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Moorkamps Fälle Sammelband

Drei charmante Krimis in einem eBook

von Erin J. Steen (Autor:in)
680 Seiten
Reihe: Moorkamps Fälle, Band 4

Zusammenfassung

Yoga könnte so entspannend sein, wenn da nicht ständig diese Leichen wären... Unter Verdacht: Moorkamps erster Fall Nichts wünscht sich Yogalehrerin Emi Moorkamp mehr, als mit ihrer großen Leidenschaft ihren Lebensunterhalt verdienen zu dürfen. Doch das ist gar nicht so einfach. Als dann auch noch ausgerechnet der Kollege stirbt, mit dem Emi im Streit liegt, findet sie sich als Hauptverdächtige in dem Fall wieder. Alle Indizien sprechen gegen sie, doch die junge Berlinerin weiß ihre Freunde auf ihrer Seite. Sie macht sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem wahren Täter. Aber wer findet hier eigentlich wen? Sündenfeuer: Moorkamps zweiter Fall Yogalehrerin Emi Moorkamp möchte sich nicht mehr verbiegen. Von einem Seminar in der ländlichen Idylle Kanadas erhofft sie sich neue Impulse. Doch als mitten in der Nacht ein Feuer im Gästehaus ausbricht, findet sie statt der erhofften Erleuchtung eine Leiche und schnell wird klar: Es handelt sich um Mord! Mit Hilfe ihrer neuen Freundin Ella und dem attraktiven Polizisten Rick will Emi dem Täter auf die Spur kommen. Gemeinsam suchen sie nach der Nadel im Aschehaufen und stoßen dabei auf mehr Geheimnisse als erwartet. Böser Geist: Moorkamps dritter Fall Mit einem frischen Businesskonzept kehrt Yogalehrerin Emi Moorkamp zurück ins sommerliche Berlin und stürzt sich kopfüber in die Arbeit. Endlich scheinen sich ihre Wünsche zu erfüllen. Doch während ihre Freundin und Kriminalkommissarin Charlotte in ihrem aktuellen Fall im Trüben fischt, mischt sich neben zahlreichen neuen Klienten auch ein böser Geist in Emis Leben und bringt es gehörig durcheinander. Ein Toter in Emis Hausflur stellt Charlotte und Emi vor ein Rätsel. Werden die beiden Freundinnen den Täter finden, bevor es zu spät ist?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DAS BUCH

Die ersten drei Fälle für Yogalehrerin Emi Moorkamp in einem Sammelband.

Über die Autorin

Erin J. Steen lebt und arbeitet in Niedersachsen, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Haus und Garten teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und zwei tierischen Gefährten.

Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen.

Für jeden, der den Mut findet, seine Träume wahr zu machen.

PROLOG

UNERWARTETER NIEDERSCHLAG

Zufrieden checkte er die jüngste Nachricht auf dem geborstenen Display seines Smartphones und grinste. Es sah gut aus für ihn. Die Dinge entwickelten sich definitiv in die richtige Richtung.

Vielleicht würde er ein paar alte Zöpfe abschneiden müssen, um all die neuen Möglichkeiten ausschöpfen zu können, aber das war es sicher wert.

Im Halbdunkel seines Arbeitsplatzes klopfte er sich auf die Schenkel, um die müden Muskeln zu wecken. Es wurde Zeit, dass er für heute Feierabend machte. Das Tor war automatisch heruntergefahren und sicherte den Eingang. Trotzdem würde er noch abschließen müssen.

Draußen regnete es wie aus Eimern und ihm graute vor dem Weg bis zur Bahn. Einen Schirm hatte er natürlich nicht dabei.

Er schwang sich vom Barhocker, von dem er wegen der Erschöpfung vom Nachmittagstraining nur schwer wieder herunter kam. Das neue Programm hatte es echt in sich. Seine Muskeln waren fix und fertig. Trotzdem musste er noch einmal ins Obergeschoss, um die letzten Erledigungen zu machen.

Ein Klopfen an der Hintertür ließ ihn mitten auf der Metalltreppe innehalten. Er machte kehrt und öffnete die schwere Notausgangstür, durch die er den Laden für gewöhnlich verließ, wenn er fertig war.

»Ich bin gleich so weit«, erklärte er und wandte sich ab, um die letzten Aufräumarbeiten für den Tag abzuschließen. »Sekunde noch.«

Sein kleiner Streich heute Abend war ein wenig nach hinten losgegangen, sodass er noch Ordnung in die Gruppenräume bringen musste, damit alles am nächsten Morgen wieder an seinem Platz war, wenn die Frühschicht kam.

Die verklemmte Yogatussi verstand einfach keinen Spaß. Dabei würde er sie so gern mal ihr hübsches Gesicht im Rausch der Lust sehen. Zumindest heute wurde daraus wohl nichts mehr.

Erst als er sich im kleinen Gruppenraum aus der tiefen Hocke vor dem Gerätewagen wieder hoch mühte, merkte er, dass er nicht allein im Raum war.

»Ich habe doch gesagt, ich bin gleich da«, murrte er.

Doch das war das letzte, was er sagte. Kaum hatte er sich wieder der Aufgabe zugewandt, traf ihn etwas Schweres am Kopf und er sank zu Boden. Endlich konnten seine Muskeln ruhen.

KAPITEL EINS

EIN MACHO SONNT SICH IM RAMPENLICHT

EMI

Als sie sich an der Getränkebar des Fitnessstudios in der Torstraße niederließ, konnte sie zum ersten Mal an diesem Tag durchatmen. Bislang war es für sie nicht gerade ideal gelaufen.

Trotzdem freute sie sich auf die Unterrichtsstunde, die sie in fünfzehn Minuten beginnen durfte. Nach zahlreichen Rückschlägen, empfand Emi es nun fast schon als Privileg, im Chrome Fitness Yoga unterrichten zu dürfen.

So viele andere Studios hatten ihr in den vergangenen Monaten eine Absage erteilt. Dabei hatte sie es sich so schön ausgemalt, sich mit ihrem Hobby selbstständig zu machen.

Leider musste sie sich eingestehen, dass das viel einfacher klang, als es wirklich war. Die guten Zeiten, in denen Yogalehrer überall begehrt waren, gehörten der Vergangenheit an.

Eine Flut von Wochenend-Lehrerworkshops machte alle Neulinge binnen weniger Tage zu absoluten Experten auf dem Gebiet. So jedenfalls die landläufige Meinung der Studiomanager, wenn sie ihr mitteilten, dass sie keine Stunden an Selbstständige outsourcten. Zu teuer. Lieber schickten sie einen Angestellten auf eins dieser Seminare.

Und das Schlimmste an dieser Einschätzung war, dass das für die Art von Yogaunterricht, den sich die Betreiber vorstellten, sogar stimmte. Jedes Yoga war anders. Es gab hunderte Stilrichtungen, für die es spezielle Ausbildungen gab.

Yoga war mehr als Sport. Es ging um eine ganzheitliche Einstellung zum Leben, doch die war in den Fitnessstudios Berlins nicht gefragt. Hier ging es um Muskelaufbau und Gewichtsreduktion. Diese Werte ließen sich an die zahlende Kundschaft verkaufen.

Ihre Studienfreundin Isa unterhielt sich wenige Schritte entfernt mit einem ihrer Klienten – einem Ex-Profisportler, der vor wenigen Wochen aus der Reha gekommen war. Diesen Auftrag hatte Emi nur dank ihr und ihrem fantastischen Ruf bekommen.

Isa hatte sich bei David, dem Besitzer des Chrome Fitness, für sie eingesetzt. Doch der Manager wurde nicht müde zu betonen, dass sie unter Beobachtung stand.

Keine Esoterik, nur Sport.

Das war Davids klarer Anspruch und Emi wusste, dass sie am Anfang Kompromisse machen musste, um das Geld für die Miete aufzutreiben.

Wenn es eines Tages besser lief – und sie war überzeugt, diese Zeit würde unweigerlich kommen – wollte sie ihre eigenen Regeln durchsetzen. Vielleicht nicht hier, aber es würde einen passenden Ort geben, an den sie und ihre Werte passten.

Isa war gleichzeitig ihre Rettung und ihre Inspiration gewesen. Als sie sich kennenlernten, hatten sie beide gerade ihr Medizinstudium begonnen. Nach dem ersten Jahr schmiss Isa hin und wechselte den Studiengang.

Sport war schon immer ihre Leidenschaft gewesen und sie hatte den Mut gefasst, genau das zu tun, was sie liebte. Obwohl der Arztberuf ihr ein höheres Grundgehalt versprach, wagte sie den Absprung. Mittlerweile war sie eine gefragte Personal Trainerin für Berliner Leistungssportler, die einen gezielten Muskelaufbau brauchten oder sich von einer Verletzung erholten.

Für ihre Berufung war es zu Isas Glück unerheblich, dass sie lieber ungewöhnlich aussah. Schon damals an der Uni hatte sie einzelne Tattoos auf den Armen gehabt.

Inzwischen war ihr Körper ein Gesamtkunstwerk aus Tinte und Athletik. Bei der Arbeit trug sie Kleidung, die diese Besonderheit eher betonte als verdeckte. Es war zu ihrem Markenzeichen geworden.

An diesem Tag bot ein schwarzes Tanktop mit dem Aufdruck des Chrome Fitness den Ausblick auf Teile des Kunstwerks. Abstrakte Formen schlängelten sich die Arme hinauf zu den Schultern und verschwanden verheißungsvoll unter dem locker sitzenden Stoff. Auch im Halsausschnitt war etwas dunkle Farbe zu erahnen.

Im Arztberuf hätte sie diese Form der Körperkunst niemals so praktizieren können. Dieser Beruf verlangte ein konservatives Aussehen. Immer noch. Es gab zu viele ältere Patienten, die sich durch auffällige Tattoos eingeschüchtert fühlten.

Hier musste Isa sich für ihre Arbeit nicht verbiegen.

Emi wollte das gleiche Privileg auch für sich selbst. Sie hatte zwar ihr Studium und das praktische Jahr hinter sich gebracht. Sicher hätte sie auch eine Anstellung in einem Krankenhaus gefunden, aber das war nicht, was sie wirklich wollte.

Die blonde Fitnesstrainerin bestellte dem Sportler noch einen Eiweißshake bei Vanessa an der Theke und wandte sich anschließend Emi zu.

»Na, wie läuft‘s?«, fragte sie wie immer verboten gut gelaunt.

»Eher mäßig bis schlecht, aber was soll‘s?«

Es war die Wahrheit, aber diese Startschwierigkeiten würden sie nicht umbringen. Sie nagte längst nicht am Hungertuch und zur Not würden ihre Eltern liebend gern aushelfen. Nur ihr Ego litt unter den ständigen Absagen.

Doch sie war noch nicht bereit deshalb aufzugeben. Sie probierte es erst seit drei Monaten und manchmal brauchte das Universum länger, bis sich der Erfolg einstellte.

Isa seufzte und zog die Brauen hoch. Emi hatte sie nie danach gefragt, aber sie konnte sich vorstellen, dass auch die Fitnesstrainerin hart für ihre Stellung gearbeitet hatte.

»Wenn ich irgendwie helfen kann, sag einfach bescheid«, bot sie an.

»Danke, das weiß ich zu schätzen.«

»Gibt‘s denn wenigstens mit den Männern mal was Neues zu berichten?«

Isa war so erfrischend direkt, dass ein Eimer Eiswasser gegen sie wie ein warmes Bad wirkte. Das war einer der Gründe, warum besonders Profisportler ihre Dienste so gern in Anspruch nahmen. Sie schätzten direkte Ansagen.

»Männer, was war das nochmal?«, feixte Emi achselzuckend.

Ihre letzte Beziehung war schon so lange her, dass sie sich kaum noch daran erinnerte, wie es sich anfühlte, das eigene Leben mit jemandem zu teilen.

»Wenn du da einen Auffrischungskurs brauchst, kannst du ja mal unseren Studio-Casanova um eine Audienz bitten«, scherzte Isa und nickte in Richtung Treppe. »Da kommt er gerade.«

Emi musste sich nicht umdrehen, um zu erfahren, von wem sie sprach. Schon von Weitem roch sie das billige Rasierwasser, das diesen Mann wie eine persönliche Regenwolke begleitete. Thomas war so ziemlich das Gegenteil von dem, was sie sich unter einem Traummann vorstellte.

Dabei war es nicht einmal sein Aussehen, das sie so abstoßend fand, sondern viel mehr sein Verhalten. Er führte sich auf, als könnte er jede Frau auf dem Planeten mit einem seiner Anmachsprüche um den Finger wickeln. Aber das konnte er nicht.

Spätestens bei ihr biss er auf Granit und sie bezweifelte, dass sie die Einzige war, die darauf nicht ansprang. Er hatte bereits mehrfach probiert, bei ihr zu landen, doch sie hatte ihn immer wieder freundlich in die Schranken gewiesen.

»Hallo ihr Süßen, habt ihr mich schon vermisst?«, fragte er süffisant grinsend.

Sie konnte gerade noch ein genervtes Schielen unterdrücken, während Thomas sich zwischen sie schob. Isa entging ihre Reaktion dennoch nicht. Emis Laune besserte sich schlagartig, als sie sah, wie ihre langjährige Freundin ihr ein verschwörerisches Grinsen zuwarf. Auch an der ehrgeizigen Trainerin prallte Thomas‘ eigenwilliger Charme offenbar ab.

»Eigentlich war es noch ganz erträglich«, gab Emi ihm zur Antwort. »Ein paar Minuten hätten wir es sicher noch ohne dich ausgehalten.«

Er lehnte sich vor und kam ihr dabei viel zu nahe.

Immer wieder überschritt er diese Art von Grenzen ohne jegliches Bewusstsein oder Schamgefühl. Vielleicht war eine freundliche Abfuhr nicht die Sprache, die er verstand. Sie wurde ungern grob, aber Emi hasste es, wenn man ungefragt derart in ihren persönlichen Wohlfühlbereich eindrang.

»Ach, komm, ich habe doch gesehen, dass ihr über mich gesprochen habt.«

Sein Minzatem trieb ihr die Tränen in die Augen und löste einen Fluchtreflex aus, den sie kaum unterdrücken konnte. Sie musste hier weg.

»So ein Pech, dass wir uns nicht weiter unterhalten können«, schnappte Emi. »Ich muss mich jetzt mal für meine Stunde fertigmachen.«

Mit jemandem, der aufrichtiges Interesse an ihr hatte, würde sie niemals so sprechen. Doch Thomas hatte kein Interesse. Er hatte ihr noch keine einzige persönliche Frage gestellt. Thomas interessierte sich nur für sich selbst und dieses Interesse teilte Emi nicht.

Sie entwand sich ihm und steuerte auf die breite Metalltreppe ins Obergeschoss des umgebauten Ladengeschäfts zu. Früher war das Studio mal ein Supermarkt gewesen, wie die alten Fotos an den Wänden im Eingangsbereich zeigten.

Im Zuge des Umbaus hatte man die früheren Wohnungen im zweiten Stock des Altbaus hinzugenommen und diese mit der freischwebenden Treppe an das Erdgeschoss angebunden. Die Mieter in den oberen Stockwerken hatten ein eigenes Treppenhaus mit separatem Zugang auf der Rückseite des Hauses.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte sie die Treppe hinauf, um schneller von Thomas wegzukommen. Die Tür zur Mitarbeiterumkleidekabine fiel hinter ihr zu und sie schüttelte das unangenehme Gefühl seiner Aufmerksamkeit ab.

Sie öffnete das Zahlenschloss ihres Spindes und beugte sich hinein, um ihre geliebte Matte aus Naturgummi herauszukramen. Zwar roch das Material des wertigen Markenprodukts stark nach Reifen, aber es verhinderte hervorragend, dass ihre Füße und Hände beim Training darauf rutschten, und sie vermeid den Kontakt zu Weichmachern.

Als sie die Tür wieder verriegelte, stand Thomas plötzlich über ihr. Wie in einem menschlichen Käfig fand sie sich zwischen seinen muskulösen Armen eingesperrt. Seine körperliche Überlegenheit wurde ihr bedrohlich bewusst. Sie waren allein in diesem kleinen Raum.

»Weißt du, ich glaube, du brauchst mal einen richtigen Mann, damit du nicht mehr so widerspenstig bist«, flüsterte er mit einer tiefen Stimme. Was er vielleicht für verführerisch hielt, empfand Emi als bedrohlich.

Entschlossen, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, straffte sie die Schultern und sah ihm fest in die Augen. Vor wilden Tieren sollte man schließlich nicht zurückschrecken. Sie war eine erwachsene Frau und wollte sich von einem Typen wie ihm nicht einschüchtern lassen.

Er würde kaum Gewalt gegen sie anwenden. Zumindest nicht hier.

»Wie wäre es denn heute Abend nach Ladenschluss?«, konkretisierte er seine Absichten. »Nur du und ich an einem lauschigen Plätzchen?«

Ihr Puls raste. Ein Engegefühl in der Brust schnürte ihr die Luft ab. Sie war kein Opfer und er würde sie zu keinem machen. Emi schluckte gegen den Druck an und befreite sich davon. Wie so vieles im Leben löste sie dieses Problem mit einer kraftvollen Entscheidung.

»Nein, danke, ich muss heute ganz dringend noch meine Briefmarken sortieren.«

Sie war selbst überrascht über ihre schlagfertige Antwort. Ehe er Zeit für eine Reaktion hatte, tauchte sie unter seinem Arm hinweg, schlüpfte aus der Umkleide und rauschte in Richtung Übungsraum davon.

Die ersten Schülerinnen waren schon eingetroffen. Froh nicht mehr allein zu sein, begrüßte sie die Anwesenden freundlich wie immer.

Niemandem fiel auf, dass ihr Lächeln an diesem Tag nicht echt war. Niemand bemerkte, dass ihre Gedanken noch um die merkwürdige Situation kreisten.

Normalerweise nahm sie sich selbst und ihre Gefühle ohne große Mühe völlig zurück, sobald sie in den Übungsraum trat. Doch heute wollte das nicht klappen. Was hatte Thomas sich dabei gedacht? Glaubte er, seine Anmache imponierte ihr mehr, wenn er sie bedrängte?

In ihrem Kopf ging sie die Möglichkeiten durch. Im besten Falle war es tatsächlich ein sehr missglückter Versuch einer Anmache und im schlechtesten Fall eine echte Drohung.

Sie wollte sich nicht ausmalen, was hätte passieren können, wenn sie ihm an einem anderen Ort begegnet wäre. Nachts auf einer dunklen Straße. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie musste diese Gedanken schleunigst verdrängen. So konnte sie unmöglich angemessen auf die Bedürfnisse ihrer Schüler eingehen. Sie selbst war hier nicht von Bedeutung.

Vor der Spiegelwand entrollte sie ihre Matte und war sie ausnahmsweise einmal froh darüber, dass die meisten Schüler sich verspäteten. Denn das bot ihr die Gelegenheit, sich noch ein wenig zu sammeln, bevor sie ihren Unterricht begann. Im Schneidersitz legte sie die Hände in den Schoss, schloss die Augen und atmete tief durch.

Die Ereignisse ließen sie dennoch nicht völlig los. Es war wohl am besten, wenn sie ihm in Zukunft komplett aus dem Weg ging. Wie sie das im Chrome Fitness bewerkstelligen sollte, war ihr zwar noch nicht klar, doch auf keinen Fall wollte sie jemals wieder mit ihm allein sein.

Vielleicht bildete sie sich das auch alles nur ein, aber sie wollte es nicht darauf ankommen lassen, nur um zu wissen, ob sie am Ende Recht behalten würde.

Die restlichen Schülerinnen waren mittlerweile eingetroffen und nahmen ihre Stammplätze ein. Emi stand auf, führte die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte sich andächtig vor ihrer Klasse.

»Namasté, meine Lieben. Schön, dass ihr hier seid!«

Mit knappen Worten erklärte sie, was sie für diese Unterrichtseinheit geplant hatte, und vergewisserte sich mit einem Blick in die Gesichter ihrer Schülerinnen, dass sie für diesen Abend den richtigen Schwerpunkt gelegt hatte. In dieser Sekunde trat Thomas in den Raum.

Ärger stieg in ihr auf. Wie viel wollte er ihr heute noch nehmen? Er zerstörte ihre Oase. Mit Sicherheit wusste er, wie sehr sie das aus dem Konzept brachte.

»Hi Mädels, lasst euch nicht stören, ich bin gleich wieder weg«, tönte er grinsend.

Er bahnte sich einen Weg durch die Matten der Kursteilnehmer, wobei ihm zu Emis Missfallen die Blicke einiger Frauen folgten. Ihm entging das Interesse natürlich nicht. Er taxierte die Schülerinnen und zwinkerte mindestens zweien von ihnen zu.

Sie atmete noch einmal tief durch. Fest entschlossen, sich nicht noch einmal von ihm aus der hart erarbeiteten Ruhe bringen zu lassen, konzentrierte sie sich erneut auf ihr Stundenkonzept.

»Beginnen wir mit dem Sonnengruß.«

Mit einer Handbewegung forderte sie die Anwesenden auf, sich entsprechend zu positionieren, und begann die einzelnen Positionen mit den zugehörigen Atemphasen anzusagen.

Die Gruppe wusste bereits, wie sie im Sonnengruß von einer Pose in die andere wechselten. Das war immer gleich. Lediglich der Mittelteil ihres Unterrichts variierte je nach Tagesthema.

Emi fand es schon unglaublich frech, dass Thomas überhaupt in ihre Stunde platzte. Doch er ließ sich sogar alle Zeit der Welt dabei. Noch schlimmer fand sie allerdings, dass darüber Wut in ihr aufstieg.

Warum überließ sie einem Fremden derart die Kontrolle über ihre Emotionen? Ihre Gefühle waren ihre ganz persönliche Sache. Etwas, das sie zu jeder Zeit selbst bestimmte. Das wollte sie sich von ihm nicht nehmen lassen.

Thomas wühlte in einem der Wagen mit Kleingeräten, die in einer Ecke des Raumes standen. Als er endlich gefunden hatte, was er suchte, präsentierte er Emi mit einem aufgesetzten Lächeln zwei Gewichtsmanschetten und verließ den Raum. Dies tat er jedoch nicht, ohne noch einmal einen abschätzenden Blick auf die Hintern der Schülerinnen zu werfen.

* * *

Am Ende der Stunde hatte Emi es entgegen ihrer eigenen Erwartungen geschafft, eine gewisse Entspannung im Unterricht zu finden.

Die letzten Minuten nutzte sie wie immer für Savasana, eine Entspannungsübung, bei der die Schülerinnen in vollkommener Stille der Stunde nachspürten.

Während die Teilnehmerinnen mit geschlossenen Augen auf ihren Matten lagen und sich auf die Atmung konzentrierten, saß Emi im Lotussitz vor der Gruppe und lächelte selig.

Dieser Teil der Stunde machte ihr immer am meisten Freude. Sie lauschte dem ruhigen Fluss des Atems ihrer Klasse. Lediglich das gelegentliche Scheppern der Gewichte aus den Geräteräumen störte die vollkommene Ruhe.

Für sie waren diese Momente so erholsam wie ein Urlaubstag am Meer. Sie stellte sich vor, wie Wellen an den Strand schwappten und ihr die wärmende Sonne ins Gesicht schien. Wenn sie selbst in dieser Pose lag, fühlte sie sich, als würde das Meer ihren Körper tragen.

Mit dem Frieden war es abrupt vorbei, als das Kreischen eines Radioweckers durch den Raum dröhnte. Es war laut und viel zu nah.

Nicht nur Emi fühlte sich gestört, auch einige Schülerinnen setzten sich auf und grummelten mürrisch. Im ersten Moment vermutete sie, dass eine von ihnen ihr Handy mitgebracht und vergessen hatte, den Ton auszuschalten. Aber keine von ihnen sah auch nur ansatzweise schuldbewusst in die eigene Tasche.

Die Ursache musste woanders liegen. Der nervtötende Ton passte auch nicht so recht zu dem, was sich normale Menschen als Klingelton einrichteten.

