Seit zwanzig Jahren hegte ich nur einen einzigen Herzenswunsch: dass meine Mutter wenigstens meinen Geburtstag mit mir feiern würde. Nie hatte er sich erfüllt, und als ich an diesem Tag versuchte, meine Tortenkreation so vorsichtig wie möglich aus dem Kühlschrank zu ziehen, wusste ich längst, dass Mutter heute wieder mit Abwesenheit glänzen würde.
»Alina, träumst du?«
Geflissentlich ignorierte ich die Frage meiner Stiefmutter und den finsteren Blick von Kati.
»Reich mir mal den Zucker!«
»Wo hast du die Milch hingestellt?«
»Alles muss man selber machen.«
Die kurze Nacht steckte mir noch in den Gliedern, und ihre schrillen Stimmen ließen mich zusammenzucken. War es tatsächlich zu viel verlangt, dass die beiden mal selbst einen Finger rührten und zumindest Milch und Zucker aus dem Schrank holten? Ich hatte ja nicht erwartet, dass sie mir gleich den Tisch deckten. Nur einen etwas freundlicheren Ton mir gegenüber. Aber das war wohl Wunschdenken.
Wieder einmal fühlte ich mich in der Rolle des Aschenputtels, das gerade aus dem Kamin geplumpst war.
Frustriert griff ich nach der frischen Milch und reichte sie Olga. Danach schob ich meine selbst gebackene Torte freudlos zurück in den Eisschrank.
»Was tust du da?! Weshalb trägst du den Kuchen nicht endlich hinaus auf die Terrasse? Wie lange sollen wir denn noch warten?« Meiner Stiefmutter war offenbar noch nicht aufgefallen, dass wir Hochsommer hatten und die Sahne bei den Temperaturen da draußen zu Suppe würde, genauso wie der Schokoladenguss. Kein Wunder, wenn man den ganzen Tag nur im Haus herumdöste.
Kati stöhnte und schlug sich an die Stirn. »Mensch, machst du das wieder spannend!« Offensichtlich konnte sie es kaum erwarten, eine Schokoschnitte zwischen die Zähne zu bekommen.
Ich seufzte auf und versuchte, mich zu sammeln, während die beiden sich grummelnd auf die Veranda verzogen.
Nicht mal zu einem Glückwunsch hatte es gereicht.
»Schätzchen, kann ich dir irgendwie helfen?« Ich sah mich um und entdeckte Omi, die plötzlich in der Küchentür stand. »Wie ich mich freue!« Ich fiel ihr um den Hals und drückte die kleine, zerbrechliche Gestalt an mich.
»Ich fasse es nicht, dass du extra den weiten Weg gereist bist, nur um mir persönlich zu gratulieren!«
»Das wäre ja noch schöner, wenn ich das nicht täte. Für meine Lieblingsenkelin würde ich bis ans Ende der Welt reisen. Auch wenn meine Knochen immer gebrechlicher werden.«
Der Gedanke, dass meine Mutter sie gefahren haben könnte, versetzte mich in helle Aufregung.
»Wie bist du denn hergekommen?«
»Mit dem Zug bis zur Talstation und von dort mit der Seilbahn zu euch herauf.«
»Ach so.« Nur ungern gestand ich mir ein, wie enttäuscht ich war, dass sie ihre Tochter nicht mitgebracht hatte. Die wohnte nämlich nicht wie Oma zwei Stunden von uns entfernt. Paradoxerweise trennten uns bloß fünfzehn alberne Minuten Seilbahnfahrt.
Meine Mutter lebte in der Stadt unten am Fuße des Berges. Sie kam mich nie besuchen. Anders als Oma, die pünktlich an jedem Geburtstag auf der Matte stand. Von Mutter brachte sie mir jeweils Briefe, Süßigkeiten und früher Spielsachen mit. Zu einem Treffen hatte es nie gereicht.
»Du siehst so blass aus, Mädchen. Fehlt dir etwas?« Aufmerksam musterte Omi mich, von meinem krausen Haaransatz bis zu den Hausschlappen.
»Nein, keine Sorge. Alles okay. Habe bloß wenig geschlafen.« Ich schenkte ihr ein müdes Lächeln. Vermutlich würde sie es mir nicht abnehmen, wenn ich ihr anvertraute, dass auch ich mich so manches Mal schon wie achtzig fühlte. Dabei wurde ich heute erst vierundzwanzig.
Unter ihrem kritischen Blick errötete ich ein wenig. Ob Oma wohl ahnte, welche Rolle ich in diesem Haushalt spielte?
»Wer hätte sonst die Tortenböden gebacken?« Ich versuchte mich an einem schiefen Lächeln.
»Warum hast du dir nicht von Katinka helfen lassen, Herzchen?«
Aufstöhnend griff ich nach den Sekt- und Wassergläsern. »Hast du eine Ahnung, Omi ...«
»Aber sie ist doch Konditorin! Für sie wäre das ein Kinderspiel.«
»Offenbar zu anstrengend. So wie vieles andere auch.«
Rasch huschte ich über die zwei Treppchen nach draußen auf die Terrasse. Oma folgte mir mit den Servietten.
Es schickte sich nicht, an einem Tag wie diesem zu jammern. Auch wenn ich es manchmal kaum für mich behalten konnte, wie genervt ich war.
Die Sonne strahlte mir ins Gesicht, die Vögel zwitscherten, und ich fühlte mich sofort etwas besser.
»Bist du jetzt endlich so weit?!« Katis ungehaltene Stimme riss mich aus meiner Betrachtung. Sie räkelte sich auf einem Liegestuhl, den sie im windgeschützten Eck der geräumigen Veranda positioniert hatte.
»Na, na. Wie sprichst du denn mit deiner Stief..., äh, ich wollte sagen ... mit deiner Schwester?«, rügte Großmutter sie.
Wie auf Befehl verzogen wir beide gleichzeitig das Gesicht. Weder Kati noch mir gefiel die Vorstellung, die andere zur Schwester zu haben. Und gestern Abend hatte sie es vorgezogen, ihre haarigen Beine über das Sofa zu legen und sich Chips knabbernd einen Videofilm reinzuziehen, während ich die halbe Nacht an der Deko der Torte gebastelt hatte.
Olga rappelte sich erwartungsvoll aus einem Gartenstuhl hoch und reichte Oma flüchtig die Hand zum Gruß. Danach verzog sie sich wieder zurück in den Schatten an die Seite ihrer Tochter.
