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Die Insel ruft!

Ankerplatz Sylt

von Ben Bertram (Autor:in)
100 Seiten
Reihe: Ankerplatz Sylt, Band 1

Zusammenfassung

Auf meinem großen Rollkoffer kann man deutlich das Wort Rosa erkennen, was jedoch keinesfalls der Farbe geschuldet ist. Meine Eltern hatten mir diesen Namen verpasst, und so wurde sich bereits im zarten Kindergartenalter häufig über mich lustig gemacht. Um genau zu sein, heiße ich Rosa Schwarz, was aber lediglich am Rande mit meiner Geschichte zu tun hat. Ebenso wie die Umstände, dass mich meine Oma immer Lila nannte und ich die wahrscheinlich beziehungsuntauglichste Frau Hamburgs bin. Ich arbeite in meinem Traumjob und darf mich ambulante Pflegekraft nennen. Doch der Job ist nicht meine einzige große Liebe. Die Musik hatte es mir angetan, obwohl ich selbst vollkommen talentfrei daherkam. Bereits im Teenageralter war ich der wahrscheinlich größte Fan der „Strandpiraten“, und ich trauerte tagelang, als sich die Band vor vielen Jahren in „Mitch and the Pirates“ umbenannt hatte. Natürlich durfte ich die Jubiläumstour der Jungs nicht verpassen. Vor allem, da das Abschlusskonzert in meiner Heimatstadt stattfand. Dass es mit einem Paukenschlag enden sollte, war bekannt. Doch mit einem solchen Abschluss hatte selbst ich nicht gerechnet. Als meine beste Freundin Lea vorschlug, nach Sylt zu fahren, willigte ich ein. Mir war nach einem Neustart, und ich hätte nirgendwo besser über diesen nachdenken können. Außerdem, wenn ich selbst keinen Mann zum Küssen hatte, wollte ich zumindest erleben, wie die Nordseewellen den Strand küssten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


*** Mädelsabend ***

Endlich war es wieder soweit.

Ein Mädelsabend stand vor der Tür, und ich brauchte diese nur noch zu öffnen, da es bereits geklingelt hatte. Leider waren die letzten Treffen ausgefallen, was eindeutig an mir lag. Genauer gesagt daran, dass ich nach meiner Knieoperation zunächst einen längeren Krankenhausaufenthalt einlegen musste und anschließend direkt an die Ostsee auf Reha geschickt wurde.

Ob ich um die Reha am Meer beneidet wurde?

Klar waren meine Freundinnen neidisch, da sie sich auch eine solche Auszeit wünschten. Fast alle waren bereits verheiratet und hatten mindestens ein Kind. Daher fanden sie auch, dass sie eine Kur viel mehr nötig hätten als ich. Die Ausnahme war meine beste Freundin Lea, die allem Anschein nach ebenso Beziehungsuntauglich war wie ich.

Warum?

Weil ich Single war, keine Kinder hatte und mich auch kein Ehemann oder Lebensabschnittsgefährte zum Wahnsinn trieb. Dass mein Leben trotzdem nicht immer ein Zuckerschlecken war und ich auf die Knieschmerzen und das anstrengende Aufbautraining gut und gerne hätte verzichten können, interessierte meine Mädels dabei nur am Rande. Ebenso, dass ich meinen geplanten Urlaub nach Sylt blöderweise verschieben musste. Verschieben? Quatsch, ich hatte ihn abgesagt.

„Du warst doch am Meer!“ Ich bin mir nicht sicher, wie häufig ich mir diesen Satz in der letzten Zeit anhören durfte. Zunächst hatte ich darauf noch immer geantwortet, dass Sylt und seine einmaligen Strände nicht mit der Ostsee zu vergleichen war. Dass die meistens ruhende Ostsee keinesfalls mit der Nordsee mithalten konnte und, dass Sylt einfach das schönste Fleckchen Erde der Welt für mich war.

Nein, diese Antworten sparte ich mir inzwischen, da keines meiner Girls auch nur den Hauch von Verständnis dafür aufbrachte.

All diese Dinge huschten mir auf dem Weg zur Haustür durch den Kopf, und ich hoffte darauf, dass es heute endlich wieder andere Themen zu bereden gab.

Als ich es fast bis zur Tür geschafft hatte, klingelte es erneut. Allerdings nicht nur kurz, sondern dauerhaft.

„Ist ja gut! Ich kann noch nicht so schnell“, rief ich, da mein Knie von der heutigen Physioanwendung etwas schmerzte. Außerdem trug ich ein Tablett mit Gläsern, dessen Inhalt ich nur äußerst ungern auf dem Dielenboden verteilen wollte.

Erleichtert stellte ich das Tablett ab und zupfte anschließend mein Shirt zurecht.

Alles war angerichtet. Unser Abend konnte starten.

Sekundenbruchteile später öffnete ich meine Wohnungstür und sah in strahlende Gesichter. Doch andersherum verhielt es sich ebenso. Auch ich strahlte, da ich mich auf dieses Treffen so sehr freute, wie ich mich als Kind immer auf den Ponyhof gefreut hatte.

„Kommt rein“, rief ich euphorisch und ging ein Stück zur Seite, um Einlass zu gewähren und meinen Mädels einen freien Blick zur Anrichte zu schenken. Dort befanden sich die Begrüßungscocktails, die ich eben für uns vorbereitet hatte und die auch Grund dafür waren, dass ich so lange zur Tür gebraucht hatte.

„Nie wieder Alkohol“, rief meine beste Freundin Lea und mir war klar, dass sie damit auf unser letztes Konzert von Johannes Oerding anspielte. Wir hatten an diesem Abend einen Drink zu viel genossen und gackerten die ganze Zeit herum, während er dieses Lied zum Besten gab.

„Genau. Deshalb gibt es heute auch einen alkoholfreien Cocktail“, antwortete ich und versuchte, nicht zu lachen.

„Echt jetzt?“ Klara mischte sich ein und sah dabei fragend in die Runde.

„Na klar. Rosa darf seit ihrer Knie-OP keinen Alkohol mehr trinken.“ Meine beste Freundin Lea hatte es einfach drauf, Unwahrheiten staubtrocken zu präsentieren. Nicht nur ich, sondern auch Alina und Lara bemühten uns, ernst zu bleiben und Klara so noch einen Augenblick in der Welt der alkoholfreien Cocktails verweilen zu lassen.

„Toll, dass wir uns endlich alle treffen“, rief ich und schloss währenddessen die Wohnungstür, da sich inzwischen alle an meiner Kommode zum Anstoßen versammelt hatten.

„Wir haben zu danken, liebe Rosa. Schön, dass du den Abend organisiert hast“, rief Alina, und die anderen drei Mädels nickten zustimmend.

„Genug geschleimt. Können wir endlich trinken?“ Lea mischte sich ein und griff nach einem der Gläser. Dann streckte sie es mir entgegen und sagte:

„Auf Rosa und ihr Knie.“ Nachdem die Gläser das typische Anstoßgeräusch von sich gegeben hatten, tranken wir und machten uns danach auf den Weg ins Wohnzimmer. Da wir Februar hatten, konnten wir meine schöne Terrasse leider nicht nutzen und hockten uns stattdessen gemütlich auf mein riesiges Sofa.

Selbstverständlich musste ich zunächst gefühlte tausend Fragen zu meinem Klinikaufenthalt beantworten, wobei das Interesse der Mädels weniger meiner OP galt, sondern immer wieder aufs Neue in Richtung Kurschatten glitt.

Obwohl ich dies inzwischen bestimmt zwanzig Mal verneint hatte, kam die Frage auch nach einer Stunde erneut auf.

„Wie hieß der Typ nochmal?“ Klaras Versuch war so platt, dass ich losprustete und Glück hatte, gerade nichts im Mund zu haben.

„Da war noch immer keiner“, antwortete ich und goss mir einen weiteren Drink ein.

„Rosa steht doch auf den Richter. Da hat kein anderer Mann eine Chance.“ Alina griff ihr Lieblingsthema auf und sah erwartungsvoll in die Runde. Doch keine meiner anderen Freundinnen stieg mit ein. Wozu auch? Das Thema war sowas von ausgelutscht, dass niemand mehr Lust hatte, darüber zu sprechen.

„Ach Alina, trink lieber noch einen. Du hattest ja erst fünf Drinks.“ Lea sagte diesen Satz und zwinkerte mir zu. Sie wusste, dass ich über dieses Thema nicht mehr sprechen wollte, und sie wusste auch, dass meine Schwärmerei längst der Vergangenheit angehörte.

Vor vielen Jahren war es noch anders gewesen. Damals stand ich total auf den Keyboarder der Strandpiraten. Dieser Joshua Richter war wirklich ein attraktives Kerlchen und ich sein wahrscheinlich größter Fan.

Mein damaliges Zimmer bei meinen Eltern war mit Postern zu getackert, und ich kannte alle Hits der Band in- und auswendig. Allerdings war ich zu dieser Zeit sechzehn Jahre alt, und in diesem Alter war es meiner Meinung nach erlaubt, für einen Rockstar zu schwärmen.

Doch heute? Nein, mit siebenundzwanzig tat man das nicht mehr. Wobei ich zugeben musste, dass ich die Band noch immer sehr geil fand und versuchte, alle Konzerte zu besuchen. Zusammen mit Lea war ich viel unterwegs. Wir opferten sogar Urlaubstage, um die Band auf Tourneen zu begleiten.

In einem Fan-Club waren wir nicht.

Warum auch? Wir waren alt genug, alles selbst zu organisieren, und wenn wir Karten haben wollten, bekamen wir sie auch.

Zumindest war es bisher immer so gewesen, und ich konnte noch immer darüber kotzen, dass wir für das Abschlusskonzert der diesjährigen Jubiläumstour keine Karten bekommen hatten. Zwanzig Jahre gab es die Band inzwischen, und es hatte sich nichts daran geändert, dass ich den Keyboarder noch immer am coolsten fand.

Mit diesem Mitch, der nicht nur der Sänger, sondern meiner Meinung nach auch der einzige Idiot der Band war, konnte ich nichts anfangen. Zugeben, er konnte toll singen. Doch er war in dem Augenblick bei mir untendurch, als die Standpiraten in Mitch and the Pirates umbenannt wurden.

*** Kurz geträumt ***

„Träumst du?“, flüsterte mir Lea ins Ohr.

„Ja etwas“, antwortete ich ehrlich. Tatsächlich war ich in die Welt der Strandpiraten abgetaucht. Ich war kurz dort gewesen, wo ich mich immer sehr wohlfühlte und wo ich auch so gerne am morgigen Tag beim Abschluss der Jubiläumstour gewesen wäre.

„Wo warst du? Auf der Reha? Gibt es doch etwas, was ich wissen sollte?“ Meine beste Freundin konnte sich ihr blödes Grinsen nicht verkneifen. Schließlich wusste sie ganz genau, dass ich ihr alles erzählte und wenn nichts über einen Mann dabei war, dann gab es auch keinen.

„Nein, bei den Strandpiraten. Es ist echt saublöd, dass wir morgen nicht dabei sind. Ausgerechnet das Konzert verpassen wir. Ich bin echt am überlegen, ob ich mir vor der Halle eine scheißteure Schwarzmarktkarte kaufen soll.“ Natürlich kannte mich Lea so gut, dass sie genau wusste, dass ich es niemals machen würde.

„Josh wird es schon überleben, wenn du mal nicht dabei bist.“ Lea lächelte milde.

„Als wenn der mich schon mal beachtet hätte“, antwortete ich, und nun lachten wir zusammen.

„Hey, was gibt es ohne uns zu lachen?“ Alina stellte die Frage und sah uns an. Auch die anderen Gespräche verstummten, und einen Augenblick lang herrschte eine ungewöhnliche Stille für einen Mädelsabend.

Auch als Lea aufstand und kurz im Flur verschwand, blieb das Schweigen.

„Tada … Liebe Rosa, du glaubst doch nicht etwa wirklich, dass wir ohne ein Geschenk zu dir gekommen sind. Mach die Augen zu.“ Meine beste Freundin kam ins Wohnzimmer gesprungen, hielt die Arme dabei allerdings hinter dem Rücken versteckt.

„Aber erst brauche ich etwas Alkoholisches“, rief Klara, die noch immer nicht geschnallt hatte, dass es selbstverständlich alkoholische Cocktails waren.

Während Lara ihr lachendes Gesicht hinter den Händen vergrub, war es Alina, die unsere Freundin Klara aufklärte.