Die ersten Schülerinnen standen auf und packten ihre Sachen zusammen. Eine pfefferte ihre Matte auf den Stapel des Leihmaterials und stapfte aus dem Raum. Die anderen hatten sich zwar besser im Griff, aber auch sie verließen ärgerlich den Unterrichtsraum.

Emi war noch immer starr vor Schreck, doch langsam mischte sich ein weiteres Gefühl in ihren emotionalen Cocktail. An ihren Schläfen kroch eine Vorahnung von Kopfschmerzen hinauf. Da war sie wieder, diese unangenehme Anspannung in Schultern und Nacken, die sie zu Beginn der Unterrichtsstunde nur mühsam abgeschüttelt hatte.

Sie folgte ihrem Gehör und bewegte sich in die Richtung, aus der das Klingeln kam. Was sie fand, überraschte sie kaum noch. Der Ursprung des Lärms lag abseits der Schülerinnen in genau jenem Gerätewagen, in dem Thomas vor knapp einer Stunde gekramt hatte.

Zwischen den Gewichten fand sie ein Smartphone. Sein Smartphone. Da war sie absolut sicher. Das Display zeigte an, dass ein Timer abgelaufen war. Dieser Typ war doch nicht ganz normal!

Emi drückte den Timer weg und sah sich im Raum um. Keine ihrer Schülerinnen war mehr da. Die lodernde Wut in ihrem Bauch ließ sich kaum beherrschen. Sie trieb ihr Tränen in die Augen.

Am liebsten hätte sie laut geschrien, aber das konnte sie sich hier nicht erlauben. Sie hasste diesen Kerl abgrundtief. Die Intensität dieses Gefühls traf sie wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel.

Bis zu diesem Tag hatte sie ihn nur nervig und unangenehm gefunden. Aber was sie nun fühlte, ging weit darüber hinaus. Emi konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so intensiv von negativen Gefühlen überrollt worden war.

Keine Spur mehr von Om oder Shanti, nur noch heiße Wut.

Mit ihrer Matte unter dem Arm und dem Telefon in der Hand trat sie aus dem Raum. Diesen Akt der Sabotage würde sie ihm nicht durchgehen lassen. Mit wachsamem Blick schlich sie durch das Studio.

Lange musste sie nicht nach ihm suchen. Er stand in einer Gruppe muskulöser Männer im Erdgeschoss an der Getränkebar bei Vanessa. Die Auszubildende, ein junges dunkelhäutiges Mädchen, deren Eltern aus Zentralafrika stammten, kümmerte sich um die Getränkewünsche und war sichtlich überfordert mit dem Andrang der polternden Meute.

Der Ton war rau und doch der Möchtegern-Weiberheld tat keinen Handschlag, um dem Mädchen zu helfen. Sie ging betont langsam die Treppe runter, weil sie spürte, dass zahlreiche Augenpaare auf sie gerichtet waren. Kaum dass sie die Gruppe Männer erreichte, schwieg die Meute wie auf ein geheimes Signal hin.

Alle starrten sie an. Sogar Vanessa hinter der Bar hielt inne und sah von der plötzlichen Stille beeindruckt zu ihr herüber. Einige der Zuschauer grinsten blöde, als wüssten sie bereits, was als Nächstes kam.

Vielleicht hatte er ja vor ihnen mit seinem grandiosen Streich geprahlt. Emi hielt das Telefon in die Höhe. Sie zählte nicht gerade zu den kleinsten Frauen und musste deshalb kaum zu Thomas aufschauen.

»Na, vermisst du etwas?«, fragte sie mit eisiger Stimme.

Thomas besaß die Frechheit, die Lippen zu einem Schmunzeln zu verziehen. Emi schüttelte verachtend den Kopf.

Ja, wirklich sehr witzig.

Sie würde der Sache jetzt ein für alle Mal ein Ende machen. Gleich würde er nichts mehr zu lachen haben.

»Oh, mein Handy«, heuchelte er. »Schön, dass du es gefunden hast.«

»Willst du wissen, wo ich es gefunden habe?«

»Ja klar, wo war es denn?«, stellte er sich dumm.

»Mit eingeschaltetem Timer im Gerätewagen in meinem Unterrichtsraum. Die Beschwerden über die Unterrichtsstunde, die bei David eingehen werden, habe ich allein dir zu verdanken. Spitzenjob, Thomas!«

Der Zorn über sein breiter werdendes Grinsen drohte, sie vollends zu übermannen. Nur mühsam hielt sie ihre Sinne beisammen.

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, presste Emi hervor.

»Ich weiß gar nicht, was du meinst«, tönte er süffisant.

Aus seiner künstlich aufgepumpten Gefolgschaft mit dem emotionalen IQ einer Wassermelone platzte ein hämisches Lachen, das wie das Niesen einer Bulldogge klang. Sie konnte das Geräusch keinem speziellen Mann zuordnen. Viel zu sehr war sie auf Thomas fixiert.

Jetzt hatte er endlich ihre heiß ersehnte Aufmerksamkeit, doch Emi vermutete, dass er sich das ein wenig anders vorgestellt hatte.

»Dann hast du also keinen Timer gestellt, um meinen Unterricht zu sabotieren?«

Sie hielt das Gerät fest umklammert wie einen Anker. Doch Thomas zuckte nur mit den Schultern.

»Und wenn es so wäre?«, provozierte er sie weiter. »Würde mir die kleine Yogamaus dann den Arsch versohlen?«

Er verzog den Mund zu einem Schmollen und die Meute grölte vor Lachen. Sämtliche Beherrschung fiel nun von ihr ab. Seinen verdammten Hintern wollte sie nicht mal mit einem Müllpieker berühren.

»Sprich mich nie wieder an und wage es nicht, mich noch einmal anzufassen, sonst breche ich dir beide Arme«, zischte sie und schmetterte mit einer einzigen kraftvollen Bewegung das Telefon zu Boden.

Trotz des anhaltenden Gelächters hörte sie, wie das Display in tausend Teile zersprang.

»Bist du völlig behindert?«

Jegliche Farbe wich aus Thomas‘ Gesicht. Sogar sein Hofstaat verstummte. Auch Emi schwieg. Sein Gesichtsausdruck machte das Ganze nur noch besser. Beinahe hätte sie laut gelacht. Einerseits befriedigte der Akt der Zerstörung sie auf eine ungewohnte Weise. Andererseits erschreckte es sie, dass sie zu dieser Tat noch immer fähig war.

»Du scheißbescheuerte Schlampe!«, wütete Thomas weiter.

In diesem Augenblick trat der Studioleiter aus seinem Büro, dessen Eingang sich hinter der Bar befand. Er musste von drinnen alles mit angehört haben.

David füllte mit seinen breiten Schultern fast den kompletten Türrahmen aus und musste sich nicht künstlich aufpumpen, um Autorität auszustrahlen. Er war Ende dreißig und zog aufgrund seiner sportlichen Vergangenheit ein ganz besonderes Publikum an.

»Was ist hier los?«, wütend schaute er zwischen Thomas und ihr hin und her. »Sagt mal, spinnt ihr beide, hier so ein Theater zu machen?«

Sein eisiger Blick duldete keine Ausflüchte. Emi war jedoch immer noch so aufgebracht, dass sie ausnahmsweise einmal nicht darunter einknickte.

Für diese Sache würde sie kämpfen, auch wenn ihr klar war, dass ihre Reaktion auf Thomas dummen Streich unverhältnismäßig war. Er hatte eine Strafe verdient.

»Diese untervögelte Zicke hat mein Handy gecrasht«, platzte Thomas sofort heraus.

Natürlich vergaß er, zu erwähnen, was dazu geführt hatte. Stattdessen starrte er sie hasserfüllt an.

Eine triumphierende Stimme flüsterte ihr ins Ohr, dass sie nun wenigstens nicht mehr fürchten musste, von ihm angemacht zu werden.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte, um ihr Lachen zu verbergen. Noch immer waren alle Augen auf sie gerichtet.

»Was guckt ihr denn so?«, fragte sie amüsiert.

Unter normalen Umständen wäre ihr spätestens jetzt diese Situation unglaublich peinlich gewesen, doch das Adrenalin in ihrem Körper ließ diese Reaktion nicht zu. Erst langsam ebbte die Wut ab und ließ rationalem Denken wieder Raum.

Als hätten sie plötzlich dringende Dinge zu erledigen, verschwanden die Muskelprotze von der Theke und zerstreuten sich auf die Trainingsflächen. Auch die Auszubildende war verschwunden und hatte die Drei allein zurückgelassen.

David starrte sie an, als erwartete er eine Rechtfertigung für diese Anschuldigung.

»Er hat meinen Unterricht gestört und meine Schüler mit einem dummen Streich verärgert«, erklärte sie ihre Reaktion gefasst und hob das Kinn. »Das muss ich mir nicht bieten lassen!«

Der Studioleiter drehte den Kopf und richtete die nächste Frage an den zweiten Übeltäter.

»Thomas, stimmt das, was sie sagt?«

Das Recht war auf ihrer Seite. Thomas hatte viel mehr Mist gebaut. Sein Verhalten war geschäftsschädigend.

»Ja, aber das war im Grunde nichts. Sie muss deshalb doch nicht so ausrasten«, spielte er die Situation runter. »Ich kann doch nichts dafür, dass die Alte keinen Sex hat.«

David schnitt ihm das Wort ab und machte dem Theater ein Ende.

»Das reicht jetzt. Kommst du bitte mal in mein Büro?«

Ein winziges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, vorbei an der Wut und dem Hass. Endlich bekam der Prolet, was er verdiente. Vielleicht wurde er sogar gefeuert und sie musste sich gar nicht erst überlegen, wie sie ihm künftig aus dem Weg gehen konnte.

Sie wartete darauf, dass Thomas der Aufforderung folgte, doch er rührte sich nicht vom Fleck.

»Emi, kommst du bitte?«, wiederholte David mit Nachdruck.

Das war einfach nicht zu fassen. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie schockiert sie über diese unerwartete Wendung war. Ihre Beine trugen sie wie auf Wolken in das Büro. Inzwischen dämmerte ihr, dass sie diese Schlacht nicht für sich entschieden hatte.

Vorsichtshalber schloss sie die Tür hinter sich. Es musste schließlich niemand mithören, wie sie zur Schnecke gemacht wurde. David stand hinter seinem Schreibtisch und legte die Hände auf die Rückenlehne des Drehstuhls.

»So, jetzt mal im Ernst, Emi. Was sollte das?«

Die Euphorie des Sieges wich einem Kater. Wie hatte sie nur so ausrasten können?

Keine Frage, der Typ war mehr als nervig, aber sie war seit Jahren nicht so aus der Haut gefahren. Er musste etwas an sich haben, dass sie in ein Verhaltensmuster fallen ließ, von dem sie glaubte, es bereits seit ihrer Jugend hinter sich gelassen zu haben.

»Wenn er mich bedrängt oder mir blöde Streiche spielt, sagt keiner was«, motzte sie. »Aber wenn ich mich mal wehre, dann schreitest du plötzlich ein und stellst dich auf seine Seite, ja?«

Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte wie die eines kleinen Mädchens, das nicht zugeben wollte, dass es Mist gebaut hatte.

Jetzt war es an David, über sie den Kopf zu schütteln. Entweder wollte er sie nicht verstehen oder er konnte es tatsächlich nicht. Seine Standpauke ließ keinen Zweifel daran, dass er sich eine andere Yogalehrerin suchen würde, wenn sie keinen Weg fand, in Zukunft mit Thomas zurechtzukommen.

Das erschien ihr jedoch nach dem heutigen Höhepunkt nicht mehr möglich. David urteilte nicht fair. Thomas war eine im günstigsten Fall eine Plage und im schlimmsten Fall eine Gefahr.

Unter diesen Umständen konnte sie nicht hierher zurückkehren. Wie sich das auf ihre finanzielle Stabilität auswirkte, konnte sie sich jetzt schon ausmalen…

KAPITEL ZWEI

MANCHMAL HILFT NUR KÜRBIS

EMI

Völlig erschöpft sank sie in ihre Sofakissen. Schon zum dritten Mal an diesem Abend versuchte sie, ihre beste Freundin Miriam ans Telefon zu bekommen.

Leider antwortete ihr stets nur der Anrufbeantworter. Die Redakteurin bei einem Frauenmagazin drehte seit Monaten energisch jeden Stein der Stadt auf der Suche nach ihrem Traummann um.

Emi bewunderte ihre Beharrlichkeit. Nach jeder Enttäuschung rappelte sie sich wieder auf und ging erneut auf die Suche. Zuletzt hatte sich der vermeintliche Prinz nach ihrem eigentlich ganz gelungenen Date – wie Miriam es beschrieben hatte – nicht mehr gemeldet.

Immer wieder fragte Miriam ausgerechnet Emi nach Tipps, was sie regelmäßig zum Lachen brachte. Natürlich wusste Miriam, dass ihre Freundin keine Ahnung hatte, wie man seinen Seelengefährten fand, sonst hätte sie ihn ja längst an ihrer Seite.

An diesem Abend hätte ausnahmsweise einmal Emi das offene Ohr ihrer Freundin gebraucht, um sich ihre Probleme von der Seele zu reden. Doch die hatte wohl beschlossen, den Abend außer Haus zu verbringen und ihr Telefon lautlos geschaltet.

Es war zum aus der Haut fahren. Die ganze Aufregung waren weder das Studio noch die beiden Kerle wert, die ihr seit Stunden durch den Kopf geisterten. Der Vorfall würde in ihrer Laufbahn irgendwann belanglos erscheinen und auf Partys für einen Witz herhalten.

‘Weißt du noch damals, als Emi in diesem komischen Fitnessstudio dem Typen das Handy zerschmettert hat…’ Alle werden herzlich lachen und niemand könnte sich vorstellen, dass es wirklich so abgelaufen ist.

Das Chrome Fitness war eine Zwischenstation auf ihrer Reise und diese Zeit würde vorbeigehen – ganz egal, ob sie sich dort mit Ruhm bekleckerte oder nicht.

Allein in der Wohnung fiel ihr zunehmend die Decke auf den Kopf. Der Kühlschrank war leer und ihr Magen knurrte. Die einzig logische Konsequenz war ein Besuch bei einer anderen Freundin. Sofort dachte sie an Sonja, die ebenfalls zu jeder Tages- und Nachtzeit ein offenes Ohr für sie hatte.

Die gelernte Köchin arbeitete an ihren freien Tagen hart daran, ein Konzept für ein eigenes Restaurant auf die Beine zu stellen. Wann immer sie einen Abend frei hatte, bastelte sie in ihrer Küche an ausgefallenen veganen Rezepten, die sie auf ihre künftige Speisekarte schreiben konnte, und war immer dankbar für Testesser.

Emi machte sich auf den Weg zu Sonja, ohne vorher anzurufen. Bei ihrer Freundin war sie jederzeit willkommen.

Leider hatte sie nicht mit dem Platzregen gerechnet, der einsetzte, als sie auf halben Weg zu Sonjas Wohnung war. Blitz und Donner brachen über sie ein. Binnen Sekunden war sie bis auf die Unterwäsche durchnässt.

Vor dem Mehrfamilienhaus drückte sie auf die Klingel.

»Hallo?«, erklang die samtweiche Stimme ihrer Freundin aus der Gegensprechanlage.

»Ich bin’s, Emi«, bibberte sie. »Hat das Chez Fratz noch geöffnet?«

»Für dich immer!«

Der Summer ertönte, Emi drückte gegen die Tür und trat ihre Füße auf der Fußmatte ab. Die nassen Turnschuhe quietschten dennoch auf den lackierten Holzstufen der Treppe.

Ihre Bemühungen, leise zu gehen, um die hellhörigen Nachbarn nicht zu verärgern, waren vergebens. Sie erreichte den Treppenabsatz und blickte in Sonjas skeptisches Gesicht.

Ihre Mutter kam aus China, ihr Vater war Deutscher. Die Tochter war ein ungewöhnlicher Mix aus beiden. Das dunkelbraune Haar, die mandelförmigen Augen und die zierliche Figur hatte sie von der mütterlichen Seite.

Doch wer mit ihr telefonierte, hatte keine Chance, ihre asiatischen Wurzeln zu erahnen. Sie war schonungslos direkt und sprach ein absolut akzentfreies Deutsch.

»Warte hier und rühr dich nicht vom Fleck.«

Mit spitzen Fingern zog sie Emi an der klatschnassen Jacke in die Wohnung und verschwand in ihrem Schlafzimmer.

Der Duft nach Kürbis erfüllte den Raum, obwohl die Fenster weit geöffnet waren. Emi war gerade im Begriff, sich auf einen der Hocker an der Kücheninsel zu setzen, die den Koch- vom Wohnbereich trennte, als Sonja wieder hinter ihr auftauchte.

»Hier, zieh das an«, drängte Sonja und drückte ihr einen Stapel Kleider in die Hand. »Du bist ganz nass. Ich will nicht, dass du dich erkältest.«

Jeglicher Widerspruch war zwecklos. Sie trug den Stapel wie befohlen in das schlauchförmige Bad, und hängte ihre feuchte Kleidung auf die Wäscheleine über der Badewanne. In Sonjas schlammgrüner Sweathose und einem ausgeleierten grauen T-Shirt kehrte sie schließlich warm und trocken in die Wohnküche zurück.

»Du kommst gerade richtig. Ich probiere etwas Neues und du bist mein liebstes Versuchskaninchen.«

Sonja lachte verschmitzt und wand sich dann dem erleuchteten Ofen zu. Sofort fühlte Emi sich besser.

Sie kletterte auf einen der Barhocker an der Theke und spähte ebenfalls in den Ofen. Schmale Spalten eines Hokkaidokürbis lagen dort in einer Kräuterkruste und garten vor sich hin.

Sonja nahm einen Topf aus der Schublade unter dem Herd, der sich in der Kochinsel befand, und gab etwas Nussmus, Wasser und eine Mischung von Gewürzen hinein. Während die Mischung erwärmt wurde, griff sie nach einem Weinglas und schenkte Emi einen Traubensaft ein.

»Du magst Kürbis, oder?«

Emi zog zaghaft die Mundwinkel nach oben, aber es gelang ihr nicht, die negativen Gedanken zu verdrängen. Sie liebte Kürbis. Doch ihr Ausraster im Studio irritierte sie noch immer zutiefst. Sie konnte sich nicht erklären, was da eigentlich passiert war.

Oder doch, eigentlich konnte sie das wohl. Sie wollte sich nur nicht eingestehen, dass es so war. Seit Jahren hatte sie nichts mehr aus Wut zerdeppert. Nachdem sie damals Yoga für sich entdeckt hatte, wurde sie ausgeglichener und bekam ihre Aggressionen in den Griff.

Mittlerweile schob sie diese früheren Ausbrüche auf eine pubertäre Phase und sie hatte bis heute gehofft, dass diese Charakterzüge von damals überhaupt nicht zu ihrer wahren Persönlichkeit gehörten.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, erkundigte sich Sonja. »Was ist denn heute los mit dir?«

Sie hörte auf, in der Sauce zu rühren, und sah sie eindringlich an. Tatsächlich hatte Emi nicht so recht mitbekommen, was ihre Freundin gesagt hatte.

»Ach, es ist nichts«, winkte sie ab, weil sie die Köchin nicht mit ihren Gedanken belasten wollte. »Wie hat dir denn der Laden heute Nachmittag gefallen?«

Die Augen ihrer Freundin begannen wie erhofft bei dem Thema zu strahlen. Emi erinnerte sich, dass es in ihrer Nachbarschaft eine leerstehende Immobilie gab, für die Sonja einen Besichtigungstermin vereinbart hatte.

»Es war wohl früher mal eine Sushi-Bar. Eine Theke steht noch drin. Die könnte ich zur Show-Küche umbauen lassen«, berichtete sie eifrig. »Der Preis passt auch. Mal sehen, was mich der Umbau kosten würde. Ich lasse mir jetzt ein Angebot von einer Tischlerei und einem Elektriker machen. Dann entscheide ich.«

Sonja hatte in den vergangenen Jahren viel für ihren großen Traum angespart. Jeden Cent legte sie für das Projekt beiseite. Sie gönnte sich keinen Urlaub und nahm jede Möglichkeit für Überstunden wahr.

»Das freut mich«, Emi strahlte zurück. »Ich verteile auf jeden Fall überall im Viertel Flyer für dich!«

Für die pragmatische Sonja war das Thema damit bereits erledigt. Keine Schwärmereien von großen Träumen, keine Visualisierungen von ihrem Erfolg… Das würde alles warten müssen, bis es sich eingestellt hatte, falls sie dann Zeit zum Feiern fand.

»Also erzähl, was ist bei dir passiert?«

Ihr Blick bohrte sich beinahe schmerzhaft in Emis Kopf. Ein weiterer Versuch, auszuweichen, war genauso sinnlos wie ein Widerspruch gegen die aufgedrängte Kleidung. Hinterher würde Emi sich besser fühlen, ebenso wie in den trockenen Kleidern.

Sonja stemmte ihre Hände auf die Arbeitsplatte und lehnte sich über den Herd nach vorn. Sie seufzte und stützte den Kopf auf die Hände.

»Okay, ich habe eine Abmahnung in dem blöden Fitnessstudio in der Torstraße kassiert«, gab sie zerknirscht zu.

»Was? Du?« Sonja schnappte nach Luft. »Das gibt’s doch gar nicht! Wofür kann man dich denn abmahnen?«

Wie auf ein unhörbares Signal drehte sie sich um und zog den Kürbis aus dem Ofen. Sie arrangierte einige Spalten auf einem hellgrauen Teller und gab Sauce in einem Zickzack-Muster darüber. Zusammen mit einer kleinen Gabel reichte sie Emi das Gericht.

»Ich bin total durchgedreht. Keine Ahnung, was mich da geritten hat« erklärte sie.

Es war ihr peinlich zuzugeben, dass sie das Smartphone ihres Kollegen auf den Boden geworfen hatte. Sie war sicher, dass mindestens das Display dabei kaputt gegangen war und hoffte, dass das Gerät überhaupt noch funktionierte.

Sicher würde sie für den entstandenen Schaden aufkommen müssen. Trotzdem war sie der Meinung, dass Thomas diesen Denkzettel verdient hatte.

Sonja starrte sie verständnislos an. Ohne den Rest der Geschichte konnte sie unmöglich verstehen, was sie meinte, also holte Emi aus und erzählte ihrer Freundin alles von Anfang an.

»Ich hab dir doch neulich schon mal von diesem Trainer erzählt, der alles anbaggert, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Erinnerst du dich?«

Als Sonja bestätigend nickte, fuhr sie fort und erklärte, was Thomas sich geleistet hatte.

»Die ganze Klasse wurde unruhig und dann sind alle gegangen«, schloss sie ihre Ausführungen.

Obwohl sie genau das um jeden Preis vermeiden wollte, traten ihr Tränen in die Augen. Sie wollte wegen dieses Idioten nicht auch noch heulen.

Er verdiente es nicht, dass sie ihm und seinem Verhalten so viel Aufmerksamkeit beimaß. Verärgert wischte sie sich die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln und setzte ihre Erzählung fort.

»Ich war einfach so wütend und als er dann auch noch vor seinen dümmlichen Freunden frech geworden ist, habe ich sein blödes Telefon einfach auf den Boden geschmettert.«

»Nicht dein Ernst«, entfuhr es Sonja.

Emi fühlte sich nun noch ein bisschen elender als zuvor.

»Ich weiß auch nicht, was mit mir los war, aber dieser Typ macht mich total wahnsinnig. Seine ständigen Anmachen nerven mich und dass er kein ‚Nein‘ akzeptiert macht mir sogar ein bisschen Angst«, gestand sie und ließ resigniert die Hände sinken.

Sonja schüttelte erneut den Kopf. Emi fürchtete schon, sie verschreckt zu haben. Schließlich kannte sie diese Seite von ihr nicht. Sie selbst hatte ja bis vor wenigen Stunden geglaubt, sie könnte niemals derartig ausrasten.

»Wahrscheinlich hat er ziemlich dumm geguckt, oder?«

Emi musste schmunzeln. Die Erinnerung war unbezahlbar.

»Ja, du hättest sein Gesicht sehen sollen! Dafür hat es sich fast schon wieder gelohnt. Leider war der Chef nicht unserer Meinung und hat mich danach ganz schön zusammengeschissen.«

Sonja nickte.

»Jetzt iss erstmal was, bevor du mir vom Fleisch fällst.«

KAPITEL DREI

ZWEI FÄUSTE FÜR EINEN TODESFALL

CHARLOTTE

Die ersten drei Wochen des Oktobers hatte Charlotte Rothenburg nun an der Seite ihres Partners Peter Stelter verbracht, den nur noch ein knappes Jahr von seinem Ruhestand trennte.

Seit der Kindheit war es ihr Traum gewesen, beruflich irgendwann zur Kriminalpolizei zu kommen. Nach drei Jahren auf Streife in den Straßen Berlins hatte sie es geschafft.

Die erste Zeit bei der Truppe war überraschend langweilig. Nicht einen einzigen untersuchungsbedürftigen Todesfall hatte es in Berlin seit ihrem Wechsel in die Mordkommission gegeben und der Monat war schon fast vorbei.

Kaum zu glauben.

Kein Mord, kein Totschlag, einfach nichts dergleichen.

Charlotte sehnte einen Fall so sehr herbei, damit sie endlich etwas zu tun bekam und sich beweisen konnte. Sie wollte Rätsel, Herausforderungen und Action.

Im Augenblick war die einzige Action, die sie bekam, ein Abend allein vor dem Fernseher. Nicht gerade das, was sie sich darunter vorstellte. Dann und wann schaffte sie es nach der Arbeit noch zum Sport, doch meistens fehlte ihr nach dem trägen Bürotag sogar dafür der Elan.

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch schrillte. Sie hasste das Geräusch, aber es löste den Adrenalinschub aus, den sie für einen Einsatz brauchte.

»Rothenburg hier, hallo?«

»Liebes, ich bin’s.« Sie erkannte die Stimme ihrer Mutter am anderen Ende der Leitung und sank seufzend gegen Lehne des Drehstuhls.

»Was gibt’s?« Es tat ihr ehrlich leid, dass sie so enttäuscht klang, aber sie hatte gehofft, es wäre endlich jemand unter mysteriösen Umständen gestorben.

Ein Blick auf die Uhr an der Wand verriet ihr, dass es erst kurz nach acht war. Sie war nicht mal eine halbe Stunde im Büro und wusste schon jetzt nicht mehr, womit sie den Rest des Tages verbringen sollte. Vielleicht sollte sie sich mit Origami-Anleitungen aus dem Internet die Zeit vertreiben. Papier gab es im Büro genug.

Ihr Partner war ein alter Hase. Er hatte im Präsidium viele Freunde, mit denen er in der ungewohnt ruhigen Phase Kaffee trank oder über alte Fälle fachsimpelte. Charlotte kannte allerdings noch niemanden näher und tat sich allgemein schwer mit Smalltalk.

So saß sie meist den ganzen Tag auf ihrem Stuhl im Büro, starrte abwechselnd an die Wand und durchsuchte das Internet nach aktuellen Nachrichten. Alles in Allem eine so unbefriedigende Situation, dass sie am liebsten wieder Streife gefahren wäre. Derartige Langeweile erlebte sie auf der Straße nie.

»Du klingst müde, mein Schatz«, befand ihre Mutter, die die Enttäuschung ihrer einzigen Tochter glücklicherweise nicht auf sich bezog.

»Ja, es ist gestern Abend etwas spät geworden«, gab Charlotte antriebslos zurück.

»Oh, hast du endlich deinen ersten Fall?« Die Aufregung in der Stimme ihrer Mutter war herzergreifend. Wie gern hätte sich ihre Mutter mit ihr über einen Mord gefreut…

»Leider nein, ich habe nur die halbe Nacht vor dem Fernseher verbracht«, erklärte sie seufzend. »Ich bin einfach nicht von meiner Serie losgekommen.«

Wenn sie schon bei der Arbeit keine Fälle hatte, sah sie sich zuhause Krimiserien an. Sie kannte fast alle. Am liebsten waren ihr die Serie mit dem Schriftsteller und die mit dem schrägen ehemaligen Junkie, der mit seinen genialen Ermittlungsfähigkeiten der Polizei half.

Ob sie selbst mal einen solchen Sidekick haben wollte, wusste sie allerdings nicht. Die Cops in den Serien hatten unter den eigenwilligen Helfern oft ganz schön zu leiden, obwohl am Ende die Fälle alle aufgeklärt wurden.

Ihre Mutter gab nun ihrerseits einen Laut der Enttäuschung von sich und kam dann auf den eigentlichen Grund ihres Anrufs zu sprechen.

»Am Wochenende grillen wir ja bei uns. Das weißt du hoffentlich noch.«

»Natürlich, das wird mein Wochenhighlight, Mama.«

»Ich wünsche dir zwar ein bisschen mehr Aufregung im Leben, aber ich freue mich, dass du dich freust.« Sie hörte ihre Mutter kichern. »Ich könnte ein bisschen Hilfe bei der Vorbereitung gebrauchen, wenn du es einrichten kannst.«

»Klar, kann ich«, erklärte Charlotte.

Ihre Mutter diktierte ihr eine lange Einkaufsliste. Sie schrieb sorgfältig mit und versprach, ihr die Einkäufe am Nachmittag vorbeizubringen.

An Freizeit würde es ihr kaum mangeln. Überstunden waren ohne Morde nicht zu erwarten. Kaum hatte sie aufgelegt, da tauchte Polizeihauptkommissar Stelter in der Tür auf und trommelte mit den Fingerspitzen gegen den Türrahmen.

»Auf, auf«, trieb er sie an. »Wenn Sie endlich fertig mit ihren Privatgesprächen sind, können wir ja arbeiten, oder haben Sie andere Pläne?«

Charlotte sprang auf. Ein bisschen ertappt fühlte sie sich schon, aber die Freude darüber, dass es endlich etwas zu tun gab, war größer. Was auch immer es war, es verlieh ihrem Tag Farbe.

Sie folgte ihrem Partner durch das Treppenhaus auf den Parkplatz hinunter und stieg auf der Beifahrerseite ein. Er mochte es nicht, wenn sie fuhr. Im Wagen fasste er die vorhandenen Informationen für sie zusammen.

»Wir haben einen männlichen Toten in einem Fitnessstudio. Die Reinigungskraft hat ihn am Morgen beim Putzen gefunden.«

Das klang vielversprechend. An einem schwachen Herzen war der Mann hoffentlich nicht gestorben.

In der belebten Torstraße hielt Stelter in zweiter Reihe an und sprang aus dem Auto, ehe Charlotte überhaupt begriff, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie hatte nicht gewusst, dass es hier ein Fitnessstudio gab, aber die Wagen von Polizei und Rettungsdienst auf dem Fußweg ließen keinen Zweifel daran, dass dies ihr Einsatzort war.

Draußen zündete Stelter sich erstmal eine Zigarette an. Sie nutzte den Moment und sah sich um. Im Eingang eines Geschäfts für Sportlernahrung stand ein uniformierter Polizist.

So schnell er aus dem Wagen gesprungen war, so langsam schlenderte Stelter auf den Shop zu. Sie folgte ihm mit einigem Abstand und ließ die Gegend auf sich wirken.

Die Fitnessstudios, die sie kannte, befanden sich nicht in Wohnhäusern. Nebenan lagen ein Blumenladen und ein Immobilienbüro. Gegenüber jenseits der Bahnschienen gab es einen arabischen Imbiss.

Stelter sprach den Beamten in der Eingangstür an. Sie näherte sich den Beiden, um möglichst viel von dem Gespräch mitzubekommen. Nach einer halben Zigarette und ein wenig Geplauder trat Stelter die Kippe aus und winkte Charlotte, ihm hinein zu folgen.

Im Inneren offenbarte sich Charlotte Ungeahntes. Der Verkaufsbereich war nur der kleinste Teil des Ladens. Zwischen dem Tresen und den Regalen befand sich ein breites Drehkreuz, durch welches man in den weit größeren Teil gelangte, der tatsächlich ein vollwertiges Fitnessstudio auf zwei Etagen beherbergte.

Der Tresen setzte sich auch im Inneren des Studiobereichs als Bar fort. Dahinter abgeschirmt lag eine Tür zu einem Büro. Sie konnte durch das Fenster in der Tür einen Schreibtisch und ein billiges Regal mit Aktenordnern erkennen.

An der Wand hingen Fotos der Mitarbeiter, mit deren Namen darunter. Jeder von ihnen war in einem schwarzen T-Shirt fotografiert worden. Vielleicht handelte es sich dabei um eine Art Arbeitsuniform. Nur einer stach heraus. Er trug auf dem Foto ein weißes Hemd und ein graues Sakko. Ein attraktiver Typ, dessen muskulöser Körper dem Anzug einiges abforderte.

Stelter war bereits weitergegangen und erklomm schwerfällig eine Metalltreppe ins Obergeschoss. Sie folgte ihm mit federnden Schritten. Oben angekommen bog er nach rechts ab, wo sie schließlich die Leiche in einem Übungsraum fanden.

Ein Mann mit grau meliertem Haar kniete neben dem Opfer. Mit dem Blick eines Experten nahm er die Situation auf und betrachtete den Toten vor sich eingehend.

»Herr Dr. Markow, das ist meine Kollegin Frau Rothenburg«, stellte Stelter sie vor.

Der Gerichtsmediziner sah auf und neigte den Kopf um wenige Grad. Mit einem eindringlichen Blick fixierte er sie, wie bei einer Wareneingangsprüfung. Ob sie in seinen Augen eher ein Kunstwerk oder ein Käse war, blieb ihrer Fantasie überlassen.

Offenbar bestand sie den Test. Er hob zwei Finger seiner behandschuhten Hand zum Gruß. Der Mediziner hatte etwas von einem intellektuellen Abenteurer – Typ Indiana Jones. Seine Augen strahlten angesichts der Leiche Forschergeist und kindliche Freude zugleich aus.

»Was können Sie uns sagen?«, ging Stelter sogleich zum eigentlichen Grund ihres Treffens über. Keine Zeit für den Austausch von Nettigkeiten.

»Männlicher Toter, stark blutende Kopfwunde, vermutlicher Todeszeitpunkt zwischen 22 Uhr gestern Abend und 2 Uhr heute früh. Genaueres gibt es wie immer erst, wenn ich ihn auf dem Tisch habe«, fasste der Mann ebenso knapp zusammen.

»Wir können also davon ausgehen, dass er einen Schlag auf den Kopf bekommen hat?«

Charlotte fand Stelters Ton dem Mediziner gegenüber einen Hauch zu forsch. Immerhin stand er hier einem Profi gegenüber, der den Job vermutlich auch nicht erst seit gestern machte. Aber sie wollte ebenso loslegen und dafür brauchten sie zunächst eine plausible Annahme über den Ablauf, mit der sie in die Ermittlung starten konnten.

»Meine bisherigen Erkenntnisse würden diese Vermutung unterstützen.«

Der Arzt lehnte sich nicht besonders weit aus dem Fenster. Stelter und er umtanzten sich verbal wie zwei Gockel vor dem Hühnerstall, obwohl sie außer Charlotte und der Leiche kein Publikum hatten. Sie wandte sich ab, um ihnen auch noch die letzte Bühne zu entziehen.

Der tote Mann lag auf dem Bauch. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine graue Jogginghose – genau wie die Angestellten auf den Fotos im Erdgeschoss.

Ständer voller Kurz- und Langhanteln, einzelner Scheiben und stapelweise Stepperbretter standen an den verspiegelten Wänden des Trainingsraums. Es gab weder Regale noch Schrägen, an denen er sich den Kopf hätte stoßen können. Ein Unfall erschien daher unwahrscheinlich.

Überhaupt konnte sie auf keinem Objekt im Raum Blutspuren erkennen. Jemand musste es entfernt haben, nachdem der Tote zu Boden gegangen war. Die Blutlache um den Kopf des Mannes ließ vermuten, dass er sich nach dem Schlag nicht mehr bewegt hatte.

Ein sonderbarer Geruch, der nicht in dieses Szenario passte, irritierte ihre Nase. Es dauerte einen Moment, bis sie es einordnen konnte. Jemand roch intensiv nach Rasierwasser oder hatte heute morgen viel zu großzügig sein Eau de Toilette aufgesprüht. Stelter war es nicht, das wäre ihr eher aufgefallen.

Sie trat einen Schritt näher an den Mediziner und schnüffelte. Der Geruch wurde stärker.

»Ja, mir ist es auch aufgefallen. Der Herr war bei seinem Duft wohl sehr überschwänglich«, bestätigte Dr. Markow.

Charlotte nickte. Das erste Rätsel war damit gelöst. Von dem Arzt erwartete Stelter scheinbar keine weiteren Informationen, denn auch er richtete seine Aufmerksamkeit nun auf die Umgebung. Mit langsamen Schritten ging er die Seiten des Raums ab und begutachtete, was herum lag – genau wie Charlotte es selbst Sekunden zuvor getan hatte.

Sie vermutete aus ihrer Erfahrung mit öffentlichen Fitnessstudios, dass in diesem Raum vorwiegend Kurse abgehalten wurden. Vermutlich auch solche, bei denen Gewichte an Langhanteln oder den aktuell trendigen Kettlebells verwendet wurden. Eine ganze Reihe dieser Kugelhanteln säumte die Wand neben der Eingangstür.

Mit Hilfe von solchen Kursen hatte sie sich während ihrer Ausbildung auf der Akademie auf ein Fitnessniveau gebracht, das sie seitdem nie wieder erreicht hatte. Während ihrer Zeit auf Streife durch Berlins Straßen war sie zu Pilates gewechselt, wobei sie ihren Körper weniger Stress aussetzte und dennoch die Muskeln trainierte, die sie im Alltag brauchte.

»Hatte er Papiere dabei?«

Schon während sie die Frage aussprach, kam sich Charlotte ein wenig weltfremd vor. Niemand steckte ein Portemonnaie in die Sporthose, wenn er es ebenso gut im Spind einschließen konnte.

Die Umstände und die Kleidung des Mannes gaben Anlass zur Vermutung, dass es sich um einen Mitarbeiter handeln könnte. Wenn sie das Gesicht mit denen auf den Fotos unten verglich, würde sie bestimmt den passenden Namen schnell ausfindig machen. Es war trotzdem interessant, was in seinen Taschen gefunden wurde.

»Nein, nichts. Nicht mal ein Smartphone. Es ist erstaunlich, dass er ohne eins dieser Dinger auch nur fünf Minuten überlebte.« Ein Schmunzeln erschien auf dem Gesicht des Arztes. »Aber das hat er ja vielleicht auch nicht.«

Der Witz war zwar nicht zum Schreien komisch, doch der Mann hatte eindeutig Grundzüge von Humor. Nicht schlecht!

Das vermisste Telefon war sicher mit seinem Geldbeutel im Spind.

Stelter war verschwunden. Sie zuckte die Achseln und ging hinaus. Abgesehen davon, dass es sich in einem Mehrfamilienhaus befand, war dies ein absolut durchschnittliches Fitnessstudio. Kursräume und Umkleidekabinen oben, moderne Geräte und Freihantelbereich unten.

Ihr älterer Kollege stand vor der Tür und rauchte. Schon wieder. Diese Angewohnheit würde ihn eines Tages noch ins Grab bringen.

KAPITEL VIER

DER TEUFEL TRÄGT ANZUG

CHARLOTTE

Schweigend trat sie neben ihren Partner, als eine schwarze Limousine hinter dem Dienstwagen hielt. Die Fahrertür wurde aufgerissen und ein großer Mann mit bemerkenswert breiten Schultern stürmte heraus.

Eine eindrucksvolle Gestalt. Kurze dunkle Haare, maskuline Züge, maßgeschneiderter Anzug. Charlotte gefiel durchaus, was sie sah, doch dies war kein Speeddating im Club, sondern ihr Arbeitsplatz. Hier musste sie professionell bleiben und durfte ihn nicht anstarren.

»Was ist denn hier los?«

Sein Ton war fordernd und duldete keinen Widerspruch. So sehr sie dominante Männer auch ansprachen, waren sie hier am Ruder, er hatte gar nichts zu sagen. Charlotte trat ihm einen Schritt entgegen und wusste, dass Stelter ihr Rückendeckung geben würde, wenn es nötig wurde. Er musste. Er war ihr Partner und als guter Partner würde er ihr helfen, an ihren Herausforderungen zu wachsen.

»Mein Name ist Charlotte Rothenburg. Ich bin von der Kriminalpolizei«, flötete sie mit übertriebener Freundlichkeit, während sie ihm ihren Dienstausweis vor die Nase hielt. »Und Sie sind?«

Solchen Typen begegnete man am besten freundlich aber bestimmt, so hatte sie es auf den Straßen der Hauptstadt gelernt. Von seinem forschen Ton ließ sie sich im Job nicht einschüchtern. Auf Berlins Straßen hatte sie schon ganz andere Kaliber vorgesetzt bekommen.

Der Mann wischte sich hastig die Hände am Sakko ab und reichte ihr dann seine Rechte. Sie war ebenso groß und kräftig wie der Rest von ihm versprach.

»David Bräuer«, stellte er sich vor und deutete auf das Studio hinter ihr. »Das hier ist mein Laden und ich wüsste echt gern, was hier abgeht.«

Sie dachte gar nicht daran, die freundliche Dame von der Information zu spielen. Entweder war dieses Fitnessstudio eine Goldgrube oder dies war nicht seine einzige Einnahmequelle, schätzte sie. Er sah viel zu sehr nach Geld aus. Im Kopf ratterte sie mögliche Quellen für Zusatzeinnahmen runter.

Nichts, was ihr spontan einfiel, war legal.

Er machte ohnehin nicht den Eindruck eines Menschen, der sich ausschließlich im Rahmen der geltenden Gesetze bewegte, wenn interessante Gelegenheiten auf ihn warteten. Betrug, Drogen, Prostitution, Menschenhandel – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Ihr Blick wanderte an seinem Arm empor und sie kam nicht umhin, seine Statur auch noch einmal aus der Nähe zu bewundern. Um ihm ins Gesicht sehen zu können, musste sie den Kopf ein wenig in den Nacken legen, wenn er so dicht vor ihr stand. Sie schätzte ihn auf knapp zwei Meter.

Ein Mann absolut nach ihrem Geschmack. Sie mochte es, wenn Männer wussten, was sie wollten, und dabei aussahen, als bekämen sie das gewöhnlich auch. Seine stahlblauen Augen strahlten eine tiefe Ruhe aus. Zu dumm, dass sie ihm ausgerechnet auf diese Weise über den Weg lief.

»Sind Sie immer so früh hier?«

Natürlich war er das nicht.

Sie hatte schon beim Eintreten einen Blick auf die Öffnungszeiten geworfen, die in großen Lettern an der Scheibe standen. Der Laden öffnete erst um zehn. Wenn er darüber log, war er dümmer, als er aussah.

»Nein, ich bin nur vorbeigefahren und habe gesehen, dass hier der Teufel los ist. Was zur Hölle ist denn passiert?«

Diesen Test hatte er also bestanden. Total bescheuert war er nicht. Sie warf einen Blick zu Stelter. Er trat seine Zigarette aus und gab ihr zu verstehen, dass er sich um den Mann kümmern würde.

Er trat um sie herum, nahm Bräuer am Oberarm und führte ihn hinein. Charlotte sah den beiden nach. Froh, dass Stelter ihn ihr abgenommen hatte, bewunderte sie seine Rückansicht. Die Intervention des alten Mannes hatte ihr geholfen, sich nicht vollends in ihrer Bewunderung zu verlieren.

Zum Glück hatte weder Stelter noch Bräuer davon eine Ahnung. Ihre Zuneigung zu Typen wie ihm, hatte ihr nichts als Ärger eingebracht.

Okay, Ärger und eine Menge Spaß, wenn sie ganz ehrlich war. Doch sie war sicher, dass dieser Mann in dem Fall noch eine entscheidende Rolle spielen würde – auf die eine oder andere Weise.

Zunächst würde er Stelter hoffentlich sagen, wer das Opfer war und wo er seine privaten Sachen verwahrte. Sie machte sich ihrerseits auf die Suche nach der Putzfrau, die den Toten gefunden hatte.

In einem Sessel im rückwärtigen Gastronomiebereich des Studios wurde sie fündig. Ein Sanitäter kniete neben ihr und redete ihr gut zu. Sie wirkte aufgelöst und plapperte in einer fremden Sprache vor sich hin.

»Ist sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«, erkundigte sich Charlotte bei dem Mann vom Rettungsdienst.

Er zuckte die Achseln und machte eine abwägende Kopfbewegung.

»Versuchen Sie Ihr Glück.«

Sie stellte sich vor und begann mit einfachen Fragen. Ihr Name, warum sie hier war und wann sie den Mann gefunden hatte – bereits das stellte die Frau, die nur gebrochen deutsch sprach, vor erhebliche Herausforderungen.

Wenige Minuten später war Charlotte dennoch klar, dass sie nicht viel wusste. Der Tote sollte um diese Zeit eigentlich nicht hier sein. Normalerweise war sie morgens allein hier.

Sie hatte den Laden wie immer durch die Hintertür betreten. Der Vordereingang mit der Schiebetür, durch die sie gekommen war, war bei ihrem Eintreffen verschlossen und wie gewohnt mit einem Tor gesichert gewesen. Sie hatte keinen Anlass zu vermuten, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

Wie immer hatte sie in den Umkleidekabinen mit der Reinigung begonnen und war dann hinüber in die Übungsräume gegangen, wo sie Spiegel und Böden reinigen wollte.

Dort sah sie den Mann am Boden liegen. Nach eigenen Angaben hatte sie ihn nicht angefasst, sondern sofort den Notruf gewählt.

Stelter verließ das Büro hinter dem Verkaufstresen vor dem Eingang gerade, als sie sich ebenfalls wieder im Eingangsbereich einfand. Er schlenderte zum wiederholten Mal vor die Eingangstür, um sich die nächste Zigarette anzuzünden.

Ehe sie sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem verschwundenen Telefon machte, bemühte sie sich um einen Informationsabgleich mit ihm.

»Was hat Bräuer Ihnen erzählt?«

Ihr Partner zog einen Mundwinkel nach oben und bedachte sie mit einem Nicken, das sie nicht deuten konnte. Ihr Partner war ihr auch nach drei Wochen noch ein vollkommenes Rätsel.

»Der Tote ist einer seiner Mitarbeiter«, er blickte auf seinen Notizblock. »Thomas Kubica hat als Fitnesstrainer hier gearbeitet. Bräuer macht uns eine Liste der Mitarbeiter und markiert alle, die einen Schlüssel haben.«

»Haben Sie ihn gefragt, wo die Mitarbeiter ihre Sachen verwahrten, wenn sie arbeiten?«

Er zuckte mit die Achseln nicht halb so lässig wie der Sanitäter. Das war wohl ein Nein. Sie gab knapp wieder, was sie von der Putzfrau erfahren hatte. Auf die Sache mit den verschlossenen Türen war Stelter wohl schon von allein gekommen, sonst hätte er kaum nach den Schlüsseln gefragt.

Mehr konnte sie aus Stelter nicht herausbekommen, also marschierte sie wieder hinein und spähte in das Büro. Bräuer saß an seinem Schreibtisch und schrieb etwas auf. Etwas an dem Bild irritierte sie. Dann fiel es ihr auf. Er war Linkshänder.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Kommissarin?«

Seine Stimme klang nun deutlich entspannter als noch vor wenigen Minuten. Charlotte kam nicht umhin sich zu fragen, warum ihn der Tod seines Mitarbeiters zu einer solchen Reaktion veranlasste.

»Ich bin auf der Suche nach den privaten Sachen des Toten. Können Sie mir sagen, wo er die verstaut haben könnte?«

Der Besitzer des Fitnessstudios erhob sich kraftvoll aus seinem Stuhl und kam auf sie zu. Der Raum schrumpfte.

Er drängte sich dicht an ihr vorbei und sie nahm einen angenehmen Duft wahr. Er war entweder frisch geduscht oder trug einen sanften Hauch von Rasierwasser. Kein Vergleich mit dem intensiven Geruch des Opfers eine Etage höher.

»Entweder hier vorn in der oberen Schublade oder in seinem Spind im Mitarbeiterraum oben. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gern alles.«

Charlotte strich ihr schulterlanges blondes Haar zur Seite und legte unwillkürlich ihren Hals frei. So eine blöde Angewohnheit, ärgerte sie sich, aber diese Andeutung eines Flirtversuchs ließ sich nicht rückgängig machen.

Sie zog stattdessen betont konzentriert die Schublade auf. Doch darin fand sie nur das übliche Büromaterial. Von einem Mobiltelefon keine Spur. Sie schüttelte den Kopf.

Lieber hätte sie vermieden, mit diesem attraktiven Mann in einen abgetrennten Raum zu gehen, aber sie wollte dieses Telefon. Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf voranzugehen.

»War Ihr Büro eigentlich über Nacht verschlossen?«

Bräuer drehte sich zu ihr und legte nachdenklich einen Finger über seine Lippen.

»Ja, hier ist immer abgeschlossen, wenn ich das Studio verlasse. Gestern Abend auch.«

Sie ging einige Schritte schweigend hinter ihm und folgte ihm die Treppe hinauf.

»Und als Sie vorhin kamen, war noch alles wie gestern?«

»Ja, alles war an seinem Platz«, bestätigte Bräuer sofort. »Eine Veränderung wäre mir aufgefallen.«

»Und wo verwahren Sie die Bareinnahmen?«

Die Tat sah zwar auf den ersten Blick nicht nach einem Raub aus, aber sie musste das abklären. Nicht auszudenken, wie sich alle über sie das Maul zerreißen würden, wenn sie ein so gewöhnliches Motiv übersah.

»Meine Mitarbeiter schließen die Tageseinnahmen in einem Safe ein, die meisten Leute zahlen aber inzwischen elektronisch. Da ist nicht viel zu holen. Ich kann gleich mal nachsehen«, bot er an.

Sie nickte und ging durch die Tür, die er ihr aufhielt. Dahinter verbarg sich der Umkleideraum für die Mitarbeiter. Es war kaum mehr als eine Abstellkammer.

Ein dutzend Metallspinde nahmen die Rückwand ein. Davor stand eine hölzerne Bank. Hinter ihm fiel die Tür geräuschvoll zu und Charlotte wurde seine Nähe wieder schmerzhaft bewusst.

»Welcher war seiner?«

Er ließ den Blick über die Schränke streifen, verharrte bei dem mit der Nummer 7 und zeigte stumm mit dem Finger darauf. Ein Vorhängeschloss sicherte den Spind gegen unbefugten Zugang.

»Haben Sie etwas, mit dem wir das öffnen können?«

Bräuer reagierte mit einem amüsierten Schmunzeln, das Schmetterlinge in ihrem Bauch aufflattern ließ. Verdammt, er sollte nicht so angetan davon sein, mit ihr ein Schloss aufzubrechen, und sie sollte das nicht toll finden.

»Klar, ich hole kurz einen Bolzenschneider.«

Er verschwand durch die Tür und ließ sie in dem engen Raum allein. Sie hatte sich für viel professioneller gehalten. Seit die Sache mit Erik vorbei war, reagierte sie furchtbar empfänglich auf männliche Reize. Besonders bei Männern, die so komplett anders waren als ihr Ex.

Erik war etwas kleiner und schlanker als der Typ Mann, den sie eigentlich bevorzugte. Er trug seine dunklen Haare verwuschelt und stets ein bisschen zu lang. Sein pieksender Drei-Tage-Bart entsprachen ebenfalls nicht unbedingt ihrem klassischen Beuteschema. Trotzdem hatte der tätowierte Kollege aus dem Rauschgiftdezernat etwas in ihr berührt.

Sie holte tief Luft und stieß sie kraftvoll wieder aus. Keine Flirts im Dienst – eine klare Regel, an die sie sich halten wollte.

Als der Studiomanager mit dem Werkzeug zurückkehrte, hatte sie sich viel besser im Griff. Sie nahm es ihm wortlos ab und wandte sich dem versperrten Schrank des Verstorbenen zu.

»Wann haben Sie gestern Abend das Studio verlassen?«

Sie fühlte sich beobachtet, während sie versuchte, mit Hilfe des massiven Bolzenschneiders das Schloss zu entfernen. Im Vergleich zu dem Werkzeug war der Bügel geradezu winzig. Doch es gelang ihr im ersten Versuch, den ihn zu zertrennen, ohne den Schrank zu beschädigen.

»Das war gegen halb acht. Ich hatte anschließend noch eine Verabredung. Thomas hatte die Spätschicht und unsere Auszubildende war auch noch da, als ich ging.«

War es legitim, ihn zu fragen, mit wem er verabredet gewesen war? Vermutlich nicht, aber sie hatte sowieso nicht vor den Kontakt auf eine privatere Ebene zu verlagern. Zu Alibis kamen sie später.

»Haben Sie die Liste schon fertig? Mein Kollege sagte, Sie wollten eine Aufstellung ihrer Mitarbeiter machen. Können Sie mir diese Liste bitte holen und mal nach dem Safe schauen?«

Sie wollte nicht, dass er ihr auch noch über die Schulter sah, während sie den Inhalt des Spindes inspizierte.

»Klar, kein Problem.«

Nachdem die Tür hinter ihm erneut zugefallen war, öffnete sie den Schrank. Neben diversen Sportshirts, Handtüchern und verschwitzten Schuhen fand sie ein paar Quittungen aus einem Supermarkt in der Sporttasche des Opfers.

Im Seitenfach kam zwar endlich das Portemonnaie des Opfers zum Vorschein, aber ein Handy fand sie auch hier nicht.

Bräuer war schnell. Als sie sich mit der Tasche des Opfers in der Hand aufrichtete, stand er schon wieder in der Tür und hielt ihr einen handgeschriebenen Zettel entgegen.

»Hier, bitte.« Seine Augen hielten ihren Blick fest, während sie nach dem Papier griff. »Dürfte ich Ihnen vielleicht auch eine Frage stellen?«

Sie zwang sich, den Kontakt zu unterbrechen und starrte auf die Liste der Angestellten. Anschließend faltete sie den Zettel und steckte ihn in ihre Hosentasche.

Als sie wieder aufsah, sah er sie immer noch unverwandt an und strich er mit dem Zeigefinger über seine Lippen. Diese winzige Geste steigerte seine Attraktivität noch mehr.

»Hätten Sie Interesse mit mir auszugehen?«, fragte er schließlich.

Und ob sie Interesse hatte, aber das würde nicht passieren!

Sie fühlte sich geschmeichelt und schenkte ihm versehentlich ein viel zu offenes Lächeln. Normalerweise war sie damit eher geizig. Trotzdem musste sie ihm eine Abfuhr erteilen, da war sich der kleine Engel auf der einen Schulter vollkommen sicher, auch wenn der Teufel tobte.

»Ich fürchte, das wäre keine gute Idee. Sie sind ein Zeuge in meinem Fall. Das wäre in dieser Situation ausgesprochen unprofessionell von mir«, erklärte sie sanft.

Sie ließ sich gerade ein wahres Prachtstück von einem Mann entgehen und rannte mit offenen Augen über die Klippe, die sie auf ewig zum Single machen würde. Verfluchte Professionalität!

»Ich verstehe. Wenn Sie es sich anders überlegen oder diese Sache hier irgendwann vorbei ist, können Sie mich gerne anrufen.«

Er reichte ihr eine Visitenkarte, auf die er ebenfalls per Hand eine weitere Telefonnummer geschrieben hatte.

Noch einmal sah sie ihm tief in die Augen. Sein Blick und die winzigen Fältchen, die das Lächeln in seinem Gesicht aufwarf, hinterließen ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend, als sie sich abwandte.

Sie schob sich mit der Sporttasche an ihm vorbei. Draußen auf dem Flur konnte sie zum Glück wieder klar denken. Mit einem Schmunzeln entfernte sie sich von der Umkleidekabine und suchte nach Stelter. Ihm würde sie sicher nichts von diesem kleinen Gespräch erzählen…

KAPITEL FÜNF

DATING IM GROSSSTADTDSCHUNGEL

EMI

Nach dem Abschluss ihrer morgendlichen Übungen hatte sich der Aufruhr des vorherigen Tages in ihrer Brust wieder weitestgehend gelegt.

Sie fuhr sich mit den Fingern durch die offenen Haare und strich sie hinter die Ohren. Dann streckte sie sich noch einmal und rollte ihre Matte wieder auf. Ihr war noch immer unerklärlich, warum sie so ausgerastet war, aber die Dinge ließen sich gewiss wieder in Ordnung bringen.

Sie hatte beschlossen, am Nachmittag ins Chrome Fitness zu marschieren, sich bei Thomas zu entschuldigen und ihm anzubieten, den Schaden zu begleichen.

Damit würde er sich hoffentlich besänftigen lassen. David wollte sie ebenfalls um Verzeihung bitten. Ihr Karma und ihr Gewissen wären bereinigt und auch das Bild, das die Menschen in ihrem Umfeld von ihr hatten, würde anschließend wieder beim Alten sein.

Ob sie weiter bei ihm arbeiten wollte, hatte sie noch nicht entschieden. Ihre völlige Ablehnung vom Abend zuvor war jedenfalls nüchterner Betrachtung gewichen. Sie brauchte im Augenblick das Geld. Vielleicht gab allerdings es einen Blickwinkel, aus dem seine Reaktion gestern Abend nicht vollkommen daneben war. Einen Blickwinkel, den Emi nicht hatte sehen können, weil sie emotional so involviert war.

Wenn es ihn gab, würde sie ihre Entscheidung noch einmal überdenken und weiter dort arbeiten gehen. Auch wenn sie dann Thomas über den Weg laufen würde. Natürlich konnte David die Dienstpläne nicht so anpassen, dass sie sich nicht über den Weg laufen konnten. Das wäre zu viel verlangt.

Sie machte finanziell eine schwierige Zeit durch und Thomas hatte zweifelsohne auch seinen Teil zu der Eskalation beigetragen, was jeder erkennen müsste, der die Geschichte zu hören bekam. Warum David zunächst nur sie gerügt hatte, war ihr zwar unverständlich. Doch vielleicht hatte er sich Thomas später zur Brust genommen, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte.

In ein paar Wochen würden sie hoffentlich alle zusammen über den Vorfall lachen können.

Der Blick aus dem Wohnzimmer verriet ihr, dass es mal wieder kein sonniger Tag werden würde. Ein dichter grauer Schleier lag über der Stadt.

An den meisten Tagen zeigte sich der Oktober in diesem Jahr wirklich von seiner unschönen Seite. Trotzdem wollte sie unbedingt ein paar Stunden an der frischen Luft verbringen. Das würde ihre Stimmung heben und sie wollte zu ihrer üblichen Zuversicht zurückfinden.

Es gab keinen Grund, Trübsal zu blasen. Zwar reichten ihre Einnahmen noch nicht, um sich davon über Wasser zu halten, aber so war das nun einmal am Anfang. Niemand hatte jemals behauptet, es sei einfach, sich mit seinem Traumberuf selbstständig zu machen.

Am Abend wartete eine Unterrichtseinheit in einem Fitnessstudio im Nachbarbezirk Neukölln auf sie, die sie frei gestalten konnte. Ihre Schülerinnen und der Manager dort waren deutlich aufgeschlossener als bei ihrem Mittwochskurs in Mitte.

Das war auf jeden Fall ein Grund, dem Tag motiviert entgegenzublicken.

Beschwingt tänzelte sie in die Küche und schnippelte sich etwas Obst in eine Schale. Gemeinsam mit einigen Löffeln Sojajoghurt würde dies ihr Frühstück werden.

Meistens trug sie elastische Yogahosen, doch als sie am Vortag für ihre Termine in eine Hose schlüpften wollte, die weniger fehlertolerant war, hatte sie bemerkt, dass es am Bauch langsam eng wurde.

Es tat ihrer Figur wirklich nicht gut, ständig den Leckereien bei Sonja ausgesetzt zu sein. Durch die unbefriedigende berufliche Situation hatte sie ebenfalls etwas mehr gegessen, als ihr Körper gewohnt war und nun bekam sie dafür die Quittung.

Vielleicht würde es ihr gut bekommen, das Angebot der Fitnessstudios, in denen sie Unterricht gab, zu nutzen. Denn in jedem davon durfte sie kostenlos trainieren. Stattdessen verschwand sie jedoch fast immer sofort nach ihren Stunden, weil sie sich dort nicht gerne aufhielt.

Sie erreichte gerade mit der Schüssel ihr Sofa, als das Telefon klingelte. Die Anruferkennung zeigte die Nummer von Miriams Büroanschluss.

»Hi Liebes«, begrüßte sie ihre beste Freundin, bevor sie sich den ersten Löffel ihres Frühstücks in den Mund schob.

Miriam plauderte fröhlich drauf los und vertrieb damit auch noch die letzten Reste von Emis schlechter Stimmung. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus.

»Gestern Abend war ich in einer Bar zum Speeddating«, berichtete sie, während sich Emi ihrem Essen widmete. »Die Stadt ist voller Idioten, das kann ich dir sagen!«

Emi verschluckte sich an einem Stück Apfel. Hustend brachte sie das Stückchen aus ihrer Luftröhre wieder hinauf, ehe sie dem Lachen nachgab.

»Wenn du einen Idioten suchst, könnte ich auch noch den einen oder anderen empfehlen«, prustete sie.

Mit Miriam war einfach alles federleicht. Jedes Gespräch endete mit Bauchschmerzen vor Lachen, denn ihre Freundin hatte eine wahre Begabung zum Geschichtenerzählen. Nicht ohne Grund waren ihre Kolumnen in dem Frauenmagazin, bei dem sie angestellt war, ausgesprochen beliebt bei den Leserinnen.

»Welche Idioten könntest du denn anbieten?«

Emi berichtete inzwischen mit einer Prise Selbstironie über den Vorfall am Abend, aber ein wenig Scham beschlich sie dennoch.

»Das klingt aber nicht gut«, kommentierte Miriam unerwartet ernst.

So hart ging sie normalerweise nicht mit Emi ins Gericht, aber sie hatte natürlich Recht. Es klang weder nach Emi noch so, als wäre sie ausgeglichen und psychisch stabil.

»Vielleicht solltest du ihn anzeigen.«

Nun war ihre Verwirrung perfekt.

»Anzeigen? Weil er meinen Unterricht sabotiert? Das wäre doch ein bisschen übertrieben, meinst du nicht?«

»Nein, weil er dich bedrängt hat. Sowas macht ein normaler Mann doch nicht. Wer weiß, was in seinem Kopf falsch läuft«, gab sie zu bedenken. »Wenn du dich jetzt auch noch entschuldigst, glaubt er noch, du stehst doch heimlich auf ihn, und fühlt sich in seinem Tun nur bestätigt. Das wäre so ziemlich das Letzte, wozu ich dir jetzt raten würde.«

So hatte Emi das Ganze noch gar nicht betrachtet.

Sie war nur bestrebt gewesen, das von ihr begangene Unrecht wieder auszugleichen. Die Sache im Umkleideraum hatte sie nur noch als einen der Tropfen gesehen, der das Fass vor dem Überlaufen gefüllt hatte.

Aber natürlich lag Miriam irgendwie mit ihrer Einschätzung auch nicht ganz daneben. Hatte sie wirklich etwas von ihm zu befürchten?

»Mit welcher Begründung sollte ich ihn anzeigen? Nur weil ich mich dabei bedroht gefühlt habe, ist das doch noch lange nicht strafbar.«

»Doch, das ist es«, erwiderte Miriam vehement. Damit war das Thema für sie beendet. »Auf jeden Fall will ich diesen Idioten nicht kennenlernen. Mir reichen die, die sich auf diesen Veranstaltungen herumtreiben.«

Emi war dankbar über den erneuten Themenwechsel. Sie hätte keine weitere Minute mehr über diese unangenehme Situation nachdenken wollen. Anzeige zu erstatten kam für sie nicht in Frage. Dann wäre sie doch das Opfer, das sie nie sein wollte. Diesen Sieg gönnte sie Thomas nicht.

»Warum versuchst du es nicht mal mit diesen Internetplattformen für Singles?«

Dann war es an Miriam, sich vor Lachen zu verschlucken, obwohl Emis Vorschlag absolut ernst gemeint war. Sie hörte immer wieder von Paaren, die sich über solche Plattformen und Apps fanden. Da war es doch gar keine so schlechte Idee, es einmal auszuprobieren.

»Pah, du weißt schon, dass es eigentlich heißen müsste: Alle 11 Minuten kommt ein Fake-Single dank Tinder!« Miriam spielte auf einen Werbeslogan einer anderen Partner-Plattform an. »Nee, ohne mich. Da gibt es so viele Männer, die nur ne schnelle Nummer suchen und zuhause eigentlich Frau und Kinder haben. Schäbig ist das!«

KAPITEL SECHS

EIN BEKANNTES GESICHT

CHARLOTTE

Stelter organisierte bereits auf der Fahrt mit der Telefonzentrale, dass die Mitarbeiterin, die am Vortag ebenfalls in der Spätschicht gearbeitet hatte, zum Verhör aufs Präsidium gebeten wurde.

Immer wieder zwang sie der städtische Verkehr zum Stillstand. So fanden sie bei ihrem verspäteten Eintreffen ein zierliches, dunkelhäutiges Mädchen auf einem Stuhl im Flur vor.

Die junge Angestellte blickte verstört auf und folgte ihnen mit den Augen den Gang entlang.

»Sind Sie Herr Stelter?«, fragte sie, als er den Schlüssel zum Büro aus der Tasche zog.

»Kriminalhauptkommissar Stelter eigentlich, aber da wollen wir heute mal nicht so kleinlich sein«, gab er ihr in großväterlichem Ton zur Antwort.

Irgendwie mochte Charlotte den alten Mann ja doch, sie kam nur nicht recht an ihn heran.

Die junge Frau erhob sich vom Stuhl und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. Sie mochte vielleicht sechzehn oder siebzehn sein.

»Kommen Sie erstmal rein«, bat Stelter.

Die Auszubildende des Fitnessstudios wirkte aufrichtig erschüttert. Sogar die Hand, die sie Charlotte reichte, war eiskalt.

»Möchten Sie einen Tee oder Kaffee?«

Die Mitarbeiterin des Fitnessstudios schüttelte den Kopf. Charlotte ging trotzdem in die Teeküche und holte einen Kaffee für sich und den Kollegen. Als sie ins Büro zurückkehrte, hatte sich das Mädchen auf den Besucherstuhl gesetzt und die Jacke sorgsam gefaltet über die Lehne gelegt.

Eine Tasse reichte sie Stelter und zog dann die Liste mit den Mitarbeitern aus der Hosentasche. Sie strich das Blatt glatt, markierte eine Zeile mit dem Textmarker und reichte es ihrem Partner. So wie sie die Situation einschätzte, hatte er keine Ahnung, wie das Mädchen vor ihm hieß. Der alte Mann warf einen Blick darauf und schmunzelte ihr komplizenhaft zu. Richtig geraten!

»Sie sind also Frau Ibori?«, fragte er das Mädchen.

»Ja, Sie können mich aber gern Vanessa nennen«, antwortete die angehende Fitness-Kauffrau.

»In Ordnung, Vanessa«, gab Stelter zurück und begann, ihr seine Fragen zu stellen. »Ist es korrekt, dass sie gestern Abend im Chrome Fitness gearbeitet haben?«

Vanessa nickte und Stelter fuhr fort. Charlotte setzte sich in ihren Drehstuhl, der ihr in den letzten Wochen beinahe am Hintern festgewachsen war, hob den Kaffee an die Lippen und übte sich im Beobachten.

»Bis wann waren Sie gestern dort?«, erkundigte sich ihr Partner in seinem freundlichsten Tonfall. Er gab sich Mühe, das junge Mädchen nicht noch mehr zu verunsichern, als sie es ohnehin schon war.

»Ich hatte um halb elf Feierabend. Weg war ich dann gegen viertel vor«, gab die Mitarbeiterin nach kurzem Nachdenken an.

»War Herr Kubica zu dem Zeitpunkt noch im Geschäft?«

»Ja, aber er hat direkt hinter mir die Tür abgeschlossen und wollte dann auch Feierabend machen«, erklärte sie mit weit geöffneten fast schwarzen Augen.

»Wissen Sie, ob er noch eine Verabredung hatte?«

»Nein, sowas erzählt Thomas mir nicht.« Ihre Augen füllten sich bei der Erwähnung seines Namen mit Tränen. »Oh mein Gott, ist er wirklich tot?«

Stelter sah sie eindringlich an und nickte langsam. Er konnte erstaunlich einfühlsam sein, wenn er wollte.

»Scheiße, was mache ich denn jetzt?«, presste sie unter lautem Schluchzen hervor und hob die Finger an die Lippen.

Stelter ließ ihr Zeit, die Information zu verarbeiten und für sich zu bewerten. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, um die Tränen zu verbergen, die ihr nun in glitzernden Spuren die Wangen hinab rannen.

Der Grund für ihre Verzweiflung erschloss sich Charlotte nicht. War sie in den deutlich älteren Kollegen verliebt gewesen? Sie signalisierte Stelter, dass sie der Zeugin eine Frage stellen wollte und wartete auf ein Signal seiner Zustimmung. Kaum merklich nickte er ihr zu.

»Waren Sie mit ihm befreundet?«, fragte sie das weinende Mädchen behutsam und ohne direkt mit ihrer Vermutung herauszuplatzen.

Die Angesprochene schüttelte entschieden den Kopf. Stelter sah aufmerksam herüber, als wäre er neugierig, worauf sie hinaus wollte.

»Nein, er ist mein Ausbilder. Persönlich hatten wir nichts miteinander zu tun. Aber wenn er jetzt nicht mehr da ist, kann ich die Ausbildung nicht beenden«, erschrocken unterbrach sie sich und schlug erneut die Hände vor den Mund. »Oh, das klingt wahnsinnig egoistisch. So meine ich das natürlich nicht! Es ist furchtbar, dass er tot ist.«

Das Mädchen kam als Täterin nach Charlottes Einschätzung kaum in Frage. Zwar hätte sie eine Gelegenheit dazu gehabt, aber irgendwie traute sie Vanessa diese Gewalttat nicht zu. Sie schien emotional nicht sonderlich involviert zu sein, wenn das Erste, woran sie dachte, ihre Ausbildung war.

Möglicherweise konnte sie trotzdem wichtige Hinweise liefern und wusste es selbst noch nicht. Also stocherte sie weiter im Nebel und versuchte, mehr über die letzten Stunden des Mannes in Erfahrung zu bringen.

»Gab es gestern oder in den vergangenen Tagen irgendwas besonderes? Ist Ihnen eine Veränderung an Herrn Kubica aufgefallen?«

Die Auszubildende verknotete die Finger auf dem Tisch und verzog nachdenklich die Lippen.

»Nein, eigentlich nicht«, erklärte sie nach einer kleinen Pause. »Außer vielleicht, dass es gestern einen Streit zwischen ihm und einer der Gast-Trainerinnen gab.«

Ein Streit. Das klang doch für den Anfang schon mal ganz vielversprechend.

»Wer war das?«

»Sie heißt Amy oder so. Den Nachnamen weiß ich nicht.« Stelter konsultierte erneut die Liste der Mitarbeiter auf seinem Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Steht hier nicht«, murrte er.

Charlotte ließ sich den Zettel reichen und fand ebenfalls keine Trainerin mit diesem oder einem ähnlichen Namen.

»Haben Sie eine Ahnung, worum es bei dem Streit ging?«

Vanessa räusperte sich.

»Nee, vielleicht irgendwas mit einem Handy. Keine Ahnung, ob es was mit Fotos zu tun hatte. Ich hatte ja eigentlich zu tun und da waren auch gerade so viele Leute.«

* * *

Kurz nachdem Vanessa Ibori ihr Büro verlassen hatte, erhielt Stelter von David Bräuer per Telefon die Adresse der Trainerin, mit der das Opfer in Streit geraten war.

»Die ist dort nicht fest angestellt. Sie arbeitet nur einmal pro Woche für eine Stunde auf Rechnung dort«, erklärte er im Auto und winkte ab. »Bräuer sagt übrigens, dass es bei dem Streit recht heftig zugegangen sei.«

»Wenn es um die Art von Fotos geht, an die ich denke, kann ich das verstehen«, gab sie kopfschüttelnd zu bedenken.

»Die jungen Leute heute machen komische Sachen. Zu meiner Zeit hat man davon einfach keine Fotos gemacht.« Offenbar dachte er in eine ähnliche Richtung wie sie.

Der Nachmittag war inzwischen angebrochen und die Sonne war herausgekommen und lockte alle nach draußen. Die halbe Stadt schien sich auf den Straßen Berlins herumzutreiben.

Sie quälten sich durch den Stadtverkehr und erreichten die genannte Adresse erst viel später als geplant. Bei der Trainerin hatten sie sich nicht vorher angemeldet.

Mittlerweile wünschte Charlotte allerdings, sie hätten es getan. Denn wenn sie nun nicht zuhause war, mussten sie unverrichteter Dinge wieder zurückfahren. So hatte sie sich ihren Nachmittag nicht vorgestellt. Außerdem wartete auch noch der versprochene Einkauf auf sie, den sie am Abend erledigen musste.

Kurz nachdem ihr Partner den Klingelknopf betätigt hatte, öffnete sich auch schon die Tür. Die Wohnung befand sich im dritten Stock und der alte Mann hatte erneut mächtig mit den Stufen zu kämpfen.

Dem ständigen Rauchen verdankte er eine erheblich verminderte Lebenserwartung und starke Einbußen in Sachen Fitness. Oben angekommen klingelte Charlotte nun an der Wohnungstür. Stelter schleppte sich hinter ihr die letzten Stufen hinauf, als eine rothaarige Frau ihnen öffnete. Sie trug nur einen Stiefel, der andere Fuß steckte lediglich in einem Socken.

»Frau Moorkamp? Wir sind von der Kriminalpolizei. Wir würden gerne mit Ihnen sprechen«, sagte sie und hielt der Frau ihren Dienstausweis entgegen.

Als die Trainerin aufblickte, meinte Charlotte, sie von irgendwoher zu kennen, aber sie konnte sich nicht entsinnen. Die Kollegin des Opfers öffnete die Tür bereitwillig und ließ sie eintreten.

»Klar, kommen Sie rein.«

Der Flur machte einen charmant chaotischen Eindruck. Auf einer Kommode stand ein Ständer mit bunten Schmuckstücken im Ethnolook. Federn, Muscheln, Lederbänder, schimmernde Steine –in den extravaganten Stücken waren sogar verschiedene Materialien miteinander kombiniert. Gar nicht Charlottes Stil, aber gerade zu diesen roten Haaren sahen die Stücke bestimmt toll aus.

Daneben hing ein Schlüsselbrett mit allerhand Krempel. Schals und Mützen nahmen die Garderobenhaken hinter der Tür in Beschlag. Ungerahmte Fotos zierten die Wände wie eine Wimpelkette.

Die Frau ging auf ihrem einen Stiefel wackelig voran in ein hell eingerichtetes Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen, wo sie in den zweiten Schuh schlüpfte.

»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie freundlich und sah mit wachem Blick zu Stelter und ihr auf.

Charlotte trat einen Schritt zurück und überließ Stelter das Reden, der sogleich den Ball aufnahm. Sie überlegte immer noch, woher sie die Trainerin kannte. Bis zu diesen Morgen war sie nie in dem Studio von David Bräuer gewesen.

»Sie kennen einen Thomas Kubica«, knurrte ihr Partner.

Seufzend faltete die Rothaarige die Hände vor dem Gesicht. Irritiert von dieser Reaktion warf Charlotte ihrem Partner einen fragenden Blick zu. Brach sie etwa jetzt schon zusammen?

»Ja, aber es ist wirklich nicht meine Art, so aus der Haut zu fahren«, beteuerte die junge Frau. »Ich wollte mich heute bei ihm entschuldigen und das Geld für das blöde Handy bekommt er auch. Sie vergeuden also wirklich Ihre Zeit.«

»Wo wir unsere Zeit vergeuden, können wir wohl besser einschätzen als Sie«, blaffte der alte Mann sie an.

Das Gesicht der Trainerin verbarg ihre Emotionen nicht. Charlotte konnte in einer Sekunde Verwirrung, Zorn und Scham über ihr Gesicht zucken sehen. Schließlich funkelte sie Stelter wütend an, doch er hielt mit eiserner Miene dagegen.

Dann wandte sie sich Charlotte zu, musterte sie und zog die Brauen zusammen. »Wir kennen uns irgendwoher, oder?«

Charlotte nickte vorsichtig, doch ehe sie antworten konnte, grätschte Stelter dazwischen.

»Ist ja schön, dass Sie Zwei sich kennen. Doch ehe es hier zum Austausch von Nettigkeiten kommt, möchte ich kurz zum Grund unseres Besuchs überleiten. Thomas Kubica und Sie hatten am Vorabend einen Streit, ist das richtig?«

Sie war einerseits beeindruckt davon, wie wandelbar seine Gesprächsführung war, andererseits ärgerte sie sich in diesem Moment darüber, dass er sie nicht einmal hatte zu Wort kommen lassen. Charlotte hätte gerne gewusst, ob der Trainerin einfiel, wo sie sich schon einmal begegnet waren.

»Ja, das sagte ich doch bereits«, stöhnte die Verdächtige genervt auf. »Meine Güte, das ist doch wohl wirklich kein solches Drama wert!«

»Worum ging es in Ihrem Streit?«

Stelter nagelte sie fest wie ein Kampfhund, der sich in seine Beute verbissen hatte. Keine Chance, ihn davon abzuhalten. Wenn er eine Schwachstelle fand, bohrte er so lange und so unnachgiebig, bis er Erfolg hatte. Das hatten ihr bereits zahlreiche Kollegen berichtet.

»Der Ochse hat mir einen dämlichen Streich gespielt und ich habe sein Handy etwas zu heftig fallenlassen. Dann hat er beim Chef gepetzt und ich habe eine Abmahnung gekriegt.«

Es klang, als erzählte sie diese Geschichte nicht zum ersten Mal. Ihr Ton klang monoton und genervt. Nicht mehr wütend, wie Charlotte auffiel. Falls sie bereits wusste, dass Kubica tot war, verbarg sie das hervorragend.

»Sie hatten also allen Grund, sauer auf ihn zu sein«, fasste ihr Partner mit vor der Brust verschränkten Armen zusammen.

Die Trainerin quittierte seine Aussage nur mit einem Schulterzucken.

»Ich fasse es nicht, dass Sie deswegen wirklich hierher kommen.«

»Wie war denn sonst Ihr Verhältnis zu Herrn Kubica?«, setzte Stelter neu an.

»Er ist ein aufdringlicher Typ, der glaubt, er kann bei jeder landen. Ich kann ihn nicht besonders gut leiden, aber das ist ja wohl nicht strafbar!«

Sie verdrehte die blaugrauen Augen und schüttelte abfällig den Kopf.

»Es wird Sie also nicht besonders erschüttern, wenn wir Ihnen mitteilen, dass Herr Kubica in der vergangenen Nacht ermordet wurde«, warf Stelter ihr entgegen und lauerte auf ihre Reaktion.

Die Frau hörte auf, den Kopf zu schütteln, und musterte Stelter und Charlotte noch einmal intensiv.

»Das ist ja wohl ein schlechter Scherz«, empörte sie sich, stand auf und stemmte die Hände in die Taille. »Ich würde jetzt gerne doch noch einmal Ihre Ausweise sehen.«

Charlotte griff nach ihrem Ausweis in der Jackentasche und auch Stelter zog seinen hervor.

»Okay, und woran erkenne ich nun, dass die Ausweise echt sind?«, fragte sie unsicher.

Charlotte erklärte ihr geduldig, welche Sicherheitsmerkmale es auf den Ausweisen gab. Nickend musste die junge Frau einsehen , dass sie tatsächlich der echten Polizei gegenüberstand.

»Ich kann es nicht fassen.« Sie seufzte und sank kraftlos zurück in die Polster ihrer Couch. »Gerade habe ich noch geglaubt, Sie wären hier, weil ich sein Handy kaputt gemacht habe. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, aber deshalb gleich die Polizei zu rufen, fand ich total übertrieben…«

»Wo wir das nun geklärt hätten, erzählen Sie mir doch bitte, was sie nach dem Streit mit ihrem Kollegen gemacht haben«, schaltete sich Stelter wieder ein.

»Er ist wirklich tot?«, fragte sie ermattet.

Irgendwie mochte sie die Trainerin, obwohl sie immer noch nicht wusste, warum sie ihr so bekannt vorkam. Die Rothaarige war nun schon die Zweite, die den Tod des Opfers nicht so recht glauben wollte.

Hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie im Streit auseinandergegangen waren oder hatte sie ihm den Tod sogar gewünscht? Oder war sie eine Mörderin, die gut die Unschuldige mimen konnte?

Charlotte nahm die Rolle der verständnisvollen Polizistin an und setzte sich neben die Zeugin auf das Sofa. Ein klassischer Good Cop, Bad Cop Ansatz.

»So leid mir das jetzt auch tut, aber Sie müssen uns sagen, wo Sie nach dem Streit waren.«

Sämtliche Abwehr, die sie ihnen zu Beginn entgegengebracht hatte, schien mit einem Mal verschwunden.

»Ich bin nach der Stunde nach Hause gegangen, habe später noch bei einer Freundin gegessen und war den Rest der Nacht allein zu Hause.«

»Na, dass das kein gutes Alibi ist, wird Ihnen ja wohl klar sein«, spottete Stelter, der immer noch mit vor der Brust verschränkten Armen mitten im Raum stand. Von ihrer Position auf dem Sofa aus wirkte er wie ein Bär, dem man seinen Honigtopf gestohlen hatte. Charlotte musste sich das Lachen verkneifen.

KAPITEL SIEBEN

DIE KARMAREINIGUNG IST HEUTE GESCHLOSSEN

EMI

Thomas war tot. Es war einfach unglaublich. Der Besuch der Polizei hatte ihr völlig den Boden unter den Füßen weggerissen. Die Wahrheit war noch viel geschmackloser, als es ein Scherz jemals hätte sein können.

Sie würde sich nun nie mehr bei ihm entschuldigen können. Das Unrecht war nicht mehr auszugleichen. Allerdings wusste sie nach dem Gespräch mit Miriam sowieso nicht mehr, ob das so eine gute Idee gewesen wäre.

Was sie allerdings schockierte, war die Tatsache, dass sich bei ihr keinerlei andere Gefühle zu seinem Tod einstellten. Da war kein Bedauern darüber, dass ein Leben zu Ende gegangen war. Keine Trauer.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm so viel Wut entgegengebracht hatte. Er hatte all das verdient. Sie war zwar etwas über das Ziel hinausgeschossen, doch er hatte ihre Reaktion bewusst provoziert.

Das schlechte Gewissen der letzten Stunden fußte lediglich darauf, wie sehr sie andere Menschen mit ihrem Verhalten vor den Kopf gestoßen hatte. David zum Einen und Isa zum Anderen. Sie hatte ihr den Job verschafft. Wenn sie nun auf diese Weise ausschied, warf das ein schlechtes Licht auf ihre Freundin.

Als die beiden Polizisten sie aufklärten, wurde ihr klar, was sie wirklich fühlte. Erleichterung. Nun musste sie sich nicht mehr mit der potenziellen Bedrohung auseinandersetzen, die Thomas vielleicht oder vielleicht auch nicht darstellte.

Der ältere Beamte hatte sie eindeutig nicht gemocht. Sie hatte keine Ahnung, warum er schon von vornherein so negativ eingestellt war. Schließlich gab er ihr überhaupt keine Chance, seine Gunst zu gewinnen. Zu glauben, sie würde Streitigkeiten mit Mord oder sonstiger Gewalt lösen, war absurd.

Verdammt, wenn sie geahnt hätte, dass sie ein Alibi für die Nacht bräuchte, hätte sie doch bei Sonja geschlafen, anstatt noch einmal in den verfluchten Regen hinauszulaufen. Sonja hatte es sogar angeboten.

Sie fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. Wo war sie hier bloß hineingeraten?

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Emi dankbar, dass ihr großer Bruder sich für ein Jurastudium entschieden hatte, anstatt seiner heimlichen Leidenschaft für Geschichte nachzugeben. Beides waren aus ihrer Sicht zwar furchtbar langweilige Themenfelder, aber als Anwalt konnte er ihr wenigstens aus dieser Sache wieder heraushelfen, falls die Situation sich weiter zuspitzte.

Im Augenblick jedoch brauchte sie mal wieder einfach nur jemanden zum Reden. Am Donnerstagnachmittag hatte Miriam immer ihre Redaktionssitzung. Bei ihr brauchte sie es also gar nicht erst zu versuchen. Sonja war im Restaurant, vielleicht hatte sie dort ein paar Minuten für sie. Falls nicht, bekam sie wenigstens noch ein leichtes Abendessen vor dem Unterricht.

Dort angekommen konnte sich Sonja ein paar Minuten für sie davonstehlen, aber mehr war um diese Uhrzeit nicht möglich. Die ersten Gäste zum Abendessen trafen ein. Länger als eine Zigarettenpause konnte sie ihre Kollegen nicht allein lassen.

Natürlich rauchte Sonja nicht – das Geld investierte die ehrgeizige junge Frau lieber in ihre Zukunft. Doch sie nahm für sich in Anspruch, ebensolche Pausen machen zu dürfen wie ihre rauchenden Kollegen.

Die erste Hälfte der Geschichte kannte Sonja schon. Das machte es für Emi leichter, alle Informationen in das kleine Zeitfenster zu quetschen, das ihr zur Verfügung stand.

Sie musste diesen Ballast loswerden, bevor sie in die nächste Unterrichtsstunde stolperte und alles wieder mitnahm. Ihre Schüler spürten, wenn sie nicht bei der Sache war und es war ihnen gegenüber nicht fair. Sie verdienten ihre volle Aufmerksamkeit in diesen 55 Minuten.

Emi und Sonja verließen das Restaurant durch den Hinterausgang, wo sie sich nebeneinander an die Fassade lehnten. Emi begann, sich den Kummer von der Seele zu reden.

»Ich hatte Besuch von der Polizei. Stell dir vor, dieser Trainer wurde gestern ermordet.«

Sonja riss die Augen auf und drehte ihr wie in Zeitlupe den Kopf zu.

»Ist nicht wahr, oder?«

»Doch, und die glauben ernsthaft, ich hätte etwas damit zu tun. Ist das nicht entsetzlich?«

»Aber du warst doch bei mir?«

Emi seufzte betreten und legte die Finger an ihre Stirn.

»Offenbar war ich nicht lange genug bei dir. Es muss wohl spät am Abend oder in der Nacht passiert sein. Das haben sie mir nicht so genau gesagt.«

Sonja knuffte sie in die Schulter, um sie aufzumuntern. Die Geste half allerdings kaum.

»Arme Kleine, das ist ja echt Mist«, fasste sie die Situation schließlich zusammen. »Aber wenn ich das so sagen darf, der Typ hat verdient, was er bekommen hat.«

»Nein, das hat niemand verdient«, widersprach Emi, auch wenn sie selbst nicht komplett überzeugt war. Sie seufzte und spürte den bohrenden Schmerz ihrer Unaufrichtigkeit in der Brust wie einen entzündeten Stachel.

»Niemand? Nicht einmal Tierquäler und Vergewaltiger? Wer weiß schon, was er mit dir geplant hatte?«

Sonja warf einige wichtige Fragen auf, aber nun war Emi in Sicherheit. Ganz egal, was Thomas tun wollte oder getan hätte, wenn er noch am Leben wäre. Sonja warf einen Blick auf die Uhr ihres Smartphones.

»Ich muss gleich wieder rein.«

»Du hast recht. Er hat verdient, bestraft zu werden, aber ich finde es trotzdem ziemlich drastisch, ihn gleich zu ermorden. So gibt es keine Chance sich zu rehabilitieren.«

»Glaubst du denn an Rehabilitation?«

»Manchmal«, murmelte Emi und dachte an sich selbst. In ihrer Jugend war sie durch ein paar Jahre gegangen, von denen sie sich selbst rehabilitieren musste. Aber es hatte eine Menge Willenskraft und Ausdauer gebraucht. Wer das nicht aufbrachte, würde eine Rehabilitation wohl nie schaffen.

»So ist es besser«, folgerte Sonja streng. »Jetzt macht er dir definitiv keine Probleme mehr.«

Emi nickte gedankenverloren. Sonja drückte sie noch einmal sanft und zog die schwere Tür wieder auf, um zurück in die Küche zu huschen. Kaum war die Tür hinter ihr zugefallen, sackte Emi an der rauen Wand zusammen und suhlte sich für einen Moment in ihrem ungewohnten Selbstmitleid.

Nur Sekunden später begann ihr Mobiltelefon zu vibrieren. Das Display zeigte Davids Namen an. Sie holte tief Luft und wappnete sich für ein schwieriges Gespräch.

Sicher rief David nicht an, um ihr sein Beileid auszusprechen oder sie für ihr Verhalten vom Vortag in irgendeiner Weise zu belohnen.

»Hallo David«, überfiel sie ihn. »Gut, dass du anrufst, ich wollte gleich vorbeikommen und mich bei dir entschuldigen. Gestern sind wohl ein bisschen die Pferde mit mir durchgegangen.«

Sie hoffte, ihm damit den Wind aus den Segeln nehmen zu können, falls er noch immer sauer war. Seine Antwort auf ihre Entschuldigung fiel jedoch nicht wie erwünscht aus und Emi wurde mit jedem seiner Sätze ein bisschen kleiner.

David hatte ihr mitgeteilt, dass er ihre Stunden vorläufig einer anderen Trainerin übertragen würde. Dies sei noch nichts Endgültiges, aber für den Moment wohl die beste Lösung, hatte er ihr in eisigem Ton erklärt.

Die Kälte der Wand in ihrem Rücken drang durch ihre Jacke. Es wurde Zeit, dass sie sich auf den Weg zu ihrer Stunde machte. Wenn sie deshalb zu spät zu den wenigen Jobs kam, die sie noch hatte, musste sie bald bei ihren Eltern um Geld betteln.

* * *

CHARLOTTE

Auf der Rückfahrt ins Präsidium fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie kannte die Frau aus dem neuen Yogakurs, in den sie seit ein paar Wochen sporadisch ging, wenn sie die Pilates-Einheit verpasste. Sie hieß nicht Amy sondern Emi.

Sie war noch nicht häufig in dem Kurs gewesen, doch sie mochte die warmherzige Ausstrahlung der Yogalehrerin. Es gelang ihr jedes Mal, sich dort zu entspannen.

Wenn sie sich recht erinnerte, war es der Donnerstag-Kurs, den sie leitete. Falls sie nicht wieder im Stau steckenblieben, konnte sie es heute noch rechtzeitig schaffen.

Die versprochenen Einkäufe für ihre Mutter verschob sie kurzerhand in die späteren Abendstunden. Die Supermärkte hatten schließlich lange genug geöffnet. Sie merkte erst, dass sie mit dem Bein wippte, als Stelter sie darauf ansprach.

»Sind Sie wegen irgendwas nervös, Frau Kollegin?«

Sie hatte keine Lust, ihn über ihre Gedanken in Kenntnis zu setzen. Vermutlich interessierte es ihn sowieso nicht und er wollte sie nur aufziehen.

»Wir sollten morgen mal mit den anderen Kollegen sprechen«, schlug sie stattdessen vor.

Stelter nickte brummend.

»Das können wir machen. Den Bräuer lassen wir am besten auch nochmal kommen. Der soll uns mal seine Version des Streits erzählen. Ich wüsste gern, was da wirklich abgelaufen ist. Von Fotos hat die Moorkamp ja nun nichts erzählt…«

Für sie war das Thema mit dem Streit eigentlich schon abgehakt. Man brachte doch keinen nervigen Kollegen um, nur weil man sich mal in die Haare bekam. Anderenfalls hätte sie inzwischen schon so Manchen auf dem Gewissen.

»Meinen Sie, sein Tod hat wirklich was mit diesem Streit zu tun?«, hakte sie skeptisch nach.

»Es ist bisher unsere einzige Spur«, erklärte er mit einem langen Blick zu ihr. »Den Umstand zu ignorieren, wäre deshalb reichlich dämlich.«

Ohne Stelter noch einmal ins Büro zu folgen, verabschiedete sie sich direkt auf dem Parkplatz.

»Okay, dann sehen wir uns morgen.«

Ihr weinroter Twingo brachte sie gerade noch rechtzeitig nach Hause, um die gepackte Sporttasche neben der Eingangstür zu schnappen und pünktlich zu dem Kurs ins Studio zu joggen.

In buchstäblich letzter Minute huschte sie in den Kursraum und suchte sich einen Platz in der letzten Reihe, um ihre Matte auszurollen.

Emi begrüßte die Klasse ohne ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Nach einer kurzen angeleiteten Meditation begannen sie mit dem Sonnengruß, einer Abfolge von Übungen, die Charlotte bereits angenehm vertraut war.

Sie behielt Emi ständig im Auge. Sicher würde die Lehrerin sie nun auch erkennen, wenn sich ihre Blicke trafen. Emi sagte die nächsten Übungen und die passenden Übergänge in der Atemfolge an, wanderte durch den Raum und korrigierte gelegentlich einen der Teilnehmer in seiner Haltung.

Charlotte versuchte, sich auf die Übungen zu konzentrieren, doch es wollte ihr heute einfach nicht gelingen.

Peter Stelter konnte wirklich ein unhöflicher Klotz sein. Sie hoffte, sein Verhalten würde nicht irgendwann einmal auf sie abfärben. Vielleicht wurde man zu einem solchen Menschen, wenn man Jahrzehnte lang nur das Schlechte im Menschen zu sehen bekam.

Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, als sie zur Polizei ging. Ihr Vater und ihr Onkel waren ebenfalls Polizisten. Doch sie hatten sich ein Weltbild bewahrt, das nicht vollständig von ihrer beruflichen Realität gefärbt war.

Natürlich wurde man als Polizist nur dann angefordert, wenn die Dinge nicht schön und völlig in Ordnung waren. Man rief die Polizei bei Gewalt, Angst und Unrecht.

Erst als sie eine Hand auf ihrem unteren Rücken spürte, während sie eine der Kriegerhaltungen ausführte, wurde ihr klar, dass Emi nun hinter ihr stand.

»Hallo«, flüsterte Charlotte.

»Also hierher kennen wir uns«, antwortete Emi mit gesenkter Stimme.

Ihr herzliches Lächeln erzeugte eine Kettenreaktion in Charlottes angespanntem Körper. Erst spiegelte sie Emis Lächeln auf ihrem Gesicht, dann breitete sich ein warmes Gefühl in ihrem Bauch aus und setzte sich in den Brustkorb und die Extremitäten fort. Die Wärme entspannte alle Muskeln, die nicht für die Ausführung der Übung benötigt wurden und sie seufzte zufrieden auf.

Sie lächelte im Alltag viel zu selten. Vielleicht hielten ihre Kollegen deshalb so viel Abstand von ihr. Wirkte sie tatsächlich so unnahbar, wie ihr frühere Freunde vorgeworfen hatten?

Die Hand der Yogalehrerin lag noch immer weich auf Charlottes Shirt und gab ihr Halt. Wie angewiesen verlagerte sie ihr Gewicht auf das rechte Bein, neigte den Oberkörper nach vorn und streckte das linke Bein nach hinten.

Charlotte wusste um ihre Schwäche bei Balance-Übungen und auch Emi war es offenbar nicht entgangen. Mit der Hand, die nichts weiter tat, als ihre Konzentration auf die Stelle zu lenken, gelang es ihr erstmals bei dieser Haltung, nicht zu wackeln.

Emi nickte ihr freundlich zu und ging weiter zur nächsten Schülerin. Nach dem anstrengenden Teil der Stunde sank Charlotte erschöpft auf ihre Matte nieder und folgte den Anweisungen zur Einleitung der Entspannungssequenz.

Ihre Gedanken fuhren immer noch Achterbahn. Wie gerne würde sie Emi nach der Stunde noch einmal auf ihren Besuch ansprechen. Lief sie dabei Gefahr, ihr etwas über die Ermittlungen zu verraten, das ihren Fall sabotieren könnte?

Stelter würde es sicher verurteilen, wenn er wüsste, dass sie privat miteinander über den Fall sprachen. Aber es war ja nicht so, dass sie Emi irgendwelche Insider-Informationen zukommen lassen könnte. Sie wussten nichts.

Es gab keine Tatwaffe, keinen konkreten Todeszeitpunkt und keine Hinweise auf mögliche Täter. Einzig und allein der Streit von Emi und dem Opfer war bislang aus den Ermittlungen hervorgegangen. Die Spurensicherung hatte fleißig Dinge in Tütchen gesteckt, mitgenommen und tausende Fingerabdrücke gesammelt. Mehr als sie jemals im Detail auswerten konnten.

Als der sanfte Gong ertönte, hatte sie sich noch immer nicht entschieden, ob sie Emi nun ansprechen sollte oder nicht. Sie setzte sich auf und räumte träge ihre Sachen weg. Die Entscheidung wurde ihr schließlich abgenommen, als andere Schüler die Kursleiterin umringten und Charlotte keine Chance für ein Gespräch unter vier Augen mehr ließen.

Egal, sie musste sich sowieso um die Einkäufe für die Feier kümmern.

KAPITEL ACHT

KARUSSELLFAHREN HEUTE MIT FREIGETRÄNK

EMI

Ihre Gedanken wanderten rastlos umher. Sie waren einfach nicht zu stoppen. In ihrem Umfeld hatte es einen Todesfall gegeben, den jemand anderes – vielleicht ebenfalls aus ihrem Umfeld – bewusst herbeigeführt hatte. Möglicherweise kannte sie den Täter sogar.

Es war geradezu beängstigend. Jemand hatte nicht davor zurückgeschreckt, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen und Emi befand sich mittendrin in diesem Chaos.

Das alles begriff sie erst, als sie am Abend in ihrem Bett lag und an die kahle Decke starrte. Wie ein verirrter Pilger in der Fremde liefen ihre Gedanken im Kreis. Sie gelangte immer wieder zum gleichen Punkt, egal wie sehr sie versuchte, ihre Gedanken abzulenken.

Erst spät in der Nacht fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Selbst in ihren Träumen wurde sie von den Erinnerungen an den Mord und sein Opfer verfolgt. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie Thomas vor sich. Thomas, den Aufdringlichen. Thomas, den Weiberhelden.

Am Morgen wurde ihr klar, dass sie im Grunde nichts über den Mann wusste, der den Tod gefunden hatte. Die einzigen unumstößlichen Fakten ließen ihn nicht gerade im besten Licht erscheinen.

Er hatte sie bedrängt und benahm sich ziemlich kindisch, wenn er nicht bekam, was er wollte. Keine Attribute, mit denen er viele Freunde finden konnte. Trotzdem hatte er einen eigenen kleinen Fanclub gehabt, der ihm im Studio zujubelte.

In einem Anflug von Euphorie hatte sie zu Beginn ihres Engagements im Chrome Fitness seine Freundschaftsanfrage in einem sozialen Netzwerk angenommen, in dem sie sonst nur sporadisch zugegen war.

Thomas hatte dort sehr viele Freunde, was sie vor einigen Wochen noch beeindruckt hatte. Ob er sich mit diesen Leuten auch austauschte, wenn er offline war, wusste sie natürlich nicht. Wie viel wussten diese Menschen über ihn? Fanden andere Leute es irgendwie toll, Frauen zu bedrängen und ihnen Streiche zu spielen?

Wenn man sich Video-Pranks ansah, hatte sowas auf jeden Fall eine gewisse Fangemeinde. Emi hielt nicht viel von Leuten, die sich auf diese Weise mit dem Schrecken anderer profilierten. Im Grunde hielt sie diese sogar für ziemlich arme Würstchen.

Vielleicht war Thomas deshalb so übermäßig präsenter Mensch geworden, weil er verzweifelt Anschluss und Anerkennung suchte. Möglicherweise versuchte sie aber auch nur, seinem schlechten Verhalten irgendeinen nachvollziehbaren Anstrich zu verpassen, damit sie nicht mehr schlecht über ihn dachte, jetzt wo er tot war.

Thomas hatte auf sie nicht besonders einsam gewirkt. Niemandem konnte man wirklich hinter die Fassade schauen, wenn er sich gut genug verstellte. Falls er es gewesen war, tat es ihr leid.

Sie fühlte eine Wagenladung Schuld und Verwirrung, doch das würde sich nicht legen, wenn sie nicht aus dem gedanklichen Karussell ausstieg. Normalerweise half ihr ihre tägliche Praxis genau solche Momente zu überwinden.

Als auch das nichts brachte, brach sie den Versuch ab. Sie konnte nicht meditieren und sie konnte sich nicht auf die Übungen konzentrieren.

Sie brauchte Leute um sich.

Menschen, die redeten. Menschen, die lachten. Menschen, die sie irgendwie auf andere Gedanken brachten.

In der Nacht hatte es erneut zu regnen begonnen und alles vor ihrem Fenster in einen grauen undurchsichtigen Schleier gehüllt. Alles in allem sah es draußen nicht besonders einladend aus. Trotzdem hielten sie keine zehn Pferde mehr drinnen.

Ohne genau zu wissen, was sie mit dem Vormittag anfangen wollte, nahm sie einen Schirm aus dem Ständer neben der Eingangstür und verließ die Wohnung. Denn sie wollte nicht schon wieder in klitschnasser Kleidung bei einer ihrer Freundinnen um Asyl bitten müssen.

Vor dem Haus strömte das Wasser in breiten Bächen auf die Abflüsse am Straßenrand zu. Noch konnte das Kanalisationssystem die Wassermassen aufnehmen, doch die Wetterapp sagte auch für die nächsten Tage ergiebigen Regen voraus.

Hoffentlich hielten ihre Turnschuhe dem Regen lange genug stand, damit sie zumindest den nahegelegenen Coffeeshop mit trockenen Füßen erreichte. Bei jedem Schritt spritzte das Wasser auf.

Die Ampel in einigen Metern Entfernung hatte nur eine kurze Grünphase für Fußgänger und sprang gerade um. Sie rannte los, um nicht die nächste Ampelphase abwarten zu müssen – drei Minuten an der vielbefahrenen Straße im strömenden Regen, nein danke!

Gerade als sie auf der Mitte der Kreuzung angekommen war, sprang die Ampel auf rot, doch sie lief trotzdem weiter. Auf der Mittelinsel blieb sie erst recht nicht in diesem Schauer stehen. Ein LKW hupte und raste neben ihr durch eine tiefe Pfütze. Ein Tsunami aus Dreckwasser spritzte hoch.

»Scheiße«, fluchte sie ungehalten. Die Kleidung klebte ihr trotz des Schirms auf der Haut und sah aus, als hätte sie in Milchkaffee geduscht.

»Gummistiefel wären zwar eine bessere Wahl gewesen, aber geholfen hätten sie jetzt wohl auch nicht mehr«, kommentierte ein dunkelhaariger Mann, der das Elend amüsiert mitangesehen hatte.

»Danke«, blaffte sie und schüttelte sich. »Das wäre mir gar nicht aufgefallen!«

Er blieb stehen und sah sie trotz ihres Ausbruchs freundlich an.

»Sorry, das sollte nicht so klingen«, entschuldigte er sich und sie bemerkte einen starken Akzent. »Ich wollte nur etwas Lustiges sagen. Darf ich dich vielleicht zur Entschädigung auf einen Kaffee einladen?«

Er hob den Becher in seiner Hand, als wollte er ihr erklären, was ein Kaffee sei. Sie schnaufte durch. Ob er sie nun für blöd hielt oder ob das seine Art von Humor war, konnte sie in ihrer Entrüstung nicht beurteilen. Sie versuchte, das alles nicht so ernst zu nehmen.

In seinen Augen sah sie ein Glitzern. Eigentlich fand sie es sehr charmant, wenn ein Mann dazu stand, dass er etwas Dummes gesagt oder getan hatte, und seinen Fehler wieder gut machen wollte. Auch wenn sie in diesem Augenblick nicht unbedingt zum Flirten aufgelegt war, ließ sie sich mit einem unverbindlichen Schulterzucken auf sein Angebot ein.

»Na gut!«

Immerhin bot es die gewünschte Ablenkung von ihren trüben Gedanken und der Coffeeshop war sowieso ihr Ziel gewesen.

Sie musterte ihn verstohlen von der Seite. Schwarze Lederjacke, Drei-Tage-Bart und eine nerdige Wuschelfrisur. Gar nicht mal übel, wenn er ein bisschen größer wäre. Sein Lächeln wirkte auf alle Fälle sympathisch.

Sie verzieh ihm den unglücklichen Start und folgte ihm in den wenige Meter entfernten Coffeeshop, der ohnehin ihr Ziel gewesen war.

An den Füßen machte sich ein unangenehmes Gefühl von feuchter Kälte breit. Die Schuhe hatten es also nicht geschafft, die Wassermassen abzuhalten. Die Socken waren feucht geworden.

»Das ist wirklich kein guter Start in den Tag«, seufzte sie. »Und das nachdem gestern auch schon so ein Flop war.«

Er folgte ihrem Blick hinab zu den fleckigen Turnschuhen und sein jungenhaftes Gesicht nahm einen mitfühlenden Ausdruck an. Irgendwie hatte er etwas von einem Hund – treu, empathisch, anhänglich.

»Tut mir echt leid, dass es für dich nicht so gut läuft«, bekundete er. Der Akzent war britisch. Sie tippte auf den englischen Süden, war sich aber nicht ganz sicher.

»Ach, halb so schlimm«, winkte sie ab. »Anderen passieren schlimmere Sachen.«

Obwohl es eigentlich nicht ihre Absicht war, erinnerten sie die Worte erneut an den gewaltsamen Tod von Thomas. Sie setzte ein Lächeln auf, von dem sie hoffte, es wirkte unbekümmerter als sie sich fühlte. Daran wollte sie jetzt wirklich nicht denken. Sie war nicht durch den Regen gerannt und hatte im Brackwasser geduscht, um jetzt im gleichen Karussell weiter auf dem Fleck zu kreisen. Vor lauter Umdrehungen wurde ihr sowieso schon ganz übel.

Seite an Seite standen sie in der kurzen Schlange vor der Theke. Als sie an der Reihe waren, gab sie ihre Bestellung auf und der Fremde bezahlte fast wie bei einem Date. Nur dass sie absolut nicht danach aussah, als hätte sie sich für ein Date fertig gemacht…

Lediglich an den Schultern war ihre Jacke noch trocken. Sie öffnete den Reißverschluss und schlüpfte aus den nassen Ärmeln, damit nicht auch noch ihr Shirt durchfeuchtet wurde.

»Danke für die Einladung. Machst du sowas öfter?«

Er lachte. Es war ein herzliches, unbefangenes Lachen, das ihn Emi sofort sympathisch machte. Trotz des blöden Einstiegs!

»Du meinst, fremde Frauen mit dummen Sprüchen anquatschen und mich dann mit einer Einladung zum Soja-Latte entschuldigen?«

Das Glitzern in seinen braunen Augen war zurück und zwang Emi zu einem Schmunzeln.

»Nein, eigentlich nicht. Ich verbringe meine Tage gewöhnlich hinter einem Computerbildschirm, was man meinen eingerosteten Kommunikationsfähigkeiten wohl anmerkt.«

Es war kinderleicht, ihn zu mögen. Auch wenn bei ihr keinerlei Kribbeln im Bauch aufkam, fand sie ihn doch unheimlich nett.

»Was machst du denn beruflich?«

Es war ihr grundsätzlich lieber, über andere zu erfahren, als etwas über sich selbst zu erzählen. Einerseits fand sie es spannend, etwas aus dem Leben anderer Menschen zu hören, und andererseits mochte sie die negativen Reaktionen nicht, die ihr Lebenswandel bei manchen Skeptikern erzeugte.

Sie wollte nicht hören, dass sie einen dummen Fehler machte, die Karriere in der Medizin für etwas so unbeständiges wie Yoga an den Nagel zu hängen. Sie wollte nicht hören, dass sie diese Entscheidung in ein paar Jahren bereuen würde. Diese Einwände kannte sie alle und sie hatte sich trotzdem so entschieden und würde es immer wieder tun.

»Ich erstelle Webseiten und solche Sachen. Total langweiliger Kram. Und du?«

Es war nur fair, wenn sie sich auch ein wenig öffnete. Er wirkte nicht gerade wie jemand, der gleich mit ungefragten Ratschlägen um sich werfen würde.

Sie sah erneut an sich herab. Ihre Yogahose hatte einige Flecken von der unverhofften Dusche abbekommen.

»Also entweder bin ich Yogalehrerin oder ich hatte einfach keine saubere Kleidung mehr. Such dir etwas aus«, scherzte sie selbstironisch.

Seine treuen Hundeaugen verengten sich belustigt und begannen erneut zu funkeln. An der Getränkeausgabe reichte ihr eine Mitarbeiterin ihre Tasse.

»Dann wünsche ich dir, dass dein Tag sich zum Besseren wendet und vielleicht sieht man sich ja mal wieder«, verabschiedete er sich unverbindlich.

Sie sah ihm lange nach und grübelte. Was war das denn? Keine Telefonnummer, kein Austausch von Namen? Entweder war sie beim Flirten vollkommen eingerostet oder die Einladung zum Kaffee war wirklich nur eine freundliche Geste gewesen. Sollte es wirklich noch Menschen geben, die einfach nur freundlich waren?

Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster. Der Kaffee und die veränderte Umgebung taten ihr gut, trotzdem wusste sie nicht, was sie danach tun wollte. Eigentlich musste sie nach Hause, um sich etwas frisches anzuziehen.

Eine schlanke Frau mit einer engen schwarzen Hose schlenderte auf dem Bürgersteig vorbei und erinnerte sie an ihren Vorsatz vom Vortag. Zwar hatte sich danach einiges verändert, aber die Extrapfunde auf der Hüfte waren geblieben.

Ein bisschen Training konnte sicher nicht schaden. Bei dieser Gelegenheit würde sie David abpassen und noch einmal das Gespräch mit ihm suchen.

Vielleicht ließ er sich doch noch erweichen, sie weiterhin die Stunden geben zu lassen. Selbst wenn nicht, wäre sie nach einem Gespräch mit ihm gewiss wieder mehr die alte Emi, die ihr Gleichgewicht und ihren Seelenfrieden wiederfand.

* * *

Eine gute Stunde später stand sie im Sportoutfit im Chrome Fitness und legte sich einen Trainingsplan für die nächsten Minuten zurecht. Sie wollte mit ein bisschen Ausdauer starten und dann eine Runde ihre großen Muskelgruppen trainieren, damit sie viele Kalorien verbrannte.

Zwar verlor sie das Fett, wie sie sehr genau wusste, nicht unbedingt an den trainierten Stellen, aber die Zonen erfuhren wenigstens etwas Straffung. Sie schwang sich auf den Crosstrainer und begann mit ihrem Aufwärmprogramm.

Auf dem Fernseher unter der Decke lief eine Dauerwerbesendung für ein Eiweißpulver, das man sicher für unverschämt viel Geld an der Theke kaufen konnte.

Schon nach fünfzehn Minuten langweilte sie sich derartig, dass sie zum nächsten Teil ihres Plans überging. Beim Training ihrer Bauch- und Rückenmuskeln kam sie leicht ins Schwitzen.

Während sie sich in der Beinpresse völlig verausgabte, sah sie, wie David in sein Büro marschierte. Fast wäre sie aufgesprungen und ihm hinterhergelaufen, aber dann besann sie sich eines Besseren.

Es würde ihrer Sache sicher mehr bringen, wenn sie ihn nicht sofort überfiel, sondern stattdessen einen günstigeren Moment abpasste. Außerdem ahnte sie, dass übermäßiger Eifer, das Gespräch zu suchen, nur eine Fluchtreaktion ihres Unterbewusstseins war, das keine Lust auf sportliche Aktivität hatte.

Sie brachte mit ein wenig Selbstbeherrschung deshalb zuerst ihre Übungen zum Abschluss und schlenderte anschließend an die Theke. Das Gespräch mit David sollte sich wie zufällig ergeben.

»Hallo Emi, was kann ich denn für dich tun?«, fragte die Blondine hinter der Theke. »Wir haben uns ja eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«

Das kleine Namensschild auf ihrer Brust identifizierte sie als Giselle. Emi hatte sie sicher schon einmal hier gesehen, doch das Gesicht weckte keine besonderen Erinnerungen.

»Ähm, hi. Stimmt, ich war bislang nur zu meinen eigenen Stunden hier, aber ich dachte, ich tue mal ein bisschen was für mich.«

Sie klopfte sich auf die Problemzonen und warf ihr ein entschuldigendes Lächeln zu. Die Frau war etwa in ihrem Alter, hatte einen aufmerksamen Blick und strahlte sie professionell an.

»Das hast du gar nicht nötig. Lass dir von den Medien bloß nicht suggerieren, du müsstest aussehen, wie andere nach drei Stunden in Photoshop.«

Okay, Giselle wollte ihr schon mal kein Wundermittel verkaufen. Trotzdem wunderte sie das plötzliche Interesse dieser fast fremden Person. Seit wann war sie so skeptisch?

»Danke, das mache ich nicht. Ich habe nur festgestellt, dass ein paar meiner Klamotten nicht mehr so gut sitzen und ich habe kein Geld für eine neue Garderobe – also nehme ich einfach wieder ein bisschen ab. Dann erledigt sich das Problem von selbst.«

»Sehr clever«, kommentierte Giselle. »Kann ich dir irgendwas anbieten?«

Emi sah sich um. Das Angebot an Fitnessgetränken und Eiweißshakes war nichts für sie. Da David nicht von allein aus seinem Büro kam, während sie hier herumlungerte, musste sie wohl etwas offensiver werden.

»Könntest du bitte mal David fragen, ob er kurz Zeit für mich hätte?«

Sie hatte beschlossen, sich wieder ganz wie die alte Emi zu benehmen. Freundlich und gut erzogen. Beherrscht und entspannt. Sie sagte Bitte und Danke und war freundlich, wann immer es irgendwie möglich war.

Vor zwei Tagen hatte sie an dieser Stelle erlebt, wie bitter es enden konnte, wenn sie sich nicht im Griff hatte.

»Ja, na klar, warte kurz!«

Der blondgefärbte Bob betonte Giselles attraktives Gesicht. Sie hatte definitiv etwas Spezielles. Sportlich schlank und doch mit Rundungen an den wichtigen Stellen.

Die Männer standen bestimmt bei ihr Schlange, dachte Emi schmunzelnd, als sie ihr nachsah. Giselles Hüften wiegten sich, während sie die kurze Distanz zur Tür des Büros zurücklegte.

Thomas hatte bei ihr sicher auch sein Glück versucht, aber sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau die sie sich auf einen Mann wie ihn einließ.

»Komm ruhig rein«, winkte die Blondine sie herbei.

Emi trat um die Theke, schenkte Giselle ein Lächeln und schob sich an ihr vorbei ins Büro. Sie hatte sich keinen konkreten Plan für dieses Gespräch zurechtgelegt. Eigentlich hatte sie gehofft, ihr würden spontan die richtigen Worte einfallen. Doch ein echter Geistesblitz war nicht unter den Sätzen, die ihr durch den Kopf gingen.

»Hi David, ich weiß, ich habe es dir schon am Telefon gesagt, aber ich wollte mich noch einmal persönlich für meinen Ausraster vorgestern entschuldigen.«

Er sah sie skeptisch an und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Der Ledersessel kippte bedenklich weit nach hinten. Die kurzrasierten Haare verliehen ihm einen verwegenen Look, den sie zuvor bei ihren Gesprächen nie wahrgenommen hatte.

Jemand, der in diesem Geschäftsfeld Erfolg hatte, musste aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sein, mutmaßte Emi. Sicher steckte mehr hinter seiner Fassade als sie auf den ersten Blick erkannte. Die Konkurrenz war hart, besonders seit an jeder Ecke ein Studio eröffnete und sogar in den Einkaufszentren Geschäfte für Sportlernahrung entstanden.

Aber David hatte sich durchgesetzt. Sein Geschäft florierte.

Sein Schweigen verunsicherte Emi zunehmend. Die eisigen Augen, der angespannte Kiefer ihres Auftraggebers und die auf dem Tisch verschränkten Finger signalisierten nicht, dass er ihre Entschuldigung annahm.

Ganz im Gegenteil. Er erschien mehr von ihr zu erwarten.

Doch sie hatte nicht mehr vorzubringen. Sie hatte sich entschuldigt und ihren Fehler eingestanden. Wenn er erwartete, dass sie ihn anflehte, sie weiter zu beschäftigen, lag er falsch. Sie hatte Selbstachtung.

»Ich finde es wirklich schade, dass du mir die Stunden wegnimmst«, erklärte sie wahrheitsgemäß. »Für mich fühlt sich das an, als würdest du glauben, ich hätte etwas mit Thomas‘ Tod zu tun.«

Nun entspannte sich seine Körperhaltung. Er schüttelte den Kopf und machte eine beschwichtigende Geste mit den Händen.

»Emi, so darfst du das nicht sehen. Ich versuche nur, meinen Laden zu schützen. Der Tod von Thomas bringt auch so schon genug Unruhe mit sich. Dagegen kann ich nichts tun, außer dich aus der Schusslinie zu nehmen.«

Er kippte den Stuhl wieder nach vorn und stützte die Arme auf den massiven Schreibtisch. Seiner Rede folgte ein Aber, das er jedoch nicht aussprach. Ein Kloß saß ihr im Hals.

»Ich verstehe«, log sie.

»Nimm es mir bitte nicht übel, aber so lange diese Sache nicht abgeschlossen ist, möchte ich nicht, dass du hier gesehen wirst. Die Leute reden, weißt du?«

Sie atmete gegen die Tränen an, die ihr in die Augen zu steigen drohten. Seine Worte trafen sie tief.

Doch nicht die Leute redeten. Er war es. Er glaubte, dass sie etwas mit der Sache zu tun hatte und konnte ihr das nicht einmal ins Gesicht sagen. Stattdessen schob er irgendwelche Gerüchte vor.

»Dann erwarte bitte nicht, dass ich zurückkomme, wenn meine Unschuld bewiesen ist.« Mit hoch erhobenem Kopf sah sie ihn fest an. »Du darfst das als meine fristlose Kündigung betrachten.«

Sie drehte sich zur offenen Tür und schritt mit gestrafften Schultern hindurch. Giselle schrubbte die Edelstahltheke und wandte sich um, als sie die Bewegung in ihrem Rücken wahrnahm. Ihr mitfühlender Blick ließ keine Zweifel daran, dass sie wenigstens die letzten Worte, wenn nicht sogar das komplette Gespräch, mitbekommen hatte.

»Ich gehe dann mal meine Sachen holen«, murmelte Emi im Gehen.

»Tut mir echt leid«, flüsterte Giselle ihr hinterher.

KAPITEL NEUN

GUTE VORSÄTZE UND SCHLECHTE TRÄUME

CHARLOTTE

Mitten in der Nacht – es war noch stockdunkel vor ihrem Fenster – schrak sie schweißgebadet hoch. Nie im Leben hätte sie erwartet, dass ihr erster Mord ihr so sehr zusetzen würde.

So konnte die Nacht nicht weitergehen. Zwar hatte sie nicht aktiv mitgezählt, aber sie war nun schon mehrmals aufgewacht und hatte den Kopf über die wirren Erinnerungen an ihre Träume geschüttelt. Jetzt war es endgültig genug.

Als erstes pilgerte sie unter die Dusche, weil sie ihr vom Schwitzen ganz kalt geworden war. Sie schlief gern mit gekipptem Fenster, doch in dieser Nacht war das offenbar keine gute Idee gewesen. Das heiße Wasser spülte die Erinnerungen an die Träume weg. Anschließend schlurfte sie in ein weiches Handtuch gehüllt in ihre Küche, um die Kaffeemaschine zu starten.

Wieder im Schlafzimmer angekommen schloss sie das Fenster und Blick auf den Radiowecker verriet ihr, dass kurz vor sechs war. Sie warf eins ihrer Bürosets über – sowohl praktisch als auch schick genug, um nicht sportlich auszusehen.

Noch immer unschlüssig, ob sie wirklich schon losfahren sollte, füllte sie sich einen Thermobecher mit Kaffee und machte sich auf den Weg ins Präsidium. Etwas anderes hatte sie um diese Uhrzeit einfach nicht zu tun.

Sie war viel zu früh dran, aber ihre frühe Ankunft zahlte sich aus. Der Gerichtsmediziner hatte sich nur Minuten zuvor per Email gemeldet und wollte ihnen erste Ergebnisse mitteilen.

Entschlossen, ihr berufliches Engagement unter Beweis zu stellen, machte sie sich schon mal auf den Weg in das Gebäude der Rechtsmedizin. Peter Stelter würde es ihr sicher nicht übel nehmen, wenn sie sich allein mit dem Mediziner auseinandersetzte. Die Beiden schienen sich ohnehin nicht besonders zu mögen.

Aus ihrer Ausbildung wusste sie noch in etwa, wohin sie musste. Allerdings stellte sie in dem Gebäude angekommen fest, dass sich seit damals einiges im Inneren verändert hatte. Ein Schild neben dem Fahrstuhl gab einen groben Überblick darüber, welche Einrichtungen auf welcher Etage zu finden waren.

Die Information am Eingang war leider zu dieser frühen Uhrzeit noch nicht besetzt. Nach einigem Suchen fand sie in den spärlich beleuchteten Gängen des zweiten Obergeschosses das Büro von ‚Dr. F. Markow’.

Sie klopfte an.

Von innen war kein Laut zu hören. Aufgrund der Nachricht war sie sicher, dass der Mann bereits im Dienst war. Er würde doch nicht noch am Abend eine Mail geschrieben und sie auf diese irre Uhrzeit terminiert haben… Niemals!

Versuchsweise drückte sie die Klinke hinunter und die schwere Tür öffnete sich. Das geschmackvolle Büro imponierte ihr. Dunkle polierte Holzmöbel, ein ausgefallener Teppich in herbstlichen Farbtönen, schwere Vorhänge vor beiden Fenstern.

Der ganze Raum erinnerte an das Arbeitszimmer eines Professors an einer amerikanischen Elite-Uni, zumindest an die aus den Filmen. Die offenen Fächer der Regale quollen über von Fachliteratur mit unverständlichen Titeln, andere Fächer waren mit verschließbaren Rollläden gesichert. Charlotte vermutete dahinter seine Fallakten.

Von Markow selbst war jedoch nichts zu sehen, aber der Duft nach Kaffee verriet, dass er vor kurzem hier gewesen sein musste. Sie konnte entweder hier warten oder sich auf die Suche nach ihm machen.

Sicher war er nur kurz zur Toilette gegangen, also würde sie warten. Um nicht den Eindruck zu erwecken, sie stöberte unbefugt in seinem Büro herum, trat Charlotte an eines der Fenster und sah hinaus auf den Innenhof des Gebäudes.

Dort standen einige Bäume, deren gelbliches Laub den Boden bedeckte. Ein gläserner Unterstand diente vermutlich den Rauchern als Rückzugsort, wie sie aus dem großen Aschenbecher schloss. Er hatte einen wirklich hübschen Ausblick. Ihr eigenes Büro hatte auch ein Fenster, jedoch zeigte das zu jeder Tages- und Jahreszeit nur den Parkplatz hinter dem Haus.

»Ah, guten Morgen«, flötete es hinter ihr.

Charlotte zuckte zusammen. Die Textilien schluckten wirklich jedes Geräusch, das normalerweise das Eintreten eines Menschen hätte ankündigen müssen. Vernehmlich stieß sie die angehaltene Luft aus und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht.

»Oh, Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie sind ja ganz blass geworden.«

Sonst war sie längst nicht so schreckhaft. Es musste an der ungewohnten Umgebung liegen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Er hatte es ja nun wirklich nicht darauf angelegt, aber ihr war ganz mulmig zumute. Markow machte eine ausladende Geste hin zu seinem Besuchersessel.

»Setzen Sie sich doch erstmal«, bat er sie fürsorglich. »Sie sind die neue Kollegin von Stelter, nicht wahr?«

Sie nahm sein Angebot an und ließ sich in den dargebotenen Ledersessel sinken. Sofort fühlte sie sich ein wenig besser.

»Ja, Charlotte Rothenburg«, sie schüttelte ihm Hand und spürte, wie kalt ihre Finger waren. »Wir haben uns gestern kurz am Tatort gesehen.«

»Ich erinnere mich«, gab er zurück. »Haben Sie sich denn schon ein wenig eingelebt?«

Charlotte lächelte erneut. Der Arzt schien ernsthaft daran interessiert, sich mit ihr zu unterhalten. Er war ihr mit seiner väterlichen Art sehr sympathisch und sie fühlte sich bei ihm viel weniger wie die dumme Anfängerin, als die sie sonst überall angesehen wurde. Dennoch wollte sie sich nicht darüber ausheulen, wie schwer es ihr fiel, sich an die neuen Kollegen zu gewöhnen.

»Ja, es geht schon. Ich hatte einen ruhigen Einstieg.«

Er nickte. Sicher hatte er ebenfalls mitbekommen, dass der Oktober bislang besonders ereignislos war. Zumindest was ihren Aufgabenbereich betraf.

»Ach, wie unhöflich von mir«, rügte er sich. »Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe gerade eine Tüte Bohnen aus meiner Lieblingsrösterei in Mailand geöffnet. Wissen Sie, ich mahle meine Bohnen immer frisch. Sie werden den Unterschied schmecken, wenn Sie andere Qualität gewohnt sind. Ich kenne doch das Gebräu im Präsidium.«

Das lockere Geplauder tat ihr gut. Sie war beileibe keine Heldin des Smalltalks, aber er machte es ihr leicht, einfach teilzuhaben und dabei zu sein, während er erzählte. Schon wieder fühlte sie ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

»Ich nehme gerne eine Tasse.«

Er hob eine doppelwandige Glaskanne von der Anrichte und schenkte zwei kleine Tassen voll. Während er ihr die Tasse reichte, zeigte er mit der anderen Hand auf ein kleines Serviertablett auf einem Sideboard.

»Wenn Sie Milch und Zucker benötigen, bedienen Sie sich bitte.«

Sie nahm vorsichtig pustend einen kleinen Schluck und war begeistert. Der Kaffee hatte ein tolles Aroma. Allerdings bezweifelte sie, dass sie sich die exklusiven Bohnen im Alltag leisten könnte. Alles in diesem Raum machte den Eindruck, als hätte der Arzt einen sehr teuren Geschmack.

»Wissen Sie, ich freue mich sehr, dass Sie mich besuchen. Es ist hier häufig viel zu einsam. Viele Ihrer Kollegen lassen sich nur ungern bei uns im Institut blicken. Ich denke, sie haben wohl Angst vor dem, was sie dabei sehen könnten. Aber meiner Meinung nach ist es da draußen viel schlimmer«, er deutete aus dem Fenster. »Die Menschen, die meine Patienten hierherbringen, sind immer noch da und treiben weiter ihr Unwesen. Da bin ich lieber hier drin.«

Sie verstand, was er meinte. Allerdings wollte sie für kein Geld der Welt mit ihm tauschen. Er schien überhaupt kein Problem damit zu haben, dass sie sich vorwiegend auf nonverbale Antworten beschränkte. Der Klang seiner Stimme war angenehm und sie konnte sich zum ersten Mal seit dem Antritt ihrer neuen Stelle im Dienst sogar entspannen.

»Nun möchten Sie bestimmt wissen, was es in ihrem Fall Neues gibt?«

Leider kam er nun zum Punkt und das wohlige Gefühl von Entspannung verebbte. Sie war nicht zum Spaß hier, auch wenn es sich für einen Moment so angefühlt hatte. Wenn sie ins Büro zurückkam, musste sie etwas vorweisen.

»Ja, bitte. Was haben Sie herausgefunden?«

Dr. Markow griff nach der Lesebrille, die neben seiner Computertastatur lag, und schob sie auf seinen Nasenrücken. So erweckte er noch stärker den Eindruck eines abenteuerlustigen Professors. Ein bisschen wie Indiana Jones in den Filmen, nur ohne den Hut und die Peitsche. Er zog eine Schublade unter der Arbeitsfläche auf, entnahm eine dünne Akte und klappte den Deckel auf.

»Ich erzähle Ihnen jetzt nur, was es Besonderes gab. Die anderen Infos können Sie dann auch meinem schriftlichen Bericht entnehmen. Den bekommen Sie voraussichtlich heute Nachmittag.«

Um zu signalisieren, dass sie seinen Ausführungen folgte und einverstanden war, nickte sie, obwohl sie nicht genau wusste, was er mit anderen Informationen meinte.

»In Ordnung. Wie gestern schon von ihrem Kollegen Stelter vermutet, wurde das Opfer tatsächlich durch einen Schlag auf den Hinterkopf getötet. Der Wunde nach wurde dafür ein stumpfer Gegenstand benutzt.«

Er warf einen erneuten Blick in seine Unterlagen, nahm einen Schluck Kaffee und fuhr fort.

»In der Wunde selbst fanden sich Metallpartikel und kleine schwarze Lacksplitter. Was sagt Ihnen das?«

Charlotte mochte es, dass er sie einband. Sie dachte einen Moment nach und kehrte in Gedanken zurück in das Studio. Die kleinen Hanteln waren unlackiert, da war sie sich sicher. Sie erinnerte sich an die Spiegelung des Ständers an der Wand. Alles darauf hatte metallisch geglänzt und diese typische Kälte ausgestrahlt. Der Ständer selbst war grau oder schwarz gewesen. Die Stangen der Langhanteln waren ebenfalls unlackiert, doch unter den großen Scheiben, die man auf die Langhanteln montierte, waren ganz sicher auch Schwarze gewesen.

»Ich tippe auf eine Hantelscheibe«, wagte sie eine Vermutung. Sein zufriedenes Nicken bestärkte sie darin, weiterhin auf ihr Gefühl zu vertrauen.

»Damit liegen Sie wahrscheinlich richtig. Wenn Sie mir eine von den Scheiben bringen, kann ich Ihnen eine Analyse des Materials machen«, bot er an. Nach einem weiteren Blick in die Akte ging er zum nächsten Punkt über.

»Der Täter muss entweder recht groß sein oder das Opfer befand sich in gebückter Position, als es getroffen wurde.«

Ihr fragender Blick entlockte ihm nun ein Lächeln.

»Woher ich das weiß, möchten Sie wissen? Nun ja, sein Hinterkopf wurde ziemlich weit oben getroffen«, er stand auf und kam zu ihr herum. »Stellen Sie sich mal hin!«

Sie tat wie geheißen. Er drehte sich mit dem Rücken zu ihr und deutete auf eine Stelle an seinem Kopf, die Charlotte aus ihrer Position kaum vollständig sehen konnte. Seine Körpergröße stimmte in etwa mit der des Opfers überein, was den Vergleich realistisch machte.

»Sie versuchen jetzt, mir etwas über den Schädel zu ziehen –-etwas Schweres, weil Sie mich mit einem Schlag erledigen wollen.« Er drehte seinen Kopf zu ihr und hob mahnend den Zeigefinger. »Stellen Sie es sich bitte nur vor, denn ich möchte den morgigen Tag noch erleben.«

Charlotte schmunzelte. Seine Witze führten bei ihr zwar nicht zu Lachanfällen, aber er schaffte damit eine Atmosphäre, in der sie sich wohlfühlen konnte.

»Können Sie die Stelle treffen?«

Sie blickte hoch und schüttelte den Kopf.

»Nein, keine Chance«, bestätigte sie.

Nun ging er in die Knie, als wollte er sich den Schnürsenkel binden.

»Jetzt allerdings können Sie die Stelle kaum verfehlen.«

»Verstanden«, bestätigte sie eifrig.

Also hatte das Opfer mit gesenktem Kopf vor dem Täter gehockt. Sie mussten sich gekannt haben, schloss Charlotte. In eine solche Position begab man sich nur, wenn man seinem Gegenüber vertraute.

Markow nahm seinen ursprünglichen Platz hinter dem Schreibtisch wieder ein und schenkte sich Kaffee nach. Es befand sich noch ein Rest in der Kanne. Er warf ihr einen fragenden Blick zu, doch sie hatte zunächst genug Kaffee für diesen Morgen.

»Der Tod trat am Mittwoch gegen 23:30 Uhr ein. Und dann gab es da noch etwas Auffälliges in seiner Blutanalyse. Ganz überraschend kommt das zwar vermutlich auch für Sie nicht, aber ich muss es dennoch erwähnen. Er hatte Steroide im Blut. Vermutlich eine regelmäßige Einnahme«, er grinste wie ein frecher Junge. »In dem Umfeld dürfte das aber eher als Standard gelten.«

* * *

Als Markow mit seinem Bericht geendet hatte, machte sich Charlotte auf den Rückweg ins Büro. Stelter war schon da und sah mit einem demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr.

»Ihnen auch einen schönen guten Morgen«, entgegnete sie.

»Der Bräuer kommt gleich und gibt seine Aussage auf. Wollen Sie dabei sein oder möchten Sie schon mal mit dem Kollegen Markow aus der Rechtsmedizin sprechen?«

Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen wäre ihm die zweite Variante deutlich lieber.

»Ich war schon bei ihm«, erklärte sie. Seinem erstaunten Ausdruck zufolge hatte er nicht damit gerechnet, dass sie bereits etwas Produktives geleistet hatte. »Wir suchen vermutlich nach einem Täter, dem das Opfer vertraut hat.«

»Gut. Wissen Sie, trotz all der Jahre in diesem Job, gehe ich immer noch nicht gern da rüber«, gestand er und zeigte mit dem Finger in Richtung des Instituts.

Sie schmunzelte. Das Eingeständnis machte ihn irgendwie nahbarer. Mit Peter Stelter war es für Charlotte immer ein wenig schwierig. Mal war er nett und kollegial, mal wieder ruppig und rechthaberisch. Vorher wusste sie jedoch nie so genau, welche Seite er ihr als Nächstes zeigen würde.

»Ich würde eine Kleinigkeit zum Frühstücken besorgen, wenn Sie mich bei Bräuer nicht brauchen«, schlug sie vor.

Auf seinem Gesicht erschien ein leichtes Lächeln unter dem grauen Bart. Es war nur für einen winzigen Moment zu sehen, aber sie hatte es bemerkt.

»Gehen Sie nur. Wir treffen uns dann hier wieder. Ich nehme Bräuer mit in einen der Verhörräume.«

Das war ihr sehr recht. So lief sie nicht Gefahr, mit den Armen voller Brötchen in die Vernehmung zu platzen, sondern konnte ganz entspannt ins Büro zurückkehren.

In ihrem Kopf hatte sich nach dem erbaulichen Gespräch mit Markow die Idee festgesetzt, heute endlich mal ihren Einstand zu geben. Vielleicht lag es ja daran, dass die Kollegen immer noch so einen Abstand zu ihr hielten. Mancherorts gehörte ein üppiges Mahl zu den grundlegenden sozialen Gepflogenheiten, ehe ein neues Mitglied in die Gruppe aufgenommen wurde.

Es wurde Zeit, etwas in die Beziehung zu ihren Kollegen zu investieren. Sie bestellte beim Bäcker um die Ecke einige belegte Brötchen.

»Das wird ein paar Minuten dauern, wenn Sie noch etwas zu erledigen haben, kommen sie doch in zehn Minuten zurück«, riet ihr die Verkäuferin, die ganz allein hinter der Theke stand und sowohl ihre Brötchen als auch die Kunden versorgen musste.

So kaufte sie im nahegelegenen Supermarkt ein Paket anständigen Kaffee und einige Tüten Milch und bestellte zurück beim Bäcker einen Tee für die restliche Wartezeit.

Als sie mit der dampfenden Tasse an einem der Stehtische stand, kam ein Mann mit rotblondem Haar auf sie zu. Sein Blick war neugierig und aufgeschlossen.

»Sie sind doch Frau Rothenburg von der Kripo, nicht wahr?«, unterstellte er.

Sein Gesicht kam ihr nicht bekannt vor, doch sie hatte das Gefühl, ihn kennen zu müssen. So wie er sie ansprach, waren sie sich auf jeden Fall schon einmal begegnet.

»Ja, hallo«, antwortete sie unverbindlich und hoffte, er würde ihr auch seinen Namen verraten.

»Jacobsen, hallo, ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt.« Er reichte ihr die Hand und schüttelte ihre kraftvoll. »Wie läufts denn mit dem Fall?«

Gehörte er zu den Kriminaltechnikern, die am Vortag am Tatort waren? Sie konnte sich einfach nicht erinnern.

»Na ja, es geht voran«, gab sie mit einem Schulterzucken an, ohne zu viel zu sagen.

»Man findet ja nicht alle Tage einen toten Fitnesstrainer, nicht wahr?«, legte er in lockerem Plauderton nach. »Haben Sie denn schon erste Verdächtige?«

»Ja, es gibt da Hinweise auf eine Yogalehrerin, aber das ist noch nichts Konkretes«, gab sie an, damit sie nicht zugeben musste, dass sie im Grunde gar nichts wussten.

»Fräulein, Ihre Brötchen sind fertig«, rief ihr eine den Verkäuferinnen zu. Charlotte deutete auf die beiden Tabletts an der Ausgabe.

»Würden Sie mir vielleicht helfen, die rüber zu tragen?«

Er warf einen Blick auf seine Uhr und schüttelte entschuldigend den Kopf. »Nein, tut mir leid, ich muss in die andere Richtung. Ich habe gleich eine Redaktionssitzung.«

Redaktionssitzung? Ach du Schande, hatte sie etwa gerade mit einem Journalisten geplaudert und ihm Einzelheiten des Falls verraten?

Da war es wohl ganz gut, dass sie noch nichts Handfestes hatte, dass sie hätte verraten können.

* * *

Nach ihrem spontanen Einstand, an dem die Kollegen zahlreich teilnahmen, fuhren Stelter und Charlotte von einem Mitarbeiter des Studios zum nächsten.

Die Stunden vergingen rasend schnell, doch sie erfuhren einfach nichts Brauchbares. Alle Kollegen des Opfers gaben an, dass er ein netter Kerl gewesen war. Von echter Trauer war jedoch bei niemandem etwas zu spüren. Der Nachmittag war bereits einige Stunden alt, als sie vor Giselle Lamberts Anschrift hielten.

»Das ist dann die letzte Kollegin«, las Charlotte von ihrer Liste ab. Stelter nickte müde.

»Dann wollen wir mal«, antwortete er und schwang sich aus dem Fahrzeug, das daraufhin ins Schwanken geriet wie ein Kanu.

Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss eines Häuserblocks in der Nähe des Ostkreuzes. Die Bewohnerin, eine sportliche Blondine, öffnete ihnen die Tür und bat sie hinein.

»Ist Ihnen bekannt, dass Ihr Kollege Thomas Kubica in der Nacht zu gestern eines gewaltsamen Todes gestorben ist?«

Ein Schatten huschte über das Gesicht der Befragten.

»Ja, ich habe davon gehört«, gab Giselle Lambert leise zurück.

Das Wohnzimmer war aufgeräumt. Ein schmaler Drei-Sitzer stand an der Wand zum Nebenraum. Gegenüber der Tür lagen zwei Fenster, die zum Hinterhof hinaus zeigten. Ein Sideboard stand dazwischen und war mit Tischlampen, leeren kleinen Vasen und Holzskulpturen dekoriert.

»Wie war Ihre Beziehung zu dem Toten?«, ging Stelter mechanisch durch die Fragen, die sie heute schon etwa einem Dutzend Mitarbeitern des Fitnessstudios gestellt hatten.

An einigen Adressen hatten sie niemanden angetroffen, aber die betroffenen Kollegen würden zur Befragung aus Präsidium geladen.

Charlotte hörte nur mit einem Ohr zu. Sie war erschöpft. Der fehlende Schlaf der vorangegangenen Nacht machte sich langsam bemerkbar. Wenn doch bloß endlich mal etwas passieren würde, dass den Fall irgendwie in Gang brachte.

»Wir waren Kollegen. Ganz normal«, gab die Kollegin des Opfers an.

»Hat er mit Ihnen geflirtet oder sich Ihnen sonst irgendwie genähert?«

»Nein, nichts Besonderes. Er war schon eher ein Charmeur, aber ich nehme an, meist war es nur seine Verkaufsmasche. Die Kundinnen mögen das, wenn sie sich begehrt fühlen«, erklärte sie und sah dann Charlotte eindringlich an. »Mit den Männern ist das genauso, aber wir müssen da ein bisschen auf uns aufpassen, denn nicht jeder akzeptiert nach einem anfänglichen Flirt noch ein Nein.«

Stelter setzte sein Programm fort, ohne weiter darauf einzugehen.

»Ist Ihnen in letzter Zeit eine Veränderung an ihm aufgefallen?«

Wieder zuckten ihre Schultern. Besonders nahe schien ihr der Tod ihres Kollegen nicht zu gehen. Sie verabschiedeten sich mit dem Standardsatz, den an diesem Tag jeder Befragte zu hören bekommen hatte.

»Danke, wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns.«

Im Treppenhaus ließ Charlotte den Kopf kreisen, um wieder ein wenig wacher zu werden.

»Wollen wir uns heute noch die Wohnung des Opfers ansehen?«, fragte sie in der Hoffnung, an diesem Tag noch irgendetwas Bedeutsames zu finden. Doch ihr Partner hatte offenbar andere Pläne.

»Nein, wir machen Feierabend. Ihr Eifer heute ist ja fürchterlich«, brummte er vernehmlich. »Hoffentlich stecke ich mich nicht bei Ihnen an. Montag ist auch noch ein Tag.«

KAPITEL ZEHN

SCHLECHTE PRESSE GARANTIERT

EMI

Schon von Weitem erkannte sie, dass vor ihrer Haustür ein Mann herumlungerte. Es war klar, dass er irgendwas im Schilde führte. Immer wieder ging sein Blick die Straße auf und ab und wieder zum Hauseingang. Er wartete auf jemanden. Sie war sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben.

Doch als er sie erblickte, steuerte er direkt auf sie zu. Emi sah sich um. Auf der Straße waren noch genug andere Menschen. Es musste nichts mit ihr zu tun haben. Trotzdem ließ sich die Paranoia nicht abschütteln.

»Sind Sie Emilia Moorkamp?«, fragte der Mann dessen blondes Haar im Sonnenlicht rötlich schimmerte.

Sie nickte und sah ihn skeptisch an. Seine grauen Augen waren von einem filigranen Brillengestell eingerahmt und gaben ihm einen intellektuellen Look.

»Mein Name ist Jacobsen, ich schreibe für die TAZ. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie verdächtigt werden, etwas mit dem Todesfall im Chrome Fitness zu tun zu haben. Möchten Sie sich dazu äußern?«

Ihre anfängliche Skepsis wich purem Entsetzen. Sie fühlte sich, als wäre beim Duschen plötzlich das warme Wasser ausgefallen. Wenn er ihren Namen in diesem Zusammenhang nannte, konnte sie ihren Traum vergessen, jemals einen Fuß als Yogalehrerin in dieser Stadt auf den Boden zu bekommen.

»Meinen Sie nicht, dass ich davon gehört hätte?«, fragte sie mit einem provokanten Unterton in der Stimme. In diesem Moment hätte sie aus Selbstschutz so einiges getan, was sonst nicht ihrer Art entspricht. Dieser Mann bedrohte ihre Existenz mit kaum mehr als einem Blinzeln.

Sie hob den Zeigefinger und bedachte ihn mit einem Blick, der ihn, wie sie hoffte, das Fürchten lehrte.

»Und eins noch: Wenn Sie meinen Namen in dem Zusammenhang erwähnen, verklage ich Sie!«

Sie schloss die Haustür auf, flüchtete in den Flur und drückte die Tür hinter sich ins Schloss. Was für ein Alptraum.

Wenn sich das bewahrheitete, wäre sie sicher auch die letzten beiden Engagements los. Am Sonntag hatte sie ihre wöchentliche Stunde im Yoga Daily. Sie liebte diese Stunden. Es durfte einfach nicht ihre Letzte sein.

Oben in der Wohnung angekommen versuchte sie sofort, Miriam zu erreichen. Doch bei ihr ging wieder einmal niemand ans Telefon. In dieser Woche hatte sie wirklich kein gutes Timing, was ihre beste Freundin betraf.

Sie schickte ihr eine Kurznachricht, in der sie um ein Treffen am nächsten Abend bat. Ein Abendessen und ein paar Drinks mit Miriam würden ihrer Seele helfen zu heilen. Da war sie sich sicher.

Sie schaltete den Fernseher ein, um nicht mehr an den Reporter vor der Tür denken zu müssen. Es lief eine Serie über Ärzte, die sie zumindest ein wenig auf andere Gedanken brachte. Sie amüsierte sich immer ein wenig über die Darstellung des Berufs in den Medien. Aus ihrer Zeit im Krankenhaus wusste sie mittlerweile ziemlich gut, wie die Realität aussah. Sie hatte die Verantwortung nie gescheut, doch bedingt durch die langen Schichten, schlichen sich vermeidbare Fehler ein. Und mochten diese noch so klein und scheinbar unbedeutend sein, Emi machten sie fertig.

Genau deshalb unterrichtete sie heute Yoga, anstatt weiterhin im Krankenhaus zu arbeiten.

Der Blick in den Kühlschrank erinnerte sie daran, dass sie am nächsten Tag unbedingt einkaufen musste. Sie hatte gerade noch Nudeln und ein paar Gemüsereste. Daraus würde sie irgendwas zaubern müssen. Denn rauszugehen kam nicht in Frage, so lange dort noch der Reporter auf sie lauern konnte.

Sie begann die Reste klein zu schnippeln und setzte Wasser auf. Unvermittelt klingelte es an ihrer Haustür. Sie drückte im Affekt den Öffner und ärgerte sich sofort, dass sie nicht nachgefragt hatte, wer da war. Es war furchtbar dumm gewesen, einfach zu öffnen wie immer. Was sollte sie nur machen, wenn der Reporter nun hier oben auftauchte?

Vielleicht hatte sie Glück und es war nur jemand, der Prospekte einwerfen wollte. Doch das Klingeln an ihrer Wohnungstür machte dieser Hoffnung jäh ein Ende. Sie spähte durch den Türspion und erkannte das schmale Gesicht von Giselle auf der anderen Seite. Erleichtert schloss sie für ein paar Sekunden die Augen, ehe sie öffnete.

»Hi, was führt dich denn zu mir?«, erkundigte sie sich, weil sie mit diesem Besuch nicht gerechnet hätte. Bis vor ein paar Stunden hatte sie nicht einmal den Namen der Mitarbeiterin des Fitnessstudios gekannt.

Giselle lächelte sie warm und mitfühlend an. »Ich wollte mal schauen, wie es dir so geht. Darf ich reinkommen?«

Ein wohliges Gefühl breitete sich in Emis Brust aus. Irgendwie wendeten sich die Dinge immer zum Guten, auch wenn es anfangs völlig anders aussah. Karma findet uns überall. Vielleicht fand sie in der elfenhaften Giselle durch den blöden Verdacht am Ende sogar eine neue Freundin.

»Ich habe gerade angefangen, mir etwas zu kochen, möchtest du vielleicht mit mir essen?«

Emi wandte sich zur Küche und ließ ihren Gast hinein. Die Tüte mit den Nudeln war noch mehr als halbvoll. Es sollte also für zwei Personen reichen, hoffte sie.

»Das wäre echt klasse, ich habe nämlich auch noch nichts gegessen. Ich komme direkt aus dem Studio und war auf dem Heimweg«, erklärte Giselle immer noch lächelnd. Emi glaubte, einen leichten französischen Akzent aus dem Klang ihrer Worte herauszuhören. »Na ja, und irgendwie dachte ich mir, es wäre doch nett, noch mal bei dir nach dem Rechten zu sehen. Es war sicher nicht leicht, das heute so wegzustecken.«

Das war wirklich freundlich. Emi nickte und sah Giselle in ihre tiefblauen Augen. Dass sie von ihr so viel Empathie erfuhr, rührte Emi.

»Ich mache Nudeln mit einer Gemüsesauce. Ist das was für dich?«

Eifrig nickend sah Giselle sich in der Wohnung um. »Ja, vegetarisch ist super. Schön hast du es hier.«

Sie führte ihren Gast ins Wohnzimmer, wo noch immer die Serie über den Bildschirm flackerte, und bat sie, sich zu setzen, während sie sich in der Küche weiter um das Essen kümmerte.

»Du kannst ruhig umschalten, wenn du etwas anderes schauen willst«, rief sie Giselle aus dem Flur zu.

Die Geräuschkulisse änderte sich sofort. Sie hörte, wie ihr Gast im Wohnzimmer durch die Programme zappte.

»Möchtest du etwas trinken?«

Es dauerte nur einen Augenblick, bis Giselle in der Tür zur Küche erschien und den Kopf hereinsteckte. Ihre Augen strahlten, als sie sich in dem kleinen Raum umsah.

Wie alles in der Wohnung trug auch die Küche Emis ganz persönliche Handschrift. Am Kühlschrank hingen Postkarten mit exotischen Motiven und motivierenden Sprüchen.

Über dem Bistrotisch mit den zwei Stühlen, an dem sie dennoch fast immer allein saß, hing ein Ölgemälde in warmen Farben, das eine Freundin aus ihrer Yogaausbildung gemalt hatte. Es zeigte eine anspruchsvolle Yogahaltung und war im Stile naiver Malerei gehalten. Fast wirkte es, als hätte ein Kind dieses Bild gemalt, doch nur die wenigsten Kinder durften bereits mit so wertvollen Materialien spielen.

Das Einzige, was Emi in dieser Küche wirklich vermisste, war ein Fenster. Der Raum lag mitten im Gebäude und war von anderen Zimmern umschlossen, sodass man nur schwer für frische Luft darin sorgen konnte. Auch das war ein Grund dafür, warum so selten für sich selbst zuhause kochte.

»Was hast du denn da?«

Emi öffnete die Kühlschranktür erneut.

»Hm, lass mich mal gucken. Also hier habe ich Traubensaft, Mineralwasser und Cola. Ich könnte dir aber auch einen Tee machen.«

»Ein Tee wäre schön. Hast du etwas Fruchtiges?«

Emi nickte und stellte den Wasserkocher an. Sie wollte die Chance nutzen und die Frau, die ihre Vorzüge abseits der Arbeit unter einem Flanellhemd und einer weit geschnittenen Jeans verbarg, näher kennenzulernen.

Ihre Vorbereitungen für die Sauce waren abgeschlossen und Emi trug die beiden Tassen und die zwei Teller auf einem Tablett durch den Flur hinüber zum Couchtisch, den sie viel häufiger zum Essen nutzte.

Sie reichte ihrem Gast einen Teller und den Früchtetee. »Ich hoffe, es schmeckt dir. Ich hatte leider nicht mehr viel im Haus und da unten lungert so ein Reporter herum, dem ich nicht noch einmal begegnen möchte.«

»Verstehe ich gut.« Giselle schmunzelte. »Aber sagt man nicht auch, dass jede Presse gute Presse ist?«

»In dem Fall bestimmt nicht«, erklärte Emi lachend. Sie aßen und schauten gelegentlich auf den Bildschirm, auf dem inzwischen eine Talkshow lief. Solch ein Programm hätte sie niemals freiwillig eingeschaltet. Diese Effekthascherei, die die Sender betrieben, indem sie kontroverse Themen von noch kontroverseren Menschen diskutieren ließen, gefiel ihr überhaupt nicht.

Dieses Mal war das Thema jedoch erträglich. Es ging um Beziehungen mit großem Altersunterschied. Eine Frau wetterte, dass alle jungen Mädchen, die sich älterer Kerle anlachten, einen Vaterkomplex hätten, und Emi schüttelte mitleidig den Kopf.

Könnten alle Menschen etwas mehr Toleranz an den Tag legen, würden sich so viele Konflikte vermeiden lassen. Gerade in der Liebe sollte doch alles erlaubt sein, was den Beteiligten gefällt. Allen Anderen sollte es egal sein, weil es sie nichts angeht.

»Wie ist es so als Yogalehrerin in Berlin?«, erkundigte sich Giselle, die offenbar ebenfalls nicht vom Bildschirm gefesselt war.

Emi kaute ihren Bissen auf und überlegte, wie sie ihre Erfahrungen am besten zusammenfasste.

»Es ist eine sehr erfüllende Tätigkeit, aber ich denke, ich habe den Goldrausch verpasst. Seit einiger Zeit schießen Wochenendseminare aus dem Boden wir Pilze im Herbst. Jeder wird damit quasi über Nacht zum Profi und kann Kurse anbieten, weil der Beruf nicht geschützt ist und keine Mindeststandards verlangt. Das macht es schwer, damit Geld zu verdienen.«

»Das kann ich mir vorstellen. Es geht in so vielen Bereichen nicht mehr um Qualität, dabei ist das doch so wichtig.« Giselle schüttelte den Kopf. »Es geht doch oft nur um mehr, schneller und krasser. Das schlaucht wirklich. Wir sollten alle mehr nach innen schauen und uns auf unsere Werte besinnen. Stattdessen jagen wir Likes und Follower, um Bestätigung für etwas zu bekommen, von dem wir gar nicht wissen, was es ist.«

»Total interessanter Ansatz. So habe ich das noch gar nicht gesehen, aber du hast recht. Die wenigsten Leute da draußen und besonders in den Sozialen Medien wissen noch für was sie stehen. Dabei geht der echte Wert verloren. Am Ende ist es doch völlig egal, wie viele Leute gut finden, was du machst oder wer du bist. Hauptsache du bleibst dir selbst treu. Und darum geht es mir mit dem Yoga auch. Ich könnte auch weiter als Ärztin arbeiten. Da bekomme ich ständig eine gewisse Form der Bewunderung und das Geld ist nicht schlecht, aber ich wäre weniger mit mir selbst im Reinen.«

Giselle lächelte versonnen und leerte den Rest ihrer Teetasse.

»Du machst das völlig richtig«, bestätigte sie. »Ich kann keine so aufregenden Geschichten über mein Leben erzählen.«

»Wie bist du denn im Chrome Fitness gelandet?«

Giselle winkte ab.

»Ach, das ist so eine Zwischenstation in meinem Leben. Ich bin vor ein paar Jahren nach Berlin gekommen und suche noch nach meinem Weg. Wenn ich herausgefunden habe, was ich will, bin ich da weg. Mich nerven diese ganzen Angeber in dem Schuppen. Die halten sich alle für den Nabel der Welt und glauben, sie könnten sonst was mit den Mädchen machen…«

»Stimmt. Das mit Thomas ist trotzdem irgendwie erschütternd. Er war zwar nicht mein Lieblingsmensch, aber so einen Abgang hat er auch nicht verdient…«

»Wenn du möchtest, versuche ich, noch einmal mit David über deinen Job zu reden«, bot Giselle an. »Vielleicht kann ich etwas retten. Normalerweise habe ich einen ganz guten Draht zu ihm.«

Emi verzog die Lippen zu einem halbherzigen Lächeln. Sie hatte in den vergangenen Stunden festgestellt, dass ihr unerwarteter Abschied vom Chrome Fitness auch etwas Gutes hatte.

David hatte ihr von Anfang an keinerlei Freiraum gelassen, die Art von Unterricht zu geben, für den sie stehen wollte. Wenn sie nur Fitnesskurse gab, würde sie niemals Kunden finden, die sich für mehr interessierten, als diese Gruppenangebote.

Viel lieber würde sie Kunden privat unterrichten und auf ihre jeweiligen Bedürfnisse eingehen, anstatt massentaugliche Kursangebote vorzuturnen.

»Das ist lieb, aber nicht nötig. Wenn er mich jetzt nicht von allein unterstützt, möchte ich nicht bleiben. Das mit Thomas ist ohne Zweifel eine schlimme Sache, aber es hat nichts mit mir zu tun. Wenn er das nicht begreift, muss er sich eine andere Yogalehrerin suchen. Das wird ihm kaum schwer fallen. Auf dem Markt ist das Angebot ja groß genug.«

Je häufiger sie diese Worte laut sagte und in ihrem Inneren widerhallen ließ, desto mehr glaubte sie daran. Ihre frühere Zuversicht kehrte langsam zurück und sie spürte das vertraute Kribbeln im Bauch, das sie jedes Mal überfiel, wenn sie eine richtige Entscheidung traf.

»Wer tut sowas bloß?«

Giselles Schultern kippten nach vorn. Einen Todesfall in so direkter Nähe zu erleben, lässt kaum jemanden kalt. Auch Emi fühlte sich von dieser Unmittelbarkeit verunsichert, doch ihre Gefühle wurden noch stärker von der Sorge um ihre berufliche Existenz beeinflusst, sodass sie der Verunsicherung kaum Raum lassen konnte.

Emi schüttelte den Kopf. »Wenn ich das nur wüsste.«

Sie hatte bislang nicht viel Zeit darauf verwendet, sich diese Frage zu stellen. Es war doch die Aufgabe der Polizei, sich um die Klärung des Falles zu kümmern. Ihr war viel mehr daran gelegen, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Schon vor dem Tod von Thomas war das ein schwieriges Unterfangen gewesen.

Die paar Euro, die sie durch die drei Stunden in der Woche verdiente, reichten nur knapp für die Kaltmiete. Von Essen und sonstigen Ausgaben ganz zu schweigen. So lange sie nicht mehr verdiente, würde sie weiterhin die monatlichen Überweisungen ihrer Eltern brauchen. Wenigstens musste sie darum nicht auch noch bitten.

Ihre Eltern unterstützten sie gerne in ihrem Bestreben, ihren Traum zu verwirklichen. Sich einzugestehen, dass es mit dem Yoga nicht so lief, tat ihr in der Seele weh. Aber es war die Wahrheit. Trotzdem wollte sie ihren Eltern gegenüber das Gesicht wahren und weiter kämpfen.

»Nun ja, er war offenbar recht beliebt bei den weiblichen Studiogästen«, spekulierte Giselle ungeniert. »Vielleicht hat er sich mit der Falschen eingelassen?«

»Ich bekomme von sowas nichts mit«, tat Emi die Vermutung mit einem Schulterzucken ab. »Mich hat er zwar ab und zu angebaggert, aber es hat mich ehrlich gesagt nur genervt. Keine Ahnung, ob er mit der Tour auch mal Erfolg hatte.«

»Ehrlich?«, Giselle zog die Augenbrauen in die Höhe. »Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Sonst stand Thomas eher auf blonde Partymäuse.«

Emi warf der gefärbten Blondine einen missbilligenden Blick zu, doch diese schien das nicht zu bemerken. Das übermäßige Erstaunen darüber, dass Thomas sie attraktiv gefunden hatte, versetzte ihr einen Stich. Sie war weder eine typische Partymaus noch eine Blondine.

Seit einigen Jahren hatte sie sich damit abgefunden, dass sie nun einmal rotes Haar hatte. Auch wenn es deshalb in ihrer Kindheit häufig zu hässlichen Beleidigungen gekommen war, hatte sie geglaubt, inzwischen aus der Lebensphase herausgewachsen zu sein, in der man nach der Haarfarbe beurteilt wurde.

»Tja, da weißt du wohl mehr als ich.«

Emi war das Thema mittlerweile leid. Sie wollte nicht mehr über Thomas und das Chrome Fitness sprechen. Das alles gehörte nun zu ihrer Vergangenheit. Allerdings hatte sie mit Giselle sonst keine echten Gesprächsthemen. Das musste auch Giselle irgendwann auffallen.

Es war vielleicht keine so gute Idee gewesen, der nahezu fremden Person an diesem Abend die Tür zu öffnen. Ihre Laune war zur Zeit nicht die beste und es gelang ihr nicht, das gut genug zu überspielen, um einen unbeschwerten Abend mit Giselle zu verbringen.

»Sorry, ich wollte dich nicht angreifen. So war das gar nicht gemeint.« Giselles Gesichtsausdruck zeigte aufrichtiges Bedauern. »Im Studio hat er eben immer ein Auge auf die Blondinen geworfen, aber das muss ja nicht heißen, dass er wirklich etwas mit diesen Frauen laufen hatte. Er hat eben viel geflirtet. Für manche Menschen ist das ja eine Art Hobby.«

Emi wollte nicht nachtragend sein, winkte kraftlos ab und versuchte, das Thema zu wechseln.

»Was machst du denn so in deiner Freizeit?«

Giselle bedachte sie mit einem fragenden Blick, schob dann die Unterlippe vor und deutete ein erneutes Schulterzucken an.

»Ich weiß nicht. Wie gesagt, ich suche noch.«

Entweder hatte sie keine Freizeit oder keine Interessen. Emi, der nie wirklich langweilig wurde, konnte das nicht begreifen. Irgendwas begeisterte sie immer.

»Was hast du denn jetzt vor, wo du nicht mehr im Chrome arbeitest? Brauchst du denn das Geld nicht?«

»Mal sehen. Ich suche mir irgendwas anderes. David und ich passen einfach nicht zusammen, zum Glück haben wir das beide rechtzeitig erkannt. Blöd nur, dass es dafür diesen Mord brauchte. Hat die Polizei dich eigentlich schon befragt?«

Giselle schlüpfte aus ihren Schuhen und zog die Füße unter den Po, was Emi mit Argwohn beobachtete. Eigentlich wäre sie jetzt lieber wieder allein, aber ihre Eltern hatten sie zu Gastfreundlichkeit erzogen und sie würde keinen Besucher vor die Tür setzen, solange er sich gut benahm.

»Sie haben mir ein paar Fragen gestellt, aber sie haben nicht angedeutet, in welche Richtung sie ermitteln.«

Emi wandte den Blick zum Fenster und starrte nachdenklich hinaus. Irgendwer hatte ihrem Streit mit Thomas so viel Bedeutung beigemessen, dass sie nun deshalb im Fokus der Ermittlungen stand. Dass alle anderen möglicherweise ebenfalls Konflikte mit dem Opfer gehabt hatten, wurde gar nicht richtig beleuchtet.

Was war mit Frauen, die er belästigt hatte? Frauen, die enttäuscht waren, dass er keine Beziehung mit ihnen wollte? Oder Rivalen? Vielleicht ging es überhaupt nicht um etwas Privates. Sie wusste so wenig von Thomas und seinem Leben, dass sie sich nicht einmal vorstellen konnte, was jemanden dazu trieb, ihn töten zu wollen.

Sie konnte es demjenigen nicht verübeln, der der Polizei den Tipp mit ihrem Streit gegeben hatte. Emi würde sich selbst an jeden greifbaren Strohhalm klammern, wenn sie einen hätte. Irgendwo musste man schließlich anfangen. Schade nur, dass es ausgerechnet sie traf.

»Ach, komm. Das wird schon alles wieder.«

In einer Geste, die vermutlich beruhigend wirken sollte, legte Giselle ihr eine Hand auf den Rücken. Es fühlte sich merkwürdig an. Sie scheute normalerweise keine Berührungen, sonst wäre sie mit ihrem Yogastil nicht weit gekommen. Helfende und heilende Berührungen gehörten einfach dazu.

»Danke«, flüsterte Emi kraftlos, während sie sich langsam umdrehte, um den Körperkontakt zu unterbrechen.

Sie sah Giselle in die Augen und spürte plötzlich fremde Lippen auf ihren. Weich und warm. Aber das war absolut falsch. So sollte das hier nicht ablaufen. Schockiert sprang sie vom Sofa, stolperte über ihre eigenen Füße und stieß sie sich den Kopf an einem Dekoregal. Der Schmerz schoss wie ein Blitz durch ihre Nervenbahnen.

»Entschuldige, wenn ich dir einen falschen Eindruck vermittelt habe«, stieß sie unter stechendem Pochen in ihrem Schädel hervor, während sie mit einer Hand über die getroffene Stelle an ihrem Hinterkopf rieb. »Ich stehe nicht auf Frauen.«

Der körperliche Reiz machte es leichter, die unangenehmen Worte auszusprechen. Sie registrierte kaum, dass es raus war.

»Ich dachte«, setzte Giselle an und brach dann wieder ab. »Du hast Thomas abgewiesen und da dachte ich, du wärst...«

Betreten strich sich die Blondine über die Kleidung und wich ihrem Blick aus. Die Situation war peinlich. Furchtbar peinlich. Für sie beide. Sie musste hier raus und sie wäre nicht böse darum, wenn Giselle nun auch endlich ging.

Der Abend konnte wirklich nicht noch schlimmer werden. Eilig griff sie nach den Tellern auf dem Tisch und brachte sie in die Küche. Sie ließ Wasser ein und begann mit dem Schwamm die Teller zu schrubben.

Trotz des Klapperns im Spülbecken hörte sie, wie in ihrem Rücken die Haustür ins Schloss gezogen wurde. Sie warf einen Blick über ihre Schulter und stieß den angehaltenen Atem aus.

Endlich allein.

KAPITEL ELF

COCKTAILS UND ANDERE FLECKEN

CHARLOTTE

Der Himmel war zwar noch immer bewölkt, aber für diesen Tag war ausnahmsweise mal kein Regen angesagt – zum Glück, denn ihr Vater wurde ganz unerträglich, wenn er als einziger im Regen draußen am Grill ausharren musste.

Sie fuhr aus dem Zentrum, um noch vor den anderen Gästen bei ihren Eltern zu sein. Sicher hatte ihre Mutter noch ein paar Aufgaben, bei denen sie helfen konnte. Ohnehin hatte sie bislang nichts mit sich und dem Tag anzufangen gewusst.

Obwohl sie ohne Pause darüber grübelte, fand sie keinen guten Ansatzpunkt für die weiteren Ermittlungen. Immer wieder war sie die Vernehmungen der vergangenen zwei Tage durchgegangen, aber ihr drängte sich der Eindruck auf, dass sie noch nicht den Hauch einer Ahnung hatten, warum dieser Mann nicht mehr lebte.

Unter seinen Kollegen schien er weder engere Freunde noch Feinde gehabt zu haben. Alle beschrieben ihn als kompetenten Trainer. Das sagte zwar etwas über seine fachliche Qualifikation aus, aber über seinen Charakter hüllten sie sich mehrheitlich in Schweigen.

Die erneute Befragung des Studioleiters hatte Stelter in seiner Meinung bestärkt, mit der Yogalehrerin bereits die Täterin identifiziert zu haben. