EMI
Als sie sich an der Getränkebar des Fitnessstudios in der Torstraße niederließ, konnte sie zum ersten Mal an diesem Tag durchatmen. Bislang war es für sie nicht gerade ideal gelaufen.
Trotzdem freute sie sich auf die Unterrichtsstunde, die sie in fünfzehn Minuten beginnen durfte. Nach zahlreichen Rückschlägen, empfand Emi es nun fast schon als Privileg, im Chrome Fitness Yoga unterrichten zu dürfen.
So viele andere Studios hatten ihr in den vergangenen Monaten eine Absage erteilt. Dabei hatte sie es sich so schön ausgemalt, sich mit ihrem Hobby selbstständig zu machen.
Leider musste sie sich eingestehen, dass das viel einfacher klang, als es wirklich war. Die guten Zeiten, in denen Yogalehrer überall begehrt waren, gehörten der Vergangenheit an.
Eine Flut von Wochenend-Lehrerworkshops machte alle Neulinge binnen weniger Tage zu absoluten Experten auf dem Gebiet. So jedenfalls die landläufige Meinung der Studiomanager, wenn sie ihr mitteilten, dass sie keine Stunden an Selbstständige outsourcten. Zu teuer. Lieber schickten sie einen Angestellten auf eins dieser Seminare.
Und das Schlimmste an dieser Einschätzung war, dass das für die Art von Yogaunterricht, den sich die Betreiber vorstellten, sogar stimmte. Jedes Yoga war anders. Es gab hunderte Stilrichtungen, für die es spezielle Ausbildungen gab.
Yoga war mehr als Sport. Es ging um eine ganzheitliche Einstellung zum Leben, doch die war in den Fitnessstudios Berlins nicht gefragt. Hier ging es um Muskelaufbau und Gewichtsreduktion. Diese Werte ließen sich an die zahlende Kundschaft verkaufen.
Ihre Studienfreundin Isa unterhielt sich wenige Schritte entfernt mit einem ihrer Klienten – einem Ex-Profisportler, der vor wenigen Wochen aus der Reha gekommen war. Diesen Auftrag hatte Emi nur dank ihr und ihrem fantastischen Ruf bekommen.
Isa hatte sich bei David, dem Besitzer des Chrome Fitness, für sie eingesetzt. Doch der Manager wurde nicht müde zu betonen, dass sie unter Beobachtung stand.
Keine Esoterik, nur Sport.
Das war Davids klarer Anspruch und Emi wusste, dass sie am Anfang Kompromisse machen musste, um das Geld für die Miete aufzutreiben.
Wenn es eines Tages besser lief – und sie war überzeugt, diese Zeit würde unweigerlich kommen – wollte sie ihre eigenen Regeln durchsetzen. Vielleicht nicht hier, aber es würde einen passenden Ort geben, an den sie und ihre Werte passten.
Isa war gleichzeitig ihre Rettung und ihre Inspiration gewesen. Als sie sich kennenlernten, hatten sie beide gerade ihr Medizinstudium begonnen. Nach dem ersten Jahr schmiss Isa hin und wechselte den Studiengang.
Sport war schon immer ihre Leidenschaft gewesen und sie hatte den Mut gefasst, genau das zu tun, was sie liebte. Obwohl der Arztberuf ihr ein höheres Grundgehalt versprach, wagte sie den Absprung. Mittlerweile war sie eine gefragte Personal Trainerin für Berliner Leistungssportler, die einen gezielten Muskelaufbau brauchten oder sich von einer Verletzung erholten.
Für ihre Berufung war es zu Isas Glück unerheblich, dass sie lieber ungewöhnlich aussah. Schon damals an der Uni hatte sie einzelne Tattoos auf den Armen gehabt.
Inzwischen war ihr Körper ein Gesamtkunstwerk aus Tinte und Athletik. Bei der Arbeit trug sie Kleidung, die diese Besonderheit eher betonte als verdeckte. Es war zu ihrem Markenzeichen geworden.
