Lade Inhalt...

Aschenliesel

Eine Geschichte aus dem wahren Leben

von Mia Sole (Autor:in)
462 Seiten

Zusammenfassung

"Nur über meine Leiche!", schreit Alina ihren Vater an, als sie vom Schlachtplan ihrer Stiefmutter Wind bekommt. Nicht genug, dass Olga ihr bereits vor Jahrzehnten den Vater entrissen, und sie mit Hilfe ihrer Tochter Kati zum Aschenputtel des Gasserhofes deklariert hat. An ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag beschließt sie, ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen und Vater die Stirn zu bieten. Wie wäre es, wenn sie ihre Mutter aufsuchen würde, von der sie vor zwanzig Jahren auf dem Hof zurückgelassen wurde? Im denkbar ungünstigsten Moment taucht ausgerechnet Mike, der arrogante Erbe des Wellnessschuppens von nebenan auf. Warum will er ihr plötzlich helfen, wenn er ihr bereits in der Schule klargemacht hat, dass sie, die "Bauernliesel", nicht seinem Niveau entsprach? Und wird sie auf sein Angebot eingehen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Es war einmal ...


... ein kleines Mädchen mit blonden Löckchen, das friedlich auf einem Bauernhof in den Bergen lebte. Es liebte die Tiere über alles. Vor allem ihre eigenen.

Für die Kleine gab es nichts Schöneres, als durch Blumenwiesen zu streifen und Schmetterlingen nachzujagen. Umgeben von Mutter Natur fühlte sie sich geborgen und von ihren Eltern geliebt. Für Alina war die Welt in Ordnung.

Bis zu dem Tag, an dem sich ihr Leben von einem Augenblick zum nächsten verändern und ihr kleines Herz in Stücke reißen sollte.

PROLOG

ALINA

Für den Rest meines Lebens werde ich mich an jenen Tag, den Tag nach meinem vierten Geburtstag, zurückerinnern.

Ich höre noch das Blöken und Muhen aus dem Grün der endlos scheinenden Weiden, die am Horizont den Himmel küssen. Und rieche den süßlichen Blütenduft.

Ich sehe die Kleine vor mir, die ich damals war, im luftigen Kleidchen inmitten unserer blühenden Wiese knien, vertieft in meine Lieblingsbeschäftigung: das Blumenpflücken. Ich spüre den Wind, der mir um die Nase streicht. Genussvoll schließe ich die Augen. Da zieht sich ein grauer Schleier durch das perfekte Bild meiner Erinnerung und wirft sich über die eben noch saftig grüne Wiese mit den bunten Heublumen. Es scheint, als würde der sonnige Tag gleich durch ein heftiges Gewitter getrübt.

Wie ein Pfeil durchbohrt mich der Schmerz, und ich lasse ihn zu. Auch wenn er sich in meinem Inneren ausbreitet wie eine schlimme Krankheit. Diesmal kämpfe ich erst gar nicht dagegen an, sondern befolge den Rat meiner Großmutter.

Erneut schließe ich die Augenlider und versuche, mich haarscharf an die Szene zu erinnern, die mich fürs Leben geprägt hat.


Ich fühlte etwas Warmes auf meinem Köpfchen und spähte nach oben. Heißer Atem blies mir aus geblähten Nüstern direkt ins Gesicht.

»Conny! Hast du mich erschreckt! Sieh mal da, die schönen Blumen. Gefallen sie dir?« Sorglos hielt ich meiner Stute den Strauß mit den blauen und gelben Blüten unter die Nase. Ich schaffte es nicht, bis zwei zu zählen – und flutsch, verschwand er schon im riesigen Maul des Haflingers.

»Auweia! Der war nicht für dich!«

Conny wieherte und schnupperte zum Trost an meinen Löckchen. Es kitzelte und entlockte mir ein Kichern.

Emely und Ida, unsere Eselinnen, näherten sich neugierig und bildeten gemeinsam mit meinem Pferd einen schützenden Kreis um mich. Über mir flatterte ein Schmetterling, und ich sprang in die Luft, um ihn zu fangen. Meine vierbeinigen Leibwächter stoben erschrocken auseinander. Ida beschwerte sich mit schrägen Lauten, die fast wie Mama klangen, wenn sie an Asthma litt. Unbeirrt jagte ich hinter dem Schwalbenschwanz her, dessen Schönheit es mir angetan hatte. Und siehe da. Der Schmetterling, der sich kurz auf einer Distel ausruhte, landete schließlich auf meinem ausgestreckten Händchen.

»Unfassbar!«

Mein kleiner Flatterfreund flüchtete sich sofort auf die nächstgelegene Blume, und ich riss den Kopf herum.

Da stand sie, meine über alles geliebte Mutter, und lächelte mich aus ihren himmelblauen Augen an. Ihr welliges Haar glänzte golden unter den Sonnenstrahlen. »Wie machst du das bloß?«

»Mami! Ich habe dir einen Strauß in deinen Lieblingsfarben gepflückt!« Aufgeregt stürzte ich auf sie zu und warf mich in ihre ausgestreckten Arme. Mit Schwung wurde ich durch die Luft gewirbelt. Wie ich das liebte!

»Ich kann ihn aber nirgendwo sehen.« Ihr Blick schweifte zurück an die Stelle, an der ich vorhin gespielt hatte.

»Conny hat ihn aus Versehen aufgefressen!« Übermütig klatschte ich in die Hände und hüpfte ausgelassen vor meiner Mutter herum.

»Aha, aus Versehen.« Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. »Deine Freunde aus der Tierwelt. Sie vergöttern dich, wie man sieht. Bei mir landen weder Schmetterlinge, noch laufen mir Pferde oder Esel nach.«

Mir entging nicht, wie sie dabei einen Schmollmund zog. Sofort verspürte ich den Wunsch, sie zu trösten.

»Stimmt doch gar nicht. Reite doch mal auf ihnen oder striegle sie! Dann haben sie dich genauso lieb.« Übermütig klammerte ich mich erneut an die schönste Frau der Welt und die liebevollste Mama, die ich mir vorstellen konnte. »Ich habe dich so schrecklich lieb, Mami.«

Eng schmiegte ich mein Köpfchen an ihren weichen Bauch.

»Ich dich doch auch, mein Schatz.«

Plötzlich spürte ich ein Zucken. Erschrocken sah ich hoch. »Was hast du?«

Energisch wischte sie sich etwas aus dem Auge.

»Nichts, mein Kind. Nur eine lästige Fliege.« Abrupt ließ sie mich los und wandte sich zum Gehen.

Was hat sie denn?, fragte ich mich. Es war doch gerade noch so kuschelig in ihren Armen.

»Warte, Mami!« Ich lief ihr hinterher. Quer über die Weide, die an unseren Hof angrenzte, in Richtung Haus. »Ich wollte dir noch ein Kunststück vorführen, das ich Conny und den Eseln beigebracht habe!«

»Ein anderes Mal, mein Liebes.« Sie wartete an der hölzernen Tür auf mich, die in unseren Garten führte. Dann nahm sie meine Hand und guckte gedankenverloren vor sich hin, bis wir den Eingang zur Wohnung erreicht hatten.

»Hör mal, Kleines. Ich möchte kurz mit dir reden.« Sie sank in die Hocke und sah mich aus großen Augen traurig an.

Angst überfiel mich. Mama war doch sonst immer so fröhlich.

Mein Herz hämmerte so verrückt wie der Specht, der vorhin an die alte Eiche gerattert hatte.

»Mami, was ist denn los? Ich zeige dir, was du tun musst, damit meine Freunde dich mögen.« Entschlossen fasste ich nach ihrer Hand und versuchte, sie in Richtung Stall zu ziehen.

»Nein, Schätzchen, du weißt doch, dass ich einen Riesenrespekt vor großen Tieren habe. Das ist mit ein Grund, warum ich nie in den Kuhstall gehe.«

Ungläubig starrte ich sie an. Vor was fürchtete sie sich denn?

»Wenn ich größer bin, darf ich Papa im Stall helfen«, verkündete ich triumphierend. »Und ich habe keine Angst vor Rosa, Lina, Eva ...«

»Alina, was ich mit dir besprechen wollte ...« Mama brach ab und seufzte tief.

Warum verhielt sie sich auf einmal so seltsam?

»Wo ist Papa?« Ein sonderbares Gefühl überkam mich.

»Im Stall. Wo sonst?«

Etwas an der Art, wie sie das sagte, gefiel mir nicht.

»Ich werde für ein paar Tage verreisen.«

Kurz hielt ich den Atem an und überlegte, wie ich das finden sollte. »Darf ich mit?«

»Nein, mein Spätzchen, ich habe etwas Urlaub nötig. Und überhaupt, was würden denn deine Tiere ohne dich tun? Weißt du, wie traurig sie ohne dich wären?«

»Aber ich bin doch auch traurig, wenn du nicht da bist.«

Mama richtete sich auf und schnäuzte sich.

»Wir sehen uns wieder. Ich komme dich besuchen, so oft es mir möglich ist.«

Bevor ich kapierte, was geschah, wurde ich fest an ihre Brust gedrückt und gleich darauf mit einem Ruck wieder abgesetzt. Ich taumelte rückwärts und begriff erst im nächsten Moment, dass Mama sich davonmachte. Warum wollte sie so plötzlich fort von hier?

»Mami, Mami! Wann kommst du denn wieder?« So schnell meine Beinchen mich trugen, rannte ich ihr hinterher. Hinein ins Haus, die Stufen hoch zu den Schlafräumen. Atemlos betrat ich ihr Zimmer. Sie stand schwer schnaubend neben einem reisefertigen Koffer und ein paar vollgepackten Taschen. Bei meinem Eintreten zuckte sie zusammen und fuhr herum.

»Alina, mein Liebes! Bitte bleib ein braves Mädchen und sei nicht traurig, ja?« Sie beugte sich zu mir herab und strich mir eine Locke hinters Ohr. »Und versprichst du mir etwas?«

»Was denn, Mami?«

»Dass du so bleibst, wie du bist. So lieb und so brav.«

Eifrig nickte ich. Ich würde alles tun, was Mama von mir verlangte.

»Wie oft muss ich noch schlafen, bis du wieder zurückkommst?« Ich spürte die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten.

Sie schien zu überlegen. Da betrat mein Vater das Zimmer.

»Papa, wusstest du, dass Mami verreist?!«

Auf einmal sah er viel älter aus, fast wie ein Opa. Ganz grau im Gesicht, und seine Augen waren gerötet. Warum starrte er so unheimlich vor sich hin? Nicht mal die Kühe glotzten derart komisch.

Statt einer Antwort verließ er das Zimmer so überraschend, wie er es betreten hatte.

Nun verstand ich die Welt erst recht nicht mehr. Intuitiv fühlte ich, dass ich Mama unbedingt aufhalten musste. Heulend warf ich mich vor ihr auf den Boden und versuchte verzweifelt, ihre Beine zu umklammern.

Sanft, aber bestimmt wurde ich wieder hochgezogen.

»Mäuschen, du bist doch mein tapferes kleines Mädchen, nicht wahr? Dann reiß dich bitte zusammen und mach mir jetzt kein Theater. Du machst alles nur noch schlimmer!«

Reglos verharrte ich einen Augenblick und fragte mich verwirrt, was ich denn überhaupt noch sagen oder tun durfte. Mami ging doch nicht etwa meinetwegen fort?

»Was hab ich denn falsch gemacht?! Ich räum sofort mein Zimmer auf, versprochen!« Von der Angst getrieben wirbelte ich herum, stürmte nach draußen auf den Flur und hinein ins gegenüberliegende Zimmer. In meinen eigenen vier Wänden kurvte ich um das Himmelbett, verfing mich im Stoff der blauen Seidenvorhänge, riss mich wieder los und warf mich auf den kuscheligen Plüschteppich inmitten des Zimmers. Dort hatte ich eine Weide für meine Spielkühe gebaut, mit dem dazugehörigen Stall.

Mit zwei Handbewegungen wischte ich alle Tiere über einen Haufen und schaufelte sie emsig in die rosafarbene Spielbox, wo sie auf Barbie und Kasperle trafen. Anschließend hastete ich in Mamas Zimmer zurück. Doch es war leer.

Als wäre der Stier hinter mir her, sprang ich die Treppe hinab, stolperte und fiel hin. Ich empfand keinen Schmerz. Bloß eine Riesenangst.

Sofort war ich wieder auf den Beinen und rannte nach draußen ins Freie, den Hügel hinab zum Tor. Mamas rotes Auto war gerade dabei, den Hof zu verlassen.

»Mami! Mami!«

Schreiend rannte ich hinterher. Warum hielt sie nicht an? Konnte sie mich nicht hören?

Ich wollte sie so gerne noch einmal umarmen und ihr sagen, wie lieb ich sie hatte!

Und tatsächlich – der Wagen verlangsamte. Keuchend kam ich näher und war erleichtert, dass ich mich noch verabschieden konnte. Doch sie hatte nicht meinetwegen angehalten. Als ich die Höhe ihrer Tür erreichte, sah ich den Grund: Mix und Max hockten direkt hinter dem offenen Tor mitten auf der Straße und gaben den Weg nicht frei.

»Mami!«, schrie ich an ihrem Fenster und hämmerte an die Scheibe. »Pass bloß auf, dass du sie nicht überfährst!« Die Angst um meine treuen Freunde, die sich häufig in meiner Nähe aufhielten, überwog für einen kurzen Augenblick.

Im nächsten Moment versuchte ich, die Autotür an Mamas Seite aufzureißen. Doch es wollte mir nicht gelingen. Verzweifelt heulte ich auf.

Sie hupte. Und just in dem Moment, als die schneeweißen Tauben aufflatterten, beschleunigte sie, und ich blieb wie festgefroren in der Einfahrt zurück.

Durch einen Vorhang aus Tränen beobachtete ich das Auto, das mit quietschenden Reifen hinter der nächsten Kurve verschwand.

Auch der Himmel fing an zu weinen, und das Kleid klebte patschnass auf meiner Haut. Ich spürte es kaum, und es machte mir nichts aus, barfuß im Regen zu stehen.

Mix und Max hatten sich auf das Baumhaus geflüchtet. Von dort oben spähten sie auf mich herab. Offenbar verstanden sie genauso wenig, was soeben geschehen war.

Von Einsamkeit und Trauer umhüllt starrte ich dem Nebel entgegen, der wie ein unheimlicher Geist vom Tal herauf auf unseren Hof zuschwebte. Lautes Donnerknallen ließ mich zusammenzucken und vor Schreck aufschreien. Mehr noch als die nackte Angst fühlte ich, wie in diesem Augenblick meine heile Welt zusammenbrach.

Ich konnte hinterher nicht mehr sagen, wie lange ich dagestanden hatte, bis mir Papa einfiel. Wo war er bloß? Und warum hatte er Mama zum Abschied nicht gewunken?

Am ganzen Leib fröstelnd machte ich mich auf die Suche und fand ihn im Stall. Mit zerfurchter Stirn schob er Heu in die Futterboxen der Kühe.

»Warum sagt mir keiner, wo Mama hinfährt und wann sie wiederkommt?«, brüllte ich ihm entgegen.

Zwanzig Kühe ließen für einen winzigen Moment vom Futter ab und hoben überrascht die Köpfe. Ein aufgeregtes »Muuh!« hallte zurück.

»Alina, bist du von allen guten Geistern verlassen? Was schreist du so herum?! Du bringst mir das ganze Vieh in Aufruhr!« Vater schaufelte unbeirrt die nächste Fuhre in die Futterraufe.

Ich brüllte noch lauter und heulte meinen Schmerz hinaus. Da sah ich, wie er herumfuhr und in seinen hohen Gummistiefeln auf mich zukam. Schwungvoll hob er mich hoch und setzte mich erst draußen vor der Stalltür im Schutze des Scheunendaches unsanft ab. »Jetzt beruhige dich doch! Mama fährt für ein paar Tage weg. Bestimmt kommt sie bald wieder.«

Wieso schaute er dann so traurig drein? Und weshalb schweifte sein Blick an mir vorbei in die Ferne?

Ich zögerte. Er würde mich doch nicht belügen – oder doch? Ich wollte ihm so gerne glauben. Ein Funken Hoffnung machte sich in mir breit.

»Komm jetzt, du kannst mir bei den Kälbern helfen. Die kleine Resi wird heute eine Woche alt, und wir müssen sie ...« Er hielt inne.

»Was müssen wir sie?«

Er zögerte kurz, bevor er in den Stall zurückging. »Sie muss lernen, alleine auf den Beinen zu stehen.«

»Das tut sie doch seit ihrer Geburt, Papa!«

»Ja schon, aber ...« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Sie bekommt jetzt eine andere Milch, und die darfst du ihr geben. Möchtest du?«

»Au ja!« Der plötzliche Abschied von Mama trat für einen winzigen Augenblick in den Hintergrund. Im nächsten Moment stutzte ich. »Aber warum trinkt sie nicht mehr bei ihrer Mutter?«

Papa schien zu überlegen. »Ihre Mutter gibt die Milch an die Menschen ab. Das weißt du doch! Und dazu sind Milchkühe eben da.«

»Und welche Milch kriegt dann das Kälbchen?«

»Eine Mischmilch der anderen Kühe.«

»Von ihren Tanten?«, fragte ich zweifelnd.

»Wenn du so willst, dann sind das eben ihre Tanten«, brummelte er.

Das kam mir seltsam vor. Bisher hatte ich nie darüber nachgedacht, dass die Kälbchen nur für kurze Zeit die Milch von ihren Muttis trinken durften und wir Menschen sie ihnen klauten. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Die nassen Locken klebten mir auf der Stirn.

Papa musterte mich, als sähe er mich zum ersten Mal. Sein Blick blieb an meinen nackten Füßen hängen. »Mensch, Kleine, du weißt doch, dass du nicht barfuß in den Stall darfst! Und überhaupt, wie siehst du aus? Zieh dich sofort um, sonst holst du dir eine Erkältung.«

»Mach ich gleich!« Ich liebte es, wenn die Kühe mir mit ihrer Zunge über die nackten Zehen strichen. Unbeeindruckt folgte ich meinem kopfschüttelnden Vater wieder hinein in den heimeligen Stall. Der tröstlich vertraute Geruch nach Heu und Mist sowie die Wärme, die die Tiere ausstrahlten, beruhigten mich. Hier fühlte ich mich geborgen. Ich liebte ihr schwarz-weiß geschecktes Fell, die rundlichen Augen mit den langen Wimpern, aus denen meine vierbeinigen Freundinnen die Welt betrachteten. Ihre Zunge, die sich auf der Haut wie Sandpapier anfühlte. Uii! Wie das kitzelte!

Abrupt blieb ich stehen und beobachtete, wie Papa Doris, Resis Mutter, in die angrenzende Abteilung zu den ausgewachsenen Kühen führte. Sie sträubte sich heftig und muhte nach ihrem Baby. Das Kleine in seinem Laufstall hüpfte wie ein Kitz im Kreis herum, als tanze es zu dieser Melodie.

»Warum lässt du ihre Mama nicht bei ihr bleiben?« Ich wurde wütend und stapfte zu Papa hin. Verzweifelt zerrte ich am Strick, den er ihr um den Hals gelegt hatte.

»Alina, was soll das?!«

»Wie kannst du der süßen kleinen Resi ihre Mami wegnehmen?!« Tränen liefen mir über die Wangen, als Vater mich zurückdrängte und mich auf die Box des Kälbchens zuschob.

»Bleib du inzwischen bei Resi. Doris wird jetzt gemolken, und es ist an der Zeit, dass das Kleine lernt, ohne seine Mutter zurechtzukommen.«

Genauso wie ich, schoss es mir durch den Kopf. Der Schmerz von vorhin überkam mich von Neuem. Er lähmte mich für einen intensiven, langen Moment.

Während Resis kleine Zunge zärtlich über meine Hände strich, bohrte sich das verzweifelte Muhen ihrer Mutter tief in mein Herz. Es klang genauso hilflos, wie ich mich in diesem Augenblick fühlte.

Starr vor Entsetzen begriff ich mit einem Mal, was mir niemand mit Worten erklärt hatte.

Denn an diesem Tag wurde nicht bloß eine Turbomilchkuh von ihrem Kälbchen getrennt, sondern auch eine Vierjährige von ihrer Mutter.

KAPITEL 1

ALINA

Seit zwanzig Jahren hegte ich nur einen einzigen Herzenswunsch: dass meine Mutter wenigstens meinen Geburtstag mit mir feiern würde. Nie hatte er sich erfüllt, und als ich an diesem Tag versuchte, meine Tortenkreation so vorsichtig wie möglich aus dem Kühlschrank zu ziehen, wusste ich längst, dass Mutter heute wieder mit Abwesenheit glänzen würde.

»Alina, träumst du?«

Geflissentlich ignorierte ich die Frage meiner Stiefmutter und den finsteren Blick von Kati.

»Reich mir mal den Zucker!«

»Wo hast du die Milch hingestellt?«

»Alles muss man selber machen.«

Die kurze Nacht steckte mir noch in den Gliedern, und ihre schrillen Stimmen ließen mich zusammenzucken. War es tatsächlich zu viel verlangt, dass die beiden mal selbst einen Finger rührten und zumindest Milch und Zucker aus dem Schrank holten? Ich hatte ja nicht erwartet, dass sie mir gleich den Tisch deckten. Nur einen etwas freundlicheren Ton mir gegenüber. Aber das war wohl Wunschdenken.

Wieder einmal fühlte ich mich in der Rolle des Aschenputtels, das gerade aus dem Kamin geplumpst war.

Frustriert griff ich nach der frischen Milch und reichte sie Olga. Danach schob ich meine selbst gebackene Torte freudlos zurück in den Eisschrank.

»Was tust du da?! Weshalb trägst du den Kuchen nicht endlich hinaus auf die Terrasse? Wie lange sollen wir denn noch warten?« Meiner Stiefmutter war offenbar noch nicht aufgefallen, dass wir Hochsommer hatten und die Sahne bei den Temperaturen da draußen zu Suppe würde, genauso wie der Schokoladenguss. Kein Wunder, wenn man den ganzen Tag nur im Haus herumdöste.

Kati stöhnte und schlug sich an die Stirn. »Mensch, machst du das wieder spannend!« Offensichtlich konnte sie es kaum erwarten, eine Schokoschnitte zwischen die Zähne zu bekommen.

Ich seufzte auf und versuchte, mich zu sammeln, während die beiden sich grummelnd auf die Veranda verzogen.

Nicht mal zu einem Glückwunsch hatte es gereicht.

»Schätzchen, kann ich dir irgendwie helfen?« Ich sah mich um und entdeckte Omi, die plötzlich in der Küchentür stand. »Wie ich mich freue!« Ich fiel ihr um den Hals und drückte die kleine, zerbrechliche Gestalt an mich.

»Ich fasse es nicht, dass du extra den weiten Weg gereist bist, nur um mir persönlich zu gratulieren!«

»Das wäre ja noch schöner, wenn ich das nicht täte. Für meine Lieblingsenkelin würde ich bis ans Ende der Welt reisen. Auch wenn meine Knochen immer gebrechlicher werden.«

Der Gedanke, dass meine Mutter sie gefahren haben könnte, versetzte mich in helle Aufregung.

»Wie bist du denn hergekommen?«

»Mit dem Zug bis zur Talstation und von dort mit der Seilbahn zu euch herauf.«

»Ach so.« Nur ungern gestand ich mir ein, wie enttäuscht ich war, dass sie ihre Tochter nicht mitgebracht hatte. Die wohnte nämlich nicht wie Oma zwei Stunden von uns entfernt. Paradoxerweise trennten uns bloß fünfzehn alberne Minuten Seilbahnfahrt.

Meine Mutter lebte in der Stadt unten am Fuße des Berges. Sie kam mich nie besuchen. Anders als Oma, die pünktlich an jedem Geburtstag auf der Matte stand. Von Mutter brachte sie mir jeweils Briefe, Süßigkeiten und früher Spielsachen mit. Zu einem Treffen hatte es nie gereicht.

»Du siehst so blass aus, Mädchen. Fehlt dir etwas?« Aufmerksam musterte Omi mich, von meinem krausen Haaransatz bis zu den Hausschlappen.

»Nein, keine Sorge. Alles okay. Habe bloß wenig geschlafen.« Ich schenkte ihr ein müdes Lächeln. Vermutlich würde sie es mir nicht abnehmen, wenn ich ihr anvertraute, dass auch ich mich so manches Mal schon wie achtzig fühlte. Dabei wurde ich heute erst vierundzwanzig.

Unter ihrem kritischen Blick errötete ich ein wenig. Ob Oma wohl ahnte, welche Rolle ich in diesem Haushalt spielte?

»Wer hätte sonst die Tortenböden gebacken?« Ich versuchte mich an einem schiefen Lächeln.

»Warum hast du dir nicht von Katinka helfen lassen, Herzchen?«

Aufstöhnend griff ich nach den Sekt- und Wassergläsern. »Hast du eine Ahnung, Omi ...«

»Aber sie ist doch Konditorin! Für sie wäre das ein Kinderspiel.«

»Offenbar zu anstrengend. So wie vieles andere auch.«

Rasch huschte ich über die zwei Treppchen nach draußen auf die Terrasse. Oma folgte mir mit den Servietten.

Es schickte sich nicht, an einem Tag wie diesem zu jammern. Auch wenn ich es manchmal kaum für mich behalten konnte, wie genervt ich war.

Die Sonne strahlte mir ins Gesicht, die Vögel zwitscherten, und ich fühlte mich sofort etwas besser.

»Bist du jetzt endlich so weit?!« Katis ungehaltene Stimme riss mich aus meiner Betrachtung. Sie räkelte sich auf einem Liegestuhl, den sie im windgeschützten Eck der geräumigen Veranda positioniert hatte.

»Na, na. Wie sprichst du denn mit deiner Stief..., äh, ich wollte sagen ... mit deiner Schwester?«, rügte Großmutter sie.

Wie auf Befehl verzogen wir beide gleichzeitig das Gesicht. Weder Kati noch mir gefiel die Vorstellung, die andere zur Schwester zu haben. Und gestern Abend hatte sie es vorgezogen, ihre haarigen Beine über das Sofa zu legen und sich Chips knabbernd einen Videofilm reinzuziehen, während ich die halbe Nacht an der Deko der Torte gebastelt hatte.

Olga rappelte sich erwartungsvoll aus einem Gartenstuhl hoch und reichte Oma flüchtig die Hand zum Gruß. Danach verzog sie sich wieder zurück in den Schatten an die Seite ihrer Tochter.

Prüfend ließ ich meinen Blick über den langen Tisch aus Eichenholz schweifen, den ich im Begriff war, für die Feier zu decken. Er thronte im rechten Winkel der Terrasse, von wo aus man direkt auf den Kieselweg gelangte, der zum Stall und in den Garten hinunterführte.

»Was ist mit Nelly? Weshalb hat sie nicht bei den Vorbereitungen geholfen?« Oma dämpfte die Stimme, blieb dennoch hartnäckig. Sie faltete währenddessen die Servietten, und ich legte die Kuchengabeln darauf.

»Ach die.« Ich winkte ab. »Sie steckt gerade mitten in der Pubertät und hat andere Sorgen.«

»Und die wären?«

»Sie leidet unter Alpträumen. Letzte Nacht musste ich schon wieder nach ihr sehen.«

»Ach, genauso wie du damals?«

»Und Kati.«

»Das ist ja höchst interessant. Liegt bestimmt an diesem Haus. Habt ihr es schon auf Wasseradern untersuchen lassen? Oder auf Erdstrahlungen? Die sind nicht zu unterschätzen.«

Wir kehrten in die Küche zurück, und ich fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Ach, Omi, das Problem heißt nicht Erdstrahlung, sondern Olga. Möglich, dass sie Strahlen aus ihrem Hintern sendet. Als Kind ist sie mir fast jede Nacht mit grünen Haaren auf einem Hexenbesen erschienen.« Seufzend verdrehte ich die Augen.

»Das tut mir leid für dich, Schätzchen.« Ihre Stimme war voller Mitgefühl, als sie mir eine meiner widerspenstigen Strähnen aus dem Gesicht strich. Mir wurde wohlig warm ums Herz. »Vor allem, weil deine Mutter dir nicht zur Seite gestanden hat. Aber du glaubst doch nicht, dass Olgas Töchter von ihr träumen?«

»Natürlich nicht.« Manchmal merkte ich meiner Oma die vielen Jahre auf dem Buckel deutlich an. Zum Beispiel jetzt, wo sie nicht verstehen wollte.

»Glaubt man Olgas Schilderungen, hat Kati als Kleinkind Schlimmes erlebt. Ihr leiblicher Vater soll sie beide geschlagen haben.«

»Das erklärt so einiges«, sinnierte Omi vor sich hin. »Und Nelly? Welchen Grund vermutest du bei ihr?«

»Die gibt mir Rätsel auf. Möglich, dass sie die Zuwendung ihrer Mutter vermisst.«

Omas Blick wurde noch um eine Spur verständnisloser.

»Olga hat sie nach dem Abstillen kaum noch beachtet«, fügte ich hinzu. Dass ich sie damals dabei ertappt hatte, wie sie meiner kleinen Halbschwester Cognac auf ein Löffelchen mit Zucker tröpfelte, nachdem das Baby stundenlang geschrien hatte, verschwieg ich lieber.

»Sie lebt in ihrer eigenen Welt und lässt außer Kati niemand so richtig an sich heran.« Ich beugte mich dabei zu Omas Ohr hinab. Auch ihr Gehör war nicht mehr das einer Zwanzigjährigen.

Verschwörerisch raunte sie mir zu: »Auch deinen Vater nicht?« Ihr zweideutiges Zwinkern ließ kurz meine Sorgen verblassen, und ich lachte hell auf.

»Keine Ahnung, wie weit sie ihn noch ranlässt«, wisperte ich, den Sarkasmus in meiner Stimme zügelnd. Das Liebesleben meines Vaters interessierte mich exakt seit zwanzig Jahren nicht im Geringsten.

»Glücklich sieht vermutlich anders aus.« Dabei fielen mir die Eltern von Jonas, meinem Jugendfreund, ein. Die machten einen zufriedenen Eindruck und waren seit eh und je zusammen. Wie gern hätte ich mit ihm getauscht.

»Das erklärt noch immer nicht, warum sich nachts außer dir niemand um Nelly kümmert und du mit den Geburtstagsvorbereitungen allein gelassen wirst.« Oma klang ungehalten.

Gespielt gleichgültig zuckte ich mit den Achseln.

»In diesem Haus sind eben alle bis auf mich mit einem tiefen Schlaf gesegnet. Übrigens macht es mir nichts aus, mich um die Kleine zu kümmern. Wir haben einen guten Draht zueinander.« Nicht ohne Stolz konnte ich behaupten, dass ich meiner Halbschwester näherstand, als es ihre Mutter und Kati jemals tun würden.

Großmutter kramte eifrig im Geschirrschrank herum und versuchte, auf Zehenspitzen an die Kuchenteller ranzukommen.

»Omi, lass mal. Da musst du noch ein bisschen wachsen!«, scherzte ich, langte nach den Tellern und reichte sie ihr. Danach holte ich die Getränke aus dem Kühlschrank.

»Geh doch einfach schon vor auf die Terrasse und suche dir einen Platz aus. Wir warten bloß noch auf Papa.«

»Wo ist er denn?«, rief sie ins Freie. Mühsam stieg sie die paar Stufen hoch. »Geburtstagsgäste lässt man doch nicht einfach so warten!« Ich vernahm ein missbilligendes Schnalzen und lächelte vor mich hin. Omas falsches Gebiss gab zuweilen seltsame Geräusche von sich.

»Du weißt doch, Edgar ist meistens im Stall. Wo denn sonst? Die Viecher füttern sich schließlich nicht von alleine!« Olgas Stimme klang ungehalten. Als ich hinaustrat, ließ sie sich gerade auf meinem Stuhl am Anfang des gedeckten Tisches nieder und bettete ihre Füße auf das Kissen des Nachbarstuhles.

Unter halb gesenkten Augenlidern beobachtete ich Omi, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz nahm und meine Stiefmutter mit offenem Mund anstarrte. Die Gedanken waren ihr ins Gesicht geschrieben. Zumindest konnte ich sie deutlich ablesen: Wie hatte es diese Frau geschafft, sich in den letzten Jahren dermaßen gehen zu lassen? Auch Omi hatte Olga als eine auffallende Person mit süßlichem Gesülze, übertriebener Frisur und einem Kilo Schminke im Gesicht kennengelernt. Bis auf die fast täglich neu lackierten Fingernägel erinnerte nichts an die Puppe von früher. Offenbar gab es für meine Stiefmutter keinen Grund, sich für Papa oder sich selbst aufzuhübschen, so wie es bis zu Nellys Geburt ihre Art gewesen war.

Mir konnte das theoretisch egal sein. Schließlich lief ich hier am Hof auch nicht wie auf dem Laufsteg herum. Für Äußerlichkeiten hatte ich generell recht wenig übrig.

Bei mir zählte ausschließlich der Charakter eines Menschen. Doch bei Olga konnte der das Äußere nicht mehr wettmachen.

Ich ertrug es kaum noch, sie den ganzen Tag auf dem Sofa liegen zu sehen, von wo aus sie sich wie eine Königin bedienen ließ. Und wie sie es genoss! Die meiste Zeit stopfte sie Süßes und Salziges in sich hinein. Allein damit brachte sie mich schier zur Verzweiflung. Denn wenn sie dann mal für böse Stiefmütter musste, durfte ich mit Putzzeug und Staubsauger ran, um die schäbige Couch von den Krümeln und Flecken zu befreien. Olga behandelte mich, als wäre ich ihr gut bezahltes Hausmädchen und sie die Großfürstin des Alpenlandes.

Ihre nörglerische Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Weshalb müssen wir eigentlich hier draußen in der grässlichen Hitze braten?«

Oma verschluckte sich, und ich eilte sofort zu ihr, um ihr kräftig auf den Rücken zu klopfen. Wäre es nach den beiden Gnädigen gegangen, hätten sie die alte Frau ersticken lassen.

Oma erholte sich so langsam von ihrem Hustenanfall und nahm dankbar das Glas Saft entgegen, das ich ihr reichte. »Ziehst du es tatsächlich vor, an so einem glasklaren Tag wie heute in der dunklen Hütte zu hocken?«

Sie hatte ja keine Ahnung, dass Olga die Hauptmahlzeiten abwechselnd im Wohnraum und in ihrem Zimmer einnahm und nie freiwillig einen Fuß an die frische Luft setzte. Papa hatte ihr auf Wunsch auch im Schlafzimmer eine Glotze hingepflanzt, damit sie sich dort ihre Soaps reinziehen konnte.

»Riechst du das denn nicht? Gerade du, die du aus der Großstadt kommst?« Olga schüttelte verständnislos ihr Haupt, an dem reglos fettiges Haar klebte. Wenn sie glaubte, sie könnte mich heute dazu überreden, ihr als Friseuse zur Hand zu gehen, hatte sie sich aber getäuscht.

Ausgerechnet jetzt, an meinem Geburtstag, wurde mir mit jeder Sekunde klarer, dass ich den beiden selbst ernannten Fürstinnen nicht länger zu Diensten stehen würde.

»Spielst du etwa auf den Stallgeruch an?« Oma gab sich scheinheilig, und ich frohlockte insgeheim.

Da sie von Olga nur eine abfällige Handbewegung kassierte, setzte sie gleich noch einen drauf.

»Da hättest du mal früher dran denken sollen. Bevor du hier eingezogen bist.«

Die schwarzen Augen meiner Stiefmutter funkelten unheilvoll.

»Deine Tochter hat es nicht so lange hier oben ausgehalten wie ich«, trumpfte sie auf.

»Hallo, Oma!«

Super Timing! Nelly schaffte es immer wieder, im richtigen Moment aufzutauchen, und rettete auch diese Situation vor dem Eskalieren. In ihrer unbeschwerten Art warf sie ein Badetuch über eine Stuhllehne und hüpfte auf Omi zu. Ihr fröhliches Wesen durchriss die hässliche Atmosphäre, die sich zunehmend mit Zorn auflud und so gar nichts mit Partystimmung zu tun hatte. Im Schlepptau hatte sie Jonas.

Strahlend trat er auf mich zu. Und wieder einmal fiel mir auf, wie stämmig er gebaut war. Er könnte sich neben Olga positionieren, dann würden wir keinen Sonnenschirm benötigen, schoss es mir durch den Kopf. Auf seinem kastanienbraunen Haar trug er wie üblich einen Cowboyhut. Er strahlte mich aus warmen Augen an, die mir aus dem markanten Gesicht entgegenfunkelten. Sein Antlitz war von der Arbeit im Freien sonnengebräunt. Mein Blick glitt über sein sauberes blau-weiß kariertes Hemd und die goldbraunen Reiterstiefel. Ja, genauso kannte ich ihn, meinen Nachbarn und Jugendfreund.

Mit einem Ruck zog er mich an die stramme Brust, und ich atmete flüchtig den Duft des Rasierwassers ein, mit dem er sich zur Feier des Tages besprenkelt hatte. Danach verschwand ich in einer kräftigen Umarmung.

Es tat irgendwie gut, ihn zu spüren. Er war die Schulter, die ich zum Ausweinen brauchte. Aber auch mein guter Freund, der immer für mich da war. Als er mich endlich wieder losließ, rang ich nach Luft, und er hauchte mir ein paar Küsschen auf die Wangen.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Hier, ich wusste nicht, was du dir wünschst.« Er drückte mir einen Briefumschlag in die Hand und kratzte sich am Hinterkopf. Ich freute mich aufrichtig über seinen Besuch.

»Du musst mir doch nichts schenken! Es genügt mir, dass du da bist!« Und mir moralischen Beistand leistest, fügte ich im Stillen hinzu. »Darf ich ihn öffnen?«

»Na klar!« Verlegen knetete er seine riesigen Hände, wobei er mich nicht aus den Augen ließ.

Ich zog eine Glückwunschkarte mit einer riesengroßen Vierundzwanzig aus dem Umschlag. Gleichzeitig fiel mir ein Zettel entgegen, auf dem in kritzeliger Handschrift stand: Gutschein für einen gemeinsamen Ausritt auf einem Pferd deiner Wahl.

Zutiefst gerührt fiel ich ihm um den Hals.

»Du wirst ja richtig rot, Jonas!«, kreischte Nelly, und der Rest der Patchworkfamilie brach in Gelächter aus.

Jonas hüstelte und sah peinlich berührt zu Boden. Ich fragte mich, ob er sich noch immer mehr von mir erwartete, als ich bereit war, ihm zu geben.

Ich war noch sehr jung gewesen, als wir die Grenze der Freundschaft überschritten hatten, und wusste nur, dass ich in seinen starken Armen die Geborgenheit fand, die ich zu Hause vermisste. Trotzdem sprang da nie ein Funke über, und nach ein paar gemeinsamen Monaten stufte ich meine Gefühle für ihn als schwesterlich ein. Er hatte sich nicht anmerken lassen, ob und wie sehr ihn das berührte. Dennoch waren wir weiterhin in Kontakt geblieben, beinahe so, als hätte es die Nächte in der Scheune nie gegeben.

Sein Hof, auf dem er Pferde züchtete, grenzte östlich an unsere Wiesen. Ab und zu ritten wir gemeinsam aus, und ich fand es schön, ihn zum Freund zu haben. Doch tiefer gingen meine Gefühle für ihn nicht.

In seiner Anwesenheit fragte ich mich manchmal, wie sich das wohl anfühlte, wenn man richtig verliebt war. Klopfte einem das Herz tatsächlich wie wild bis zum Hals beim bloßen Gedanken an den Geliebten? Und laberte man Schwachsinn, nur weil er einem in die Augen sah? Ich kannte das nur von Filmen und aus Büchern.

