas wurde beinahe von Frau Unke umgerannt, die einen Berg von Zetteln im Arm hatte und schnell ins Kopierzimmer hastete.

Ihr kamen Frau Palan und Frau Yilderim entgegen, die sich gerade über irgendetwas köstlich amüsierten.

Hinter ihm kam Herr Donau herein, ging nach rechts und betrat mit einem »Guten Morgen … Kaffee!« das Lehrkräftezimmer.

Frau Nowak hatte den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und klapperte eifrig auf der Computertastatur.

Lukas wendete sich dem Schülerkopierer zu, doch er musste feststellen, dass sein Objekt der Begierde schon besetzt war. Ein paar Fünftklässler standen mit verzweifeltem Gesicht davor und drückten irgendwelche Knöpfe. Doch der Kopierer gab nur ein metallisches Klacken von sich, was eigentlich nur eins bedeuten konnte …

»Was habt ihr denn für ein Problem?«, fragte Lukas freundlich.

Die Fünftklässler sprangen beiseite und sahen ihn an, als wäre er der Retter der Nation. »Der Kopierer ist kaputt.«

Lukas sah auf die Anzeige, die ihm bestätigte, was er bereits vermutet hatte. »Er ist nicht kaputt, es ist nur kein Papier mehr drin. Wir müssen warten, bis Frau Nowak …«

Die Tür vom Sekretariat wurde aufgerissen, und es stürmten drei kichernde Siebtklässlerinnen herein. Sie hielten Hefter in der Hand und steuerten auf Lukas zu.

»Dauert das bei euch noch lange?«, fragte die Größte unter ihnen und klang dabei leicht genervt.

»Das Papier ist alle. Und dann kommen erst mal die beiden dran und dann ich.«

Lukas sah zu Frau Nowak, die gerade ein »Ach, hallo, Herr Dr. …« in den Hörer flötete. »Das kann schon noch ein Eck dauern.«

Die Siebtklässlerin schnalzte mit der Zunge und schaute ihn wütend an, als ob er die ganze Schuld an der Misere trüge. Doch ihre Freundin versuchte sie zu beruhigen.

»Dann kommen wir einfach in der Pause noch mal. Wir haben doch erst in der Dritten Wirtschaft.«

Die drei drehten um und wollten wieder aus dem Sekretariat gehen. Dabei kicherten sie erneut, und Lukas konnte einfach nicht verstehen, warum.

Gerade als die drei die Tür öffnen wollten, wurde sie aufgestoßen. Die Mädchen sprangen erschrocken kreischend zurück.

Es war Herr Stretmanni.

»Sorry«, piepsten die Siebtklässlerinnen und beeilten sich, aus dem Sekretariat zu kommen.

Herr Stretmanni sah aus, als hätte er seinen Garten umgegraben. Die Haare, die sonst ordentlich gekämmt waren, standen ihm zu Berge, seine Brille hing ihm schief auf der Nase und seine Jacke hatte einige Risse und Grasflecken. Er sah sich verwirrt im Sekretariat um, wie das Kaninchen bei Alice im Wunderland, das stattdessen im Schlangenhaus des Zoos gelandet war. Seine Augen wanderten nervös von den Fünftklässlern zu Lukas und Frau Nowak.

Diese beendete ihr Gespräch und legte auf. »Manfred! Schön, dass Sie wieder da sind, der Chef will Sie sprechen.« Sie lächelte ihm zu.

Herr Stretmanni nickte kurz und ging einen Schritt auf die Theke zu. »Gut. Können Sie mir sagen, wo ich die Toiletten finde? Ich habe noch etwas zu erledigen.«

Frau Nowak öffnete erstaunt den Mund und beschrieb ihm stammelnd den Weg.

Herr Stretmanni machte eine kleine Verbeugung und verließ das Zimmer.

Lukas sah ihm fragend hinterher. Soweit er sich erinnerte, war Herr Stretmanni hier schon Lehrer gewesen, als er in die fünfte Klasse gekommen war. Müsste er dann nicht langsam wissen, wo sich die Toiletten befanden?

Frau Nowak schien sich dasselbe zu fragen, ihrem Blick nach zu schließen. Doch sie fing sich rasch wieder und füllte das Kopierpapier nach.