An diesem Tag bot ein schwarzes Tanktop mit dem Aufdruck des Chrome Fitness den Ausblick auf Teile des Kunstwerks. Abstrakte Formen schlängelten sich die Arme hinauf zu den Schultern und verschwanden verheißungsvoll unter dem locker sitzenden Stoff. Auch im Halsausschnitt war etwas dunkle Farbe zu erahnen.
Im Arztberuf hätte sie diese Form der Körperkunst niemals so praktizieren können. Dieser Beruf verlangte ein konservatives Aussehen. Immer noch. Es gab zu viele ältere Patienten, die sich durch auffällige Tattoos eingeschüchtert fühlten.
Hier musste Isa sich für ihre Arbeit nicht verbiegen.
Emi wollte das gleiche Privileg auch für sich selbst. Sie hatte zwar ihr Studium und das praktische Jahr hinter sich gebracht. Sicher hätte sie auch eine Anstellung in einem Krankenhaus gefunden, aber das war nicht, was sie wirklich wollte.
Die blonde Fitnesstrainerin bestellte dem Sportler noch einen Eiweißshake bei Vanessa an der Theke und wandte sich anschließend Emi zu.
»Na, wie läuft‘s?«, fragte sie wie immer verboten gut gelaunt.
»Eher mäßig bis schlecht, aber was soll‘s?«
Es war die Wahrheit, aber diese Startschwierigkeiten würden sie nicht umbringen. Sie nagte längst nicht am Hungertuch und zur Not würden ihre Eltern liebend gern aushelfen. Nur ihr Ego litt unter den ständigen Absagen.
Doch sie war noch nicht bereit deshalb aufzugeben. Sie probierte es erst seit drei Monaten und manchmal brauchte das Universum länger, bis sich der Erfolg einstellte.
Isa seufzte und zog die Brauen hoch. Emi hatte sie nie danach gefragt, aber sie konnte sich vorstellen, dass auch die Fitnesstrainerin hart für ihre Stellung gearbeitet hatte.
»Wenn ich irgendwie helfen kann, sag einfach bescheid«, bot sie an.
»Danke, das weiß ich zu schätzen.«
»Gibt‘s denn wenigstens mit den Männern mal was Neues zu berichten?«
Isa war so erfrischend direkt, dass ein Eimer Eiswasser gegen sie wie ein warmes Bad wirkte. Das war einer der Gründe, warum besonders Profisportler ihre Dienste so gern in Anspruch nahmen. Sie schätzten direkte Ansagen.
»Männer, was war das nochmal?«, feixte Emi achselzuckend.
Ihre letzte Beziehung war schon so lange her, dass sie sich kaum noch daran erinnerte, wie es sich anfühlte, das eigene Leben mit jemandem zu teilen.
»Wenn du da einen Auffrischungskurs brauchst, kannst du ja mal unseren Studio-Casanova um eine Audienz bitten«, scherzte Isa und nickte in Richtung Treppe. »Da kommt er gerade.«
Emi musste sich nicht umdrehen, um zu erfahren, von wem sie sprach. Schon von Weitem roch sie das billige Rasierwasser, das diesen Mann wie eine persönliche Regenwolke begleitete. Thomas war so ziemlich das Gegenteil von dem, was sie sich unter einem Traummann vorstellte.
Dabei war es nicht einmal sein Aussehen, das sie so abstoßend fand, sondern viel mehr sein Verhalten. Er führte sich auf, als könnte er jede Frau auf dem Planeten mit einem seiner Anmachsprüche um den Finger wickeln. Aber das konnte er nicht.
Spätestens bei ihr biss er auf Granit und sie bezweifelte, dass sie die Einzige war, die darauf nicht ansprang. Er hatte bereits mehrfach probiert, bei ihr zu landen, doch sie hatte ihn immer wieder freundlich in die Schranken gewiesen.
»Hallo ihr Süßen, habt ihr mich schon vermisst?«, fragte er süffisant grinsend.