»Das ist das schönste Geschenk«, seufzte ich, »das du mir machen konntest. Ich danke dir.« Und das meinte ich auch so. Er stand hier inmitten meines unglücklichen Daseins wie mein Fels in der Brandung. Oma und er peppten meine Laune erheblich auf. In plötzlicher Euphorie umarmte ich ihn ein weiteres Mal. Er drückte mich kurz an sich und flüsterte: »Ich freue mich schon auf unseren Ausflug.«

»Oh, da wird schon geknutscht!« Die Stimme meines Vaters ließ mich sofort einen gehörigen Abstand zu Jonas einnehmen.

Sämtliche Köpfe flogen herum und riefen durcheinander.

»Endlich, Papa!«

»Endlich, Edgar!«

Er war bereits aus der Arbeitskleidung geschlüpft und begab sich mit den Stiefeln zum Abstellraum hinter dem Stalleingang, wo er alles verstaute. Danach wusch er sich am Brunnen die Hände, spritzte Timmy, unserem Hund, ins Gesicht und rieb sie am T-Shirt ab.

»Da bist du ja endlich! Die ganze Welt wartet schon auf dich«, gackerte Olga.

Er begrüßte Omi und klopfte Jonas freundschaftlich auf die Schulter, bevor er sich mir zuwandte.

»Alles klar, mein Geburtstagskind? Ich flitze noch unter die Dusche. Bin gleich bei euch.« Mit einem Augenzwinkern verließ er uns so rasch, wie er aufgetaucht war.

»Sieh zu, dass du nicht zu lange brauchst!« Olgas Gekreische hallte über die sonnengeflutete Terrasse und entlockte uns ein Augenrollen. »Hab nämlich keine Lust, mir hier draußen einen Sonnenbrand zu holen, nur weil ich ewig auf ein Stück Kuchen warten muss.«

Jonas und ich wechselten einen einvernehmlichen Blick, während Kati im Liegestuhl betont gelangweilt auf ihre Krallen starrte und Nelly sich angeregt mit Oma unterhielt.

Ich schlenderte in die Küche und hob mein Kunstwerk aus dem Kühlschrank, den ich gestern extra umgeräumt hatte, um die dreistöckige Torte darin unterzubringen.

Beim Gedanken an das saftige Schokobiskuit mit den Kirschen aus unserem Garten lief mir das Wässerchen im Mund zusammen. Gut, ich hatte wohl etwas übertrieben. Das Ganze war die reinste Kalorienbombe. Denn alle Schichten waren mit Schokoladenglasur überzogen. Und auf dem obersten Stock thronten mit Rum gefüllte Schokobällchen, die ich mit Sahne liebevoll verziert hatte. Schokosplitter dekorierten mein Werk.

»Happy Birthday!« Ich klopfte mir selbst auf die Schulter und stellte mir dabei vor, dass die Glückwünsche von meiner Mutter kämen. Als hätte sie es geahnt, räusperte sich Omi hinter mir.

»Hier, das hat mir deine Mama für dich mitgegeben. Sie lässt dich herzlich grüßen und wünscht dir ein tolles Geburtstagsfest.«

Mit einem Mal spürte ich einen schalen Geschmack im Mund, und die Euphorie, die ich eben noch verspürt hatte, wich einer Traurigkeit, die mich taumeln ließ. Schwankend setzte ich die Torte auf der Anrichte ab.

»Was ist denn, mein Kind?« Oma war viel kräftiger, als es ihre Statur vermuten ließ, und hielt mich fest. Ich konnte und wollte sie nicht in meine innigsten Gedanken einweihen.

»Komm, jetzt setzt du dich mal hin und trinkst einen Schluck Kaffee. Das wird dich auf den Beinen halten.« Energisch zog sie mir einen Stuhl heran und schob ihn mir unter den Hintern. Gerade noch rechtzeitig, bevor meine Beine nachgaben.

»Was hast du denn?« Jonas’ Stimme ließ vermuten, dass er direkt hinter mir stand. Sehen konnte ich ihn nicht. Mir wurde gerade schwarz vor Augen.

»Es geht schon.« Ein Schnauben konnte ich mir nicht verkneifen und legte den Kopf in meine Hände. Warum fühlte ich mich plötzlich so schlapp?

»Ist dir schlecht?« Seine Stimme klang zunehmend besorgt.

Im nächsten Moment vernahm ich das Klappern einer Tasse, das sich mir näherte. Der Kaffee hatte es trotz Omas starken Zitterns bis zu mir an den Küchentisch geschafft, offenbar ohne überzuschwappen.

»Alles okay.« Ich versuchte, mich und Jonas davon zu überzeugen, indem ich mich kurz erhob. Doch meine Beine fühlten sich wie Marshmallows an, und ich sank sofort wieder auf den Stuhl zurück.

Ich tastete nach dem Henkel der Kaffeetasse und merkte erst jetzt, dass ich mit Oma konkurrieren konnte, was das Zittern anbelangte.

»Wo bleibt denn nun der Geburtstagskuchen?!«

Katinka kam in die Küche geschlurft.

»Was hat sie denn schon wieder? Gott, du musst wohl immer im Mittelpunkt stehen!« Es klang wie üblich alles andere als einfühlsam.

»Könntest du auch mal ein bisschen freundlicher zu Alina sein?« Oma begab sich auf gefährliches Terrain. Doch anscheinend kümmerte sie das nicht im Geringsten.

»Wenn du schon siehst, dass deine Schwester so erschöpft ist, könntest du ihr doch ein wenig zur Hand gehen. Oder bist du hier auf Urlaub?«

Der Schleier vor meinen Augen lichtete sich und gab die Sicht auf Katis Gesicht frei. Mit weit aufgerissenen Augen glotzte sie von Oma zu Jonas, und schließlich blieb ihr anklagender Blick an mir haften.

Wieder einmal fühlte ich mich schuldig.

»Edgar, wir beide müssen uns kurz unter vier Augen unterhalten.« Omas Stimme klang energisch und vermischte sich mit dem Rauschen in meinem Kopf. Offenbar hatte Vater sich jetzt auch zu uns gesellt. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Mein Kopf schmerzte, und ich hörte, wie die Schritte, die zu Oma und Papa gehörten, sich entfernten. Auch Kati suchte rasch das Weite.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Jonas, das ist lieb von dir. Aber ich glaube, ich hatte nur einen kurzen Schwächeanfall.«

»Kommt das häufiger vor?« Besorgt beugte er sich zu mir herab. In seinem Blick spiegelte sich Mitgefühl und noch etwas, das ich im Moment nicht entziffern konnte. Ich musste wohl einen erbärmlichen Anblick abgeben. Zusammengekauert, wie ich dasaß, ein Häufchen Elend inmitten unserer Küche.

»In deinem Alter sollte so etwas nicht vorkommen. Vermutlich leidest du an Eisenmangel, da du ja kein Fleisch isst.«

»Danke, Herr Doktor!« Ich riss mich zusammen und hob die Mundwinkel an. »Komm, bringen wir es hinter uns.« Doch ich klebte immer noch am Stuhl fest, so als würde ich eine Tonne wiegen. Eigentlich wünschte ich mir nur eines: im Bett zu liegen und endlich mal in Ruhe durchschlafen zu können. Danach aufzuwachen und mich auf einer blühenden Wiese zu sonnen. Fernab von Olga und Kati.

Im nächsten Augenblick standen zwei gefüllte Schnapsstamperln vor mir. Am süßlich-herben Geruch erkannte ich, dass es sich um einen Obstler handelte.

»Und einen auf Ex!« Jonas prostete mir zu und wartete, bis ich das Gläschen ansetzte und es ihm nachahmte. Sofort füllte er uns ein zweites.

Der Schnaps brannte meine Kehle entlang, und ich fühlte mich, als könnte ich Feuer speien.

»Halt, Jonas, ich kann mir jetzt doch nicht die Birne vollhauen. Ich muss meine Gäste bedienen.«

Wieder neigte er sich zu mir herab, und sein Atem, der nach Selbstgebranntem roch, streifte mich flüchtig.

»Du musst gar nichts. Ruh dich doch mal aus und lass die beiden Schrullen ackern! Hätte ich hier etwas zu melden ...«

»Was dann?« Die Stimme meines Vaters ließ uns auseinanderfahren. Mit Oma im Rücken trat er soeben aus dem Wohnzimmer in die Küche.

»Ich würde Alina entlasten.« Jonas baute sich zu seiner vollen Größe auf und straffte die breiten Schultern. Mit funkelnden Augen starrte er meinen Vater angriffslustig an.

Papa schaute drein, als hätte er chinesisch gesprochen.

»Siehst du, Edgar. Es fällt auch anderen auf. Bloß dir nicht!«, schimpfte Omi und griff sich entrüstet an den Kopf.

Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Was hatte sie ihm denn vorgeworfen? Nichts lag mir ferner, als Vater ausgerechnet an meinem Geburtstag zu verärgern.

»Dann schneiden wir das Baby mal an.« Ächzend erhob ich mich, schwankte leicht und spürte die starken Arme von Jonas hinter mir, die mich wie ein warmer Schutzmantel umfingen.

Mein Blick fiel auf das Päckchen, das von meiner Mutter kam. Insgeheim brannte ich darauf, zu erfahren, was in das seidene Papier eingewickelt war. Vorfreude beflügelte mich, und plötzlich spürte ich warme Schauer, die sich im Körper ausbreiteten und bis in den Kopf hochfuhren. Das Koffein und der Alkohol feierten wohl gerade ihr Aufeinandertreffen. Ich fühlte, wie sich die Kräfte im Körper so langsam mobilisierten, und griff nicht ohne Stolz zur Geburtstagstorte. Mit meinem Gefolge trat ich endlich auf die Terrasse hinaus.

Nelly tobte mit dem Hund auf der Wiese herum, während die Beule in der Hängematte verriet, wo Olga rumhing.

Endlich zeichnete sich ein Lächeln auf dem Gesicht meines Vaters ab, als ich die neueste Kreation auf den Tisch stellte. »Mensch, Mädel! Da hast du dich aber wieder mal selbst übertroffen!« Zärtlich wie schon lange nicht mehr küsste er mich auf die Stirn. Mir wurde ganz warm ums Herz. Verblüfft lugte ich zu ihm hoch. In seinen Augen lag etwas, das ich nicht zu deuten wusste. Hatte Oma mit seinem veränderten Verhalten zu tun?

Die zündete derweil die Kerzen auf der Torte an und zwinkerte mir dabei aufmunternd zu.

»Feiern Olga und Kati denn nicht mit?«, fragte sie betont laut und mit scheinheiligem Blick in Richtung Wiese zur Hängematte, die zwischen den Obstbäumen schaukelte. Im Nu tauchten zwei Beine über dem zähen Stoff auf.

»Ich komm ja schon.« Halb belustigt beobachteten wir, wie sie beinahe aus dem Tuch kippte und sich im letzten Moment noch an den Seilen festhielt.

»Die hat es aber eilig.« Jonas räusperte sich und verkniff sich ein Grinsen. Wir tauschten einvernehmliche Blicke. Verblüfft wurde mir bewusst, dass in seinen Augen ein Ausdruck lag, der mir bisher noch nie an ihm aufgefallen war.

Sofort wandte ich mich ab und schaute zu Papa. Seine emotionslose Miene verriet mir, dass ihn Olgas Verhalten auch heute nicht streifte.

»Kati!«, schrie Nelly zum geöffneten Fenster über uns. »Schwing deinen Arsch herunter! Oder pennst du etwa schon wieder?«

»Kleines, könntest du dich bitte etwas sanfter ausdrücken?« Oma drohte ihr spielerisch mit dem Zeigefinger. Bei Nelly hatte sie einen Stein im Brett.

»Alina, du darfst dir etwas wünschen!«, wechselte meine kleine Schwester sofort das Thema und grinste unverschämt zu Jonas.

Ich beachtete sie nicht weiter und beugte mich über die Torte. Was ich mir wünschte?

Kurz schloss ich die Augen. Den einzigen Herzenswunsch, den ich seit jeher in mir trug, den hatte das Schicksal doch nie gekümmert. Warum sollte es heute anders sein?

Trotz allem versuchte ich, mir in meiner Fantasie auszumalen, wie Mama am heutigen Tag mit uns feierte.

Paps, Oma, Nelly und Jonas applaudierten mir, als der Rauch der Kerzen sich über der Torte verflüchtigte.

»Happy Birthday to you!«, stimmte Nelly an, und Oma fiel mit ein. Papa und Jonas brummten eine Oktave tiefer mit.

»Spielst du eigentlich nicht mehr auf deiner Ziehharmonika?«, wollte Oma von Papa wissen, als sich bis auf mich endlich alle gesetzt hatten.

Er verneinte.

»Aber warum denn nicht? Das war immer so schön, früher, als ...« Sie unterbrach sich plötzlich, und ich ahnte, auf welche harmonische Zeit sie anspielte. Auf eine Zeit, an die ich mich kaum noch erinnerte.

»Jetzt reich mir doch mal das Messer! Sonst werden wir hier in der Zwischenzeit noch alt und grau.« Olga riss uns zurück in die Gegenwart und langte von der gegenüberliegenden Seite zu mir herüber.

Hilflos wechselte ich einen Blick mit Oma. Eigentlich wollte ich meine Geburtstagstorte selbst anschneiden.

»Die ist wunderschön, Alina! Du bist eine Künstlerin.« Oma versuchte, mich mit Komplimenten von der Tragödie abzulenken, die sich langsam anbahnte.

»Ich bin überzeugt, dass Kati so ein Prachtwerk erst gar nicht gebacken bekommt!« Nelly warf ihrer Schwester einen provokanten Blick zu.

Die hatte sich soeben mit gelangweiltem Gesichtsausdruck und Kopfhörern um den Hals zu uns gesellt. Ein Brummeln wie »du kannst mich auch mal« war das Einzige, was ihr dabei über die Lippen kam.

»Olga, ich schneide die Torte selber an. Es ist nicht nötig, dass du sie von deiner Seite ebenso zersägst.«

Ich stand kurz davor, in Panik auszubrechen, als mir auffiel, dass meine Stiefmutter bereits begonnen hatte, mein Kunstwerk zu verschandeln. Wo sie das Messer dafür hernahm, war mir ein Rätsel.

Verzweifelt klammerte ich meine Hände um das Tortenbesteck und musste mit ansehen, wie sie rücksichtlos am untersten Boden meiner Kreation herumschnipselte. Dann warf sie ein paar zerfetzte Teile quer übereinander auf ihren Teller.

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich Omas missbilligendes Kopfschütteln und schwieg. Auch Paps schwieg. Wieder einmal.

In all den Jahren, die sie schon auf dem Hof wohnte, hatte ich ihn nur einmal mit ihr streiten gehört. Das war, als sie ihm ihre Schwangerschaft offenbarte. Er war von Natur aus kein gesprächiger Mensch. Und wenn er mal die Stimme erhob, dann wünschte man sich, nicht in seiner Nähe zu sein.

»Bekomme ich auch welchen?!«, schrie Kati über den Tisch herüber. Offensichtlich versuchte sie, das Bumm-Bumm, welches aus ihren Kopfhörern drang, zu übertönen.

»Nimm doch erst einmal diese Dinger von den Ohren!«, tadelte Oma.

Kati hörte sie offenbar nicht und fixierte meine Geburtstagstorte beinahe feindselig.

»So ein Tamtam habt ihr an meinen Geburtstagen nie gemacht!«, beschwerte sie sich zu allem Überfluss.

Ich biss mir auf die Zunge, um eine Bemerkung zu vermeiden. Ansonsten hätte ich sie ihr ins Gesicht geschrien.

Die Erinnerung an ihren achtzehnten Geburtstag ließ mich schwer schlucken. Sie hatte sich nämlich zu ihrer Volljährigkeit ein Pferd gewünscht. Zuerst wollte sie unbedingt Conny haben. Meine Conny! Und Papa war sogar gewillt, sie ihr zu überlassen. Erst nachdem ich darauf erneut in einen Hungerstreik verfiel, kaufte er Jonas einen jungen Wallach ab. Hektor war ein energisches Pferd, und Kati hatte eine Menge damit zu tun, ihn zuzureiten. Meiner Ansicht nach passten sie perfekt zueinander. Nach einem Jahr hatte sie bereits das Interesse an ihm verloren, und er blieb sich selbst überlassen. Zum Glück kümmerte sich Nelly nun um das schöne Tier.

Mir entging nicht, wie ein Haufen Schokokuchen unter dem Tisch verschwand. Zur großen Freude von unserem Berner Sennenhund. Fassungslos starrte ich Olga an.

»Was glotzt du so? Glaubst du etwa, ich hätte es mit Absicht getan? Obwohl ...« Sie kostete, fuhr sich mit ihrer Zunge über die Lippen, um dann mit einem Zögern in der Stimme fortzufahren: »Du hast schon bessere Torten fabriziert.«

»Das will ich aber selbst mal testen!« Oma war sichtlich empört über diese Beleidigung, die mir galt.

»Hier, Omi, jetzt bin ich aber gespannt auf dein Urteil!« Ich reichte ihr eine ordentliche Portion Kuchen und ignorierte Olgas vernichtende Blicke.

»Mmmmhmm. Köstlich, dieses luftige Biskuit! Einfach überirdisch lecker.« Mit geschlossenen Augen fuhr Oma mit ihrer Schwärmerei fort. Zufrieden grinste ich in mich hinein und bemerkte die Grimasse, die meine Stiefmutter zog.

»Wird’s heute noch was mit diesem Kuchen?!« Kati riss sich die Hörer herunter und streckte ungeduldig ihre Hand mit den schwarzen Tattoos und den farblich darauf abgestimmten Fingernägeln aus.

»Nicht in diesem Ton!«, herrschte Oma sie an. Erschrocken fuhr sie herum. Meine Stiefschwester war es nicht gewohnt, dass man sie zurechtwies. Tatsächlich war sie die Einzige, um deren Wohl sich Olga bemühte und deren Wünsche seit ihrem ersten Tag auf dem Hof immer sofort erfüllt wurden.

Begehrte sie mein Zimmer anstelle des Gästezimmers, zog sie einfach bei mir ein und riss sich sämtliche Spielsachen unter ihre Finger. Erst als ich in die Pubertät kam, zog ich in eins der Gästezimmer um, da ich ihr Brüllen nachts im Schlaf nicht mehr aushielt.

Wünschte sie sich ein Auto, bekam sie eins. Paps war seit jeher darauf bedacht, Olga nicht zu verstimmen. Und war die Stieftochter zufrieden, war es auch die Mutter. Ich verstand bis heute nicht, was er an dieser Frau liebte. Sie war doch das genaue Gegenteil meiner Mutter, die mir als sanfte, liebevolle Frau mit grazilen Bewegungen in Erinnerung geblieben war.

Insgeheim dankte ich dem Himmel, dass Omi uns heute Gesellschaft leistete und diese immerzu schwarz gekleidete Person zurechtwies. »Dir hat man offenbar keine Manieren beigebracht. Wenn du etwas möchtest, dann bittest du darum!«

»Glaubst du etwa, du müsstest meine Tochter, die auf die dreißig zugeht, noch erziehen? Das hättest du besser mal bei deiner tun sollen.«

Omas Gesicht wechselte die Farbe bei Olgas harten Worten. Mir fiel beinahe das Stück Kuchen vom Teller, das ich Papa reichen wollte. Abwartend hielt ich inne. Doch er zeigte auch jetzt keine Reaktion. Offensichtlich war er zu vertieft in eine Diskussion mit Jonas. Natürlich ging es dabei um die Pferdezucht. Erst als ich ihm seinen Teller vor die Nase setzte, bedachte er mich mit einem abwesenden Blick.

Oma überging Olgas Angriff betont lässig und schenkte mir ein herzerwärmendes Lächeln.

Das war offenbar zu viel für meine Stiefmutter.

Ich konnte mir nicht erklären, wie sie es geschafft hatte. Fakt war, dass sie beim Versuch, sich aus dem Sessel hochzurappeln, irgendwie an die Torte geraten war.

Danach ging alles blitzschnell. Wie in einem Albtraum registrierte ich, dass der oberste Teil des Kuchens herabstürzte, ein Teil auf Papas Tasse traf, worauf sein Teller vom Kaffee überschwemmt wurde. Weitere Kuchenstücke flogen durch die Luft und landeten in Nellys Schoß oder direkt am Boden. Alle sprangen auf, und ich erstarrte, als ich mit ansehen musste, wie Timmy sich freudig wedelnd darüber hermachte.

Dann vernahm ich einen gellenden Schrei und merkte erst anschließend, dass ich diejenige war, die mit Nelly im Chor geschrien hatte. Doch es war zu spät.

Nichts war mehr zu retten. Weder die Torte, von der nur noch ein Scheiterhaufen übrig war, noch Papas frisches Hemd, das voller Flecken war.

Tränen schossen mir in die Augen. Tränen der Verzweiflung, der Enttäuschung, der Abscheu gegen dieses Frauenzimmer, das die Schuld an dem Dilemma trug.

Durch einen verschwommenen Schleier hindurch erkannte ich den bestürzten und zugleich mitleidigen Blick in Omas Augen.

»Scheiße!«

»Au Mann!«

»Ach du meine Güte!«

Alle schimpften durcheinander. Papa fluchte. Die Einzigen, die noch ein paar abfällige Bemerkungen in meine Richtung abschossen, waren wie immer Kati und Olga.

Anstatt einer Entschuldigung ächzte sie: »Siehst du, ich habe doch gleich gesagt, dass diese Torte auf keiner stabilen Grundlage aufgebaut wurde.«

Schadenfroh grinsend watschelte sie an mir vorbei in die Küche, gefolgt von Kati.

Mein Vater, der anfangs versucht hatte zu verhindern, dass Timmy sämtlichen Kuchen am Boden auffraß, hatte die volle Ladung abbekommen. Vorwurfsvoll starrte er mich jetzt an. In seinem Haar klebten Sahne und Glasur.

»Glaubst du wirklich, dass es meine Schuld ist?!«, rief ich empört.

Wie aus weiter Ferne drang Jonas’ beruhigende Stimme an mein Ohr: »Alina, alles ist halb so wild. Es ist doch bloß eine Torte!«

Das war zu viel.

Schluchzend stürzte ich in die Küche, rannte an meiner Stiefmutter vorbei, die hämisch grinsend an der Kaffeemaschine lehnte und sich von Kati in aller Ruhe eine Zigarette anzünden ließ.

In meinem Zimmer warf ich mich heulend aufs Bett und erinnerte mich, als wäre es erst gestern gewesen, an den Tag, als Olga und Katinka das erste Mal zu Besuch kamen.


Meine Beine wollten nicht stillhalten. Sie zappelten wie von selbst unterm Tisch.

»Autsch!«, beschwerte sich das Mädchen, dessen Namen ich schon wieder vergessen hatte und das ich nicht im Geringsten sympathisch fand.

Ihre Mutter wirkte geradezu unheimlich auf mich. Diese Frau mit dem schwarz gelockten Haar, den untertassengroßen Augen und dem künstlich schrillen Lachen hatte absolut gar nichts an sich, was ich als nett bezeichnet hätte. Im Gegenteil.

Mein Vater sah das offenbar anders, stellte ich mit wachsendem Unbehagen fest. Er klebte förmlich an ihren Lippen. Und das genau seit dem Moment, in dem sie unsere Stube betreten hatte und wir uns anstandshalber mit ihrem trockenen Kuchen abmühten. Was war ich dankbar, dass mein Golden Retriever Cindy, der kurz nach Mamas Abschied als Welpe bei uns eingezogen war, unter dem Tisch lag und niemand zu bemerken schien, wie ich das ungenießbare Zeug an ihn verfütterte.

Mit zunehmender Besorgnis beobachtete ich die beiden. Papas Blick hatte sich an dieser Frau festgesaugt – oder besser gesagt, an ihren beängstigend großen Möpsen. Vermutlich wartete er nur darauf, dass sie ihr aus dem freizügigen Ausschnitt der Bluse sprangen.

Ihre rabenschwarzen Augen fixierten ihn wie eine Schlange, die soeben eine Maus entdeckt hatte.

Ich linste zu dem Mädchen mit den dunkelbraunen Zöpfen neben mir, das ebenfalls damit begonnen hatte, Cindy mit Krümeln zu füttern. Sie war zwei Jahre älter als ich und hieß ... Kati oder Katinka?

»Möchtest du mit mir spielen?« Ich hatte absolut keine Lust, unseren Eltern weiterhin bei ihrem sonderbaren Getue zuzuschauen.

»Nein, keine Lust.« Das Mädchen, das ich auf Anhieb nicht mochte, redete auch noch komisch. Ach ja, Papa hatte mir erklärt, sie kämen aus einem anderen Tal und sprächen deshalb nicht unseren Dialekt.

Die zwei Erwachsenen erwachten endlich aus ihrem besorgniserregenden Zustand und bemerkten offenbar erst jetzt, dass wir immer noch artig am Tisch saßen.

»Wieso dreht ihr nicht eine Runde?« Wie gebannt starrte ich auf diese Lippen, die mich an ein aufgeblasenes Gummiboot erinnerten.

»Alina, zeig doch Katinka mal den Hof und die Tiere!« Wann hatte ich Paps jemals so strahlen gesehen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.

Mit einem unguten Gefühl im Bauch erhob ich mich. Ob es klug war, ihn mit dieser mysteriösen Frau allein zu lassen? Katinka schubste mich mit ausdruckslosem Blick nach draußen.


»Sieh mal, das ist Angel. Ist sie nicht süß? Sie ist erst zwei Tage alt!« Stolz strich ich über das samtige Fell meines weißen Kälbchens, das neben seiner Mutter im Laufstall stand, und wartete darauf, dass Katinka es mir gleichtat.

»Esst ihr diese Tiere alle selber?«, kam es stattdessen von ihr.

Mir war, als ob sich eine eiskalte Hand auf meinen Nacken legte. Gleichzeitig fühlte ich heftiges Pochen in der Brust. Was meinte sie damit?!

Schockiert blickte ich zu dem Mädchen hoch, das mich um einen Kopf überragte. »Natürlich nicht! Wir trinken ihre Milch und liefern sie aus«, erklärte ich nicht ohne Stolz.

»Und wer schlachtet sie dann?«

Erneut fühlte ich, wie ich zu frösteln begann. »Wie meinst du das?« Eine böse Ahnung beschlich mich, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Amanda, Rosa, Micky ... sie und noch viele andere meiner gescheckten Freundinnen waren von einem Transporter abgeholt worden. Auf die Frage, wohin sie denn gebracht wurden, hatte Papa mir konstant geantwortet: »Die fahren zur Kur.«

So manches Mal hatte ich mich schon gefragt, wie lange so eine Kur für Kühe wohl dauern würde. Denn keine von ihnen war jemals zurückgekehrt.

Verzweiflung und Trauer überfielen mich, und obwohl ich vor Katinka nicht heulen wollte, schaffte ich es kaum, die Tränen zurückzuhalten.

»Na ja, ihr Bauern züchtet dieses Vieh doch nur, damit ihr es schlachten und essen könnt.«

Entsetzt über die kaltherzigen Worte dieses Mädchens presste ich die Hände auf die Ohren und stürmte den Hügel hinunter. Ich rannte und rannte, als wäre der Teufel hinter mir her.

Von oben hörte ich Paps nach mir rufen. Doch es interessierte mich nicht. Nie wieder wollte ich zu ihm auf den Hof zurück. Ich beschloss, genauso wie Mama zwei Jahre zuvor einfach abzuhauen.


Das Klopfen an meiner Zimmertür brachte mich zurück ins Hier und Jetzt.

Jonas spähte herein. »Wie geht es dir?«

»Komm und setz dich.«

Ich klopfte auf die Matratze und zog die Beine an.

Vorsichtig näherte er sich und folgte meiner Einladung.

»Tut mir leid, das mit der Torte.«

Ich winkte ab. »Lass mal, du hast vollkommen recht. Es ist doch bloß ein Kuchen.«

Er seufzte und starrte vor sich auf seine Hände. »Wegen des Gutscheins ...«

»Ja?«

»Ich würde mich freuen, wenn du nicht zu lange wartest mit dem Einlösen. Kannst dir eine meiner neu eingerittenen Stuten ausleihen.«

»Danke für das Angebot, aber solange Conny ihre Hufen noch über Stock und Stein schwingt, werde ich ihr nicht untreu.«

Wir schwiegen eine Weile, während er die Spitzen seiner Cowboystiefel fixierte. Dann sah er mich von der Seite her an. Einen Moment zu lange, wie mir schien. Endlich erhob er sich.

»Mach’s gut ... und lass dich von diesen Schreckschrauben nicht unterkriegen. In dir steckt eine Kämpferin. Vergiss das nicht!«

Es war faszinierend zu beobachten, wie emotional er gerade reagierte. Schon allein für diese aufmunternden Worte hätte ich ihn doch lieben müssen!

Und wieder einmal war er zum richtigen Zeitpunkt an meiner Seite, wie schon so oft in der Vergangenheit. Doch ich spürte nach wie vor nichts außer freundschaftlichen Gefühlen für ihn.

Trotzdem legte ich zum Abschied zwei Finger an meine Lippen und winkte ihm nach, bevor sich die Tür hinter ihm schloss.

Die Wut von vorhin war beinahe schon wieder verflogen. Doch beim Gedanken an Olga und Kati überkam mich eine kalte Gänsehaut.

Eine Torte konnte ich ohne Weiteres wieder backen. Doch meine Jugend, die ich diesem Hausdrachen und ihrer Brut geopfert hatte, bekam ich nicht wieder zurück.

Achtzehn lange Jahre war es her, dass Olga und Kati in mein und Papas Leben geschneit waren. Und was ich anfangs als mühsam und erschreckend empfunden hatte, war für mich zum Alltag geworden.

Sie hatten mir alles weggenommen, erhoben sogar Anspruch auf die Tiere. Dinge, die mir wichtig waren, verschwanden einfach. Doch das Schlimmste war, dass sie mir mein Zuhause und meinen Vater geraubt hatten.

KAPITEL 2

MIKE

Geruch nach Bratensoße durchflutete die Lobby, die ich gerade durchschritt. Genervt startete ich den gefühlt zehnten Versuch, mir die Krawatte umzubinden, und trat in den Empfangsbereich der Rezeption.

»Juniorchef, es gibt ein Problem in der Küche!«

Simon, ein hagerer Servicepraktikant, stand mit hochrotem Kopf vor dem Front-Desk.

Ich ignorierte ihn und wandte mich brüsk an die Älteste der drei Sekretärinnen.

Sie schenkte mir ihr bezauberndstes Lächeln, das genauso an mir abprallte wie ihr einstudierter Augenaufschlag. Das Grün ihrer Augen erinnerte mich einmal mehr an die Frösche in unserem Hotelteich. Nicht, dass sie einem solchen ähnlich sah. Vermutlich lag es nur an der abgefahrenen Farbe.

»Noemi, könntest du mir mal zur Hand gehen?«

Errötend sprang Froschauge von ihrem Stuhl auf und kam meiner Bitte mit einem siegessicheren Lächeln nach, so als hätte ich sie zum Tanz aufgefordert.

Ihre beiden Kolleginnen ließen uns keine Sekunde aus den Augen, während unsere Chefsekretärin mir einen perfekten Krawattenknopf zauberte. Das musste man ihr lassen. Die wichtigsten Dinge im Leben beherrschte sie.

»Seht zu und lernt! Dann wisst ihr schon mal Bescheid, wenn ihr euren Zukünftigen behilflich sein müsst!«, kommandierte Noemi einen Kopf unter mir herrisch in Richtung Tamara und Irene. Unsanft nestelte sie an meinem Kragen herum und strich mir wie zufällig über die Schulter. Viel länger, als es nötig gewesen wäre. Ich schüttelte mich.

»So, Chef, jetzt bist du reif für deinen Auftritt.« Es folgte ein weiteres zahnbespangtes Grinsen, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Warum bloß erinnerte mich ihr Gebiss an ein grinsendes Pferd?

Ich versuchte, mich zusammenzureißen, indem ich meinen Kommentar hinunterschluckte, den sie sowieso in den falschen Hals bekommen hätte. Als ihr Chef sollte ich mich lieber auf das konzentrieren, was wichtig war, und Interesse an ihrer Arbeit heucheln.

»Wie sieht es mit den Anreisen aus?« Ich lugte ihr über die Schulter auf den Monitor des Computers.

»Es sind bereits alle Gäste angekommen. Bis auf die Italiener, bei denen wird es wieder mal später.«

»Chef, entschuldige, wenn ich dich störe, aber ...«

»Wo brennt es denn?« Unwirsch wandte ich mich um und sah meinem besten Freund und Lieblingskellner Tom ins Gesicht.

Vielsagend grinste er mich an, als er die übertriebene Nähe zu Noemi wahrnahm. Sie beabsichtigte auch nach Toms Auftreten nicht, einen Millimeter von mir abzurücken.

»Erwin und Jan liegen sich wieder mal in den Haaren.«

Entschuldigend hob er die Schultern und bedeutete Simon, den ich total vergessen hatte, dass er sich wieder an die Arbeit machen sollte.

»Ach herrje. Soll ich mich besser bewaffnen, bevor ich die Küche betrete?« Der Sarkasmus in meiner Stimme zauberte Tom erneut ein Grinsen auf sein jungenhaftes Gesicht. Mit langen Schritten eilte ich ihm voraus in Richtung Kampfgebiet. Er musste einen Gang zulegen, wenn er mich auf seinen kurzen Beinen einholen wollte.

Als ich mich umdrehte, bemerkte ich die versteckten Zeichen, die er den Mädels von der Rezeption gab. Neidlos stellte ich fest, wie die zwei jüngeren ihn anschmachteten.

Ein Seufzer entfuhr mir. Es zeigte sich wieder einmal, dass gegen seinen unverfänglichen Charme niemand ankam. Und na ja, ich musste zugeben, dass er wirklich ein ausgesprochen hübscher Kerl war. Helga vom Frühstücksservice nannte ihn den „Brad Pitt in jungen Jahren“.

»Es ist immer wieder erfrischend zu sehen, wie umwerfend du auf die Frauenwelt wirkst.«

Über sein Gesicht huschte ein Strahlen.

»Wie? Du errötest nicht einmal? Welche ist es denn diesmal?«

»Keine. Mann, lass mich bloß mit den Weibern in Ruhe!«

Sobald wir außer Reichweite der Rezeption waren, unterhielten wir uns wie Kumpels. Locker und ungezwungen.

»Was macht denn dein Liebesleben so?«, kam es spöttisch zurück. »Nach der Affäre mit dieser Ägypterin habe ich keine andere Frau mehr an deiner Seite gesehen.«

Ich setzte einen Atemzug aus. Immer feste rein in die Wunde! Niemand sollte jemals hinter die Mauer blicken, die ich mir mühevoll um mein Gefühlsleben errichtet hatte.

»Haha, ich bin mit Sicherheit auf nichts Festes mehr aus! Da kannst du Gift drauf nehmen. Die Frauen sind doch alle gleich. Erst machen sie dich heiß, und anschließend lassen sie dich abblitzen.«

Tom schüttelte nur den Kopf. »Ich glaube, ich sollte dir mal Nachhilfe im Benimmunterricht geben. Der an der Hotelfachschule hatte offenbar zu wenig Wirkung auf dich.«

Endlich waren wir im Kriegsgebiet angelangt, und ich fand mich unmittelbar vor einem brüllenden Chefkoch und einem keifenden Oberkellner wieder.

»Du kannst mich mal! Bleib draußen in deinem verdammten Speisesaal und trete mir hier nicht auf meinen Eiern herum!«

»Moment!« Sofort fuhr ich dazwischen, je eher, desto besser. Bevor die Messer flogen. Das hatte mich meine kurze Erfahrung als Juniorchef gelehrt.

»Erwin, jetzt beruhige dich doch mal! Wo brennt es denn?« Mit meinen ein Meter neunzig überragte ich den Chefkoch um fast zwei Köpfe und beugte mich zu ihm über die Anrichte. Ein chilirotes, mit Schweißperlen bedecktes Gesicht lugte unter der Kochmütze zu mir empor.

»Mensch, Chef, dieser Kasper ruiniert mir noch meinen letzten Nerv. Andauernd quatscht er mir in die Vorbereitungen hinein und lenkt die Jungs von der Arbeit ab. Ich erteile ihm hiermit Küchenverbot!«

»Das wirst du schön bleiben lassen! Kommt mal beide mit nach draußen.«

Was war das denn? Ein Kindergarten für Erwachsene?

Entschlossen durchquerte ich die Küche und trat durch die Hintertür in den Garten hinaus. Die Streithähne folgten mir, lauthals vor sich hin fluchend.

Auf meiner To-do-Liste dieser Woche stand ganz obenauf: mit dem Rauchen aufhören. Doch jetzt beschloss ich, dass der richtige Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen war.

»Komm schon, Jan, rück mal drei Kippen heraus.«

Mir war nicht entgangen, dass unser Chef de Rang immer eine Packung unter dem Schurz versteckte.

Jan zögerte. Im Herumzappeln stand er seinem Widersacher und Erzfeind in nichts nach. Fahrig griff er endlich unter seinen Kellnerschurz und zündete zwei Zigaretten an.

»Diesem Schnorrer gebe ich bestimmt keine ab!«

»Geizhals!« Unwillig gesellte sich der Chefkoch zu uns. Mir entging der Sicherheitsabstand, den er zu Jan einhielt, genauso wenig wie der bereits brennende Glimmstängel zwischen seinen wurstigen Fingern.

Ich nahm einen tiefen Zug und inhalierte. Dann war ich endlich bereit, das Gezicke der beiden zu schlichten.

»So, und jetzt mal ganz von vorne. Wer hat womit angefangen?«

Als ich später, beinahe schon erschöpft von dem kleinen Disput, auf die Rezeption zuhielt, betrat ein auffallend gestyltes Paar das Hotel.

Die Puppe mit dem wasserstoffblonden Haar sah aus, als wäre sie einem Modejournal entsprungen. Auf goldenen High Heels und im Leopardenlook stöckelte sie auf den Empfangsbereich zu.

»Wo ist der Chef?«, herrschte sie meine erschrockenen Mitarbeiterinnen an.

Spätestens jetzt bedauerte ich, diesen Weg eingeschlagen zu haben. Mein Magen knurrte. Ich hatte verflixt noch mal seit zwölf Stunden nichts untergelegt, wie üblich zu wenig gepennt und zu viel gebechert. Nach dem Zoff der beiden Oberschlauen wollte ich nur noch eins: etwas zwischen die Zähne bekommen.

Shit! Warum war ich nicht in der Küche geblieben, wo mir Erwin jetzt ein feines Filet serviert hätte?

Drei Augenpaare, die zu meinen Sekretärinnen gehörten, wandten sich mir flehentlich zu. Mein schwaches Männerherz schaffte es nicht, ihnen zu widerstehen.

»Was gibt’s?« Ungehalten blieb ich mit erhobenen Armen stehen. Noemi war es offensichtlich unangenehm, dass ich ausgerechnet jetzt aufgetaucht war und sie so dastand, als hätte sie die Situation nicht im Griff.

»Frau Schmidt ist weder mit ihrer Suite zufrieden noch mit dem Zimmerservice oder dem Wellnessbereich.« Daraufhin räumte Noemi freizügig das Feld, nicht ohne die Augen gen Himmel zu verdrehen, und zog sich ins hintere Büro der Buchhaltung zurück.

Na fein, jetzt hatte ich die Schickimicki-Schnecke am Hals. Erst bei der Erwähnung ihres Namens hatte es bei mir geklingelt. Bei ihrem letzten Aufenthalt waren ihre Haare noch pechschwarz gewesen. Und wo drückte der goldene Schuh denn diesmal?