Mit der lang ersehnten Kopie kehrte Lukas in sein Klassenzimmer zurück und erzählte alles seinen Freunden.

»Erzähl keinen Scheiß.« Daniel lachte. »Ich wusste schon immer, dass der Stretmanni voll verpeilt ist.«

»Aber was meinte er damit, dass er noch was zu erledigen habe?«, fragte Ilona.

»Vermutlich wollte er seine Gartenabfälle wegschaffen, so wie er ausgesehen hat.« Lukas klebte Mozart in sein Musikheft und holte seine Mathesachen raus. »Vielleicht hat er eine zusätzliche Stelle als Assistent vom Hausmeister angenommen.«

»Oder er will eine Leiche loswerden.« Daniel lachte kurz auf und schlug Lukas auf den Rücken. »Hey, wir können ihn doch einfach in Mathe fragen. Vielleicht erzählt er was, und wir machen kein Mathe. Ich habe eh schon wieder alles vergessen, was wir vor seiner Krankheit gemacht haben.«

Um acht klingelte es. Doch die Minuten vergingen, und ihr Lehrer kam nicht.

Benjamin und Sebastian gingen noch einmal los und kamen nach ein paar Minuten mit einem Döner zurück.

Ilona fragte Paulina zu Erdkunde ab.

Dominik kam auf die glorreiche Idee, Merve das Kopftuch herunterreißen zu wollen und landete nach einigen Versuchen im Schwitzkasten von Dirk.

Rebecka und Marie stritten sich schon wieder um irgendeine Kleinigkeit.

In der Ecke fingen Marvin und Kim zu knutschen an.

Es wurde zehn nach acht, dann viertel nach acht – und Herr Stretmanni war immer noch nicht aufgetaucht.

Olga nannte Emily eine »verräterische Schnepfe«, was zu lautem Gekeife zwischen der dritten und vierten Reihe führte.

»Du hast doch auf dem Bierfest mit Markus rumgeknutscht!«

Marvin und Kim verließen kichernd das Klassenzimmer.

Yun, Heike und Katja folgten ihnen weitere Minuten später.

»Sollten wir nicht lieber im Sekretariat nachfragen, wo Herr Stretmanni bleibt?«, fragte Hendrick-Ignatius und sah sich unsicher im Raum um, der nun eher einem Affenkäfig glich. Vor allem, nachdem sich Marie und Rebecka in den Streit von Olga und Emily eingemischt hatten.

Tanja nickte.

»Quatsch«, meinte Sophia. »Ich habe alles unter Kontrolle.« Sie holte tief Luft. »Jetzt haltet doch endlich mal die Klappe«, rief sie in Klassensprechermanier. Doch es wurde kein Dezibel leiser. Finster wendete sie sich der zweiten Klassensprecherin zu. »Lisa, mach doch auch mal was!«

Doch Lisa war damit beschäftigt, zu verhindern, dass sich Olga und Emily an die Gurgel gingen.

Die Tür sprang auf, und Emma kam hereingestürmt. Als sie Lukas sah, verfinsterte sich ihr Blick. »Könnt ihr verdammt noch mal leise sein? Wir schreiben gerade was in Geschichte.«

Daraufhin wurde es ein bisschen ruhiger.

»Glaubst du, der kommt heut noch mal?«, fragte Lukas.

»Keine Ahnung.«

Inzwischen war in den hinteren Reihen wieder das Kriegsbeil begraben worden und Eva schlug vor, dass sie doch als Friedensangebot zu McDonalds gehen könnten.

Es war kurz vor Ende der Stunde als Stretmanni endlich kam.

Er sah, wie am Morgen im Sekretariat, leicht verwirrt aus. Doch inzwischen war er seine Grasfleckenjacke losgeworden und hielt ein Blatt in der Hand, auf das er hin und wieder sah. Er schlurfte mit langsamen Schritten zum Pult, stellte seine Tasche auf dem Boden ab und setzte sich erst mal hin.

Das Blatt legte er sorgfältig vor sich auf den Tisch. Er sah sich mit einem ziemlich verpeilten Gesichtsausdruck um, setzte seine Brille ab und begann sie mit seinem Hemdsärmel zu putzen. Dann setzte er sie auf, sah in die Klasse, setzte die Brille wieder ab und putzte seine Brille erneut. Es herrschte eine unangenehme Stille. Nach einigen Augenblicken räusperte er sich:

»Nun … ja … wir haben jetzt zusammen Mathe.«

Wie auf Kommando öffnete sich die Klassenzimmertür. Der Rest der Klasse kam hereingestürmt.

Als sie Herrn Stretmanni sahen, murmelten sie jedoch ein hastiges »Tschuldigung« und trollten sich zurück auf ihre Plätze.

Herr Stretmanni kommentierte es nicht. Er sah sie noch nicht einmal an. Alles, was er tat, war ein drittes Mal seine Brille zu putzen.

In der ersten Reihe kicherte Sophia nervös.

Der Rest sah Herr Stretmanni mit einem ziemlich verwirrten Gesichtsausdruck an. Herr Stretmanni sah kurz auf das Mathebuch auf Tanjas Tisch und kramte in seiner Tasche. Er holte sein eigenes heraus und blätterte darin.

»Wie wäre es, wenn ihr ein paar Übungen macht? Schlagt das Buch auf und macht die Übungen da auf Seite zehn.« Es folgte Geraschel, jeder holte sein Buch hervor.

»Aber, Herr Stretmanni, wir können die Übungen gar nicht. Das ist ein neues Thema, können Sie uns nicht erklären, worum es da geht?« Lisa blickte den Lehrer hilfesuchend an.

»Oder können wir die Sachen von vorletzter Woche noch mal wiederholen? Sie wissen doch … bevor Sie krank wurden.«

Auf Herrn Stretmannis Stirn bildete sich eine Falte. »Die Erklärungen für die Übung werdet ihr schon irgendwo finden.« Aus irgendeinem Grund klang er zornig und sah kein bisschen mehr verpeilt aus. »Und jetzt fangt an.«

Dann rauschte er ohne ein weiteres Wort aus dem Klassenzimmer.


15

 

 

 

 

Kaum hatte er das Klassenzimmer verlassen, ging eine Empörungswelle durchs Zimmer.

»So eine Unverschämtheit …«, schnaufte Sophia und zog ihr Mathebuch wieder auf ihren Tisch.

»Der ist doch nicht ganz dicht …« Antonia packte ihre Sachen ein und holte stattdessen ihr Pausenbrot raus. »Kommt dahergelaufen Ewigkeiten zu spät … Er kann vergessen, dass ich diese verdammten Aufgaben mache, da kann der noch so rumschreien.«

»Und was machen wir jetzt?« Hendrick-Ignatius sah unsicher zwischen Tanja, Dirk und seinem Mathebuch hin und her. »Vielleicht kommt er zurück und kontrolliert die Aufgaben.«

»Tut er bestimmt nicht.« Dirk holte sein Handy raus.

Hendrick sah Dirks Handy an, als wäre es giftig.

Dirk grinste breit. »Hey, chill mal, Henni.«

»Wenn du das sagst.« Er kramte in seiner Schultasche.

»Ich weiß nicht, was ihr alle habt. Wenn Mathe jetzt immer so abläuft, ist das doch ganz gechillt.« Daniel lehnte sich zurück und legte die Füße auf den Tisch.

Lukas holte seinen Schulzeitungsordner hervor und begann seine Sachen durchzugehen. Er musste Roman unbedingt nochmal an seinen Spielebericht erinnern, den er machen wollte. Und Herrn Schreiner sollte er nach der Schulzeitungskamera fragen, damit er noch Fotos von seinen Interviewten machen konnte. Sollte er vielleicht noch ein paar Zusatzfragen stellen, damit nicht jedes Interview gleich aussah?

Doch seine Gedanken wurden von einem schrillen Schrei von der Fensterreihe unterbrochen.

»Oh mein Gott, Hendrick! Du blutest ja!«

»Is’ nichts Schlimmes.« Hendrick-Ignatius hielt sich ein Taschentuch an die Nase und stürmte aus dem Klassenzimmer.