Sie konnte gerade noch ein genervtes Schielen unterdrücken, während Thomas sich zwischen sie schob. Isa entging ihre Reaktion dennoch nicht. Emis Laune besserte sich schlagartig, als sie sah, wie ihre langjährige Freundin ihr ein verschwörerisches Grinsen zuwarf. Auch an der ehrgeizigen Trainerin prallte Thomas‘ eigenwilliger Charme offenbar ab.
»Eigentlich war es noch ganz erträglich«, gab Emi ihm zur Antwort. »Ein paar Minuten hätten wir es sicher noch ohne dich ausgehalten.«
Er lehnte sich vor und kam ihr dabei viel zu nahe.
Immer wieder überschritt er diese Art von Grenzen ohne jegliches Bewusstsein oder Schamgefühl. Vielleicht war eine freundliche Abfuhr nicht die Sprache, die er verstand. Sie wurde ungern grob, aber Emi hasste es, wenn man ungefragt derart in ihren persönlichen Wohlfühlbereich eindrang.
»Ach, komm, ich habe doch gesehen, dass ihr über mich gesprochen habt.«
Sein Minzatem trieb ihr die Tränen in die Augen und löste einen Fluchtreflex aus, den sie kaum unterdrücken konnte. Sie musste hier weg.
»So ein Pech, dass wir uns nicht weiter unterhalten können«, schnappte Emi. »Ich muss mich jetzt mal für meine Stunde fertigmachen.«
Mit jemandem, der aufrichtiges Interesse an ihr hatte, würde sie niemals so sprechen. Doch Thomas hatte kein Interesse. Er hatte ihr noch keine einzige persönliche Frage gestellt. Thomas interessierte sich nur für sich selbst und dieses Interesse teilte Emi nicht.
Sie entwand sich ihm und steuerte auf die breite Metalltreppe ins Obergeschoss des umgebauten Ladengeschäfts zu. Früher war das Studio mal ein Supermarkt gewesen, wie die alten Fotos an den Wänden im Eingangsbereich zeigten.
Im Zuge des Umbaus hatte man die früheren Wohnungen im zweiten Stock des Altbaus hinzugenommen und diese mit der freischwebenden Treppe an das Erdgeschoss angebunden. Die Mieter in den oberen Stockwerken hatten ein eigenes Treppenhaus mit separatem Zugang auf der Rückseite des Hauses.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte sie die Treppe hinauf, um schneller von Thomas wegzukommen. Die Tür zur Mitarbeiterumkleidekabine fiel hinter ihr zu und sie schüttelte das unangenehme Gefühl seiner Aufmerksamkeit ab.
Sie öffnete das Zahlenschloss ihres Spindes und beugte sich hinein, um ihre geliebte Matte aus Naturgummi herauszukramen. Zwar roch das Material des wertigen Markenprodukts stark nach Reifen, aber es verhinderte hervorragend, dass ihre Füße und Hände beim Training darauf rutschten, und sie vermeid den Kontakt zu Weichmachern.
Als sie die Tür wieder verriegelte, stand Thomas plötzlich über ihr. Wie in einem menschlichen Käfig fand sie sich zwischen seinen muskulösen Armen eingesperrt. Seine körperliche Überlegenheit wurde ihr bedrohlich bewusst. Sie waren allein in diesem kleinen Raum.
»Weißt du, ich glaube, du brauchst mal einen richtigen Mann, damit du nicht mehr so widerspenstig bist«, flüsterte er mit einer tiefen Stimme. Was er vielleicht für verführerisch hielt, empfand Emi als bedrohlich.
Entschlossen, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, straffte sie die Schultern und sah ihm fest in die Augen. Vor wilden Tieren sollte man schließlich nicht zurückschrecken. Sie war eine erwachsene Frau und wollte sich von einem Typen wie ihm nicht einschüchtern lassen.
Er würde kaum Gewalt gegen sie anwenden. Zumindest nicht hier.