„Echt jetzt? Deshalb ist mir so warm. Ich dachte schon, ich habe eine Fruchtsaftallergie“, rief Klara und lief anschließend knallrot an.

„Was genau hast du an meinem Satz nicht verstanden?“ Lea sah mich fragend an, und ich wusste sofort Bescheid. Meine Augen waren noch immer offen, was ich prompt änderte.

„So ist brav“, sagte meine Freundin, und ich konnte nach einem kurzen Lachen nun auch Geraschel vernehmen. Meine Mädels schienen etwas vorzubereiten. Es hörte sich so an, als würden sie mehrere Kleinigkeiten auf meinem Wohnzimmertisch platzieren, was meine Neugier in großen Schritten nach vorne trieb.

„Nicht luschern!“ Lara rief die Worte. Anschließend spürte ich einen Windzug vor meinem Gesicht. Dann sprach sie weiter: „Ah … Okay … Du hast also gar nicht geschummelt. Sonst hättest du jetzt gezuckt.“ Wahrscheinlich hatte sie mit ihrer Hand einen Schlag angedeutet, den sie erst kurz vor meinem Gesicht gestoppt hatte.

„Siehste“, antworte ich knapp und lachte.

„Sag mal, Rosa, wo finde ich ein Feuerzeug?“, unterbrach Lea unser Gefrotzel.

„Gute Frage. Warte mal, ich schau …“ Weiter kam ich nicht.

„Unterstehe dich, du Nase. Wehe du öffnest die Augen. Sag einfach, wo es sein könnte.“ Lea sprach laut, fast etwas schroff.

„Also … dann sieh mal in der Schublade unter den Gläsern nach“, antwortete ich.

„Kalt!“ kam als Antwort. Ich musste also weiter nachdenken und jagte meine Freundin mit der nächsten Vermutung in die Küche.

„Hier ist auch keins!“ hörte ich Lea rufen.

„Sorry, dann habe ich keine Idee.“ Da ich Nichtraucherin war, hatte ich es nicht so mit Feuerzeugen. Dann fiel mir ein, dass ich erst vorgestern selbst nach einem gesucht hatte und keins gefunden hatte. Ich musste mich bei meinem gemütlichen Fernsehabend ohne Kerzenlicht vergnügen und hatte mir bisher kein neues Feuerzeug besorgt.

„Dann nimm doch meins. So lange suchen ist doch doof“, rief Klara.

„Dein Ernst?“, hörte ich Lea sagen, und ich ärgerte mich darüber, dass ich nicht in die Gesichter meiner Mädels gucken konnte. Diese Szene war typisch für Klara. So lieb sie auch war und so intelligent sie sich in ihrem Beruf als Anwältin auch verhielt, im Privatleben war sie häufig ein kleines Dummerchen. Natürlich ein liebenswertes dieser Art.

„Hä? Klar ist das mein Ernst. Freu dich lieber, dass ich es dabeihabe. Sonst könntest du die Kerze auf dem Schokifranzbrötchen nicht anzünden.“ Nach Klaras Worten wurde es ruhig. Wobei? War es tatsächlich nur ruhig? Nein. Es hatte sich eine solche Stille im Raum ausgebreitet, dass man sie fast greifen konnte.

Wenn es mir eben schon schwergefallen war, meine Augen nicht zu öffnen, um in die Gesichter meiner Freundinnen zu schauen, so war jetzt der Moment gekommen, in dem es schier unmöglich war. Klara hatte einen solch naiven und dämlichen Satz rausgehauen, dass ich wirklich nur ungern auf die Grimassen meiner anderen Mädels verzichten mochte. Wahrscheinlich flogen Giftpfeile durch mein Wohnzimmer, und wenn dieser Satz, dass Blicke töten konnten, stimmte, dann gab es jetzt eine Leiche namens Klara.

Trotzdem schaffte ich, mich zu beherrschen. Meine Augen waren geschlossen. Allerdings präsentierte mir mein Kopfkino einen grandiosen Film.

In meinem Film sah ich Lea, wie sie sich ihre Handfläche an den Hals hielt und Klara das Zeichen von Kehle durchschneiden andeutete. Lara hielt sich die Hände vors Gesicht und prustete laut los. Nur Alina hatte Mitleid mit unserer Klara und nahm sie in den Arm. Auch wenn sie das Verplappern natürlich ebenfalls ziemlich bescheuert fand, kam in diesen Augenblicken ihre soziale Ader durch und spendete Trost. Natürlich lachenderweise.

„Du bist manchmal wirklich dümmer, als es die Polizei erlaubt!“, rief Lea und riss mich aus dem Film der gerade so schön spannend geworden war.

„Warum denn? Was ist denn los? Spiel dich doch nicht immer so auf. Immerhin war es meine Idee, Tim anzurufen. Ohne ihn hätten wir jetzt …“

Plötzlich wurde es erneut mucksmäuschenstill. Zumindest nach einem kurzen unverständlichen Gebrabbel, dass garantiert der Situation geschuldet war, dass jemand Klara den Mund zuhielt.

Ich ärgerte mich nur kurz darüber, noch immer mit geschlossenen Augen im Kreise meiner Lieben zu sitzen. Zu gerne hätte ich die letzten Minuten gesehen und nicht nur akustisch wahrgenommen.

Doch wie hieß es doch so schön? Man kann nicht alles haben.

„Falls noch etwas von der Überraschung übriggeblieben ist und Klara nicht alles verraten hat, darfst du jetzt die Augen öffnen.“ Leas Stimme klang angesäuert, was irgendwie ja auch verständlich war.

Dass ich wirklich keine Ahnung hatte, um was es ging und auch den Namen Tim vorher noch nie gehört hatte, wusste Lea natürlich nicht. Auch wenn Klara sehr bemüht war, alles auszuplaudern, war sie gerade noch rechtzeitig unterbrochen worden.

Na gut, es gab ein Schokifranzbrötchen und mindestens eine Kerze. Aber da ich die leckeren Teilchen über alles liebte, hatte ich damit sowieso gerechnet.

*** Augen auf ***

„Darf ich wirklich?“, fragte ich und hoffte selbstverständlich auf ein Ja als Antwort.