Prüfend ließ ich meinen Blick über den langen Tisch aus Eichenholz schweifen, den ich im Begriff war, für die Feier zu decken. Er thronte im rechten Winkel der Terrasse, von wo aus man direkt auf den Kieselweg gelangte, der zum Stall und in den Garten hinunterführte.
»Was ist mit Nelly? Weshalb hat sie nicht bei den Vorbereitungen geholfen?« Oma dämpfte die Stimme, blieb dennoch hartnäckig. Sie faltete währenddessen die Servietten, und ich legte die Kuchengabeln darauf.
»Ach die.« Ich winkte ab. »Sie steckt gerade mitten in der Pubertät und hat andere Sorgen.«
»Und die wären?«
»Sie leidet unter Alpträumen. Letzte Nacht musste ich schon wieder nach ihr sehen.«
»Ach, genauso wie du damals?«
»Und Kati.«
»Das ist ja höchst interessant. Liegt bestimmt an diesem Haus. Habt ihr es schon auf Wasseradern untersuchen lassen? Oder auf Erdstrahlungen? Die sind nicht zu unterschätzen.«
Wir kehrten in die Küche zurück, und ich fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Ach, Omi, das Problem heißt nicht Erdstrahlung, sondern Olga. Möglich, dass sie Strahlen aus ihrem Hintern sendet. Als Kind ist sie mir fast jede Nacht mit grünen Haaren auf einem Hexenbesen erschienen.« Seufzend verdrehte ich die Augen.
»Das tut mir leid für dich, Schätzchen.« Ihre Stimme war voller Mitgefühl, als sie mir eine meiner widerspenstigen Strähnen aus dem Gesicht strich. Mir wurde wohlig warm ums Herz. »Vor allem, weil deine Mutter dir nicht zur Seite gestanden hat. Aber du glaubst doch nicht, dass Olgas Töchter von ihr träumen?«
»Natürlich nicht.« Manchmal merkte ich meiner Oma die vielen Jahre auf dem Buckel deutlich an. Zum Beispiel jetzt, wo sie nicht verstehen wollte.
»Glaubt man Olgas Schilderungen, hat Kati als Kleinkind Schlimmes erlebt. Ihr leiblicher Vater soll sie beide geschlagen haben.«
»Das erklärt so einiges«, sinnierte Omi vor sich hin. »Und Nelly? Welchen Grund vermutest du bei ihr?«
»Die gibt mir Rätsel auf. Möglich, dass sie die Zuwendung ihrer Mutter vermisst.«
Omas Blick wurde noch um eine Spur verständnisloser.
»Olga hat sie nach dem Abstillen kaum noch beachtet«, fügte ich hinzu. Dass ich sie damals dabei ertappt hatte, wie sie meiner kleinen Halbschwester Cognac auf ein Löffelchen mit Zucker tröpfelte, nachdem das Baby stundenlang geschrien hatte, verschwieg ich lieber.
»Sie lebt in ihrer eigenen Welt und lässt außer Kati niemand so richtig an sich heran.« Ich beugte mich dabei zu Omas Ohr hinab. Auch ihr Gehör war nicht mehr das einer Zwanzigjährigen.
Verschwörerisch raunte sie mir zu: »Auch deinen Vater nicht?« Ihr zweideutiges Zwinkern ließ kurz meine Sorgen verblassen, und ich lachte hell auf.
»Keine Ahnung, wie weit sie ihn noch ranlässt«, wisperte ich, den Sarkasmus in meiner Stimme zügelnd. Das Liebesleben meines Vaters interessierte mich exakt seit zwanzig Jahren nicht im Geringsten.
»Glücklich sieht vermutlich anders aus.« Dabei fielen mir die Eltern von Jonas, meinem Jugendfreund, ein. Die machten einen zufriedenen Eindruck und waren seit eh und je zusammen. Wie gern hätte ich mit ihm getauscht.
»Das erklärt noch immer nicht, warum sich nachts außer dir niemand um Nelly kümmert und du mit den Geburtstagsvorbereitungen allein gelassen wirst.« Oma klang ungehalten.
Gespielt gleichgültig zuckte ich mit den Achseln.
»In diesem Haus sind eben alle bis auf mich mit einem tiefen Schlaf gesegnet. Übrigens macht es mir nichts aus, mich um die Kleine zu kümmern. Wir haben einen guten Draht zueinander.« Nicht ohne Stolz konnte ich behaupten, dass ich meiner Halbschwester näherstand, als es ihre Mutter und Kati jemals tun würden.
Großmutter kramte eifrig im Geschirrschrank herum und versuchte, auf Zehenspitzen an die Kuchenteller ranzukommen.
»Omi, lass mal. Da musst du noch ein bisschen wachsen!«, scherzte ich, langte nach den Tellern und reichte sie ihr. Danach holte ich die Getränke aus dem Kühlschrank.
»Geh doch einfach schon vor auf die Terrasse und suche dir einen Platz aus. Wir warten bloß noch auf Papa.«
»Wo ist er denn?«, rief sie ins Freie. Mühsam stieg sie die paar Stufen hoch. »Geburtstagsgäste lässt man doch nicht einfach so warten!« Ich vernahm ein missbilligendes Schnalzen und lächelte vor mich hin. Omas falsches Gebiss gab zuweilen seltsame Geräusche von sich.
»Du weißt doch, Edgar ist meistens im Stall. Wo denn sonst? Die Viecher füttern sich schließlich nicht von alleine!« Olgas Stimme klang ungehalten. Als ich hinaustrat, ließ sie sich gerade auf meinem Stuhl am Anfang des gedeckten Tisches nieder und bettete ihre Füße auf das Kissen des Nachbarstuhles.
Unter halb gesenkten Augenlidern beobachtete ich Omi, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz nahm und meine Stiefmutter mit offenem Mund anstarrte. Die Gedanken waren ihr ins Gesicht geschrieben. Zumindest konnte ich sie deutlich ablesen: Wie hatte es diese Frau geschafft, sich in den letzten Jahren dermaßen gehen zu lassen? Auch Omi hatte Olga als eine auffallende Person mit süßlichem Gesülze, übertriebener Frisur und einem Kilo Schminke im Gesicht kennengelernt. Bis auf die fast täglich neu lackierten Fingernägel erinnerte nichts an die Puppe von früher. Offenbar gab es für meine Stiefmutter keinen Grund, sich für Papa oder sich selbst aufzuhübschen, so wie es bis zu Nellys Geburt ihre Art gewesen war.
Mir konnte das theoretisch egal sein. Schließlich lief ich hier am Hof auch nicht wie auf dem Laufsteg herum. Für Äußerlichkeiten hatte ich generell recht wenig übrig.
Bei mir zählte ausschließlich der Charakter eines Menschen. Doch bei Olga konnte der das Äußere nicht mehr wettmachen.
Ich ertrug es kaum noch, sie den ganzen Tag auf dem Sofa liegen zu sehen, von wo aus sie sich wie eine Königin bedienen ließ. Und wie sie es genoss! Die meiste Zeit stopfte sie Süßes und Salziges in sich hinein. Allein damit brachte sie mich schier zur Verzweiflung. Denn wenn sie dann mal für böse Stiefmütter musste, durfte ich mit Putzzeug und Staubsauger ran, um die schäbige Couch von den Krümeln und Flecken zu befreien. Olga behandelte mich, als wäre ich ihr gut bezahltes Hausmädchen und sie die Großfürstin des Alpenlandes.
Ihre nörglerische Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Weshalb müssen wir eigentlich hier draußen in der grässlichen Hitze braten?«
Oma verschluckte sich, und ich eilte sofort zu ihr, um ihr kräftig auf den Rücken zu klopfen. Wäre es nach den beiden Gnädigen gegangen, hätten sie die alte Frau ersticken lassen.
Oma erholte sich so langsam von ihrem Hustenanfall und nahm dankbar das Glas Saft entgegen, das ich ihr reichte. »Ziehst du es tatsächlich vor, an so einem glasklaren Tag wie heute in der dunklen Hütte zu hocken?«
Sie hatte ja keine Ahnung, dass Olga die Hauptmahlzeiten abwechselnd im Wohnraum und in ihrem Zimmer einnahm und nie freiwillig einen Fuß an die frische Luft setzte. Papa hatte ihr auf Wunsch auch im Schlafzimmer eine Glotze hingepflanzt, damit sie sich dort ihre Soaps reinziehen konnte.
»Riechst du das denn nicht? Gerade du, die du aus der Großstadt kommst?« Olga schüttelte verständnislos ihr Haupt, an dem reglos fettiges Haar klebte. Wenn sie glaubte, sie könnte mich heute dazu überreden, ihr als Friseuse zur Hand zu gehen, hatte sie sich aber getäuscht.
Ausgerechnet jetzt, an meinem Geburtstag, wurde mir mit jeder Sekunde klarer, dass ich den beiden selbst ernannten Fürstinnen nicht länger zu Diensten stehen würde.
»Spielst du etwa auf den Stallgeruch an?« Oma gab sich scheinheilig, und ich frohlockte insgeheim.
Da sie von Olga nur eine abfällige Handbewegung kassierte, setzte sie gleich noch einen drauf.
»Da hättest du mal früher dran denken sollen. Bevor du hier eingezogen bist.«
Die schwarzen Augen meiner Stiefmutter funkelten unheilvoll.
»Deine Tochter hat es nicht so lange hier oben ausgehalten wie ich«, trumpfte sie auf.
»Hallo, Oma!«
Super Timing! Nelly schaffte es immer wieder, im richtigen Moment aufzutauchen, und rettete auch diese Situation vor dem Eskalieren. In ihrer unbeschwerten Art warf sie ein Badetuch über eine Stuhllehne und hüpfte auf Omi zu. Ihr fröhliches Wesen durchriss die hässliche Atmosphäre, die sich zunehmend mit Zorn auflud und so gar nichts mit Partystimmung zu tun hatte. Im Schlepptau hatte sie Jonas.
Strahlend trat er auf mich zu. Und wieder einmal fiel mir auf, wie stämmig er gebaut war. Er könnte sich neben Olga positionieren, dann würden wir keinen Sonnenschirm benötigen, schoss es mir durch den Kopf. Auf seinem kastanienbraunen Haar trug er wie üblich einen Cowboyhut. Er strahlte mich aus warmen Augen an, die mir aus dem markanten Gesicht entgegenfunkelten. Sein Antlitz war von der Arbeit im Freien sonnengebräunt. Mein Blick glitt über sein sauberes blau-weiß kariertes Hemd und die goldbraunen Reiterstiefel. Ja, genauso kannte ich ihn, meinen Nachbarn und Jugendfreund.
Mit einem Ruck zog er mich an die stramme Brust, und ich atmete flüchtig den Duft des Rasierwassers ein, mit dem er sich zur Feier des Tages besprenkelt hatte. Danach verschwand ich in einer kräftigen Umarmung.
Es tat irgendwie gut, ihn zu spüren. Er war die Schulter, die ich zum Ausweinen brauchte. Aber auch mein guter Freund, der immer für mich da war. Als er mich endlich wieder losließ, rang ich nach Luft, und er hauchte mir ein paar Küsschen auf die Wangen.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Hier, ich wusste nicht, was du dir wünschst.« Er drückte mir einen Briefumschlag in die Hand und kratzte sich am Hinterkopf. Ich freute mich aufrichtig über seinen Besuch.
»Du musst mir doch nichts schenken! Es genügt mir, dass du da bist!« Und mir moralischen Beistand leistest, fügte ich im Stillen hinzu. »Darf ich ihn öffnen?«
»Na klar!« Verlegen knetete er seine riesigen Hände, wobei er mich nicht aus den Augen ließ.
Ich zog eine Glückwunschkarte mit einer riesengroßen Vierundzwanzig aus dem Umschlag. Gleichzeitig fiel mir ein Zettel entgegen, auf dem in kritzeliger Handschrift stand: Gutschein für einen gemeinsamen Ausritt auf einem Pferd deiner Wahl.
Zutiefst gerührt fiel ich ihm um den Hals.
»Du wirst ja richtig rot, Jonas!«, kreischte Nelly, und der Rest der Patchworkfamilie brach in Gelächter aus.
Jonas hüstelte und sah peinlich berührt zu Boden. Ich fragte mich, ob er sich noch immer mehr von mir erwartete, als ich bereit war, ihm zu geben.
Ich war noch sehr jung gewesen, als wir die Grenze der Freundschaft überschritten hatten, und wusste nur, dass ich in seinen starken Armen die Geborgenheit fand, die ich zu Hause vermisste. Trotzdem sprang da nie ein Funke über, und nach ein paar gemeinsamen Monaten stufte ich meine Gefühle für ihn als schwesterlich ein. Er hatte sich nicht anmerken lassen, ob und wie sehr ihn das berührte. Dennoch waren wir weiterhin in Kontakt geblieben, beinahe so, als hätte es die Nächte in der Scheune nie gegeben.
Sein Hof, auf dem er Pferde züchtete, grenzte östlich an unsere Wiesen. Ab und zu ritten wir gemeinsam aus, und ich fand es schön, ihn zum Freund zu haben. Doch tiefer gingen meine Gefühle für ihn nicht.
In seiner Anwesenheit fragte ich mich manchmal, wie sich das wohl anfühlte, wenn man richtig verliebt war. Klopfte einem das Herz tatsächlich wie wild bis zum Hals beim bloßen Gedanken an den Geliebten? Und laberte man Schwachsinn, nur weil er einem in die Augen sah? Ich kannte das nur von Filmen und aus Büchern.
»Das ist das schönste Geschenk«, seufzte ich, »das du mir machen konntest. Ich danke dir.« Und das meinte ich auch so. Er stand hier inmitten meines unglücklichen Daseins wie mein Fels in der Brandung. Oma und er peppten meine Laune erheblich auf. In plötzlicher Euphorie umarmte ich ihn ein weiteres Mal. Er drückte mich kurz an sich und flüsterte: »Ich freue mich schon auf unseren Ausflug.«
»Oh, da wird schon geknutscht!« Die Stimme meines Vaters ließ mich sofort einen gehörigen Abstand zu Jonas einnehmen.
Sämtliche Köpfe flogen herum und riefen durcheinander.
»Endlich, Papa!«
»Endlich, Edgar!«
Er war bereits aus der Arbeitskleidung geschlüpft und begab sich mit den Stiefeln zum Abstellraum hinter dem Stalleingang, wo er alles verstaute. Danach wusch er sich am Brunnen die Hände, spritzte Timmy, unserem Hund, ins Gesicht und rieb sie am T-Shirt ab.
»Da bist du ja endlich! Die ganze Welt wartet schon auf dich«, gackerte Olga.
Er begrüßte Omi und klopfte Jonas freundschaftlich auf die Schulter, bevor er sich mir zuwandte.
»Alles klar, mein Geburtstagskind? Ich flitze noch unter die Dusche. Bin gleich bei euch.« Mit einem Augenzwinkern verließ er uns so rasch, wie er aufgetaucht war.
»Sieh zu, dass du nicht zu lange brauchst!« Olgas Gekreische hallte über die sonnengeflutete Terrasse und entlockte uns ein Augenrollen. »Hab nämlich keine Lust, mir hier draußen einen Sonnenbrand zu holen, nur weil ich ewig auf ein Stück Kuchen warten muss.«
Jonas und ich wechselten einen einvernehmlichen Blick, während Kati im Liegestuhl betont gelangweilt auf ihre Krallen starrte und Nelly sich angeregt mit Oma unterhielt.
Ich schlenderte in die Küche und hob mein Kunstwerk aus dem Kühlschrank, den ich gestern extra umgeräumt hatte, um die dreistöckige Torte darin unterzubringen.
Beim Gedanken an das saftige Schokobiskuit mit den Kirschen aus unserem Garten lief mir das Wässerchen im Mund zusammen. Gut, ich hatte wohl etwas übertrieben. Das Ganze war die reinste Kalorienbombe. Denn alle Schichten waren mit Schokoladenglasur überzogen. Und auf dem obersten Stock thronten mit Rum gefüllte Schokobällchen, die ich mit Sahne liebevoll verziert hatte. Schokosplitter dekorierten mein Werk.
»Happy Birthday!« Ich klopfte mir selbst auf die Schulter und stellte mir dabei vor, dass die Glückwünsche von meiner Mutter kämen. Als hätte sie es geahnt, räusperte sich Omi hinter mir.
»Hier, das hat mir deine Mama für dich mitgegeben. Sie lässt dich herzlich grüßen und wünscht dir ein tolles Geburtstagsfest.«
Mit einem Mal spürte ich einen schalen Geschmack im Mund, und die Euphorie, die ich eben noch verspürt hatte, wich einer Traurigkeit, die mich taumeln ließ. Schwankend setzte ich die Torte auf der Anrichte ab.
»Was ist denn, mein Kind?« Oma war viel kräftiger, als es ihre Statur vermuten ließ, und hielt mich fest. Ich konnte und wollte sie nicht in meine innigsten Gedanken einweihen.
»Komm, jetzt setzt du dich mal hin und trinkst einen Schluck Kaffee. Das wird dich auf den Beinen halten.« Energisch zog sie mir einen Stuhl heran und schob ihn mir unter den Hintern. Gerade noch rechtzeitig, bevor meine Beine nachgaben.
»Was hast du denn?« Jonas’ Stimme ließ vermuten, dass er direkt hinter mir stand. Sehen konnte ich ihn nicht. Mir wurde gerade schwarz vor Augen.
»Es geht schon.« Ein Schnauben konnte ich mir nicht verkneifen und legte den Kopf in meine Hände. Warum fühlte ich mich plötzlich so schlapp?
»Ist dir schlecht?« Seine Stimme klang zunehmend besorgt.
Im nächsten Moment vernahm ich das Klappern einer Tasse, das sich mir näherte. Der Kaffee hatte es trotz Omas starken Zitterns bis zu mir an den Küchentisch geschafft, offenbar ohne überzuschwappen.
»Alles okay.« Ich versuchte, mich und Jonas davon zu überzeugen, indem ich mich kurz erhob. Doch meine Beine fühlten sich wie Marshmallows an, und ich sank sofort wieder auf den Stuhl zurück.
Ich tastete nach dem Henkel der Kaffeetasse und merkte erst jetzt, dass ich mit Oma konkurrieren konnte, was das Zittern anbelangte.
»Wo bleibt denn nun der Geburtstagskuchen?!«
Katinka kam in die Küche geschlurft.
»Was hat sie denn schon wieder? Gott, du musst wohl immer im Mittelpunkt stehen!« Es klang wie üblich alles andere als einfühlsam.
»Könntest du auch mal ein bisschen freundlicher zu Alina sein?« Oma begab sich auf gefährliches Terrain. Doch anscheinend kümmerte sie das nicht im Geringsten.
»Wenn du schon siehst, dass deine Schwester so erschöpft ist, könntest du ihr doch ein wenig zur Hand gehen. Oder bist du hier auf Urlaub?«
Der Schleier vor meinen Augen lichtete sich und gab die Sicht auf Katis Gesicht frei. Mit weit aufgerissenen Augen glotzte sie von Oma zu Jonas, und schließlich blieb ihr anklagender Blick an mir haften.
Wieder einmal fühlte ich mich schuldig.
»Edgar, wir beide müssen uns kurz unter vier Augen unterhalten.« Omas Stimme klang energisch und vermischte sich mit dem Rauschen in meinem Kopf. Offenbar hatte Vater sich jetzt auch zu uns gesellt. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Mein Kopf schmerzte, und ich hörte, wie die Schritte, die zu Oma und Papa gehörten, sich entfernten. Auch Kati suchte rasch das Weite.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Jonas, das ist lieb von dir. Aber ich glaube, ich hatte nur einen kurzen Schwächeanfall.«
»Kommt das häufiger vor?« Besorgt beugte er sich zu mir herab. In seinem Blick spiegelte sich Mitgefühl und noch etwas, das ich im Moment nicht entziffern konnte. Ich musste wohl einen erbärmlichen Anblick abgeben. Zusammengekauert, wie ich dasaß, ein Häufchen Elend inmitten unserer Küche.
»In deinem Alter sollte so etwas nicht vorkommen. Vermutlich leidest du an Eisenmangel, da du ja kein Fleisch isst.«
»Danke, Herr Doktor!« Ich riss mich zusammen und hob die Mundwinkel an. »Komm, bringen wir es hinter uns.« Doch ich klebte immer noch am Stuhl fest, so als würde ich eine Tonne wiegen. Eigentlich wünschte ich mir nur eines: im Bett zu liegen und endlich mal in Ruhe durchschlafen zu können. Danach aufzuwachen und mich auf einer blühenden Wiese zu sonnen. Fernab von Olga und Kati.
Im nächsten Augenblick standen zwei gefüllte Schnapsstamperln vor mir. Am süßlich-herben Geruch erkannte ich, dass es sich um einen Obstler handelte.
»Und einen auf Ex!« Jonas prostete mir zu und wartete, bis ich das Gläschen ansetzte und es ihm nachahmte. Sofort füllte er uns ein zweites.
Der Schnaps brannte meine Kehle entlang, und ich fühlte mich, als könnte ich Feuer speien.
»Halt, Jonas, ich kann mir jetzt doch nicht die Birne vollhauen. Ich muss meine Gäste bedienen.«
Wieder neigte er sich zu mir herab, und sein Atem, der nach Selbstgebranntem roch, streifte mich flüchtig.
»Du musst gar nichts. Ruh dich doch mal aus und lass die beiden Schrullen ackern! Hätte ich hier etwas zu melden ...«
»Was dann?« Die Stimme meines Vaters ließ uns auseinanderfahren. Mit Oma im Rücken trat er soeben aus dem Wohnzimmer in die Küche.
»Ich würde Alina entlasten.« Jonas baute sich zu seiner vollen Größe auf und straffte die breiten Schultern. Mit funkelnden Augen starrte er meinen Vater angriffslustig an.
Papa schaute drein, als hätte er chinesisch gesprochen.
»Siehst du, Edgar. Es fällt auch anderen auf. Bloß dir nicht!«, schimpfte Omi und griff sich entrüstet an den Kopf.
Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Was hatte sie ihm denn vorgeworfen? Nichts lag mir ferner, als Vater ausgerechnet an meinem Geburtstag zu verärgern.
»Dann schneiden wir das Baby mal an.« Ächzend erhob ich mich, schwankte leicht und spürte die starken Arme von Jonas hinter mir, die mich wie ein warmer Schutzmantel umfingen.
Mein Blick fiel auf das Päckchen, das von meiner Mutter kam. Insgeheim brannte ich darauf, zu erfahren, was in das seidene Papier eingewickelt war. Vorfreude beflügelte mich, und plötzlich spürte ich warme Schauer, die sich im Körper ausbreiteten und bis in den Kopf hochfuhren. Das Koffein und der Alkohol feierten wohl gerade ihr Aufeinandertreffen. Ich fühlte, wie sich die Kräfte im Körper so langsam mobilisierten, und griff nicht ohne Stolz zur Geburtstagstorte. Mit meinem Gefolge trat ich endlich auf die Terrasse hinaus.
Nelly tobte mit dem Hund auf der Wiese herum, während die Beule in der Hängematte verriet, wo Olga rumhing.
Endlich zeichnete sich ein Lächeln auf dem Gesicht meines Vaters ab, als ich die neueste Kreation auf den Tisch stellte. »Mensch, Mädel! Da hast du dich aber wieder mal selbst übertroffen!« Zärtlich wie schon lange nicht mehr küsste er mich auf die Stirn. Mir wurde ganz warm ums Herz. Verblüfft lugte ich zu ihm hoch. In seinen Augen lag etwas, das ich nicht zu deuten wusste. Hatte Oma mit seinem veränderten Verhalten zu tun?
Die zündete derweil die Kerzen auf der Torte an und zwinkerte mir dabei aufmunternd zu.
»Feiern Olga und Kati denn nicht mit?«, fragte sie betont laut und mit scheinheiligem Blick in Richtung Wiese zur Hängematte, die zwischen den Obstbäumen schaukelte. Im Nu tauchten zwei Beine über dem zähen Stoff auf.
»Ich komm ja schon.« Halb belustigt beobachteten wir, wie sie beinahe aus dem Tuch kippte und sich im letzten Moment noch an den Seilen festhielt.
»Die hat es aber eilig.« Jonas räusperte sich und verkniff sich ein Grinsen. Wir tauschten einvernehmliche Blicke. Verblüfft wurde mir bewusst, dass in seinen Augen ein Ausdruck lag, der mir bisher noch nie an ihm aufgefallen war.
Sofort wandte ich mich ab und schaute zu Papa. Seine emotionslose Miene verriet mir, dass ihn Olgas Verhalten auch heute nicht streifte.
»Kati!«, schrie Nelly zum geöffneten Fenster über uns. »Schwing deinen Arsch herunter! Oder pennst du etwa schon wieder?«
»Kleines, könntest du dich bitte etwas sanfter ausdrücken?« Oma drohte ihr spielerisch mit dem Zeigefinger. Bei Nelly hatte sie einen Stein im Brett.
»Alina, du darfst dir etwas wünschen!«, wechselte meine kleine Schwester sofort das Thema und grinste unverschämt zu Jonas.
Ich beachtete sie nicht weiter und beugte mich über die Torte. Was ich mir wünschte?
Kurz schloss ich die Augen. Den einzigen Herzenswunsch, den ich seit jeher in mir trug, den hatte das Schicksal doch nie gekümmert. Warum sollte es heute anders sein?
Trotz allem versuchte ich, mir in meiner Fantasie auszumalen, wie Mama am heutigen Tag mit uns feierte.
Paps, Oma, Nelly und Jonas applaudierten mir, als der Rauch der Kerzen sich über der Torte verflüchtigte.
»Happy Birthday to you!«, stimmte Nelly an, und Oma fiel mit ein. Papa und Jonas brummten eine Oktave tiefer mit.
»Spielst du eigentlich nicht mehr auf deiner Ziehharmonika?«, wollte Oma von Papa wissen, als sich bis auf mich endlich alle gesetzt hatten.
Er verneinte.
»Aber warum denn nicht? Das war immer so schön, früher, als ...« Sie unterbrach sich plötzlich, und ich ahnte, auf welche harmonische Zeit sie anspielte. Auf eine Zeit, an die ich mich kaum noch erinnerte.
»Jetzt reich mir doch mal das Messer! Sonst werden wir hier in der Zwischenzeit noch alt und grau.« Olga riss uns zurück in die Gegenwart und langte von der gegenüberliegenden Seite zu mir herüber.
Hilflos wechselte ich einen Blick mit Oma. Eigentlich wollte ich meine Geburtstagstorte selbst anschneiden.
»Die ist wunderschön, Alina! Du bist eine Künstlerin.« Oma versuchte, mich mit Komplimenten von der Tragödie abzulenken, die sich langsam anbahnte.
»Ich bin überzeugt, dass Kati so ein Prachtwerk erst gar nicht gebacken bekommt!« Nelly warf ihrer Schwester einen provokanten Blick zu.
Die hatte sich soeben mit gelangweiltem Gesichtsausdruck und Kopfhörern um den Hals zu uns gesellt. Ein Brummeln wie »du kannst mich auch mal« war das Einzige, was ihr dabei über die Lippen kam.
»Olga, ich schneide die Torte selber an. Es ist nicht nötig, dass du sie von deiner Seite ebenso zersägst.«
Ich stand kurz davor, in Panik auszubrechen, als mir auffiel, dass meine Stiefmutter bereits begonnen hatte, mein Kunstwerk zu verschandeln. Wo sie das Messer dafür hernahm, war mir ein Rätsel.
Verzweifelt klammerte ich meine Hände um das Tortenbesteck und musste mit ansehen, wie sie rücksichtlos am untersten Boden meiner Kreation herumschnipselte. Dann warf sie ein paar zerfetzte Teile quer übereinander auf ihren Teller.
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich Omas missbilligendes Kopfschütteln und schwieg. Auch Paps schwieg. Wieder einmal.
In all den Jahren, die sie schon auf dem Hof wohnte, hatte ich ihn nur einmal mit ihr streiten gehört. Das war, als sie ihm ihre Schwangerschaft offenbarte. Er war von Natur aus kein gesprächiger Mensch. Und wenn er mal die Stimme erhob, dann wünschte man sich, nicht in seiner Nähe zu sein.
»Bekomme ich auch welchen?!«, schrie Kati über den Tisch herüber. Offensichtlich versuchte sie, das Bumm-Bumm, welches aus ihren Kopfhörern drang, zu übertönen.
»Nimm doch erst einmal diese Dinger von den Ohren!«, tadelte Oma.
Kati hörte sie offenbar nicht und fixierte meine Geburtstagstorte beinahe feindselig.
»So ein Tamtam habt ihr an meinen Geburtstagen nie gemacht!«, beschwerte sie sich zu allem Überfluss.
Ich biss mir auf die Zunge, um eine Bemerkung zu vermeiden. Ansonsten hätte ich sie ihr ins Gesicht geschrien.
Die Erinnerung an ihren achtzehnten Geburtstag ließ mich schwer schlucken. Sie hatte sich nämlich zu ihrer Volljährigkeit ein Pferd gewünscht. Zuerst wollte sie unbedingt Conny haben. Meine Conny! Und Papa war sogar gewillt, sie ihr zu überlassen. Erst nachdem ich darauf erneut in einen Hungerstreik verfiel, kaufte er Jonas einen jungen Wallach ab. Hektor war ein energisches Pferd, und Kati hatte eine Menge damit zu tun, ihn zuzureiten. Meiner Ansicht nach passten sie perfekt zueinander. Nach einem Jahr hatte sie bereits das Interesse an ihm verloren, und er blieb sich selbst überlassen. Zum Glück kümmerte sich Nelly nun um das schöne Tier.
Mir entging nicht, wie ein Haufen Schokokuchen unter dem Tisch verschwand. Zur großen Freude von unserem Berner Sennenhund. Fassungslos starrte ich Olga an.
»Was glotzt du so? Glaubst du etwa, ich hätte es mit Absicht getan? Obwohl ...« Sie kostete, fuhr sich mit ihrer Zunge über die Lippen, um dann mit einem Zögern in der Stimme fortzufahren: »Du hast schon bessere Torten fabriziert.«
»Das will ich aber selbst mal testen!« Oma war sichtlich empört über diese Beleidigung, die mir galt.
»Hier, Omi, jetzt bin ich aber gespannt auf dein Urteil!« Ich reichte ihr eine ordentliche Portion Kuchen und ignorierte Olgas vernichtende Blicke.
»Mmmmhmm. Köstlich, dieses luftige Biskuit! Einfach überirdisch lecker.« Mit geschlossenen Augen fuhr Oma mit ihrer Schwärmerei fort. Zufrieden grinste ich in mich hinein und bemerkte die Grimasse, die meine Stiefmutter zog.
»Wird’s heute noch was mit diesem Kuchen?!« Kati riss sich die Hörer herunter und streckte ungeduldig ihre Hand mit den schwarzen Tattoos und den farblich darauf abgestimmten Fingernägeln aus.
»Nicht in diesem Ton!«, herrschte Oma sie an. Erschrocken fuhr sie herum. Meine Stiefschwester war es nicht gewohnt, dass man sie zurechtwies. Tatsächlich war sie die Einzige, um deren Wohl sich Olga bemühte und deren Wünsche seit ihrem ersten Tag auf dem Hof immer sofort erfüllt wurden.
Begehrte sie mein Zimmer anstelle des Gästezimmers, zog sie einfach bei mir ein und riss sich sämtliche Spielsachen unter ihre Finger. Erst als ich in die Pubertät kam, zog ich in eins der Gästezimmer um, da ich ihr Brüllen nachts im Schlaf nicht mehr aushielt.
Wünschte sie sich ein Auto, bekam sie eins. Paps war seit jeher darauf bedacht, Olga nicht zu verstimmen. Und war die Stieftochter zufrieden, war es auch die Mutter. Ich verstand bis heute nicht, was er an dieser Frau liebte. Sie war doch das genaue Gegenteil meiner Mutter, die mir als sanfte, liebevolle Frau mit grazilen Bewegungen in Erinnerung geblieben war.
Insgeheim dankte ich dem Himmel, dass Omi uns heute Gesellschaft leistete und diese immerzu schwarz gekleidete Person zurechtwies. »Dir hat man offenbar keine Manieren beigebracht. Wenn du etwas möchtest, dann bittest du darum!«
»Glaubst du etwa, du müsstest meine Tochter, die auf die dreißig zugeht, noch erziehen? Das hättest du besser mal bei deiner tun sollen.«
Omas Gesicht wechselte die Farbe bei Olgas harten Worten. Mir fiel beinahe das Stück Kuchen vom Teller, das ich Papa reichen wollte. Abwartend hielt ich inne. Doch er zeigte auch jetzt keine Reaktion. Offensichtlich war er zu vertieft in eine Diskussion mit Jonas. Natürlich ging es dabei um die Pferdezucht. Erst als ich ihm seinen Teller vor die Nase setzte, bedachte er mich mit einem abwesenden Blick.
Oma überging Olgas Angriff betont lässig und schenkte mir ein herzerwärmendes Lächeln.
Das war offenbar zu viel für meine Stiefmutter.
Ich konnte mir nicht erklären, wie sie es geschafft hatte. Fakt war, dass sie beim Versuch, sich aus dem Sessel hochzurappeln, irgendwie an die Torte geraten war.
Danach ging alles blitzschnell. Wie in einem Albtraum registrierte ich, dass der oberste Teil des Kuchens herabstürzte, ein Teil auf Papas Tasse traf, worauf sein Teller vom Kaffee überschwemmt wurde. Weitere Kuchenstücke flogen durch die Luft und landeten in Nellys Schoß oder direkt am Boden. Alle sprangen auf, und ich erstarrte, als ich mit ansehen musste, wie Timmy sich freudig wedelnd darüber hermachte.
Dann vernahm ich einen gellenden Schrei und merkte erst anschließend, dass ich diejenige war, die mit Nelly im Chor geschrien hatte. Doch es war zu spät.
Nichts war mehr zu retten. Weder die Torte, von der nur noch ein Scheiterhaufen übrig war, noch Papas frisches Hemd, das voller Flecken war.
Tränen schossen mir in die Augen. Tränen der Verzweiflung, der Enttäuschung, der Abscheu gegen dieses Frauenzimmer, das die Schuld an dem Dilemma trug.
Durch einen verschwommenen Schleier hindurch erkannte ich den bestürzten und zugleich mitleidigen Blick in Omas Augen.
»Scheiße!«
»Au Mann!«
»Ach du meine Güte!«
Alle schimpften durcheinander. Papa fluchte. Die Einzigen, die noch ein paar abfällige Bemerkungen in meine Richtung abschossen, waren wie immer Kati und Olga.
Anstatt einer Entschuldigung ächzte sie: »Siehst du, ich habe doch gleich gesagt, dass diese Torte auf keiner stabilen Grundlage aufgebaut wurde.«
Schadenfroh grinsend watschelte sie an mir vorbei in die Küche, gefolgt von Kati.
Mein Vater, der anfangs versucht hatte zu verhindern, dass Timmy sämtlichen Kuchen am Boden auffraß, hatte die volle Ladung abbekommen. Vorwurfsvoll starrte er mich jetzt an. In seinem Haar klebten Sahne und Glasur.
»Glaubst du wirklich, dass es meine Schuld ist?!«, rief ich empört.
Wie aus weiter Ferne drang Jonas’ beruhigende Stimme an mein Ohr: »Alina, alles ist halb so wild. Es ist doch bloß eine Torte!«
Das war zu viel.
Schluchzend stürzte ich in die Küche, rannte an meiner Stiefmutter vorbei, die hämisch grinsend an der Kaffeemaschine lehnte und sich von Kati in aller Ruhe eine Zigarette anzünden ließ.
In meinem Zimmer warf ich mich heulend aufs Bett und erinnerte mich, als wäre es erst gestern gewesen, an den Tag, als Olga und Katinka das erste Mal zu Besuch kamen.
Meine Beine wollten nicht stillhalten. Sie zappelten wie von selbst unterm Tisch.
»Autsch!«, beschwerte sich das Mädchen, dessen Namen ich schon wieder vergessen hatte und das ich nicht im Geringsten sympathisch fand.
Ihre Mutter wirkte geradezu unheimlich auf mich. Diese Frau mit dem schwarz gelockten Haar, den untertassengroßen Augen und dem künstlich schrillen Lachen hatte absolut gar nichts an sich, was ich als nett bezeichnet hätte. Im Gegenteil.
Mein Vater sah das offenbar anders, stellte ich mit wachsendem Unbehagen fest. Er klebte förmlich an ihren Lippen. Und das genau seit dem Moment, in dem sie unsere Stube betreten hatte und wir uns anstandshalber mit ihrem trockenen Kuchen abmühten. Was war ich dankbar, dass mein Golden Retriever Cindy, der kurz nach Mamas Abschied als Welpe bei uns eingezogen war, unter dem Tisch lag und niemand zu bemerken schien, wie ich das ungenießbare Zeug an ihn verfütterte.
Mit zunehmender Besorgnis beobachtete ich die beiden. Papas Blick hatte sich an dieser Frau festgesaugt – oder besser gesagt, an ihren beängstigend großen Möpsen. Vermutlich wartete er nur darauf, dass sie ihr aus dem freizügigen Ausschnitt der Bluse sprangen.
Ihre rabenschwarzen Augen fixierten ihn wie eine Schlange, die soeben eine Maus entdeckt hatte.
Ich linste zu dem Mädchen mit den dunkelbraunen Zöpfen neben mir, das ebenfalls damit begonnen hatte, Cindy mit Krümeln zu füttern. Sie war zwei Jahre älter als ich und hieß ... Kati oder Katinka?
»Möchtest du mit mir spielen?« Ich hatte absolut keine Lust, unseren Eltern weiterhin bei ihrem sonderbaren Getue zuzuschauen.
»Nein, keine Lust.« Das Mädchen, das ich auf Anhieb nicht mochte, redete auch noch komisch. Ach ja, Papa hatte mir erklärt, sie kämen aus einem anderen Tal und sprächen deshalb nicht unseren Dialekt.
Die zwei Erwachsenen erwachten endlich aus ihrem besorgniserregenden Zustand und bemerkten offenbar erst jetzt, dass wir immer noch artig am Tisch saßen.
»Wieso dreht ihr nicht eine Runde?« Wie gebannt starrte ich auf diese Lippen, die mich an ein aufgeblasenes Gummiboot erinnerten.
»Alina, zeig doch Katinka mal den Hof und die Tiere!« Wann hatte ich Paps jemals so strahlen gesehen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.
Mit einem unguten Gefühl im Bauch erhob ich mich. Ob es klug war, ihn mit dieser mysteriösen Frau allein zu lassen? Katinka schubste mich mit ausdruckslosem Blick nach draußen.
»Sieh mal, das ist Angel. Ist sie nicht süß? Sie ist erst zwei Tage alt!« Stolz strich ich über das samtige Fell meines weißen Kälbchens, das neben seiner Mutter im Laufstall stand, und wartete darauf, dass Katinka es mir gleichtat.
»Esst ihr diese Tiere alle selber?«, kam es stattdessen von ihr.
Mir war, als ob sich eine eiskalte Hand auf meinen Nacken legte. Gleichzeitig fühlte ich heftiges Pochen in der Brust. Was meinte sie damit?!
Schockiert blickte ich zu dem Mädchen hoch, das mich um einen Kopf überragte. »Natürlich nicht! Wir trinken ihre Milch und liefern sie aus«, erklärte ich nicht ohne Stolz.
»Und wer schlachtet sie dann?«
Erneut fühlte ich, wie ich zu frösteln begann. »Wie meinst du das?« Eine böse Ahnung beschlich mich, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Amanda, Rosa, Micky ... sie und noch viele andere meiner gescheckten Freundinnen waren von einem Transporter abgeholt worden. Auf die Frage, wohin sie denn gebracht wurden, hatte Papa mir konstant geantwortet: »Die fahren zur Kur.«
So manches Mal hatte ich mich schon gefragt, wie lange so eine Kur für Kühe wohl dauern würde. Denn keine von ihnen war jemals zurückgekehrt.
Verzweiflung und Trauer überfielen mich, und obwohl ich vor Katinka nicht heulen wollte, schaffte ich es kaum, die Tränen zurückzuhalten.
»Na ja, ihr Bauern züchtet dieses Vieh doch nur, damit ihr es schlachten und essen könnt.«
Entsetzt über die kaltherzigen Worte dieses Mädchens presste ich die Hände auf die Ohren und stürmte den Hügel hinunter. Ich rannte und rannte, als wäre der Teufel hinter mir her.
Von oben hörte ich Paps nach mir rufen. Doch es interessierte mich nicht. Nie wieder wollte ich zu ihm auf den Hof zurück. Ich beschloss, genauso wie Mama zwei Jahre zuvor einfach abzuhauen.
Das Klopfen an meiner Zimmertür brachte mich zurück ins Hier und Jetzt.
Jonas spähte herein. »Wie geht es dir?«
»Komm und setz dich.«
Ich klopfte auf die Matratze und zog die Beine an.
Vorsichtig näherte er sich und folgte meiner Einladung.
»Tut mir leid, das mit der Torte.«
Ich winkte ab. »Lass mal, du hast vollkommen recht. Es ist doch bloß ein Kuchen.«
Er seufzte und starrte vor sich auf seine Hände. »Wegen des Gutscheins ...«
»Ja?«
»Ich würde mich freuen, wenn du nicht zu lange wartest mit dem Einlösen. Kannst dir eine meiner neu eingerittenen Stuten ausleihen.«
»Danke für das Angebot, aber solange Conny ihre Hufen noch über Stock und Stein schwingt, werde ich ihr nicht untreu.«
Wir schwiegen eine Weile, während er die Spitzen seiner Cowboystiefel fixierte. Dann sah er mich von der Seite her an. Einen Moment zu lange, wie mir schien. Endlich erhob er sich.
»Mach’s gut ... und lass dich von diesen Schreckschrauben nicht unterkriegen. In dir steckt eine Kämpferin. Vergiss das nicht!«
Es war faszinierend zu beobachten, wie emotional er gerade reagierte. Schon allein für diese aufmunternden Worte hätte ich ihn doch lieben müssen!
Und wieder einmal war er zum richtigen Zeitpunkt an meiner Seite, wie schon so oft in der Vergangenheit. Doch ich spürte nach wie vor nichts außer freundschaftlichen Gefühlen für ihn.
Trotzdem legte ich zum Abschied zwei Finger an meine Lippen und winkte ihm nach, bevor sich die Tür hinter ihm schloss.
Die Wut von vorhin war beinahe schon wieder verflogen. Doch beim Gedanken an Olga und Kati überkam mich eine kalte Gänsehaut.
Eine Torte konnte ich ohne Weiteres wieder backen. Doch meine Jugend, die ich diesem Hausdrachen und ihrer Brut geopfert hatte, bekam ich nicht wieder zurück.
Achtzehn lange Jahre war es her, dass Olga und Kati in mein und Papas Leben geschneit waren. Und was ich anfangs als mühsam und erschreckend empfunden hatte, war für mich zum Alltag geworden.
Sie hatten mir alles weggenommen, erhoben sogar Anspruch auf die Tiere. Dinge, die mir wichtig waren, verschwanden einfach. Doch das Schlimmste war, dass sie mir mein Zuhause und meinen Vater geraubt hatten.