»Wie wäre es denn heute Abend nach Ladenschluss?«, konkretisierte er seine Absichten. »Nur du und ich an einem lauschigen Plätzchen?«
Ihr Puls raste. Ein Engegefühl in der Brust schnürte ihr die Luft ab. Sie war kein Opfer und er würde sie zu keinem machen. Emi schluckte gegen den Druck an und befreite sich davon. Wie so vieles im Leben löste sie dieses Problem mit einer kraftvollen Entscheidung.
»Nein, danke, ich muss heute ganz dringend noch meine Briefmarken sortieren.«
Sie war selbst überrascht über ihre schlagfertige Antwort. Ehe er Zeit für eine Reaktion hatte, tauchte sie unter seinem Arm hinweg, schlüpfte aus der Umkleide und rauschte in Richtung Übungsraum davon.
Die ersten Schülerinnen waren schon eingetroffen. Froh nicht mehr allein zu sein, begrüßte sie die Anwesenden freundlich wie immer.
Niemandem fiel auf, dass ihr Lächeln an diesem Tag nicht echt war. Niemand bemerkte, dass ihre Gedanken noch um die merkwürdige Situation kreisten.
Normalerweise nahm sie sich selbst und ihre Gefühle ohne große Mühe völlig zurück, sobald sie in den Übungsraum trat. Doch heute wollte das nicht klappen. Was hatte Thomas sich dabei gedacht? Glaubte er, seine Anmache imponierte ihr mehr, wenn er sie bedrängte?
In ihrem Kopf ging sie die Möglichkeiten durch. Im besten Falle war es tatsächlich ein sehr missglückter Versuch einer Anmache und im schlechtesten Fall eine echte Drohung.
Sie wollte sich nicht ausmalen, was hätte passieren können, wenn sie ihm an einem anderen Ort begegnet wäre. Nachts auf einer dunklen Straße. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Sie musste diese Gedanken schleunigst verdrängen. So konnte sie unmöglich angemessen auf die Bedürfnisse ihrer Schüler eingehen. Sie selbst war hier nicht von Bedeutung.
Vor der Spiegelwand entrollte sie ihre Matte und war sie ausnahmsweise einmal froh darüber, dass die meisten Schüler sich verspäteten. Denn das bot ihr die Gelegenheit, sich noch ein wenig zu sammeln, bevor sie ihren Unterricht begann. Im Schneidersitz legte sie die Hände in den Schoss, schloss die Augen und atmete tief durch.
Die Ereignisse ließen sie dennoch nicht völlig los. Es war wohl am besten, wenn sie ihm in Zukunft komplett aus dem Weg ging. Wie sie das im Chrome Fitness bewerkstelligen sollte, war ihr zwar noch nicht klar, doch auf keinen Fall wollte sie jemals wieder mit ihm allein sein.
Vielleicht bildete sie sich das auch alles nur ein, aber sie wollte es nicht darauf ankommen lassen, nur um zu wissen, ob sie am Ende Recht behalten würde.
Die restlichen Schülerinnen waren mittlerweile eingetroffen und nahmen ihre Stammplätze ein. Emi stand auf, führte die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte sich andächtig vor ihrer Klasse.
»Namasté, meine Lieben. Schön, dass ihr hier seid!«
Mit knappen Worten erklärte sie, was sie für diese Unterrichtseinheit geplant hatte, und vergewisserte sich mit einem Blick in die Gesichter ihrer Schülerinnen, dass sie für diesen Abend den richtigen Schwerpunkt gelegt hatte. In dieser Sekunde trat Thomas in den Raum.
Ärger stieg in ihr auf. Wie viel wollte er ihr heute noch nehmen? Er zerstörte ihre Oase. Mit Sicherheit wusste er, wie sehr sie das aus dem Konzept brachte.
»Hi Mädels, lasst euch nicht stören, ich bin gleich wieder weg«, tönte er grinsend.
Er bahnte sich einen Weg durch die Matten der Kursteilnehmer, wobei ihm zu Emis Missfallen die Blicke einiger Frauen folgten. Ihm entging das Interesse natürlich nicht. Er taxierte die Schülerinnen und zwinkerte mindestens zweien von ihnen zu.
Sie atmete noch einmal tief durch. Fest entschlossen, sich nicht noch einmal von ihm aus der hart erarbeiteten Ruhe bringen zu lassen, konzentrierte sie sich erneut auf ihr Stundenkonzept.
»Beginnen wir mit dem Sonnengruß.«
Mit einer Handbewegung forderte sie die Anwesenden auf, sich entsprechend zu positionieren, und begann die einzelnen Positionen mit den zugehörigen Atemphasen anzusagen.
Die Gruppe wusste bereits, wie sie im Sonnengruß von einer Pose in die andere wechselten. Das war immer gleich. Lediglich der Mittelteil ihres Unterrichts variierte je nach Tagesthema.
Emi fand es schon unglaublich frech, dass Thomas überhaupt in ihre Stunde platzte. Doch er ließ sich sogar alle Zeit der Welt dabei. Noch schlimmer fand sie allerdings, dass darüber Wut in ihr aufstieg.
Warum überließ sie einem Fremden derart die Kontrolle über ihre Emotionen? Ihre Gefühle waren ihre ganz persönliche Sache. Etwas, das sie zu jeder Zeit selbst bestimmte. Das wollte sie sich von ihm nicht nehmen lassen.
Thomas wühlte in einem der Wagen mit Kleingeräten, die in einer Ecke des Raumes standen. Als er endlich gefunden hatte, was er suchte, präsentierte er Emi mit einem aufgesetzten Lächeln zwei Gewichtsmanschetten und verließ den Raum. Dies tat er jedoch nicht, ohne noch einmal einen abschätzenden Blick auf die Hintern der Schülerinnen zu werfen.
Am Ende der Stunde hatte Emi es entgegen ihrer eigenen Erwartungen geschafft, eine gewisse Entspannung im Unterricht zu finden.
Die letzten Minuten nutzte sie wie immer für Savasana, eine Entspannungsübung, bei der die Schülerinnen in vollkommener Stille der Stunde nachspürten.
Während die Teilnehmerinnen mit geschlossenen Augen auf ihren Matten lagen und sich auf die Atmung konzentrierten, saß Emi im Lotussitz vor der Gruppe und lächelte selig.
Dieser Teil der Stunde machte ihr immer am meisten Freude. Sie lauschte dem ruhigen Fluss des Atems ihrer Klasse. Lediglich das gelegentliche Scheppern der Gewichte aus den Geräteräumen störte die vollkommene Ruhe.
Für sie waren diese Momente so erholsam wie ein Urlaubstag am Meer. Sie stellte sich vor, wie Wellen an den Strand schwappten und ihr die wärmende Sonne ins Gesicht schien. Wenn sie selbst in dieser Pose lag, fühlte sie sich, als würde das Meer ihren Körper tragen.
Mit dem Frieden war es abrupt vorbei, als das Kreischen eines Radioweckers durch den Raum dröhnte. Es war laut und viel zu nah.
Nicht nur Emi fühlte sich gestört, auch einige Schülerinnen setzten sich auf und grummelten mürrisch. Im ersten Moment vermutete sie, dass eine von ihnen ihr Handy mitgebracht und vergessen hatte, den Ton auszuschalten. Aber keine von ihnen sah auch nur ansatzweise schuldbewusst in die eigene Tasche.
Die Ursache musste woanders liegen. Der nervtötende Ton passte auch nicht so recht zu dem, was sich normale Menschen als Klingelton einrichteten.
Die ersten Schülerinnen standen auf und packten ihre Sachen zusammen. Eine pfefferte ihre Matte auf den Stapel des Leihmaterials und stapfte aus dem Raum. Die anderen hatten sich zwar besser im Griff, aber auch sie verließen ärgerlich den Unterrichtsraum.
Emi war noch immer starr vor Schreck, doch langsam mischte sich ein weiteres Gefühl in ihren emotionalen Cocktail. An ihren Schläfen kroch eine Vorahnung von Kopfschmerzen hinauf. Da war sie wieder, diese unangenehme Anspannung in Schultern und Nacken, die sie zu Beginn der Unterrichtsstunde nur mühsam abgeschüttelt hatte.
Sie folgte ihrem Gehör und bewegte sich in die Richtung, aus der das Klingeln kam. Was sie fand, überraschte sie kaum noch. Der Ursprung des Lärms lag abseits der Schülerinnen in genau jenem Gerätewagen, in dem Thomas vor knapp einer Stunde gekramt hatte.
Zwischen den Gewichten fand sie ein Smartphone. Sein Smartphone. Da war sie absolut sicher. Das Display zeigte an, dass ein Timer abgelaufen war. Dieser Typ war doch nicht ganz normal!
Emi drückte den Timer weg und sah sich im Raum um. Keine ihrer Schülerinnen war mehr da. Die lodernde Wut in ihrem Bauch ließ sich kaum beherrschen. Sie trieb ihr Tränen in die Augen.
Am liebsten hätte sie laut geschrien, aber das konnte sie sich hier nicht erlauben. Sie hasste diesen Kerl abgrundtief. Die Intensität dieses Gefühls traf sie wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel.
Bis zu diesem Tag hatte sie ihn nur nervig und unangenehm gefunden. Aber was sie nun fühlte, ging weit darüber hinaus. Emi konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so intensiv von negativen Gefühlen überrollt worden war.
Keine Spur mehr von Om oder Shanti, nur noch heiße Wut.
Mit ihrer Matte unter dem Arm und dem Telefon in der Hand trat sie aus dem Raum. Diesen Akt der Sabotage würde sie ihm nicht durchgehen lassen. Mit wachsamem Blick schlich sie durch das Studio.
Lange musste sie nicht nach ihm suchen. Er stand in einer Gruppe muskulöser Männer im Erdgeschoss an der Getränkebar bei Vanessa. Die Auszubildende, ein junges dunkelhäutiges Mädchen, deren Eltern aus Zentralafrika stammten, kümmerte sich um die Getränkewünsche und war sichtlich überfordert mit dem Andrang der polternden Meute.
Der Ton war rau und doch der Möchtegern-Weiberheld tat keinen Handschlag, um dem Mädchen zu helfen. Sie ging betont langsam die Treppe runter, weil sie spürte, dass zahlreiche Augenpaare auf sie gerichtet waren. Kaum dass sie die Gruppe Männer erreichte, schwieg die Meute wie auf ein geheimes Signal hin.
Alle starrten sie an. Sogar Vanessa hinter der Bar hielt inne und sah von der plötzlichen Stille beeindruckt zu ihr herüber. Einige der Zuschauer grinsten blöde, als wüssten sie bereits, was als Nächstes kam.
Vielleicht hatte er ja vor ihnen mit seinem grandiosen Streich geprahlt. Emi hielt das Telefon in die Höhe. Sie zählte nicht gerade zu den kleinsten Frauen und musste deshalb kaum zu Thomas aufschauen.
»Na, vermisst du etwas?«, fragte sie mit eisiger Stimme.
Thomas besaß die Frechheit, die Lippen zu einem Schmunzeln zu verziehen. Emi schüttelte verachtend den Kopf.
Ja, wirklich sehr witzig.
Sie würde der Sache jetzt ein für alle Mal ein Ende machen. Gleich würde er nichts mehr zu lachen haben.
»Oh, mein Handy«, heuchelte er. »Schön, dass du es gefunden hast.«
»Willst du wissen, wo ich es gefunden habe?«
»Ja klar, wo war es denn?«, stellte er sich dumm.
»Mit eingeschaltetem Timer im Gerätewagen in meinem Unterrichtsraum. Die Beschwerden über die Unterrichtsstunde, die bei David eingehen werden, habe ich allein dir zu verdanken. Spitzenjob, Thomas!«
Der Zorn über sein breiter werdendes Grinsen drohte, sie vollends zu übermannen. Nur mühsam hielt sie ihre Sinne beisammen.
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, presste Emi hervor.
»Ich weiß gar nicht, was du meinst«, tönte er süffisant.
Aus seiner künstlich aufgepumpten Gefolgschaft mit dem emotionalen IQ einer Wassermelone platzte ein hämisches Lachen, das wie das Niesen einer Bulldogge klang. Sie konnte das Geräusch keinem speziellen Mann zuordnen. Viel zu sehr war sie auf Thomas fixiert.
Jetzt hatte er endlich ihre heiß ersehnte Aufmerksamkeit, doch Emi vermutete, dass er sich das ein wenig anders vorgestellt hatte.
»Dann hast du also keinen Timer gestellt, um meinen Unterricht zu sabotieren?«
Sie hielt das Gerät fest umklammert wie einen Anker. Doch Thomas zuckte nur mit den Schultern.
»Und wenn es so wäre?«, provozierte er sie weiter. »Würde mir die kleine Yogamaus dann den Arsch versohlen?«
Er verzog den Mund zu einem Schmollen und die Meute grölte vor Lachen. Sämtliche Beherrschung fiel nun von ihr ab. Seinen verdammten Hintern wollte sie nicht mal mit einem Müllpieker berühren.
»Sprich mich nie wieder an und wage es nicht, mich noch einmal anzufassen, sonst breche ich dir beide Arme«, zischte sie und schmetterte mit einer einzigen kraftvollen Bewegung das Telefon zu Boden.
Trotz des anhaltenden Gelächters hörte sie, wie das Display in tausend Teile zersprang.
»Bist du völlig behindert?«
Jegliche Farbe wich aus Thomas‘ Gesicht. Sogar sein Hofstaat verstummte. Auch Emi schwieg. Sein Gesichtsausdruck machte das Ganze nur noch besser. Beinahe hätte sie laut gelacht. Einerseits befriedigte der Akt der Zerstörung sie auf eine ungewohnte Weise. Andererseits erschreckte es sie, dass sie zu dieser Tat noch immer fähig war.
»Du scheißbescheuerte Schlampe!«, wütete Thomas weiter.
In diesem Augenblick trat der Studioleiter aus seinem Büro, dessen Eingang sich hinter der Bar befand. Er musste von drinnen alles mit angehört haben.
David füllte mit seinen breiten Schultern fast den kompletten Türrahmen aus und musste sich nicht künstlich aufpumpen, um Autorität auszustrahlen. Er war Ende dreißig und zog aufgrund seiner sportlichen Vergangenheit ein ganz besonderes Publikum an.
»Was ist hier los?«, wütend schaute er zwischen Thomas und ihr hin und her. »Sagt mal, spinnt ihr beide, hier so ein Theater zu machen?«
Sein eisiger Blick duldete keine Ausflüchte. Emi war jedoch immer noch so aufgebracht, dass sie ausnahmsweise einmal nicht darunter einknickte.
Für diese Sache würde sie kämpfen, auch wenn ihr klar war, dass ihre Reaktion auf Thomas dummen Streich unverhältnismäßig war. Er hatte eine Strafe verdient.
»Diese untervögelte Zicke hat mein Handy gecrasht«, platzte Thomas sofort heraus.
Natürlich vergaß er, zu erwähnen, was dazu geführt hatte. Stattdessen starrte er sie hasserfüllt an.
Eine triumphierende Stimme flüsterte ihr ins Ohr, dass sie nun wenigstens nicht mehr fürchten musste, von ihm angemacht zu werden.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte, um ihr Lachen zu verbergen. Noch immer waren alle Augen auf sie gerichtet.
»Was guckt ihr denn so?«, fragte sie amüsiert.
Unter normalen Umständen wäre ihr spätestens jetzt diese Situation unglaublich peinlich gewesen, doch das Adrenalin in ihrem Körper ließ diese Reaktion nicht zu. Erst langsam ebbte die Wut ab und ließ rationalem Denken wieder Raum.
Als hätten sie plötzlich dringende Dinge zu erledigen, verschwanden die Muskelprotze von der Theke und zerstreuten sich auf die Trainingsflächen. Auch die Auszubildende war verschwunden und hatte die Drei allein zurückgelassen.
David starrte sie an, als erwartete er eine Rechtfertigung für diese Anschuldigung.
»Er hat meinen Unterricht gestört und meine Schüler mit einem dummen Streich verärgert«, erklärte sie ihre Reaktion gefasst und hob das Kinn. »Das muss ich mir nicht bieten lassen!«
Der Studioleiter drehte den Kopf und richtete die nächste Frage an den zweiten Übeltäter.
»Thomas, stimmt das, was sie sagt?«
Das Recht war auf ihrer Seite. Thomas hatte viel mehr Mist gebaut. Sein Verhalten war geschäftsschädigend.
»Ja, aber das war im Grunde nichts. Sie muss deshalb doch nicht so ausrasten«, spielte er die Situation runter. »Ich kann doch nichts dafür, dass die Alte keinen Sex hat.«
David schnitt ihm das Wort ab und machte dem Theater ein Ende.
»Das reicht jetzt. Kommst du bitte mal in mein Büro?«
Ein winziges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, vorbei an der Wut und dem Hass. Endlich bekam der Prolet, was er verdiente. Vielleicht wurde er sogar gefeuert und sie musste sich gar nicht erst überlegen, wie sie ihm künftig aus dem Weg gehen konnte.
Sie wartete darauf, dass Thomas der Aufforderung folgte, doch er rührte sich nicht vom Fleck.
»Emi, kommst du bitte?«, wiederholte David mit Nachdruck.
Das war einfach nicht zu fassen. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie schockiert sie über diese unerwartete Wendung war. Ihre Beine trugen sie wie auf Wolken in das Büro. Inzwischen dämmerte ihr, dass sie diese Schlacht nicht für sich entschieden hatte.
Vorsichtshalber schloss sie die Tür hinter sich. Es musste schließlich niemand mithören, wie sie zur Schnecke gemacht wurde. David stand hinter seinem Schreibtisch und legte die Hände auf die Rückenlehne des Drehstuhls.
»So, jetzt mal im Ernst, Emi. Was sollte das?«
Die Euphorie des Sieges wich einem Kater. Wie hatte sie nur so ausrasten können?
Keine Frage, der Typ war mehr als nervig, aber sie war seit Jahren nicht so aus der Haut gefahren. Er musste etwas an sich haben, dass sie in ein Verhaltensmuster fallen ließ, von dem sie glaubte, es bereits seit ihrer Jugend hinter sich gelassen zu haben.
»Wenn er mich bedrängt oder mir blöde Streiche spielt, sagt keiner was«, motzte sie. »Aber wenn ich mich mal wehre, dann schreitest du plötzlich ein und stellst dich auf seine Seite, ja?«
Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte wie die eines kleinen Mädchens, das nicht zugeben wollte, dass es Mist gebaut hatte.
Jetzt war es an David, über sie den Kopf zu schütteln. Entweder wollte er sie nicht verstehen oder er konnte es tatsächlich nicht. Seine Standpauke ließ keinen Zweifel daran, dass er sich eine andere Yogalehrerin suchen würde, wenn sie keinen Weg fand, in Zukunft mit Thomas zurechtzukommen.
Das erschien ihr jedoch nach dem heutigen Höhepunkt nicht mehr möglich. David urteilte nicht fair. Thomas war eine im günstigsten Fall eine Plage und im schlimmsten Fall eine Gefahr.
Unter diesen Umständen konnte sie nicht hierher zurückkehren. Wie sich das auf ihre finanzielle Stabilität auswirkte, konnte sie sich jetzt schon ausmalen…