„Darfst du was?“ Ich vernahm Klaras Stimme und wartete auf eine Backpfeifenantwort von Lea. Doch sie kam nicht. Man könnte auch sagen, dass Klara von meiner besten Freundin einfach ignoriert wurde.

„Ja, du darfst wirklich“, antwortete Lea und ich öffnete die Augen.

„Ein Schokifranzi mit Kerze. Wow, damit hätte ich niemals gerechnet.“ Mein Augenzwinkern galt Lea, die das Thema nicht weiter aufgriff, sondern lediglich eine kurze Grimasse schnitt.

„Echt nicht? Seht ihr, es war gar nicht so laut“, mischte sich Klara stolz ein.

Bevor wir das Thema vertieften, wechselte ich es schnell.

„Danke, ihr seid der Hammer. Womit habe ich das alles verdient?“ Mein Blick war auf den Tisch gerichtet, der wie ein liebevoll gedeckter Geburtstagstisch aussah. Neben der Kerze auf dem Schokofranz waren noch viele liebevoll verpackte Kleinigkeiten zu erkennen. Zugegeben, ob es alles nur Kleinigkeiten waren, wusste ich nicht. Aber ich ging davon aus, da ich nicht meinen B-Day feierte, sondern lediglich zu einem gemütlichen Sitin eingeladen hatte.

„Nun mach schon, pack aus“, drängte mich Alina und hatte ihre Augen gespannt auf mich gerichtet.

„Gerne“, rief ich erfreut und griff zum ersten Geschenk.

„Das noch nicht. Nimm erst die anderen Päckchen.“ Lea stoppte mein Tun, und ich erkannte an ihrer Stimmlage, dass ich mich ihrer Aufforderung besser fügen sollte.

Im ersten Geschenk befand sich das Cap zur Jubiläumstour der Strandpiraten. Auch wenn der Schriftzug natürlich Mitch and the Pirates war, freute ich mich total. Außerdem wurde mir klar, warum Lea mir ausgeredet hatte, dies Cap als Ersatz für die nicht zubekommende Karte des Abschlusskonzertes zu kaufen.

„So so, ein Cap, auf dem nicht Strandpiraten steht, ist also nichts für mich?!“, sagte ich lachend und drückte Lea. Anschließend waren die anderen Mädels an der Reihe.

„Mach weiter“, forderte Klara mich auf und Alina ergänzte: „Und bedanken kannst du dich zum Schluss. Sonst werden wir hier nie fertig.“

„Ist ja gut. Welches jetzt?“, fragte ich neugierig und auch etwas ängstlich, da ich nicht wieder ein falsches Päckchen greifen wollte.

„Egal. Nur das hier zuletzt.“ Lea deutete abermals auf das Geschenk, das ich eben schon in der Hand gehalten hatte.

Nacheinander griff ich mir die niedlichen Päckchen, und nach einigen Minuten war der Tisch mit Utensilien der Strandpiraten belagert. Es gab einen Band-Schal, den tatsächlich noch der ehemalige Namen meiner Lieblingsband zierte. Anschließend packte ich etwas aus, was wir eben noch gesucht hatten. Ein Feuerzeug der Strandpiraten war es, und ich war gespannt, ob es überhaupt noch funktionierte. Immerhin trug die Band schon seit vielen Jahren einen anderen Namen. Doch es ging, und ich freute mich darüber wie ein kleines Kind.

Ein Becher der ersten Tour gab es ebenfalls, und die Krönung war ein T-Shirt, auf dem lediglich Josh abgebildet war. Meine Freundinnen hatten es selbst bedrucken lassen, und ich musste losprusten, als ich es umdrehte und die Worte auf dem Rücken lesen konnte.

„Ich bin dein größter Fan!“ Ich sprach die Worte aus und sah vergnügt in die Runde. Dann redete ich weiter: „Ihr seid echt der Hammer. Ich habe doch gar nicht Geburtstag.“

„Aber du bist wieder fit, und außerdem haben wir dich sehr lieb.“ Lea sprach den Satz aus, und alle nickten dazu im Einklang. „Aber jetzt musst du auch dieses Geschenk auspacken.“ Lea drückte mir das letzte Päckchen in die Hand.

Es war leicht und als ich es schüttelte, konnte ich kein Geräusch vernehmen. Die Form glich einer Packung Taschentücher, und um ehrlich zu sein, fühlte es sich auch so an. Doch es konnten keine Taschentücher sein. Selbst, wenn es welche der Strandpiraten wären, hätte es keinen Sinn gemacht, sie als letztes auszupacken. Immerhin waren alle anderen Geschenke cooler.

„Was ist da drin?“, fragte ich und sah in die Runde.

„Was wohl? Ich habe ja Tim angerufen und der hat mir …“

„Halt die Fresse!“ Lea unterbrach Klara schroff und erntete von Alina und Lara einen dankbaren Blick. Klara hingegen war weniger dankbar für Leas Worte und lehnte sich beleidigt und mit verschränkten Armen zurück. Dann herrschte einen Augenblick Stille.

Erneut war der Name Tim in Klaras Satz vorgekommen, und ich begann zu grübeln, ob ich nicht doch schon mal was von dem Typen gehört hatte. Doch es war nicht so, und eigentlich war es mir auch Wurscht. Schließlich trug ich eine große Neugier in mir, da ich keine Idee hatte, was sich im letzten Päckchen befinden konnte.

„Ich schlage vor, dass du es jetzt endlich auspackst. Übermorgen kannst du es nämlich nicht mehr benutzen.“ Lea sprach energisch, und ich glaubte außerdem, einen leicht genervten Unterton erkannt zu haben.

„Ich mach ja schon. Nicht, dass wir uns heute noch die Köpfe einschlagen“, sagte ich lachend und begann umgehend damit, das Klebeband vom Papier zu lösen.

„Du machst das wie meine Oma. Faltest du das Papier auch gleich und legst es dann gut weg?“ Ich ignorierte Alinas Worte, da ich einfach nur vorsichtig sein wollte. Vielleicht befand sich etwas Zerbrechliches darin und ich wollte mich nicht darüber ärgern, es kaputt gemacht zu haben.

Als ich kurze Zeit später fertig war, hielt ich eine Taschentuchpackung in der Hand. Auch wenn ich schon irritiert darüber war, musste ich zugeben, dass sie außergewöhnlich süß war. Auf den Papiertüchern war Micky Maus abgebildet und zwar nicht einfach so, sondern in vielen Lebenslagen. Meine Lieblingsmaus fuhr Auto, saß in einem Boot und leckte an einer Eiswaffel.

Doch warum wurde um dieses Geschenk ein solcher Hype gemacht? Oder lag es einfach daran, dass die Taschentücher nichts mit den Strandpiraten zu tun hatten?

Ich hatte wirklich keine Idee. Allerdings wollte ich es mir nicht anmerken lassen, da ich ja sowieso viel zu viele Geschenke bekommen hatte. Immerhin gab es keinen Anlass dafür, reich beschenkt zu werden.

„Ihr seid wirklich die absoluten Vollgranaten. Danke für die tollen Sachen. Kommt, lasst euch ganz feste drücken.“ Nach meinen Worten legte ich die Taschentücher auf den Tisch und nahm danach eine Freundin nach der anderen in meine Arme.

„Was haltet ihr von Prosecco?“, fragte ich in die Runde und machte mich danach auf den Weg in die Küche.

Mit zwei Flaschen kam ich zurück und konnte das gekühlte Getränk sofort auf unsere Gläser verteilen. Lea war fleißig gewesen und hatte sie inzwischen aus der Anrichte geholt und auf dem Tisch verteilt.

„Auf uns!“, rief ich und prostete in die Runde.

*** Einfach ein Hä … ***

Der Abend war feucht und fröhlich. Ich war mir nicht sicher, wann ich zuletzt so viel gelacht und stundenlang einen solchen Spaß hatte.

Dafür kannte ich den Grund, warum es so war. Viel zu lange hatte ich mich nicht mit meinen Freundinnen getroffen, was nicht dem Wollen, sondern meinem Knie geschuldet war.

Als wir merkten, dass wir den einen oder anderen Drink zu viel genossen hatten, bestellten wir Pizza und warteten nun schon bereits seit einer Stunde auf die kreisrunden Dinger, die wir endlich verputzen wollten.

Natürlich lief Musik der Strandpiraten. Ja, wir hörten die alten Lieder, auch wenn die neuen natürlich ebenfalls klasse waren. Doch ich hing an den alten Zeiten, als ich die Band in kleinen Clubs besuchte und die Atmosphäre um einiges gemütlicher, fast familiärer war. In dieser Zeit war es auch nicht so schwierig, nah an die Bühne zu gelangen und die Band hautnah zu erleben.

Natürlich stand ich auch heute noch bei den Konzerten ganz vorne. Leider musste ich aber immer sehr früh im Innenraum sein, um einen der begehrten Plätze zu ergattern. Eine Wurst zu essen, oder mir die Werbestände anzusehen, ging eben so wenig, wie in Ruhe ein Bier zu trinken. Nun ja, ich konnte nicht alles haben, aber es fehlte mir trotzdem, da es zu einem Konzertbesuch irgendwie dazugehörte.

Während ich darüber nachdachte, kam mir natürlich auch das morgige Abschlusskonzert in den Kopf. Ich wurde abermals traurig, da ich zu gerne dabei gewesen wäre. Auch wenn Josh mich ganz bestimmt nie erblickt hatte, stand ich sonst immer in vorderster Front und ließ meine langen schwarzen Haare im Takt der Musik wippen. Manchmal trug ich natürlich auch ein Cap der Strandpiraten und einen Schal hatte ich sowieso um den Hals. Nein, ich war keines dieser Groupies, die sich an die Stars heranmachten. Vielmehr freute ich mich darüber, dass ich die Band bereits kannte, als sie noch unbekannt und nicht angesagt war. Viele außer mir konnten es ganz bestimmt nicht über sich sagen, und wenn sie es doch taten, war es schlicht und einfach gelogen.

Wenn ich in einem Fan-Club wäre, hätte ich eine Karte, dachte ich und ärgerte mich darüber, dass ich mich immer dagegen gewehrt hatte.

Dann riss mich die Klingel aus meinen Gedanken.

„Das Essen!“, rief Klara, und ich machte mich auf den Weg zur Tür.

Gegen 23:45 Uhr hatten wir die Pizzen verputzt.

Nur noch die Verpackung zierte den Esstisch, und wir lagen pappsatt nebeneinander auf meinem chilligen Sofa. Genauer gesagt fast alle, da Klara den gemütlichen Ohrensessel vorzog.

„Jetzt darf ich ja“, sagte Klara und sprach nach einer kurzen Pause weiter. „Timmy ist echt toll. Er konnte mir schon häufig helfen und Dinge besorgen, die man eigentlich nicht bekommt. Voll krass, wenn man einen solchen Menschen in seinem Leben hat.“ Erwartungsvoll sah sie mich an, leider wusste ich aber nicht warum. Mein Blick schien Bände zu sprechen, und daher gab sie noch weitere Sätze zum Besten.

„Und ihr nennt mich immer Dummerchen. Heute bin ich es nicht, sondern Rosa hat sich die Bezeichnung verdient. Ich glaube, sie hat noch immer nicht geschnallt, dass es eigentlich unmöglich war, das Geschenk zu besorgen.“ Stolz, nein fast etwas überheblich, sah sie in die Runde und wartete auf Applaus. Da er nicht ertönte, führte sie ihre Ausführungen fort. „Mensch, Rosa, was glaubst du eigentlich, wie schwierig es war, dieses besondere Geschenk zu bekommen. Alles war ausverkauft und glaube mir, die Schwarzmarktpreise sind unbezahlbar.“ Dann richtete sie sich auf und griff nach der Packung Micky Maus Taschentücher. „Ganz ehrlich, liebe Rosa, da kann man doch froh sein, einen Tim zu kennen.“ Nach ihren letzten Worten legte sie die Packung wieder auf den Tisch. Allerdings so vorsichtig, als könnte etwas darin kaputtgehen.

„Sag mal, Lea, ist die voll? Oder ist sie heute noch bekloppter als sonst?“ Natürlich flüsterte ich meiner Freundin die Worte ins Ohr, da ich Klara nicht beleidigen wollte.

„Ausnahmsweise mal nicht. Also beides nicht“, war Leas Antwort, mit der ich absolut nichts anfangen konnte.

„Hä?“, fragte ich und ärgerte mich darüber, da ich wusste, gleich wieder eine Predigt über dieses blödsinnige Wort bekommen würde.

„Wie Hä? Warum Hä? Hä ist für die Frauen da. Sie kapieren nichts, können nichts und fragen deshalb immer … Hä?“ Lea sagte diese Worte nicht, sondern sang sie. Es war der Refrain eines Liedes der Strandpiraten. Damals, zu ihrer Anfangszeit, hatten sie dieses Lied herausgebracht, und es war irgendwie mit dem Lied von Johannes Oerding zu vergleichen, in dem er über den Alkohol sang.

„Ist schon gut. Ich habe es kapiert. Heute bin ich also die, die auf dem Schlauch steht“, entgegnete ich. Leider wusste ich noch nicht, warum es so war. Aber ich nahm mir vor, es jetzt herauszufinden.

„Ja, die bist du“, antwortete meine beste Freundin und grinste mich an.

„Was habe ich verpasst?“, wollte ich wissen. Doch Lea grinste einfach weiterhin blöd durch die Gegend.

„Kann mir von euch jemand einen Tipp geben?“ Mein hoffnungsvoller Blick ging in die Runde und stoppte bei Klara. Ich hoffte, dass sie wieder einen raushaute und mir somit erneut unfreiwillig half.

Natürlich tat sie es nicht. Manchmal wusste unsere Anwältin, wann sie die Klappe halten musste. Leider auch jetzt und so griff ich mir alle meine Geschenke und sah sie mir nochmals an. Das Feuerzeug war ein Feuerzeug. Ich konnte nichts anderes daran entdecken und legte ich es sofort wieder auf den Tisch. Auch beim Cap gab es nichts zu entdecken, was ich vorhin übersehen hatte, und als ich nach dem Franzbrötchen griff, riefen alle vier Mädels ein lautes „Kalt!“.

Okay, dann eben das T-Shirt, dachte ich und überlegte, ob ich beim aufgedruckten Text etwas übersehen hatte. Schnell griff ich danach und sprach die Worte nochmals aus.

„Ich bin dein größter Fan!“

In diesem kurzen Satz befand sich definitiv keine versteckte Botschaft, da war ich mir sicher, und so legte ich das Shirt erst zusammen und dann zurück auf den Tisch.

„Na?“, neckte mich Lea, und ich überlegte, ob alles ein geplanter Streich meiner A-Gang war.

Tatsächlich wurden wir häufig so genannt, da alle unsere Namen mit diesem Buchstaben endeten und wir sehr häufig alle zusammen etwas unternahmen.

Waren Klaras Sätze vielleicht kein Versehen gewesen. Hatte sie den Auftrag, diese komischen Sachen zu sagen und auch diesen Tim, den es gar nicht gab, ins Spiel zu bringen? War ich voll auf sie reingefallen und würde es in wenigen Sekunden einen mega Lachflash geben?

Die Gesichter meiner Mädels sprachen jedoch dagegen.

Als ich aufstand, um neue Getränke zu holen, wollte ich einen kurzen Augenblick darüber nachdenken. Klar mochte ich Spaß, und ich liebte es, andere zu verarschen. Selbst auf den Arm genommen zu werden, fand ich allerdings eher semi toll.

„Wo willst du hin?“, fragte Alina.

„Neue Drinks holen“, antwortete ich und ging weiter.

„Wir sollten nicht mehr so viel trinken. Morgen steht ja was an, und da sollten wir fit sein“, kam zur Antwort.

„Morgen?“ Ich verstand nicht, was Alina mir sagen wollte.

*** Konzertkarte ***

Während ich noch immer über Alinas Satz nachgrübelte, mischte sich Lea ein.

„Na ja, gleich haben wir es schon morgen. Besser gesagt, schon heute. Ach, ihr wisst schon, wie ich es meine.“ Sie sah mich an und lachte los.

Ich stand mitten im Wohnzimmer und wusste nicht so recht, wohin mich mein Weg führen sollte. Der morgige Weg war mir sowieso ein Rätsel, aber der jetzige war mir nicht wirklich klarer. Sollte ich eine weitere Flasche Prosecco holen? Musste ich es bleibenlassen, da ich die Ansage bekommen hatte, morgen fit sein zu müssen?

„Echt mal, ihr macht es mir gerade nicht leicht.“ Ganz bestimmt war die Verzweiflung in meinen Worten deutlich zu erkennen.

„Du bist einfach ein Blindfisch“, rief Lara und sah mich an. Als ihr Blick danach zu der Micky-Maus-Taschentuchpackung wanderte, machte es Klick in meinem Kopf.

„Ist da etwa … Soll ich vielleicht … Klar, da ist was drin. Oder? Sagt schon … Ach, Leute.“ Mein Stottern war nicht dem Alkohol geschuldet, sondern vielmehr der Situation, dass ich vorhin einen auf wasserstoffblonde Tussi gemacht hatte.

„Deine Entscheidung. Noch hast du die Wahl, ob du eine Überraschung für morgen oder doch lieber eine für heute haben möchtest.“ Natürlich war es Lea, die diesen Satz raus haute und der von Klara mit einem lauten „Hä“ nachgefragt wurde.

Auf ihre zwei Buchstaben ging Lea nicht ein. Dafür war keine Zeit mehr, da es inzwischen 23:58 Uhr war. Ich hatte also noch zwei Minuten Zeit, um zu überlegen, ob ich die Taschentuchpackung heute oder morgen untersuchen wollte.

„Ich will es jetzt wissen. Immerhin war die Überraschung ja für morgen gedacht“, sagte ich und begann sofort, die Mickymäuse aus der Verpackung zu befreien.

Schnell hatte ich es geschafft, worauf ich zunächst mit einem kurzen Atemstillstand und anschließend mit einem fast hysterischen Kreischanfall reagierte.

„Ihr seid ja bescheuert. Wie geil ist das denn! Echt mal, ohne Spaß, ihr seid die Geilsten ever!“ Ich sprang in Leas Arm und hielt dabei das für mich kostbarste Stück Papier der Welt in der Hand.

Danach waren meine anderen Freundinnen an der Reihe, und erst als ich alle ganz feste gedrückt hatte, spürte ich die Freudentränen über meine Wangen laufen.

Sie hörten gar nicht auf zu kullern, und so lief ich in die Küche, um mir ein Stück Küchenrolle zu holen. Nachdem ich die Tränen abgewischt hatte, schnaubte ich in das Papiertuch hinein.

„Hey, du hast doch Taschentücher bekommen“, meinte Alina, und ich antwortete:

„Aber die kann ich doch nicht zum Naseputzen nehmen. Hey, da ist Micky drauf, und außerdem war das schönste Geschenk meines Lebens darin eingepackt.“ Danach liefen erneut Freudentränen übers Gesicht. Aber nicht nur bei mir, sondern auch bei meinen Freundinnen.

Sprachlos stand ich vor meinen Mädels.

Ja, ich brachte kein Wort über meine Lippen und konnte meine Augen nicht von dem Stück Papier abwenden, das ich wie einen Schatz in meinen Händen hielt. Als würde es zerspringen können, so vorsichtig hielt ich mein Geschenk zwischen meinen Fingern, und ich konnte kaum glauben, dass ich, Rosa Schwarz, siebenundzwanzig Jahre alt werden musste, um Freudentränen über ein Geschenk zu vergießen.

Natürlich hatte ich schon häufiger mal feuchte Augen gehabt. Aber hey, ich durfte das, schließlich bin ich ein Mädchen. Doch so viel Flüssigkeit hatte ich definitiv noch nie wegen eines Geschenks verloren.

„Wow“, stammelte ich irgendwann und strich mit meinen zarten Fingern über mein Geschenk.

„Pass auf, nicht dass die Karte zerfällt“, frotzelte Lea. Dann sah sie in die Runde und nickte. Für die anderen schien dies ein Zeichen zu sein. Alle griffen in eine ihrer Taschen und zogen ebenfalls eine Karte heraus.

„Oder hast du geglaubt, dass wir dich allein gehen lassen. Falsch! Wir sind selbstverständlich mit dabei und passen auf dich auf.“

„Aufpassen? Worauf?“, fragte ich und lächelte.

„Das du dich beim letzten Konzert der Jubiläumstour nicht an Josh vergreifst.“ Lea lachte, und die anderen stiegen mit ein.

„Keine Angst“, sagte ich ebenfalls lachend. Dann sprach ich weiter: „Der weiß doch gar nicht, wer ich bin. Aber er muss es auch nicht wissen, es genügt, dass ich weiß, wer er ist.“ Hui, da hatte ich aber einen Satz rausgehauen. Meine Mädels schienen über meine Worte nachzudenken, und ich tat es auch. Also, ich dachte auch nach. Aber nicht über meine Worte, sondern darüber, dass ich tatsächlich das Abschlusskonzert der Zwanzigjahrestour live erleben durfte.

Meine Freundinnen waren echt der Burner, und diesen ominösen Tim mochte ich auch. Ja, ich mochte ihn, ohne den Typen überhaupt zu kennen.

Dann musste ich lachen und zwar über mich selbst. Wie konnte mir nur die Karte in der Taschentuchpackung entgehen? Klar fand ich Micky Maus extrem cool, aber auf die Idee, dass sich etwas zwischen den Papiertaschentüchern befand, hätte ich echt kommen können.

Immerhin hatten alle anderen Geschenke auch was mit meiner Lieblingsband zu tun. Natürlich landete ich während meiner Gedanken auch beim Keyboarder der Band. Dieser Josh war einfach ein sympathischer Mann. Doch das war längst nicht alles. Er war echt sexy, und ich stand auf seine längeren Haare, die er so häufig zu einem kleinen Zopf verknotete. Bei einem Konzert hatte ich sogar kurz gedacht, er würde mir ein Lächeln schenken. Doch ob es wirklich so war? Lea glaubte es nicht. Aber ich hatte mir meine Illusion bis heute nicht nehmen lassen.

„Sag mal, bist du mit deinen Gedanken schon in der Arena?“, rief meine beste Freundin und riss mich aus der Gedankenwelt. Sie hatte mit ihrer Vermutung recht, was ich aber auf keinen Fall auf die Nase binden wollte.

„Nein, ich überlege, was ich morgen anziehen soll“, log ich.

„Heute.“ Klara mischte sich ein.

„Stimmt“, entgegnete ich, nachdem ich einen Blick auf die Uhr geworfen hatte.

„Wir gehen jetzt. Schlaf schön, wir treffen uns dann morgen um 17:30 Uhr am Bahnhof. Okay?“ Eigentlich war es keine Frage, sondern vielmehr ein Befehl. So war Lea, und so liebte ich sie auch.

Zwei Minuten später war ich allein.

*** Die Nacht davor ***

Ich saß auf meinem Sofa.

Mit angezogenen Knien hockte ich dort, wo ich eben noch mit meinen Mädels gesessen hatte und fühlte mich …

Tja, wie fühlte ich mich eigentlich? Tatsächlich fiel es mir schwer, es richtig zu deuten. Wie sollte es auch funktionieren? Immerhin konnte ich das Gefühl nicht beschreiben.

Ich fühlte eine Leere, die aber nur dem geschuldet war, dass ich plötzlich allein war. Trotz dieser Leere und obwohl ich einfach nur dasaß, überfiel mich ein Adrenalinschub nach dem anderen.

Vielleicht waren diese Schübe der leisen Musik geschuldet. Es waren Lieder, die mich heute noch mehr berührten, als sie es sonst taten. Mitch sang, doch ich achtete nicht so sehr auf die Texte, die ich sowieso alle auswendig konnte. Nein, mein Gehör filterte die Töne heraus, die einem Klavier geschuldet waren. Meine Augen waren geschlossen, und ich sah Bilder, wie Josh mit seinen wundervollen Händen über die schwarzen und weißen Tasten glitt. Wie seine längeren Haare dabei wippten und er total konzentriert aussah. Dann sah ich sein Gesicht und konnte deutlich das Glitzern in seinen Augen erkennen. Er liebte es, dieses Instrument zu spielen. Auch wenn ich es in einigen Interviews von ihm gelesen hatte, hätte ich es auch so gewusst. Er spielte so zärtlich und zugleich auch leidenschaftlich auf dem Instrument, dass man sich als Frau einfach wünschen musste, auf die gleiche Art von seinen Fingern berührt zu werden.

Während ich dies dachte, huschte ein wohliger Schauer über meinen Körper, und eine kleine angenehme Gänsehaut machte sich breit.

Dann riss mich mein Handy aus diesen wundervollen Träumen. Nacheinander trafen vier Nachrichten bei mir ein, und ich wusste nun, dass alle Mädels gut zu Hause angekommen waren. Klar freute ich mich darüber. Noch mehr hätte ich mich allerdings gefreut, meine Träume weiter zu träumen.

„Es ist schon spät“, sagte ich zu mir.

Dann stand ich auf, machte kurz klar Schiff im Wohnzimmer, räumte anschließend noch die Gläser und das Geschirr in den Geschirrspüler und verschwand im Bad.

Mit der Zahnbürste im Mund, machte ich mich auf den Weg zurück ins Wohnzimmer. Mir war eingefallen, dass ich noch nicht zurückgeschrieben hatte und wollte es dringend nachholen. Schnell hatte ich unsere Chat-Gruppe geöffnet und schrieb:

Hey, ihr völlig verrückten Hühner, lieben Dank für einen perfekten Abend und natürlich auch dafür, dass ihr mich so reich beschenkt habt.

Ganz ehrlich, ich habe mich noch nie über ein Geschenk so gefreut wie heute. Nicht falsch verstehen, auch die kleinen Geschenke und die Mühe, die ihr euch geben habt, finde ich megastark. Aber die Karte!

So geil, dass wir morgen alle zusammen das Abschlusskonzert besuchen können. DANKE, DANKE, DANKE und nochmals DANKE dafür!

Natürlich hatte ich die Nachricht noch zusätzlich mit gefühlten tausend Herzen und Küsschen verziert und sie auch sofort abgeschickt.

Mit einem guten Gefühl im Bauch und unendlich viel Dankbarkeit im Herzen ging ich zurück ins Bad. Der Zahnpastaschaum begann zu brennen, und es kam mir außerdem so vor, als wenn er sich in den letzten Minuten verzehnfacht hatte. Kurz vor der Badezimmertür hätte ich ihn am liebsten ausgespuckt. Doch ich blieb tapfer und schaffte auch noch die letzten fehlenden Schritte.

Ausgespuckt hatte ich ihn bereits und es war eine Wohltat, als ich jetzt damit begann, mir den Mund mit lauwarmem Wasser auszuspülen.

Nachdem ich mich mit einer kurzen Katzenwäsche um mein Gesicht gekümmert hatte, war ich bereit für die Nacht. Mein Bettchen rief nach Rosa und zwar inzwischen schon sehr laut.

Ein kurzer Umweg ins Wohnzimmer musste sein, da mein Handy noch immer dort lag. Ich brauchte es. Zumindest den Wecker darin, da ich morgen noch einiges auf dem Zettel hatte.

Männer würden wahrscheinlich sagen, dass nichts auf diesem virtuellen Zettel stand. Ich hingegen fand ihn ziemlich voll. Ich musste duschen, die Haare glätten und mich für den Abend aufhübschen. Die Fingernägel mussten auch lackiert werden, da ich häufig mit schwarzen Nägeln zu den Konzerten ging und von diesem Ritual nicht abgehen wollte. Schon gar nicht zum Abschluss der Jubiläumstour.

Als ich nach dem Handy griff, ging eine Nachricht ein, und ich erkannte bereits am Ton, dass es sich um unseren Gruppenchat handelte.

Mit einer eingegangenen Nachricht lag ich jedoch falsch. Es waren vier, auch wenn in jeder lediglich ein Wort stand.

Heute!

Ja, nur dieses Wort hatte jede meiner Freundinnen geschrieben und ich musste lachen, dass mir mein Fehler von allen unter die Nase gerieben wurde. Es war inzwischen weit nach Mitternacht, und so gingen wir nicht morgen, sondern bereits heute ins Konzert.

„Na toll!“, sagte ich und ärgerte mich darüber, dass ich mich schlaflos im Bett herumwälzte. Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es inzwischen über eine Stunde lang so war. „Ich muss doch morgen fit sein! Los, du blöder Schlaf, hol mich zu dir.“ Wieder sprach ich zu mir selbst und zog die Decke bis zur Nasespitze hoch.

So eingekuschelt hoffte ich einzuschlafen.

Doch weit gefehlt. Liedtexte und Konzertbilder schlichen sich in meinen Kopf. Klar waren sie schön, und doch hätte ich jetzt gerne auf sie verzichtet. Immerhin kannte ich die Texte sowieso auswendig, und Bilder würde ich morgen neue bekommen.

„Heute!“, verbesserte ich meine Gedanken und musste grinsen. Dann schloss ich die Augen und landete tatsächlich wenige Augenblicke später im Land der Träume.

Schnell war ich bei den Strandpiraten angekommen. In meinem Traum befand ich mich in einem kleinen Club und hörte den Jungs auf der Bühne zu. Wir waren noch sehr jung, und ich hatte das Gefühl, als würde mich Josh anlächeln. Als ich sein Lächeln erwiderte, sahen wir uns eine ganze Weile lang an. Unsere Augenpaare waren auf den anderen fixiert und die Blicke so intensiv, als würde jeden Moment etwas Besonderes geschehen.

Dann geschah etwas Merkwürdiges.

Josh nahm zunächst die Finger von den Klaviertasten, dann stand er vom Hocker auf und ging.

Ja, er ging von der Bühne und verließ somit die Bretter, die für ihn die Welt bedeuteten. Ohne sich umzudrehen, verschwand er hinter einem dunklen Vorhang und kam nicht wieder zurück …

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139518
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Nordfriesland Meer Sylt Syltliebe Liebe Urlaub Strand Insel Roman Abenteuer Humor

Autor

  • Ben Bertram (Autor:in)

Ben Bertram lebte bis 2017 in seiner Lieblingsstadt Hamburg und zog dann nach Schleswig-Holstein, wo ihm das „flache Land“ gefällt und er gern mit seinem Hund durch die Felder läuft. Die Ruhe in seinem Dorf genießt er sehr und der Blick aus seinem Bürofenster, lässt die Schreibideen sprießen. Ben verbringt viel Zeit auf der Insel Sylt, auf die er sich gerne zum Schreiben zurückzieht. Dort wird er, wenn sein Blick auf das Meer gerichtet ist, von vielen neuen Ideen und Eingebungen „überfallen“.
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Titel: Die Insel ruft!