Dirk schüttelt den Kopf. »Ständig bekommt er Nasenbluten. Was treibt der Kerl bloß?«

Lukas wendete sich wieder seinen Unterlagen zu und fragte sich, ob es reichen würde, wenn er die Bilder mit seiner Handykamera machen würde. Wobei seine Bilder seit dem Wenderstein-Vorfall alle ein bisschen verwackelt aussahen.

Als Hendrick-Ignatius aus dem Krankenzimmer wiederkam, hatte es bereits zur nächsten Stunde geläutet. Er herrschte immer noch ein ziemliches Durcheinander, als Herr Schreiner hereinkam und seine Tasche abstellte.

»Was ist denn hier los? Ich dachte, Herr Stretmanni wäre wieder da gewesen?«

Sofort fing Yun an. »Der hat gar keinen Unterricht gemacht.«

»Er ist ernsthaft ewig zu spät gekommen. Aber wenn wir mal fünf Minuten zu spät kommen.« Rebecka verdrehte die Augen.

»Er hat uns angeschrien. Ich mag den nicht.«

»Langsam, langsam, langsam.« Herr Schreiner hob beruhigend die Hände. »Lukas, Daniel, könnt ihr mir die Karte Am14 holen?« Er warf ihnen den Schlüssel für den Kartenraum zu.

»Ach, Mann, nicht schon wieder«, murmelte Daniel. »Sind wir hier der Kartenlieferservice?«

»Komm schon, das ist zumindest ein Zeichen, dass wir nicht abgefragt werden.«

Sie verließen das Klassenzimmer und gingen die Gänge entlang, wo ihnen Lehrkräfte begegneten, die von einer Klasse in die nächste gingen. Türen zu Klassenzimmern wurden mehr oder weniger sanft zugeschlagen.

Frau Unke kam ihnen mit einem riesigen ausgestopften Uhu entgegen, der beinahe größer war als sie selbst.

Kurz vor dem Kartenraum stießen sie auf zwei Fünftklässler, die eine Kiste vollgeschmierter Bibeln die Treppe heruntertrugen und sich darüber unterhielten, was sie am Wochenende in Minecraft gebaut hatten.

Es kehrte langsam Ruhe in das Schulhaus ein.

»Achtung, da kommt er.« Daniel zog ihn urplötzlich an seinem Pulli in die nächste Ecke.

»Was? Lass das, Daniel!«

Da Daniel aber eine Mordskraft an den Tag legte, blieb Lukas nichts anderes übrig, als sich mit ihm in den Spalt zwischen der Vitrine mit den ausgestopften Wieseln und dem Kasten mit dem Feuerlöschzeugs zu quetschen.

»Wer kommt?«, fragte er, doch Daniel haute ihm regelrecht die Hand auf den Mund. Jetzt übertrieb er wirklich etwas.

Sie hörten Schritte, und nach gut einer Minute zog ein Schatten vorbei.

Daniel wartete, bis die Schritte außer Hörweite waren, dann ließ er Lukas wieder frei.

»Was hat dich denn geritten?«

»Herr Stretmanni.«

»Na, und? Den werden wir jetzt öfter sehen. Machst du dann jedes Mal so ein Theater?«

Daniel schaute über Lukas hinweg. »Er geht in Richtung Materialräume. Lass uns hinterhergehen.«

»Wohin glaubst du, wollen wir sonst? Kartenraum ist gleich Materialraum. Kapiert?« Lukas versuchte es mit Zeichensprache, vielleicht war Daniel dann nicht mehr so begriffsstutzig.

»Ja, aber was will er dort?« Daniel zog Lukas mit, sodass Lukas fast rennen musste, um ihm hinterher zu kommen.

»Keine Ahnung, vielleicht holt er auch Zeugs. Er unterrichtet ja nicht nur Mathe, sondern auch Physik oder so.«

»Das wird doch völlig woanders aufbewahrt. Ich schwör’s dir, der hat was vor.«

Lukas konnte nur mit den Augen rollen. Nicht nur, dass Daniel sich plötzlich dafür interessierte, wo sämtliches Schulmaterial aufbewahrt wurde, auch dass er so ein Trara um Herrn Stretmanni machte. Lukas verstand ja, dass Daniel ihre Rückkehr ins Klassenzimmer so lang wie möglich hinauszögern wollte, aber er hatte da keine Lust darauf. Im Gegensatz zu Daniel mochte Lukas nämlich Erdkunde.