Ich rief mir ins Gedächtnis, dass dieser Stammgast unser Hotel mindestens viermal im Jahr beehrte. Bei jedem ihrer Besuche ließ sie kein gutes Haar an unserer Einrichtung inklusive Personal. Die Sauna fand sie zu heiß, das Hallenbad zu kalt, das Zimmer zu hellhörig. Die Kellner, die niemals einen Cent Trinkgeld von ihr zu Gesicht bekamen, zu unprofessionell. Das Essen zu reichlich, zu fett oder zu viel gewürzt. Die Sekretärinnen zu ungenau bei den Wanderauskünften.

Zuallererst galt es, meinen inneren Schweinehund zu besiegen und das mürrische Knurren des Magens zu unterdrücken. Dann riss ich mich am Riemen und besann mich, wer ich war. Ein waschechter Bacher. Und ein Bacher ließ sich von nichts und niemandem kleinkriegen. So hatte es mir mein Vater seit jeher eingeimpft.

Aufmunternd zwinkerte ich Tamara und Irene zu, die wie zwei verängstigte Rehe vor dem Jäger standen und auf ihren Abschuss warteten.

Showtime!, sollte mein hinterlistiger Blick ihnen signalisieren. Keine Ahnung, ob meine Botschaft bei den naiven Hühnern angekommen war. Jedenfalls standen sie mit aufgerissenen Augen erwartungsvoll da.

Meine Wangen verkrampften sich, als ich mit meinem charmantesten Lächeln aus dem Rezeptionsbereich schritt und unserem Gast gegenübertrat.

»Guten Tag, liebe Frau Schmidt! Wie schön, dass Sie uns wieder mit Ihrem Besuch beehren!« Meine Stimme überschlug sich beinahe vor gekünsteltem Elan. Gleichzeitig gruselte ich mich vor dem schnulzigen Geschwafel, das mir mittlerweile wie von selbst über die Lippen kam. Es hatte einer intensiven Schulung durch meinen Vater bedurft, bis ich mich überwinden konnte, mein Inneres dermaßen zu vergewaltigen, wie er es damals ausgedrückt hatte.

Die Augen der aufgedonnerten Modepuppe nicht unweit von mir weiteten sich, und ihre Miene änderte sich von säuerlich zu freudig erregt. Offensichtlich hatte ich genau das erreicht, was ich beabsichtigte: Sie fühlte sich geschmeichelt von meiner überschwänglichen Begrüßung. Zu meinem Erstaunen drückte sie mir sogar ein Küsschen auf jede Wange. Süßes Parfüm nebelte mich ein und ließ mich schwer Luft holen.

»Ach, wie aufmerksam, vom Junior persönlich begrüßt zu werden. Du wirst ja immer größer! Wo hat sich denn dein Vater versteckt? Früher war er doch der Erste, den man beim Betreten der Hotelhalle erblickte.«

»Oder hörte«, fiel ich ihr ins Wort, und die Diva samt männlicher Begleitung stimmte gackernd in mein Lachen ein.

»Darf ich euch mit dem Gepäck helfen?«, wandte ich mich an die Frau im knappen Kleid, die sich mir geradezu beängstigend näherte und somit einen tiefen Blick in ihr üppiges Dekolleté gewährte.

Meine Augen blieben an dieser künstlichen Perfektion haften, während meine Kehle sich zusammenzog. Räuspernd versuchte ich, mir die Krawatte zu lockern.

»Nein, ich danke dir, Mike. Es ist nur ...« Ihr Atem streifte mein Kinn. »Du weißt doch, dass ich immer Suite Nummer 118 beziehe ...« Theatralisch erhob sie die Hände und ließ sie gleich darauf schier verzweifelt sinken.

Mir reichte dieses Theater. Entschlossen beugte ich mich über den Empfangstresen zu Tamara, die erschrocken von ihrem Rechner hochsah.

»Warum wurde Frau Schmidt ihre Suite nicht zugeteilt?« Meine Stimme klang strenger als beabsichtigt. Das Gesicht der Sekretärin lief kirschrot an, und über ihrem Kopf schwebten Fragezeichen.

»Ähm ... tja, Chef, da ist uns ein klitzekleiner Fehler unterlaufen.«

Ihre Kollegin kam ihr zu Hilfe. »Diese Suite ist bereits seit einer Woche besetzt, und die Herrschaften bleiben noch eine weitere Woche.« Laut fügte Irene hinzu: »Außerdem hat Frau Schmidt erst kurzfristig bei uns gebucht, und zu diesem Zeitpunkt hatten wir die 118 schon vergeben.«

»Ist denn 128 noch frei?«

Irene blinzelte mir verzweifelt zu und fuhr kopfschüttelnd, nur für mich verständlich fort: »Das Haus ist bis auf die letzte Kammer ausgebucht.« Als ob ich das nicht wüsste! Doch das Spiel vom guten und vom bösen Hotelier fing an, mir Spaß zu bereiten.

Scheinbar entrüstet drehte ich mich der Dame zu.

»Ich bedaure es zutiefst, aber leider können wir dieses Mal nicht mit der Suite 118 dienen. Wenn Sie nächstes Mal früher buchen, gebe ich Ihnen mein Wort, dass wir Ihrem Wunsch nachkommen werden.«

Frau Schmidt war noch nicht bereit, das Handtuch zu werfen.

»Wo ist denn Ihr verehrter Herr Papa? Hat er sich nun endgültig zurückgezogen aus diesem Metier?«

»Tja, ich fürchte, in Zukunft müssen Sie mit mir vorliebnehmen. Doch ich denke, dass Sie ihm bestimmt früher oder später über den Weg laufen werden. So ganz kann er sich nämlich noch nicht von diesem Kasten fernhalten.«

Zumindest erntete ich ein verständnisvolles Lächeln von Barbie und ihrem aktuellen Ken.

»Gerne lade ich Sie zu einem Aperitif auf Kosten des Hauses ein!«, fuhr ich fort und hoffte, damit endlich zu einem Ende zu kommen. Mit einladender Geste deutete ich zur Hotelbar. Dort würde ich mich fürs Erste über das Salzgebäck hermachen.

»Gehen Sie doch schon voraus. Ich folge Ihnen sogleich.«

Seufzend kehrte ich noch mal an die Rezeption zurück, wo die drei Sekretärinnen aufgeregt miteinander tuschelten.

Verschwörerisch raunte ich ihnen zu: »Befreit mich in spätestens zehn Minuten aus ihren Klauen.«

Meine drei Engel für Charly verstanden sofort. In zehn Minuten würde das Telefon an der Bar klingeln und der Barkeeper mir mit bedauerlicher Miene mitteilen, dass es einen Notfall gebe.

Schweren Herzens schlurfte ich zum Bartresen, wo mich eine strahlende Frau Schmidt mit verführerischem Lächeln erwartete.

»Hallo Vater, Frau Schmidt vermisst dich bereits.«

Es war zweiundzwanzig Uhr, der hektische Abendservice soeben beendet und zu meiner großen Erleichterung reibungslos über die Bühne gegangen, trotz schmollenden Chefkochs und zickigen Oberkellners.

Wie üblich hatte ich beim Servieren mitgeholfen und dabei die Ratschläge meines Vaters berücksichtigt.

»Zum Abendessen musst du dich immer blicken lassen und an jedem einzelnen Tisch nachfragen, ob alles zur Zufriedenheit der Gäste ist. Empfiehl ihnen einen delikaten Wein unseres Hauses. Auf keinen Fall bloß einen billigen Leps. Diesen Fehler begehen schon die Kellner zu häufig.«

Mein Vater, der den Speisesaal betreten hatte, wohl wissend, dass der Großteil der Gäste noch beim Dessert war, blickte erschrocken auf die gegenüberliegende Seite des Saales.

»Ich fürchte, sie möchte dich unbedingt begrüßen. Sie ist immer noch ganz heiß auf dich. Guck mal, sie winkt dir bereits zu.«

»Ach du Sch...« Mit einem verkrampften Lächeln im Gesicht winkte er zurück, und bevor er flüchten konnte, stand sie schon leibhaftig vor uns.

Ich hätte schwören können, dass ihr Kleid noch um einige Zentimeter kürzer war als das Leopardenkleid, das ihr beim Aperitif schon bedrohlich über die Schenkel gerutscht war. Während ich an der Bar ihr sinnloses Geschnatter über mich hatte ergehen lassen, achtete ich die ganze Zeit nur darauf, ob ihr Stringtanga unter dem kurzen Fetzen hervorblitzte. Und ob dieser ebenso golden war, passend zu den überdimensional hochhackigen Schuhen.

Im roten Cocktailkleid drückte sie sich jetzt ungeniert an meinen Vater. Ich hätte mich auch in Luft auflösen können. War ja klar. Neben dem Big Boss im schwarzen Anzug und der imposanten Gestalt hatte ich null Chance. Die Frauen lagen ihm seit jeher zu Füßen, und ich hatte mich längst damit abgefunden.

Schadenfroh grinste ich in mich hinein und bewunderte ihn zur gleichen Zeit, weil er sich genial darauf verstand, seine Gefühle derart präzise zu unterdrücken. Absolut hollywoodreif.

»Wie schön, dich endlich wiederzusehen, Leo!«, vernahm ich Schmidtchens erotische Stimme an seinem Hals.

Hastig entfernte ich mich von den beiden, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen. Bei diesen verrückten Köchen wusste man ja nie, was sie gerade ausheckten.

»Mike!« Die unerbittliche Stimme meines Vaters ließ mich zurückschnellen, bevor ich den Fuß in die automatische Tür setzen konnte.

»Sehen wir uns gleich im Büro? Wir müssen etwas besprechen.« Das war keine Frage, sondern ein Befehl. Ich grinste. Papa hatte es sichtlich eilig, sich von dieser Frau, die nach Sex und Geld schrie, zu befreien.

Ob sie sich in der Vergangenheit wohl nähergekommen waren?, überlegte ich stirnrunzelnd. Die Frauengeschichten meines Vaters sollten mir eigentlich piepegal sein. Doch zu meinem Leidwesen waren sie das nicht.

Mutter hatte sich aus gutem Grund von ihm getrennt. Es war das Klischee eines Hotelierpaars. Zuerst ein Traumpaar, von den Gästen verehrt, von den Mitarbeitern geachtet. Doch sobald die Eifersucht Einzug hielt, lag unser Familienleben plötzlich in einem riesigen Scherbenhaufen vor mir.

Ob Vater tatsächlich mit einer Köchin erwischt worden war oder Mama mit einem der Barkeeper, habe ich nie herausgefunden. Und dass das Personal immer wieder neuen Gesprächsstoff für Spekulationen fand, war mir ebenfalls nicht neu und berührte mich nicht im Geringsten. Resolut hatte ich mir vorgenommen, mich nie mehr in die Streitereien meiner Eltern einzumischen. Und seitdem ich mich heraushielt, fühlte ich mich wie von einer Last befreit. Mein einziges Augenmerk galt im Moment der Arbeit. Mein Vater war dabei, mir die Führung des Hotels zu übergeben, und wollte vermutlich aus diesem Grund nachher mit mir noch einmal zusammensitzen.

Ergeben nickte ich ihm zu und überließ ihn seinem und Frau Schmidts Schicksal.

Ich saß mit Noemi bei der Abendabrechnung in der hintersten Ecke des Büros, als er unangekündigt hereinschneite wie ein Tornado. Erschrocken fuhren wir auseinander und hielten die Kassenbons zusammen, die bei seinem Eintreten aufwirbelten.

»Und?! Ist etwas nicht in Ordnung?«

Wie ich es hasste, dass mein Alter immer davon ausging, dass während seiner Abwesenheit etwas aus dem Ruder gelaufen sein könnte.

»Alles bestens. Gut, Noemi, wir sehen uns morgen.« Ich nickte ihr zu, und sie erhob sich.

»Einen schönen Abend noch!«, flötete sie mit ausbaufähigem Augenaufschlag und verschwand.

Aufstöhnend ließ er sich neben mir auf den vorgewärmten Sessel fallen und beobachtete, wie ich einen dicken Packen Geldscheine zusammen mit den Kreditkarten- und Kassenbelegen in den Tresor packte.

»Was wolltest du mit mir besprechen, Papa?« Ich hatte vor, die Unterredung so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Mein Feierabendbierchen rief bereits nach mir. Ich wählte die Drei auf dem internen Telefon.

»Nils, bitte zwei Weißbier ins Büro! Danke.«

»Hör mal, Junge.« Papa faltete die Hände ineinander, was einer längeren Sitzung zumeist vorausging. »Ich sehe, dass du dich gar nicht mal so schlecht machst als mein Stellvertreter. Sogar die Schmidt hat mir heute die Ohren von dir vollgesungen ...« Er zog eine Grimasse.

Bescheiden winkte ich ab. In dem Moment klopfte es, und Nils, der Barmann, stellte uns zwei helle Blonde auf den Schreibtisch. Ich wunderte mich nicht weiter, dass er die Bierchen bereits parat hatte. Er kannte mich eben schon viel zu lange.

»Zum Wohle, die Chefs!« Mit einem Nicken verließ er rückwärts das Büro, so flink, wie er es betreten hatte.

»Cheers! Auf dich, mein Junge, und auf unsere Zukunftspläne.«

Seufzend prostete ich ihm zu und schlürfte den Schaum vom Bier. Ein beklemmendes Gefühl beschlich mich. »Was gibt es denn, Papa? Mach es doch nicht so spannend!«

»Die Jugend von heute hat weder Geduld noch Respekt uns Alten gegenüber.« Gespielt entrüstet schüttelte er den Kopf und bedachte mich mit ernstem Blick.

»Ich plane, im Frühjahr nach Beendigung der Wintersaison ein paar Ferienwohnungen in Bungalowform anzubauen.«

Bestürzt schlug ich die Hände über dem Kopf zusammen. »Auweia, Dad, nicht schon wieder! Dieser Baukram hängt mir noch vom letzten Jahr zum Hals heraus!«

Nur zu ungern erinnerte ich mich an den Stress mit den Handwerkern und dem Putzpersonal, die allesamt nie rechtzeitig erschienen waren, sowie an den ohrenbetäubenden Lärm, als wir die Wellness- und Gartenanlage umgebaut hatten.

»Möchtest du lieber eine Million an den Staat verschenken?« Resigniert verdrehte ich die Augen, in der Erwartung, dass er mit seiner Rede fortfuhr.

»Na also. Was wir benötigen, ist noch ein Stück Land, das an unser Hotel angrenzt.«

»Du meinst ...?« Ich hielt inne. »Das würde aber bedeuten, dass du dem Gasser die Wiese abkaufen willst. Verkauft der denn etwa?!« Das schien mir auf Anhieb unrealistisch. Diese Bergbauern waren doch alle so dickköpfig wie ihre Stiere. Und mit uns Hotelmenschen wollten sie meistens eh nichts zu tun haben, außer ihre Milch loszuwerden.

»Das sollst du herausfinden, mein Sohn. Gleich morgen früh wirst du ihm einen Besuch abstatten und das hier vorlegen.« Er zog ein paar Folien aus seiner Aktentasche unter dem Schreibtisch hervor und breitete die einzelnen Blätter vor mir aus.

»Das ist das Angebot. Falls er mehr möchte, kannst du um maximal zweihunderttausend erhöhen. Doch ich denke, dass er dieses Angebot nicht ausschlagen wird.« Ohne einen Blick auf die Ziffern zu werfen, wusste ich, dass es sich um ganz schön viel Geld handelte. Der Baugrund hier oben war dank des Touristenansturms so einiges wert.

»Ich bezweifle, dass dieser Großbauer uns seinen Grund verkaufen wird. Er braucht die Wiesen doch für das Heu seiner Kühe. Überleg doch mal!«

»Du musst noch viel lernen, Mike. Deshalb finde ich, ist das eine gute Übung für die Zukunft. Wenn es dir gelingt, ihn zum Verkauf zu überreden, werde ich dich im nächsten Monat bei unseren Angestellten als meinen offiziellen Stellvertreter vorstellen. Dazu wird dir fünfzig Prozent des Gesellschaftskapitals übertragen.«

Ich spürte, wie die Innenflächen meiner Hände zu schwitzen begannen. »Fünfzig Prozent? Warum nicht gleich hundert?« Provokant lachte ich ihm ins Gesicht.

»Du bist ein richtiger Bacher! Mit nichts zufrieden. Doch nur mit Ehrgeiz kommt man im Leben weiter. Wäre ich nicht so unersättlich, wie mich deine Mutter immer genannt hat, würden wir uns noch im alten Drei-Sterne-Hotel von Opa abrackern.«

»Lass Mama und Opa bitte aus dem Spiel.« Der Gedanke an meine Mutter erdete mich wieder.

»Diesen Gasser umzustimmen – das schaffe ich doch nie im Leben, Vater. Hättest du nicht eine andere Mutprobe für mich auf Lager?« Unterwürfig sah ich ihm in die Augen.

»Dein Welpenblick hilft dir höchstens bei den Mädels weiter, die bei dir ohnehin schon Schlange stehen. Jetzt stell dich doch nicht so an! Vergiss niemals, wer du bist!«

»Ich weiß, ich bin ein Bacher«, äffte ich ihn nach. »Das höre ich schon mein ganzes Leben lang!«, beklagte ich mich gereizt.

»Ein gutes, angenehmes Leben lang.«

Warum musste er bloß immer das letzte Wort behalten?

»Ach übrigens ...«, seine Miene erhellte sich ein wenig, »hast du nicht mit der Gassertochter die Schulbank gedrückt?«

Ich schüttelte mich bei der Erinnerung an meine miese Schulzeit. »Ja, leider. Wir haben sie immer gehänselt, weil sie nach Kuhstall stank.«

»Oh, oh! Das klingt gar nicht gut! Da hast du morgen ja genügend Gelegenheit, es wiedergutzumachen.«

Sah ich da hinterlistige Schadenfreude in seinen dunklen Augen aufblitzen?

Plötzlich ertappte ich mich, wie ich zusammengesunken mit der Lippe im Bier hing und in Schulzeiterinnerungen schwelgte. Vor meinem inneren Auge sah ich die Kleine vom Gasserhof mit ihren engelsgleichen Löckchen und den unschuldigen himmelblauen Augen. Warum nur hatte ich sie immerzu »dumme Kuh« gerufen?!

Allein die Erinnerung ließ mich vor Scham erröten. Wie sie inzwischen wohl aussah? Unsere Wege hatten sich nach der Pflichtschule nie mehr gekreuzt. Von den Tratschen im Dorf hatte ich gehört, dass sie Veterinärmedizin studierte. Na, das passte ja perfekt zu einer Bauerntochter. Bestimmt war sie auch nicht mehr so süß und engelhaft wie damals.

Vermutlich war sie zu einer grobklotzigen Bäuerin herangewachsen und versteckte ihr nach Stall riechendes Haar unter einem Kopftuch.

Nun, morgen würde ich es vermutlich herausfinden.

KAPITEL 3

ALINA

»Alina! Alina!«

Erschrocken fuhr ich hoch und versuchte, mich zu orientieren. Wer schrie da im Dunkeln nach mir?

Ich kämpfte mich aus dem Bett und taumelte über den Flur, den Wehlauten entgegen. Schlaftrunken trat ich ins Zimmer meiner kleinen Halbschwester, die eigentlich gar nicht mehr so klein war, und tastete nach dem Lichtschalter.

»Nelly, hattest du schon wieder einen Albtraum? Kannst du dich an etwas erinnern?« Aufrecht saß sie im Bett. Das dunkelblonde, verschwitzte Haar hing ihr wirr über das Gesicht, und sie starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke. Ich setzte mich zu ihr aufs Bett, in der Hoffnung, dass sich dann alle bösen Geister verflüchtigen würden.

»Alina?« Endlich schrumpften die riesigen Pupillen, und ihre Augen verengten sich.

»Alina!« Überschwänglich schlang sie ihre Arme um meinen Hals und brach in Tränen aus.

»War es wieder so schlimm?« Sanft strich ich ihr über das glatte Haar und spürte, wie ihre Tränen mein Nachthemd durchnässten.

»Ich will nicht mehr in diesem Zimmer schlafen! In Zukunft übernachte ich bei dir!«

Na super.

Für eine Vierzehnjährige verhielt sie sich ziemlich kindisch, stellte ich zum wiederholten Male fest.

Meine Erinnerung schweifte zurück in die Zeit, als ich in ihrem Alter gewesen war. Da hatte ich die Abende, egal, wie erschöpft ich war, am Bügeltisch verbracht. Öfter als einmal waren mir dabei die Augen zugefallen, und ich verbrannte mir die Finger.

Papa, der jeweils früh zu Bett ging, bekam das alles nicht mit. Und Olga, die spätabends oft durchs Wohnzimmer schwankte, um sich einen Wodka zu grapschen, bedachte mich allenfalls mit einem hämischen Grinsen.

Ob ich von Albträumen geplagt wurde? Ständig!

Die unheimlichen Hexen mit den grünen Haaren, die jede Nacht auf abenteuerlichen Besen durch mein Zimmer flogen, besaßen erschreckende Ähnlichkeit mit Olga und Kati. Doch niemand innerhalb der Familie hatte jemals davon Kenntnis genommen.

Das fehlte mir jetzt gerade noch, dass ich die wenigen Quadratmeter Privatsphäre, die mir noch geblieben waren, mit meiner kleinen Schwester teilen musste.

Doch mir war bewusst, dass es sinnlos war, um drei Uhr morgens eine Diskussion loszubrechen, und so erlaubte ich ihr, zu mir unter die Decke zu schlüpfen.

Die Nacht war damit für mich zu Ende. Nelly beanspruchte drei Viertel meines französischen Bettes und drehte sich auf der Matratze wie ein Uhrwerk. Entweder hatte ich einen ihrer Füße im Bauch oder ihren Ellbogen im Gesicht.

Ich versuchte, an etwas Schönes zu denken. Zum Beispiel an den Brief meiner Mutter. Nach der unerfreulichen Szene mit der Torte hatte ich Aufmunterung zwischen dem knisternden Geschenkpapier gesucht und daran gerochen. Gänsehaut überkam mich bei diesem Duft nach Mama. Ich hätte ihn immer wiedererkannt. An jedem ihrer Geschenke haftete er, und ich freute mich jeweils mehr über das vertraute Parfüm als über das Geschenk.

So war es auch diesmal. In das zarte Papier waren zwei Kuverts eingewickelt. Eines davon enthielt einen Gutschein für eine Maniküre, ausgerechnet in der Beautyfarm des Berghotels. Der Zweite barg eine Karte, in der mir meine Mutter in wenigen Worten mitteilte, dass sie mich gerne »kennenlernen« würde. Mein Herz hämmerte jetzt erneut bei der bloßen Vorstellung, sie endlich zu treffen.

Tausend Fragen stürmten auf mich ein: Warum wollte meine Mutter, die die letzten zwei Jahrzehnte nur noch in meiner Fantasie existiert hatte, mich erst jetzt wiedersehen? War sie immer noch so wunderschön wie eine Elfe? Was würde sie von mir halten? Ob wir uns ähnlich sahen? Und vor allem: Würde ich sie immer noch lieben können?

Die möglichen Antworten darauf bereiteten mir jetzt schon Bauchschmerzen.

Zwei Stunden später befreite ich mich von Nellys schweren Gliedmaßen und setzte mich erschöpft auf. Was war das für ein Geräusch? Furchtlos lauschte ich in die Stille hinein. Da! Da war es wieder. Schließlich entpuppte es sich als das Quietschen einer Tür. Diese wurde gleich darauf geschlossen. Der Holzboden knarrte unter Vaters schlurfenden Schritten, die auf das Bad zuhielten. Gleich würde er in den Stall hinuntertrotten. Ich beabsichtigte, ihm wie üblich in einer halben Stunde zu folgen. Meine Aufgabe bestand darin, außerhalb der Boxen den Boden zu säubern, den Kühen frisches Heu in die Futtervorrichtung zu streuen und, was mir am meisten am Herzen lag, die Kälbchen mit Milch zu füttern.

Mein aktuelles Lieblingskalb trug den ehrenvollen Namen seiner missratenen Vorgänger: »Angel«. Es war sechs Monate alt und hatte keine Karriere als Heumilchkuh vor sich. Im besten Stall geschahen Missgeschicke in Form von Stieren, die die falschen Kühe bestiegen. Meistens passierte das, wenn unsere Kühe mit den Rindern der angrenzenden Bauern auf die Weide gelassen wurden. Für die armen Kälbchen, die nichts dafürkonnten, bedeutete das leider, dass man ihnen nicht mal die fünf Jahre ihres jungen Lebens gönnte, in denen von ihren reinrassigen Artgenossinnen erwartet wurde, auf Druck tonnenweise Milch zu produzieren.

Ich hatte alle ungewollten Kälber nach »Angel dem Ersten« benannt und bis zuletzt um jedes Einzelne gekämpft. Dieses hatte das Glück, dass Papa sich offenbar an seine Anwesenheit gewöhnt hatte. Doch tief in meinem Inneren ahnte ich, dass er es als Hofkalb mästete.

Doch mit solch schrecklichen Gedanken wollte ich diesen Tag nicht beginnen.

Die Tiere fühlten meine Liebe zu ihnen. Und auch heute begrüßte mich mein Lieblingskalb zärtlich. Es war schon wieder gewachsen und überragte seine Artgenossen um einen halben Kopf. Liebevoll strich es mir mit der rauen Zunge über den Arm.

»Hallo Angel, ich hoffe, du hattest eine bessere Nacht als ich«, flüsterte ich und streichelte über sein Fell. Sofort überkam mich das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Mein Sorgenkind wirkte aufgeregt. Laut meinem Vater beherrschte ich die Gabe der Tierflüsterin. Und wenn er mal mit schwierigeren Fällen zu kämpfen hatte, rief er immer zuerst nach mir. Darauf war ich unheimlich stolz.

Seit ich studierte, kam ich häufiger in den Genuss, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Er war froh und erleichtert, dass er sich so zumindest die Kosten für den Tierarzt ersparte. Doktor Wimmer war ein sehr zuvorkommender Mensch. Ich durfte ihn jederzeit anrufen, und er hatte immer ein offenes Ohr für mich.

Seit dem Beginn der Sommerferien absolvierte ich an ein paar Vormittagen mein Praktikum in seiner Tierklinik.

Die blanke Angst, die mir aus den Kulleraugen meines Kälbchens entgegenstach, machte mich stutzig. Traurigkeit und Panik übertrugen sich sogleich auf mich.

»Papa?« Mit einem unguten Gefühl schritt ich nach hinten auf die Melkvorrichtung zu, wo er gerade dabei war, Annette zu melken.

»Was gibt’s?« Ungehalten blickte er auf. Ich wusste, wie wenig er es schätzte, bei der Arbeit unterbrochen zu werden.

»Angel verhält sich heute so komisch. Weißt du, was sie hat?«

Als ich keine Antwort erhielt, schwante mir nichts Gutes.

»Papa!«, fuhr ich ihn an. Annette begann zu muhen und wollte nicht mehr stillhalten.

»Zum Kuckuck, Alina! Was ist bloß in dich gefahren?!«

Wütend biss ich die Zähne zusammen und stampfte in meinen Gummistiefeln zurück zu den Kälbern. Ich musste unbedingt herausfinden, was hier vor sich ging.

Als er mir später mit zornigem Blick die Milcheimer überreichte, sah ich ihn noch einmal forschend an. Ungeschickt wich er meinem Blick aus.

»Warum sagst du mir nicht, was los ist?!«, zischte ich. Das Kleinste der saugenden Milchkälber, das erst vor zwei Wochen geboren war, zuckte ängstlich zurück, und ich hatte Mühe, es wieder an das künstliche Euter der Milchkanne zu schieben.

»Olga hat gemeint ...«, begann er schließlich zögernd und beinahe kleinlaut.

Ich spürte, wie mein Puls in die Höhe schoss und Wellen der Abscheu über mich hinwegrollten.

»Olga?! Was hat Olga hier im Stall zu melden?«

Plötzlich ahnte ich, was er mir so umständlich mitzuteilen versuchte. Meine Stiefmutter feierte doch demnächst einen runden Geburtstag.

Papa räusperte sich, bevor er endlich herausrückte. »Nächste Woche findet doch ihr fünfzigster Geburtstag statt, und zu diesem Anlass wollte sie eine Grillparty schmeißen.«

»Nein!« Ich fühlte, wie mir das Blut aus den Adern wich, während mein Schrei gellend vom Gemäuer der Stallwände zurückhallte.

»Nur über meine Leiche!«, schrie ich meinen Vater an. »Das erlaubst du ihr doch nicht etwa?!« Ein Funken Hoffnung regte sich noch in mir. Doch sein betretener, abgewandter Blick genügte und erstickte ihn im Keim.

»Das darfst du nicht! Sie ist mein Kalb, und niemand wird sie anrühren! Hörst du?«

»Kind, sei doch vernünftig! Wie oft muss ich dir noch erklären, dass wir einen Bauernhof und keinen Gnadenhof bewirtschaften. Und du kannst ihn auch nicht in einen solchen umwandeln, bloß weil du Tiere liebst! Von was sollen wir denn dann leben?«

»Ein Gnadenhof lebt von den Eintrittsgeldern ...«, begann ich kleinlaut.

»Vor allem von Spendengeldern. Solltest du ein paar wohlhabende Sponsoren finden, sag mir Bescheid, dann können wir uns noch mal über dieses Thema unterhalten!«

Plötzlich war mir speiübel, und ich fühlte, wie sich alles um mich drehte. Ich schleppte mich nach draußen an die frische Luft.

Vater folgte mir. »Was ist mit dir? Ist dir schlecht?« Seine Stimme klang nun doch ein wenig besorgt.

»Was hast du vor?«, flüsterte ich kaum hörbar und ließ mich auf dem Mäuerchen vor dem Stalleingang nieder.

Wieder senkte er fast schuldbewusst den Blick.

Ich spürte einen Druck in meiner Brust, als wolle sie jeden Moment in tausend Stücke zerspringen.

»Sag es mir, jetzt sofort!« Beinahe erkannte ich meine eigene Stimme nicht wieder. Sie hatte einen eisigen Ton angenommen.

»Es ist sinnlos, dass du dich so aufregst.« Er klang unheimlich ruhig. Meines Erachtens nach viel zu ruhig. »Das Kalb wird morgen abgeholt. Und damit basta!«

Mir war, als hätte mich jemand angeschossen.

Keuchend schüttelte ich den Kopf.

Betroffenheit, Angst, Trauer und Wut vermischten sich in meinem Inneren zu einem Brei und formten daraus etwas Großes, etwas, das mir plötzlich Energie verlieh.

»Nein, das wird es nicht! Und weißt du auch, warum?«

Perplex sah er mir endlich ins Gesicht.

»Weil ich es nicht zulassen werde.« Meine Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen. Zufrieden stellte ich fest, dass die Wut in mir diesmal stärker war als die Angst, die mich gewohnheitsmäßig zu lähmen versuchte.

Mir war, als erwachte ich auf einmal aus einem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf. Diese Erkenntnis kam mir bitter hoch. Doch ich fühlte, dass ich spätestens jetzt eingreifen musste, wenn ich das letzte Stück heile Welt von meinem Zuhause retten wollte, bevor auch das vernichtet wurde.

»Ich habe genug von dieser Hexe.« Ich sprach langsam und betonte jedes einzelne Wort. »Erst kommt sie in unser Heim geschneit, verhext dich und entfremdet dich – meinen Vater! – mir, und nun will sie mir auch noch Angel stehlen und grausam schlachten lassen.«

Mit Genugtuung beobachtete ich das wechselnde Mienenspiel und sah, wie er bei meinen Worten zurückzuckte und auf die Mauer neben mir sank. In seinen Augen erkannte ich eine Mischung aus Ärger und Missbilligung, aber auch aus Traurigkeit und Mitleid.

»Ist dir klar, dass du mich mit diesen Worten genauso triffst, wie du Olga verletzt?«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Offenbar hatte er noch immer nicht begriffen, wen er sich als Betthäschen geangelt hatte.

Und plötzlich explodierte alles in mir. Die jahrelang aufgestaute Frustration und die Wut über seine Naivität bahnten sich den Weg in die Freiheit.

»Du mit deiner Olga! Die hat dich doch vom ersten Moment an durchschaut. Einen gutmütigen Großbauer mit geknicktem Herzen. Papa! Wach doch endlich auf! Seit Jahren dreht sich doch alles auf dem Hof nur noch um sie und Kati. Wie konntest du das bloß zulassen?!«

Entsetzt sah er mich an. Er war furchtbar blass geworden. Doch davon ließ ich mich nicht beeindrucken.

»Jetzt verstehe ich endlich, warum Mama abgehauen ist. Du hast ihre Sorgen auf dieselbe Weise ignoriert, stimmt’s?«

Bevor ich noch mehr Beleidigungen loswerden konnte, stürzte ich ins Haus.

Um diese Zeit war es an mir, das Frühstück für die Familie vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass Nelly pünktlich ihren Schulbus nahm.

Meine Stiefmutter bekam jeweils ein Riesentablett mit auserlesenen Cornflakes und frischen Brötchen, die mir die nette Bäckersfrau jeden Morgen ans Tor hängte, ans Bett serviert. Doch darauf wollte ich heute ausnahmsweise verzichten.

Während ich rasch Milch für Nelly wärmte, lief ich hoch auf mein Zimmer, um sie zu wecken. Dann kramte ich ein paar meiner Sachen zusammen und warf sie in den staubigen alten Koffer, den ich unter dem Bett aufbewahrt hatte.

»Was machst du da?« Nelly lugte verschlafen zu mir herüber, während ich achtlos Kleidung zusammenraffte.

Ein Schrei aus der Küche ließ uns aufhorchen.

»Oh Shit!« Bestürzt lief ich nach unten. Ich hatte vergessen, die Kochplatte auszuschalten.

Kati stand mit angeekeltem Gesicht vor dem Herd. Es stank eindeutig nach angebrannter Milch.

»Wie dumm bist du denn?! Wolltest du mal das ganze Haus mit Milch überfluten?«

Ihre erfrischende Begrüßung streifte mich kaum. Ich kannte es doch nicht anders von ihr.

Energisch schob ich sie zur Seite und begann, die angebrannte Sauerei aufzuputzen.

»Und der Frühstückstisch ist auch noch nicht gedeckt. Was ist heute bloß los mit dir?!«, fuhr sie mich wieder an.

»Was stinkt denn hier so?«

Uff, auch das noch! War heute Walpurgisnacht, dass sich sämtliche Hexen um diese Uhrzeit schon in der Küche versammelten?

Unwillkürlich schaute ich in Olgas Glupschaugen.

»Ich warte schon seit einer Ewigkeit auf mein Frühstück!« Melodramatisch fuchtelte sie mit den Händen in der Luft herum, bevor sie sich ein Stück Brot schnappte und es zwischen ihre Wangen steckte. Dabei erinnerte sie mich an Benny, unseren Hamster.

Nicht im Traum dachte ich daran, mich bei ihr für meinen Serviceausfall zu entschuldigen.

Den Entschluss, den ich an meinem Geburtstag gefasst hatte, wollte ich nun gleich in die Tat umsetzen. Nie wieder würde ich ihr oder ihrer missratenen Tochter zu Diensten stehen. Nie wieder mich von ihnen erniedrigen und wie eine Sklavin behandeln lassen. Seit dem gefällten Todesurteil von Angel waren bei mir sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Endlich wusste ich, dass sich in meinem Leben ab sofort etwas ändern musste.

Beiläufig registrierte ich, wie sie mich mit offenen Mäulern angafften.

Offenbar sprang mir die Abscheu aus den Augen. Immer deutlicher drängte sich mir die Frage auf, was ich in diesem Schlangennest noch verloren hatte.

Gut, es war mein Zuhause. Doch solange es von ihnen besiedelt wurde, wollte ich hier nicht mehr wohnen bleiben. Die Einzige, um die es mir leidtat, war Nelly. Doch Nelly hatte eine Menge Freundinnen, bei denen sie untertauchen konnte, sollte sie von ihrer Mutter und Kati die Nase mal voll haben. Und Papa war ja auch noch da.

Ach, Papa ... Beim Gedanken an ihn wurde mir richtig schwer ums Herz. Und beinahe wäre ich wieder schwach geworden.

Genauso wie die vorigen Male. Wie oft schon hatte ich geplant, dieser Schlangengrube zu entfliehen, mich im Wald zu verstecken. Lange Zeit hatte ich gedacht, dass ich nach erreichter Volljährigkeit endlich den Mut finden würde, auszuziehen. Doch die Liebe zu Papa und meinen Tieren hatte mich immer wieder davon abgehalten. Und natürlich stand ich finanziell noch nicht auf eigenen Beinen und fühlte mich allein schon deshalb von ihm abhängig.

Doch jetzt, nachdem er sich erneut so deutlich zu Olga – und damit gegen mich – bekannt hatte, war es höchste Zeit, mein Nest zu verlassen.

Ich hatte einen Plan. Wie wäre es, wenn ich meiner Mutter einen Besuch abstatten würde? Diese Idee, die sich seit letzter Nacht in meinem Kopf manifestiert hatte, nahm langsam, aber sicher Gestalt an. Die Vorstellung, ihr in Kürze gegenüberzustehen, versetzte mich unter Starkstrom. Ich wollte vorerst niemandem davon erzählen.

Auch Nelly nicht.

Unauffällig stupste ich sie an, als sie in die Küche geeilt kam und ihr Müsli im Stehen hinunterschlang. Sie hatte mein Zeichen verstanden, warf sich die Schultasche über die Schulter und folgte mir kommentarlos.

Nicht ohne Schadenfreude beobachtete ich von der Garderobe aus, wie sich Kati und Olga verblüfft anstarrten. Meiner Stiefschwester hing die Kinnlade bis auf die Hennenbrust. Olgas Augen funkelten unheilvoll.

Die würden sich noch wundern. Irgendwann bekam jeder das, was er sich verdient hatte. Davon war ich überzeugt.

Ohne einen Gruß schob ich Nelly aus der Haustür und rannte mit ihr zum Tor hinaus. Timmy folgte uns schwanzwedelnd und verabschiedete sich mit gesenktem Kopf. Während Nelly ihn flüchtig kraulte, entdeckte ich Mix und Max. Die zwei Tauben gurrten mir vom Briefkasten aus zu.

»Na, ihr zwei, ich bin in Eile!«, wisperte ich ihnen zu.

Nelly beäugte mich skeptisch. »Sind das Brieftauben?«

»Natürlich.« Ich verdrehte die Augen und schloss zur Seilbahnstation auf.

»Wir könnten sie doch trainieren, und dann schicken wir meine Hausaufgaben per Taube zur Schule.«

»Darüber würde sich deine Deutschlehrerin bestimmt freuen.« Ich betrachtete sie argwöhnisch und sinnierte laut vor mich hin: »Ich kenne die beiden schon aus meiner frühesten Kindheit. Seltsam. Mir scheint, als wären sie schon immer da gewesen und hätten ein Auge auf mich gehabt.« Natürlich wusste ich, dass ich da absoluten Blödsinn von mir gab, der Teil meiner Fantasiewelt war, in die ich mich nach Mamas Verschwinden gerettet hatte. Unmöglich konnten es die Vögel von damals sein. Trotzdem wirkte ihre Anwesenheit beruhigend auf mich. Bisher waren sie mir vor allem an Tagen aufgefallen, an denen sich etwas Besonderes ereignet hatte.

Ich schüttelte meine Hirngespinste ab und schritt auf das Gebäude der Seilbahn zu.

Nelly verabschiedete sich abrupt und sprintete zur Bushaltestelle gegenüber. Der Linienbus war soeben im Begriff, die Türen zu schließen. Fuchtelnd und rufend bedeutete sie dem Chauffeur, sie doch noch ins Nachbardorf mitzunehmen.

Ich grinste. Nellys Charme konnte niemand widerstehen.

Während der Fahrt in die Stadt war ich hin- und hergerissen zwischen der Aufregung, meine Mutter endlich wiederzusehen, und der unabänderlichen Tragödie, die mir morgen bevorstand: die Trennung von Angel.

Mit einem Mal hatte ich eine Szene aus meiner Kindheit vor Augen. Nicht jene, in der Mutter uns verlassen hatte. Nein, es war die Abschiedsszene von Doris, einer meiner Lieblingskühe.

 Ich war damals ungefähr sechs Jahre alt, und Katinka hatte mich erst kurz zuvor auf ihre gefühlskalte Art über unser Schlachtvieh aufgeklärt.

Seit jenem Tag war ich zur Vegetarierin geworden und reagierte noch sensibler auf den Abschied unserer geliebten Kühe.

Es war Sommer, und ich hatte schulfrei, als ich einen Transporter in unseren Hof fahren sah. Er hielt direkt vor dem Stall.

Ich hasste das schiefe Grinsen dieses ungehobelten Typs, der sich aus dem Auto schälte. Obwohl er mir bekannt vorkam, war ich Lichtjahre davon entfernt, nur ansatzweise Sympathie für ihn zu empfinden. Er öffnete die Rückseite der Ladefläche.

Aufgeregt lief ich zum Stall hinüber, wo ich meinen Vater vermutete. Mit einer schlimmen Vorahnung im Bauch rief ich hinein: »Papa?«

Wie vom Blitz getroffen blieb ich vor Doris stehen. Doris war eine meiner Lieblingskühe. Sie war immer so sanft zu mir und hatte uns zahlreiche gesunde Kälbchen geboren. Warum trug sie heute bloß einen Strick um den Hals?

Mir stockte der Atem. »Nein, das kann doch jetzt nicht wahr sein!«, rief ich, Schlimmes ahnend, während Doris’ unendlich trauriger Blick aus geröteten Kulleraugen Bände sprach. Ich entdeckte sogar eine Tränenspur, die sich bis zu ihren Nüstern hinab abzeichnete.

Sie weiß es!, durchfuhr es mich. Sie ahnte bereits, was ihr bevorstand.

Ich merkte nicht einmal, dass auch mir inzwischen Tränen über die Wangen liefen.

Wie in Trance beobachtete ich Wanda, Doris’ beste Freundin. Auch sie wusste offensichtlich Bescheid und versuchte, sie zu trösten und gleichzeitig von ihr Abschied zu nehmen, indem sie ihr liebevoll über den Hals schleckte.

»Doris, meine Süße, ich hab dich so lieb!« Meine Stimme klang erstickt, doch ich erkannte an ihrem intensiven Blick, dass meine älteste Freundin mich verstand.

Beim Streicheln ihrer warmen schwarz-weiß gescheckten Schnauze spürte ich, wie mein Herz zerriss.

Im nächsten Moment vernahm ich Stimmen.

Vater erschien und kam auf Doris zu.

Als er mich erblickte, zögerte er ein wenig, bevor er mich anherrschte: »Was machst du hier?! Geh lieber nach draußen zum Spielen.«

»Weshalb?!«, würgte ich hervor, während ich von Schluchzern geschüttelt wurde. »Warum sie?!«

»Es muss sein!« Seine Stimme klang kalt und herzlos. »Du weißt, sie ist die älteste Kuh im Stall und gibt kaum noch Milch. Ich habe keine andere Wahl.«

»Hast du doch!« Störrisch stampfte ich auf.

Ungerührt nahm er Doris am Strick. Sie folgte ihm wie ein Hündchen, ohne sich zu wehren. Offenbar hatte sie ihren Kampf längst aufgegeben.

Reglos beobachtete ich, wie meine Lieblingskuh, die mit mir aufgewachsen war und deren Kälber ich gefüttert hatte, von Vater und dem ungehobelten Transporteur auf die Ladefläche geschoben wurde.

Geräuschvoll fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Durch einen Tränenschleier hindurch erkannte ich, wie Papa sich etwas aus dem Auge rieb. Ich fragte mich, ob ihm die Trennung von Doris doch näherging, als er zugeben wollte.

Der Chauffeur begann zu plappern wie eine alte Tratschtante und wollte auch nicht so schnell wieder damit aufhören. Wen interessierten jetzt schon ausgefallene Schilderungen über Pferde, Esel und anderes Schlachtvieh, welches er täglich transportierte? Dass die verängstigten Tiere ihm auch mal von der Ladefläche sprangen, wunderte weder Vater noch mich.

Doris wartete unterdessen geduldig im Inneren des Wagens auf ihr unabwendbares Schicksal. Ich beobachtete, wie sich ihre Schnauze zum Schlitz der Öffnung am oberen Ende der Wand emporstreckte.

»Doris, ich hab dich lieb!«, rief ich ihr unter Tränen zu. Über der Stalltür reckte sich eine weitere Schnauze empor und schnüffelte. Es war Wanda. Sie fragte sich offenbar, wo ihre Freundin war.

Endlich stieg der Chauffeur in den Transporter und startete den Motor.

Aufgeregtes Muhen der anderen Kühe hallte plötzlich über den ganzen Hof und begleitete Doris bis zur Ausfahrt des Tores.

Mein kindlicher Instinkt signalisierte mir, dass Doris’ Artgenossinnen mit diesem Konzert von ihrer langjährigen Freundin Abschied nahmen.

KAPITEL 4

ALINA

Das Herz schlug mir bis zum Halse, als ich in die siebte Etage fuhr.

Den engen Raum im Aufzug teilte ich mit elegant gekleideten Geschäftsmännern und Damen in schicken Kostümen.

Unauffällig rümpfte ich die Nase. Wie gut, dass ich in der Eile auf mein Eau de Cologne verzichtet hatte. Eine süße Duftwolke hüllte mich ein. Ein Gemisch aus Aftershave und Damenparfüms. Die Businessleute sprangen beim Dosieren nicht gerade zimperlich damit um. Bestimmt würde sich dieser Geruch in meinen Haaren und in der Kleidung festsetzen, und ich würde den restlichen Tag nach teuren Wässerchen duften.

Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass mich keiner dieser Büromenschen beachtete. Zitternd entstieg ich dem Fahrstuhl. Einmal tief Luft holen. Das Gedankenkarussell drehte sich unaufhörlich.

Wäre es nicht doch besser, einfach den Rückzug anzutreten? Schließlich wusste keiner von meinen Absichten. Es würde mich niemand verurteilen, sofern mich jetzt der Mut verlassen sollte.

Ich überlegte nur zwei Sekunden und rief mir die ausweglose Situation auf dem Hof ins Gedächtnis, bevor ich auf den modernen Empfangsbereich zuhielt.

»Alina!«

Erschrocken sprang sie von ihrem Bürostuhl auf. Ihre Gesichtsfarbe unterschied sich kaum von der Wand hinter ihr. Ihr blondes Haar war zu einem Chignon gedreht.

Mein Herz klopfte zum Zerbersten, und ich musste erst einmal tief Luft holen.

»Du erkennst mich?«, keuchte ich fassungslos. Sie nickte. Offenbar fehlten auch ihr die Worte.

»Wie ist das möglich?« Schließlich hast du mich nicht mehr gesehen, seit ich ein kleines Mädchen war!, wollte ich sie anschreien, doch ich erstickte fast an meiner eigenen Spucke.

Langsam kam sie auf mich zu. »Was machst du denn hier?« Es war nur ein Hauchen. Die Worte las ich von ihren dezent geschminkten Lippen ab.

Immer und immer wieder hatte ich mir ausgemalt, wie unser Wiedersehen sich gestalten könnte. Und alle möglichen Szenarien durchgespielt. Szenen voller Tränen und Wiedersehensfreude. Voller Emotionen und Glücksgefühle. Doch mit dieser Reaktion hatte ich im Traum nicht gerechnet.

»Ist das alles, was du von mir wissen willst?« Fassungslos blickte ich die schmale Gestalt vor mir an, die unübersehbar meine Erzeugerin war. Dabei merkte ich, wie blechern meine Stimme klang und wie sie fast unmerklich zusammenzuckte.

»Entschuldige, so war das nicht gemeint! Ich freue mich doch riesig, dich endlich wiederzusehen.« Nun breitete sie die Arme aus. Diese Geste kam jedoch Sekunden zu spät.

Unmöglich! Glaubte sie tatsächlich, dass ich mich nach diesem Empfang einfach in ihre Umarmung stürzen würde, so wie ich es als Kind gerne getan hatte?

Zu viele Fragen drängten sich mir auf. Und bevor die nicht beantwortet wurden, war ich nicht bereit, dieser Frau, die mir verblüffend ähnlich sah, physisch näherzukommen.

Nachdem Oma mir die Adresse ihres Büros genannt hatte, war der Entschluss in mir gewachsen, sie endlich aufzusuchen.

Als ich vorhin das Namensschild an ihrer Tür entziffert hatte, verstärkte sich das Ziehen im Bauch. Ich war drauf und dran, auf dem Absatz kehrtzumachen. Letztendlich hatte sich der sehnlichste Wunsch, sie wiederzusehen, gegen meine Angst durchgesetzt. Mehr noch. Ich wollte alles über sie in Erfahrung bringen.

Da stand ich nun. Vor einer mir völlig fremden Frau – und fühlte rein gar nichts.

Oder doch?

»Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?« Ihr Lächeln zeugte von Unsicherheit.

Ich musste zugeben, dass sie sich rein äußerlich kaum verändert hatte seit damals. Ihr Foto stand nach wie vor auf meinem Nachttischchen. Lediglich ein paar Fältchen an den Mund- und Augenwinkeln wiesen darauf hin, dass sie keine zwanzig mehr war. Trotzdem sah sie für ihr Alter noch jung und äußerst gepflegt aus.

»Ich ... ja gerne, einen Tee bitte.« Keuchend lehnte ich mich an die Wand neben der Tür. Das musste ich alles erst sacken lassen.

»Ist etwas passiert?« Besorgt trat sie auf mich zu, wahrte jedoch gleich wieder den Abstand, als ich ihr mit der Hand ein Zeichen gab. Bloß keine Berührungen. Jetzt nicht mehr.

»Es ist tatsächlich etwas geschehen, was das Fass zum Überlaufen bringt.« Plötzlich fühlte ich meine gesammelten Kräfte dahinschwinden. Ich wusste kaum, wo ich beginnen sollte. Mit den Fragen nach ihrem Verschwinden oder mit meinen Problemen im Hexenhaus. Das ganze Büro drehte sich wie ein Karussell um mich.

»Du bist so blass. Komm, setz dich.« Behutsam fasste sie mich am Arm und drückte mich auf den Stuhl. »Ich werde dir sofort einen Tee besorgen.«

Und in dem Augenblick, als sie mir so nahekam, geschah es. Ich roch ihr Parfüm und sog es tief ein.

Dieser Duft! Unverkennbar. Es roch nach Frühling und Hoffnung, aber auch nach Sehnsucht und Freiheit. Er stieg mir in die Nase, und ich schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen. Ihr Parfüm erinnerte an eine Wiese voller Veilchen, mit einer feinen Essenz aus Jasmin und Rosen. Da es sich jetzt auch noch mit ihrem eigenen Körpergeruch vermischte, konnte ich darin sogar einen Hauch von Mandelöl erahnen.

Dieser Duft, welcher wahrscheinlich von unzähligen Frauen getragen wurde, wirkte an ihr einzigartig, sodass sich mein Körper sofort mit einer Gänsehaut überzog.

Hätte ich sie nicht schon anhand ihres Namens und der Ähnlichkeit mit mir identifiziert, wüsste ich es spätestens ab jetzt mit absoluter Sicherheit: Sie war es.

Meine leibliche Mutter.

Der vertraute Geruch trieb mir Tränen in die Augen, und ich wandte mich ab. Keinesfalls sollte sie bemerken, wie nahe mir das ging. Schließlich war sie bei meinem Anblick auch nicht in Freudentränen ausgebrochen.

Die Tür hinter mir flog auf, und wir fuhren zusammen, als eine Brünette in Mamas Alter auf der Bildfläche erschien.

»Vroni, Kaffee?« Sie erstarrte, als ihr Blick auf mich fiel. »Alina?!« Es klang fassungslos.

Wer war diese Frau, die mich offenbar kannte? Ich nickte bloß.

»Huch! Wie groß du geworden bist!« Ungeniert musterte sie mich von Kopf bis Fuß. Innerlich verdrehte ich die Augen.

»Das ist Traudi«, griff meine Mutter in die für mich unangenehme Situation ein.

Traudi reichte mir lächelnd die Hand. »Ich freue mich irrsinnig, dich endlich persönlich kennenzulernen! Deine Mutter spricht ständig von dir.«

»Ach ja?« Verdutzt lugte ich zu ihr hoch. Ihre Mimik war schwer zu deuten.

»Zweimal Tee bitte!« Es klang wie ein Befehl. Die Frau, die augenscheinlich meine Mutter war, machte ihrer tratschfreudigen Kollegin ein Zeichen, worauf die sich taktvoll zurückzog. »Kommt sofort.«

Ich begann, mich auf dem Bürosessel zu drehen. Ich drehte und drehte, bis mir noch schwindliger wurde. Das Wiedersehen ging mir tiefer unter die Haut, als ich erwartet hatte.

Aber was hatte ich eigentlich erwartet? Dass wir uns weinend in die Arme fallen würden? Dass sie sich schluchzend bei mir entschuldigt für zwanzig Jahre Abwesenheit?

»Kind, du machst mich ganz nervös!«

»Ach ja?!« Energisch sprang ich hoch, und der Sessel fuhr mit einem Krach gegen die Wand. Erschrocken zuckte sie zusammen und hüpfte zur Seite.

»Und weißt du, wer mich nervös macht? ... Ich habe die Nase voll von euch allen!«

»Pssst! Warum brüllst du denn so?« Konsterniert beobachtete ich, wie sie ihren Zeigefinger an die Lippen führte. Aus ihren Augen stach mir Panik entgegen. Sie hatte wohl Angst, dass die Kollegen nebenan etwas mitbekamen.

»Echt jetzt?!« Ich fasste es nicht, dass das ihre einzige Sorge war. »Dir ist wichtiger, was die anderen von dir halten? Und was ich denke, zählt das überhaupt für dich? Hat es das jemals?!«

»Wovon redest du denn? Ich kann dir nicht folgen, Kleines!«

»Kleines? Ich bin nicht mehr dein Kleines! Dein Kleines hast du vor zwanzig Jahren einfach mal so im Regen stehen lassen! Schon vergessen?« Verblüfft hielt ich inne, als ich bemerkte, wie sich die blaue Iris in ihren aufgerissenen Augen verfärbte. Genauso wie meine, wenn meine Laune wechselte.

Da bemerkte ich Traudi. Mit offenem Mund stand sie, zwei Tassen in der Hand, im Raum und beeilte sich, die Getränke auf dem Schreibtisch abzustellen.

»Ich lasse euch dann mal wieder alleine«, flötete sie übertrieben, bevor sie die gläserne Tür ruckartig hinter sich zuzog.

Da fiel mein Blick auf ein eingerahmtes Foto, das auf dem Schreibtisch stand. Ich bewegte mich darauf zu und nahm es in die Hand. Ein Schaudern überfiel mich, als ich mich als vielleicht Zehnjährige darauf wiedererkannte.

»Woher hast du das?«, fragte ich tonlos.

»Von Oma. Ich konnte es nach jeder deiner Geburtstagsfeiern kaum erwarten, dass sie mir Fotos von dir bringt. Sieh mal.«

Beinahe euphorisch zog sie eine Schublade heraus. Darin lag bestimmt ein Dutzend Fotos. Wortlos reichte sie sie mir. Beim Anblick des blond gelockten kleinen Mädchens gaben die Beine unter mir nach. Ich musste mich erneut hinsetzen.

Das erste Foto zeigte mich als Siebenjährige auf Connys Rücken. Das Strahlen, das mein Gesicht erhellte, erreichte meine Augen nicht. Hatte ich schon immer diesen traurigen Glanz in meinem Blick mit mir herumgetragen?

Auf dem nächsten Bild war ich im Stall abgebildet. Ich grinste. Wieder mal war ich barfuß und leicht bekleidet, während ich die Kälbchen fütterte.

Als Zehnjährige auf meinem damals nagelneuen Fahrrad. Im Hintergrund Kati mit neidvollem Blick. Ich im Baumhaus mit einer unserer Katzen. Ich im Badeanzug vor meinem aufgeblasenen Pool. Fotos von jedem meiner Geburtstage. Sie fielen mir aus der Hand, und erst als ich mich danach bückte, bemerkte ich, wie sehr meine Hände zitterten.

»Alina.« Mutter setzte sich auf den Schreibtisch und schlug die schlanken Beine übereinander. »Da du jetzt hier bist, haben wir alle Zeit der Welt, die Vergangenheit aufzuarbeiten.«

Resigniert schüttelte ich den Kopf. »Ist es so schwer, zu verstehen, dass ich deine Handlung nicht nachvollziehen kann?«

Räuspernd rutschte sie herunter, strich ihren Rock glatt und kam auf mich zu.

»Ich schwöre dir, es war nie meine Absicht, dich zu verletzen. Im Gegenteil, ich hatte immer nur das Beste für dich im Sinn. Aus dem Grund habe ich so gehandelt. Auch wenn ...«

»Wenn was?«

Fast flüsternd fuhr sie fort: »Auch wenn es mir das Herz gebrochen hat.«

Unbeeindruckt schüttelte ich den Kopf. »Was für eine Entschuldigung kann es geben, dass eine Mutter ihr Kind verlässt? Da bin ich aber gespannt!«

»Das möchte ich dir jetzt nicht nur in zwei Sätzen zwischen Tür und Angel erklären. Komm doch nachher mit zu mir nach Hause. Dort können wir in Ruhe reden.«

Auf meiner Brust lag ein schwerer Brocken, der mir beinahe den Atem raubte. Ich stöhnte auf. Was hatte ich denn erwartet? Dass sie auf mich zulief und mir ihre Hilfe anbot? Dass sie sich mit Vater aussöhnte und Olga den Krieg erklärte? Ja, vermutlich hatte meine immer noch kindliche Fantasie genau diese Vorstellungsbilder gemalt. Am meisten wünschte ich mir aber, dass sie Vater und mich aus Olgas Klauen befreite.

Ziemlich unrealistisch für diese Welt.

»Aber du bist doch nicht nur deshalb so plötzlich aufgetaucht, oder?«

»Nein, ich habe deine Karte bekommen. Hast du schon vergessen, was du mir geschrieben hast?«

Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. Und auf einmal war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt Bescheid wusste.

Sollte Omi etwa ...?

»Du hast gar nicht geschrieben, dass du mich treffen möchtest, nicht wahr?« Vor Empörung und Beschämung wäre ich am liebsten im Boden versunken. »War das alles Omas Idee? Und die Geschenke mit deinem Geruch?«

»Alina! Natürlich habe ich Oma Geburtstagsgeschenke und Briefe für dich mitgegeben. Hätte ich sie mit der Post geschickt, wären sie von deinem Vater oder deiner Stiefmutter abgefangen worden. Aber jetzt erklär mir doch bitte mal, was passiert ist. Ich spüre, dass da noch mehr dahintersteckt.«

»Omi hat dir also erzählt, wie es bei uns zu Hause abläuft?« Ich knickte wieder ein.

Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß nur, dass du stark bist, Alina. Du hast gezeigt, dass du alles schaffst. Diese Olga ist doch nicht etwa garstig zu dir?«

Mir entfuhr ein Grunzen. Ehrlich, ich wusste gerade nicht, ob ich laut herauslachen oder weinend zusammenbrechen sollte.

»Du bist auffallend mager. Woran liegt das?«

»Ach, plötzlich ist dein Interesse an meinem Wohlergehen geweckt?«

»Hör mal.« Mit einem Mal schien sie beunruhigt. »Wenn du mir jetzt nicht gleich berichtest, was Sache ist, rufe ich deinen Vater an!« Drohend fuchtelte sie mit dem Handy herum und tippte auf eine Nummer.

»Lass mal. Olga will Angel schlachten!«

»Wen?!« Verwirrt legte sie das Handy beiseite. Offenbar verstand sie nur Bahnhof.

»Mein Lieblingskalb.«

»Ach so.« Mit wachsender Empörung stellte ich fest, dass sie trotz der Hiobsbotschaft erleichtert aufseufzte. Und das sollte meine Mutter sein?

»Schatz, das ist doch ein alter Hut. Du bist jetzt alt genug, um damit umgehen zu können.«

»Womit denn, Mama

Mit Genugtuung stellte ich fest, wie sie zusammenfuhr, als ich die Bezeichnung Mama nachdrücklich betonte.

»Mit deiner Abwesenheit während meiner Kindheit? Oder mit Olgas Anwesenheit? Oder mit den Feindseligkeiten, die sie und Kati mir täglich entgegenbringen, nunmehr seit achtzehn Jahren?« Jetzt kam ich so richtig in Fahrt, und mir war bewusst, dass das gesamte Büro unsere Szene live mitverfolgte. Doch das interessierte mich einen Schafskäse. Ich fühlte, wie sich die geballte Wut im Moment auf Mutter richtete. Und ich wollte diesen Raum nicht eher verlassen, bevor ich Antworten auf meine Fragen hatte.

Seufzend sah sie zur Seite.

»Ich dachte dabei eigentlich an die Kälbchen, aber die scheinen nicht wirklich das Problem zu sein.«

»Doch! Das war heute früh der Auslöser des Ganzen. Morgen soll mein Lieblingskalb, das ich mit der Flasche großgezogen habe, zum Schlachter gebracht werden. Und weißt du, weshalb?«

Ein schwer definierbarer Blick streifte mich.

»Damit Olga nächste Woche mit erstklassigem Fleisch aufwarten kann. Sie feiert nämlich ihren Fünfzigsten.«

Mutter verzog immer noch keine Miene.

»Mensch, Mama!«, herrschte ich sie an. Am liebsten hätte ich sie an den Schultern gepackt und ordentlich durchgeschüttelt. Doch die unsichtbare Wand zwischen uns hielt mich davon ab.

»Hörst du mir überhaupt zu? Ich kann mich nur flüchtig daran erinnern, dass du dir nichts aus Tieren gemacht hast. Aber du könntest zumindest dafür sorgen, dass es mir, deiner Tochter, besser geht.«

»Was kann ich denn für dich tun?«, kam es endlich, wenn auch etwas zaghaft.

»Wie wäre es, wenn du mich einmal im Leben unterstützen würdest? Findest du nicht auch, dass du mir das nach all den verlorenen Jahren schuldig bist?«

KAPITEL 5

MIKE

Es war ein sonniger Vormittag. Kein Wölkchen trübte den Augusthimmel.

Das Zwitschern der Vögel wurde für kurze Zeit vom Motor eines Privatjets übertönt, der einen Segelflieger hinter sich herzog. Mein Blick schweifte hinauf zu den Berggipfeln. Die schwarzen Punkte an der Rotwand signalisierten mir, dass um diese Uhrzeit bereits abenteuerlustige Kletterer in der Wand hingen.

Paragleiter drehten ihre Kreise über uns und bildeten mit ihren bunten Gleitschirmen einen markanten Kontrast zum tiefen Blau des Himmels. In Kürze würden sie auf einer der oberen Weiden landen. Bloß nicht in unserem Hotelgarten!

Die Erinnerung an die unglückliche Landung eines Bekannten im Naturteich heiterte mich auf. Allein die Vorstellung, wie er sich verzweifelt unter dem Schirm hervorgekämpft hatte, um sich direkt zu Füßen meines Vaters wiederzufinden, zauberte mir ein fettes Grinsen ins Gesicht. Papa war im Beisein der Gäste nur dezent ausgeflippt.

Vater.

Ich seufzte aus tiefstem Herzen.

Was tust du mir bloß an?

Wie ich es hasste, ausgerechnet heute diesen für ihn so wichtigen Termin wahrnehmen zu müssen.

An einem traumhaften Tag wie diesem. Wo der Berg förmlich nach mir rief.

Ich sah an mir herunter. Wie gerne hätte ich den eleganten Anzug gegen mein Klettergewand getauscht!

Zu diesem geschäftlichen Anlass hatte ich mich wie üblich in meine Anzughose gezwängt und ein frisch gebügeltes Hemd aus der Wäscherei geholt. Mit dem Sakko über der Schulter und Vaters schwarzem Aktenkoffer in der Hand betrat ich den Bauernhof.

Das Tor des großzügig angelegten Anwesens stand bereits sperrangelweit offen. Zögernd trat ich ein. Ob der Bauer einen Wachhund besaß? Von einem Warnschild war weit und breit nichts zu sehen.

»Wow!« Ein betörender Duft strömte mir entgegen, und ich sog ihn ein. Fürs Erste kaschierte er den Stallgeruch. Überwältigt von der bunten Blütenpracht schweifte mein Blick über die gepflegten Beete. Da besaß wohl jemand einen grünen Daumen. Nicht, dass ich mir etwas aus Blumen gemacht hätte. Doch dieses Blumenmeer stach sogar mir, einem unausgeschlafenen Mittzwanziger, ins Auge.

Und wo ich schon mal da war, beschloss ich, zuerst eine Besichtigungsrunde über den Hof zu drehen, bevor ich nach dem Eingang des stattlichen Bauernhauses Ausschau hielt.

Auf der angrenzenden Wiese weideten ein paar Esel. Pferde näherten sich mir freudig und hießen mich willkommen. Trotz der hölzernen Barriere zwischen mir und den schönen Vierbeinern wich ich im ersten Moment ein Stück zurück.

»Hallo, du hübsche Blondine. Sabber mir bloß nicht auf mein sauberes Hemd!« Zögernd streckte ich die Hand aus, um behutsam über die lange goldbraune Nase zu streicheln. Wie gut sich das anfühlte.

Ein Déjà-vu schob sich auf einmal vor mein inneres Auge: Ich sah mich als kleinen Jungen auf einem Pony reiten. Peppo war eines der zahlreichen Geburtstagsgeschenke meiner Eltern zu meinem Siebten gewesen. Anfangs war die Freude über den braun-weiß gescheckten Isländer unermesslich groß gewesen. Ich fand Gefallen daran, unsere Hotelgäste zu erschrecken, indem ich quer über die Liegewiese ritt, auf der sie sich in der Sonne suhlten. Offenbar hatten sie sich irgendwann damit abgefunden. Und als ich nur noch ein nachsichtiges Grinsen erntete, verlor auch dieses Spiel seinen Reiz.

Peppo war bei meinen anderen Haustieren im hoteleigenen Streichelzoo gelandet.

»Nehmen Sie gefälligst Ihre dreckigen Finger …!«

Erschrocken drehte ich mich um. Meinte sie mich?

Ratlos blickte ich auf meine sauberen Hände. Dann registrierte ich den Hund, der auf mich zulief.

»Beißt er?«, rief ich panisch. Vor Hunden hatte ich schon immer einen Heidenrespekt gehabt. Ich erhielt keine Antwort. Doch im nächsten Moment atmete ich erleichtert auf. Das große schwarz-braun-weiße Tier schnupperte und sabberte und ließ von den Schuhsohlen bis zwischen meinen Beinen keinen Zentimeter aus. Ich traute mich nicht, ihn anzufassen, womöglich biss er mich dann. Meinetwegen! Sollte er eben weiterschnüffeln.

»Ist das ein Polizeihund, dass er so gründlich ist?« Mit meiner scherzhaft gemeinten Frage versuchte ich, mich von dem Monster abzulenken. Und das gelang mir auch.

Etwas ganz anderes zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war die Frau, die sich jetzt mürrisch vor mir aufbaute.

Meine Kinnlade klappte nach unten.

Sie war die am schlechtesten gekleidete und zugleich schönste Frau, die mir je über den Weg gelaufen war.

Ein Blick in ihre wütenden Augen genügte, und ich wusste, wen ich vor mir hatte: die Bauernliesel.

Oh Gott, diese Augen! Sie erinnerten an einen Sommertag, an dem sich ein Gewitter zusammenbraute. Gefährliche Blitze zuckten unheilvoll in ihrer Iris.

So tief in dieses Blau eingetaucht, schaffte ich es kaum noch, mich daraus zurückzuziehen.


ALINA

Ich war total von den Socken.

In Kürze würde Angel abgeholt werden.

Glücklicherweise war es mir am Vortag gelungen, meine Mutter bei einer Tasse Kaffee in ihrer Miniwohnung zu überreden, mir heute beizustehen.

Obwohl wir einander nach stundenlangem Gespräch noch immer mit einer gewissen Distanz begegneten, hatte sie hoch und heilig versprochen, heute an meiner Seite zu sein. Und diesmal ließ sie mich nicht im Stich. Es musste sie eine ungeheure Überwindung gekostet haben, Papa nach so langer Zeit wieder gegenüberzutreten.

Bei ihrem Erscheinen vorhin hatte er wie gelähmt auf seinem Stuhl gesessen. So als hätte er Zementklötze an den Beinen. Nur zu gern wüsste ich, was gerade hinter den dicken Mauern gesprochen wurde und ob es Mutter gelingen würde, ihm die Augen zu öffnen. Schaffte sie es womöglich, ihm die Schlachtung meines Kalbes auszureden?

Nach Beendigung ihres Bürodienstes hatte ich sie gestern noch ordentlich bearbeitet und nichts über meine unerfreuliche Jugendzeit ausgelassen.

Zu meiner großen Erleichterung fehlte heute Morgen jede Spur von den Beißzangen. Olga hatte sich angeblich zur Friseurin verdrückt, nachdem sie kapiert hatte, dass ich ihr in Zukunft die Haare nicht mehr waschen würde. Und Furie Nummer zwei war dort, wo sie hingehörte: vor ihrem heißen Backofen in der Konditorei.

In Gedanken versunken schlenderte ich über den Hof in Richtung Stall. Da erblickte ich plötzlich einen Fremden, der auch noch so dreist war, Conny zu streicheln. Wer war dieser Idiot?

Ich machte Timmy, der faul vor der Eingangstüre herumlungerte, ein Zeichen. Gemächlich erhob er sich und kam auf mich zugetrottet. Stumm deutete ich auf den Eindringling. Timmys Augen folgten aufmerksam meinem Finger, und er spitzte die Ohren.

»Den sehen wir uns mal näher an«, flüsterte ich ihm zu.

Vorsichtig pirschten wir uns heran.

»Lassen Sie sofort Ihre dreckigen Finger von meinem Pferd!« Die Hände in die Hüften gestemmt wünschte ich mir ausnahmsweise, Olgas bedrohliche Ausstrahlung zu haben.

Doch das mit dem Verhexen wollte auf Anhieb nicht so richtig klappen.

Nachdem der Typ herumgefahren war, im nächsten Moment verblüfft auf seine Hände gestarrt hatte, wandte er sich Timmy zu. Ob er beiße? Ich grinste in mich hinein. Schön wäre es. Der ängstliche Ausdruck auf seinem Gesicht amüsierte mich mehr, als mir lieb war.

Endlich ließ er von Timmy ab und hob seinen Blick.

Ich starrte in ein Paar türkisfarbene Augen, die mich an einen Gletschersee an einem sonnigen Sommertag erinnerten und … verlor mich darin.

Kein Wunder. Sie waren im Begriff, mich zu hypnotisieren. Dem ersten unangenehmen Eindruck folgte ein heißes Rieseln durch meinen Körper. Dieses mir unbekannte Gefühl benebelte meine Sinne, und einen kurzen Augenblick vergaß ich beinahe, wo ich mich gerade befand, nicht zuletzt, was für ein dramatisches Ereignis mir noch bevorstand.

Gequält seufzte ich auf und erwachte aus dem seltsamen Traum, in den ich für Sekunden versunken war.

»Alina?«

Wow! Er kannte meinen Namen.

»Woher ...?«

Fasziniert beobachtete ich, wie sich seine Lippen wiederholt öffneten und den Blick auf eine Reihe perfekter Zähne freigaben. Oh Gott! Den würde Nelly bestimmt als »Sahneschnittchen« bezeichnen.

Bestimmt hatte er sich bloß verlaufen. Ob es einer der geschniegelten Gäste vom Berghotel war?

Aber woher kannte er meinen Namen?

»Du bist doch die Gassertochter, nicht wahr?«

»Wer will das wissen?« Herausfordernd reckte ich mein Kinn zu dem Schönling empor. Mit meinen ein Meter fünfundsiebzig betrachtete ich mich nicht gerade als Zwerg. Doch als sich dieser unverschämt gut aussehende Fremde vor mir zu seiner vollen Größe aufbaute, nahm ich es zurück. Ich fühlte mich wie die Maus neben dem Pferd.

»Ich bin ...«

In dem Moment rauschte der verhasste Tiertransporter des Schlachters über den Hof und direkt auf uns zu.

Erde wirbelte auf. Wir hielten uns schützend die Arme vors Gesicht.

Blind von diesem Sandsturm bewegte ich mich vorwärts und prallte gegen einen warmen Körper. Als ich zögernd ein Auge öffnete, fand ich mich mit der Nasenspitze einen Zentimeter von einem Hemd entfernt, das jetzt alles andere als blütenweiß war.

»Dieser Schweinehund!«

Der Fremde lachte zum ersten Mal. Gebannt starrte ich auf die Grübchen, die sich in seinen Mundwinkeln bildeten, während die Zähne aufblitzten.

»Verdammt!« Nur zu ungern riss ich mich vom Anblick dieses Prachtkerls los und eilte hoch zum Stall.

»Alina!« Mit drei langen Schritten war er bei mir.

»Kann ich kurz mit dir sprechen? Oder ist dein Vater da?«

»Siehst du nicht, dass wir gerade beschäftigt sind?«, fuhr ich ihn an.

»Entschuldige bitte, das wusste ich nicht. Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«

Er musste bemerkt haben, dass ich den Tränen nahe war.

Papa kam aus dem Haus geeilt, mit Mama im Schlepptau. Er eilte in die Kälberabteilung und riss Angel, die bis dahin gemütlich zwischen Trixi und Meggy gekuschelt hatte, unsanft am Seil hoch, das er ihr heute Morgen bereits umgelegt hatte.

»Das tust du nicht! Untersteh dich!« Ich schrie, als ginge es um mein Leben, und versuchte, mich dazwischenzuwerfen.

»Alina!« Die Stimme meiner Mutter klang niedergeschlagen. Ich hatte keine Zeit, sie zu beachten.

»Gib schon her.« Helmuth, der klobige Metzgergehilfe, griff mit seinen fleischigen Fingern nach dem Ende des Stricks, an dem Vater das verängstigte und sich sträubende Kalb hinter sich herzog. Abscheu gegen ihn und diesen verlängerten Arm des Schlachters überfiel mich.

Am liebsten hätte ich ihnen vor die Füße gekotzt.

Instinktiv versuchte ich, Helmuth das Seil aus der grobklotzigen Hand zu reißen.

»Das ist mein Kalb! Nimm gefälligst deine blutverschmierten, dreckigen Pfoten von ihm!«

»Alina!« Die entrüsteten Rufe meines Vaters ausblendend, blickte ich hilfesuchend zu Mutter. Doch die war zu feige, um sich gegen ihn aufzulehnen. Na super! Das Gespräch mit Papa schien alles andere als erfolgreich verlaufen zu sein.

Unwirsch schob er mich beiseite. Im nächsten Augenblick fühlte ich die Hand meiner Mutter, die mir sanft über den Arm strich und mir aufmunternde Worte zuraunte.

Dachte sie etwa, sie spräche zu einem kleinen Kind?

Energisch schüttelte ich sie ab.

»Ihr könnt mich mal! Ihr habt mein ganzes Leben versaut! Ja genau, ihr beide!«

»So sprichst du nicht mit mir! Das hat Konsequenzen, Fräulein Tochter!« Vater hob drohend seine Hand. Ich schluckte und wandte mich Angel zu.

Sie schenkte mir einen verstörten Blick aus geröteten Augen und vergaß für einen winzigen Moment die beiden Männer.

Erschüttert musste ich mit ansehen, wie dieser Unmensch ihren schwachen Moment zu seinem Vorteil ausnutzte und sich mit seiner fetten Wampe von hinten an sie lehnte. Stöhnend und fluchend zugleich schob er sie auf die Ladefläche, während Papa, der inzwischen nach oben geklettert war, kräftig am Seil zog.

Ich schluchzte und zitterte. Die gesamte Verzweiflung der letzten Jahre brach aus mir heraus. Es war, als sähe ich mich selbst im flehenden Blick meines Kalbes. Ausgeliefert an Menschen, die mir ans Eingemachte wollten.

Mit Sicherheit ahnte es, was ihm bevorstand.

Unterdessen war im Stall ein Tumult losgebrochen. Wie aus der Ferne vernahm ich das aufgeregte Durcheinandermuhen der Kühe und das Quieken der Kälbchen.

Sogar die Esel stimmten in das Konzert mit ein.

Ich fühlte meine Kräfte dahinschwinden und begann zu kapitulieren. Auch dieses Mal hatte ich verloren.

Das Gefühl von Verlust war in den letzten zwanzig Jahren zu meinem ständigen Begleiter geworden. Nicht einmal die Anwesenheit meiner Mutter konnte den Schmerz in meinem Herzen lindern. Mir war, als hätte mich ein Lastwagen überrollt. Röchelnd wankte ich nach hinten, wo ich mich an die Holzwand des Stalles lehnte.

»Halt! Was geht hier ab?«

Vater und Helmuth drehten sich verblüfft zu dem ungebetenen Gast um.

Den hatte ich in der Aufregung total vergessen.

Für eine Sekunde bewunderte ich seinen Mut, sich gegen zwei ungehobelte Männer mit Schlachtabsichten aufzulehnen.


MIKE

Mit Verwunderung hatte ich das Spektakel von Beginn an aus gehörigem Abstand verfolgt. Ich verstand die ganze Aufregung nicht.

Warum sträubte sich Alina bloß dermaßen, dieses Vieh loszuwerden? Es handelte sich doch bloß um eine Kuh. Und – ach richtig! Heute war Montag, und Montag war Schlachttag.

Eine Gänsehaut überfiel mich, als ich die Verzweiflung dieser faszinierenden Frau hautnah miterlebte.

Ohne mir dessen bewusst zu sein, näherte ich mich dem dramatischen Schauspiel. Keine Sekunde länger konnte ich es ertragen, sie so leiden zu sehen.

Sie erinnerte mich an das kleine Mädchen mit den goldenen Locken, an denen ich mit Vorliebe gezogen hatte. Und plötzlich wurde mir bewusst, wie schlimm ich ihr während unserer Kindheit mitgespielt hatte. Wollte ich das wiedergutmachen, wäre jetzt die perfekte Gelegenheit dazu. »Helmuth!«, herrschte ich den Lieferanten an. Wer kannte schon den Gehilfen des Metzgers nicht?

Verblüfft glotzte der Typ mit dem Ferkelgesicht von der Ladefläche auf mich herab.

»Bestelle deinem Boss einen Gruß von mir und dass ich ihm das Kalb abkaufe. Lebend. Er soll mir die Rechnung schicken.«

Der Bauer starrte mich mit offenem Mund an.

»Das kommt gar nicht infrage!« Bedrohlich baute er sich vor mir auf. »Wer bist du überhaupt? Und was suchst du hier auf meinem Hof?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139228
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Hotelgeschichten Wohlfühlbuch Familiendrama Drama Wellnessbuch Urlaubsroman Bergromantik Bergroman Märchenadaption Frauenroman

Autor

  • Mia Sole (Autor:in)

Mia Sole schreibt Urlaubsromane mit italienischem Flair, die am jeweiligen Ort ihren Ursprung fanden. Dabei ist es ihr wichtig, mit ihren Hotelgeschichten der Leserin ein Schmunzeln auf die Lippen zu zaubern, sie aber auch nachdenklich zu stimmen, wenn die Autorin von Familientragödien, Freundschaften und der großen Liebe schreibt.
Zurück

Titel: Aschenliesel