Auf dem Flur mit den Materialräumen hatten sie den Lehrer eingeholt. Sie sahen, wie er sich nach links und rechts drehte und in den ersten Raum ging. Dann hörten sie, wie auf der anderen Seite der Tür der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.

»Siehst du?«, flüsterte Daniel aufgeregt. »Das ist gar kein Materialraum. Herr Schreiner hat mich mal hergeschickt, um den kaputten Overheadprojektor zu verstauen. Das ist so eine Art Abstellraum für Gerümpel. Was will Herr Stretmanni da?«

»Keine Ahnung.« Lukas zog Daniel weg von der Tür, bevor Herr Stretmanni wieder herauskam und sie fragte, was sie hier zu suchen hatten. »Komm, lass uns die Karte holen und dann wieder ab ins Klassenzimmer.«

»Karte? Klar!« Daniel fasste sich an die Stirn. »Es gibt doch diese Verbindungstüren zwischen den Materialräumen. Ich bin mir sicher, dass zwischen dem Kartenraum und dem Abstellraum auch so eine ist.«

»Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist …«

»Komm, sei doch nicht so ein Spielverderber. Du bist doch genauso gespannt wie ich.« Daniel wedelte mit dem Schlüssel.

Lukas gab sich geschlagen. »Na, gut.«

Daniel grinste und sperrte den Kartenraum auf. »Guter Junge.«

Sie hangelten sich durch die vielen Karten wie durch einen Urwald mit Lianen und gelangten schließlich zur Verbindungstür, in der ein kleines Fenster eingelassen war.

»Oh mein Gott!« Daniel fiel die Kinnlade herunter, als er durch das Fenster lugte.

Lukas streckte sich, um besser durch das Fenster sehen zu können. Und was er sah, konnte er kaum glauben: Es war nicht Stretmanni, der da im Raum stand.

Es war ein dunkelgrünes Krokodil.

Ein dunkelgrünes Krokodil, das aufrecht ging und normale Menschenklamotten trug. Sein langer Schwanz fegte dabei durch die umherliegenden, ausrangierten Schulsachen. Das Krokodil fluchte mit einer dunklen, menschlichen Stimme.

»Ich habe in den Unterlagen noch einmal nachgesehen, Straßenwalze.« Die Stimme, die sie jetzt hörten, war weiblich und klang leicht gedämpft.

»Das Blut darf nicht älter als vierundzwanzig Stunden sein, sonst funktioniert das Ganze nicht mehr. Wir haben ein logistisches Problem.«

Das Krokodil grunzte.

»Da«, flüsterte Daniel und deutete auf ein Regal.

Dort war ein Tablet aufgestellt, und es schien ein Videoanruf oder Livestream zu laufen. Ein hellblaues Krokodil mit knallpinker Bluse musterte das dunkelgrüne Krokodil und rümpfte die Nase.

»Das ist ja wieder typisch, dass du dir keine Gedanken darum gemacht hast. Weißt du, wieviel Aufwand wir hatten, um den Kerl ungesehen nach Strangecity bringen zu können? Wenn Cratelatus nicht bei den Strasecs arbeiten würde, wären wir ratzfatz aufgeflogen. Denk ja nicht, dass ich Betonmischer jetzt jeden Tag mit seinem Blut quer durchs Land bis in dein Kaff schicke.«

Das dunkelgrüne Krokodil schnalzte mit seiner übergroßen Zunge. »Natürlich hatte ich das bedacht, Mikrowelle. Denkst du, ich hätte mir vorher nicht die Pläne angesehen? Ich kann ihn nicht bei mir lassen, weißt du, wie verdächtig das wirkt? Außerdem hat dieser Stretmanni nicht mal einen ordentlichen Gefrierschrank, wo wir ihn aufbewahren könnten.«

Das hellblaue Krokodil lachte bitter. »Glaubst du etwa, wir? Dein superduper Extra-Frost-Mega-Gefrierer, den du dir für das Preisgeld dieses Ski-Rennens kaufen musstest … der Typ ist einfach so groß und fett, dass er nicht einmal da reinpasst.« Sie genehmigte sich einen Löffel von etwas, das aussah wie rohes Hackfleisch. »Wir mussten leider deinen Vorrat an Ziegelsülze verkleinern.«

Das grüne Krokodil fluchte wieder, während es einen gelben Behälter, auf dem ein riesengroßes Atomzeichen prangte, hervorzog. »Ich kann jetzt nicht weg. Dieser Orzel hat mich eine halbe Stunde lang ausgefragt und irgendwas von Prüfungen gefaselt. Und die Blagen sind auch nicht besser.«

»Heul mir jetzt nichts vor, du hast dich freiwillig gemeldet.« Das hellblaue Krokodil kratzte sich am Kopf. »Wir müssen das in den Griff bekommen – auch das mit der Ziel-DNA. Solange Stretmanni lebt, ist er ein Sicherheitsrisiko. Und wir können erst weitere Schritte wagen, wenn die Menschen deine Tarnung geschluckt haben.«

»Wir brauchen die Wendersteins«, knurrte Straßenwalze. »Meine Quelle konnte sich in ihre Sicherheits-Cloud einhacken, aber die Pläne, die darin gespeichert waren, sind veraltet. Wenn ihr es nicht verkackt hättet, den Jungen zu entführen …«

»Oh, jetzt sind wir auf einmal schuld?«, zischte Mikrowelle. »Ein toller Anführer bist du.« Sie schlug den Löffel gegen einen harten Gegenstand außerhalb des Bildes. »Sieh zu, dass du dir was einfallen lässt. Cratelatus ruft dich heute Nachmittag nach seiner Schicht an. Und vergiss nicht, deine Alte zurückzurufen, die geht mir schon wieder auf den Keks. Tschau.«

Das Bild wurde schwarz.

Lukas sah Daniel an. Was zum Teufel war das? Doch Daniel sah genauso ratlos aus, wie er sich fühlte. Was sollten sie machen, wenn dieses Straßenwalze-Krokodil herauskam? Würde es sie fressen? Und wie war es überhaupt hier reingekommen?

Das Krokodil tippte mit seinen Klauen auf dem Tablet herum.

»Weiber«, murmelte es.

»Lass uns abhauen.« Lukas zog Daniel vom Fenster weg.

»Nein, ich will noch sehen, was er da macht.«

»Bist du verrückt? Komm, wir gehen.« Lukas spürte, wie langsam Panik in ihm hochstieg.

Daniel mit seiner verdammten Neugier! Am Ende würden sie noch in der Kühltruhe landen, bei diesem verrückten Krokodil, genau wie … Herr Stretmanni? Lukas stutzte. War der nicht noch vor ein paar Minuten putzmunter und gar nicht eingefroren gewesen?

»Der hat ne Sonnenbank gebaut. Hat der zu viel von seinem Grün und will jetzt braun werden?«

Lukas drehte sich wieder zum Fenster und sah, wie das Krokodil in ein durchsichtiges, solarienähnliches Gerät stieg und den Deckel schloss. Wenige Sekunden später hörten sie ein Summen, das klang, als würde man sein Ohr gegen die Tür eines Transformators drücken. Oder gegen die eines Aufzugbetriebsraumes. Auf jeden Fall auf etwas, wo normalerweise ein gelbes Dreieck mit einem fetten Blitz draufgeklebt war.

Durch den gläsernen Deckel der Maschine sah er, wie giftgrüne Strahlen immer wieder über den Körper glitten.

»Es verwandelt sich«, keuchte Daniel.

Lukas sah, wie der enorme Schwanz des Krokodils schrumpfte, wie die Krokodilschnauze zurückging und die Schuppen langsam heller wurden. Die Klauen wurden filigraner und bildeten sich in Menschenhände zurück. Der Bauch des Krokodils schwoll an, und als sich die Schnauze komplett zurückgebildet hatte, konnten sie die Konturen des Menschenkopfs erkennen.

Lukas wurde schlagartig eines klar: »Scheiße, das ist Herr Stretmanni.«


16

 

 

 

 

Lukas warf seinen Rucksack achtlos in die Ecke, und Daniel tat es ihm nach.

»Willst du ’ne Cola?«, rief er Daniel auf dem Weg zur Küche zu.

»Klar doch.«

Lukas’ Kopf war vollgestopft. Er war verwirrt nach dem Erlebnis in der Abstellkammer. Seit dem Zwischenfall mit Stretmannis Was-auch-immer kam ihm der Schultag so verdammt lang vor.

In Chemie konnte er sich nicht recht konzentrieren, weil er immer daran denken musste, was für ein komisches Gerät nur ein paar Klassenzimmer weiter stand. Auch Wirtschaft und Musik wollten heute einfach nicht vorübergehen. Als die Schulglocke das Ende der sechsten Stunde verkündete, war Lukas kurz davor, einfach die Redaktionssitzung der Schulzeitung zu schwänzen und gleich nach Hause zu gehen, sich ins Bett zu legen und zu schlafen.

»Mensch, holst du die Cola erst aus dem Supermarkt, oder was?«

Lukas schreckte aus seinen Gedanken und holte schnell das Getränk aus dem Kühlschrank. Mit zwei vollen Gläsern kehrte er in sein Zimmer zurück.

»Endlich.« Daniel riss ihm das Glas aus der Hand. »Was hast du so lange gemacht?«

»Ich habe nachgedacht.«

»Du sollst doch nicht so viel nachdenken. Sonst kriegst du noch Nasenbluten wie Hendrick-Ignatius.«

»Denkst du auch, wir sollten den anderen von dem Krokodil auf der Sonnenbank erzählen?« Lukas nahm einen Schluck aus seinem Glas.

»Bist du verrückt? Die werden uns für total bekloppt halten. Ich meine, wir haben sowieso schon nicht das höchste Level in der Klassen-Hierarchie, da müssen wir es uns nicht noch mehr verscherzen.«

»Aber zumindest Paulina und Ilona.«

»Meinetwegen.«

Plötzlich kratzte es an der Tür.

»Ist das wieder deine Katze oder will uns Linda ärgern?«

Zur Kontrolle warf Lukas sein Mathebuch gegen die Tür. Ein kurzes Innehalten, dann wurde weitergekratzt.

»Eezbeez. Linda hätte jetzt bestimmt was gesagt, das kleine nervige Monster.« Er lauschte kurz, ob ein »Ich bin nicht nervig« zurückkam, doch es blieb still. Was seine Theorie bestätigte.

Es ertönte ein Rumpeln, und der Türgriff vibrierte.

»Eezbeez, bleib draußen.«

»Ach, lass ihn doch.« Daniel seufzte.

Eezbeez kam hereinmarschiert wie ein König, der gerade auf der Reise durch sein Königreich war, um den niederen Pöbel zu besuchen. Er schlängelte sich kurz um Lukas’ und Daniels Beine herum und sprang dann auf den Schreibtischstuhl, nur um sich dort einzurollen und die beiden mit seinen orangenen Augen anzustarren.

»Weißt du, Eezbeez, du bist eine ganz schöne Nervensäge.« Lukas verdrehte die Augen.

Wie zur Bestätigung fing Eezbeez an zu schnurren. Gedankenverloren kraulte Lukas Eezbeez’ Fell eine Weile. »Wer zum Teufel ist eigentlich Straßenwalze? Ist das Stretmannis Spitzname?«, fragte er dann.

»Was mich vor allem interessieren würde …«, Daniel kratzte sich am Kopf. »Ist Stretmanni in Wirklichkeit dieses Krokodil und Straßenwalze sein Spitzname oder ist Straßenwalze ein vollkommen anderer Typ, der sich als Stretmanni verkleidet hat?«

Lukas pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Das ist so was von kompliziert.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783982290027
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Jugendbuch Jugenthriller Geschwister Abenteuer Katze Krokodil Science-Fiction Krimi Thriller Spannung Science Fiction

Autor

  • Katharina Rauh (Autor:in)

Ursprünglich aus dem beschaulichen Bamberg kommend, hat Katharina Rauh inzwischen den Schreiblaptop in Nürnberg aufgeschlagen, wo sie als Buchhaltungsfachkraft für die artgerechte Haltung von Büchern kämpft und als Autorin neue Welten erschafft. Zudem ist sie seit November 2017 im Nornennetz aktiv.
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Titel: Eezbeez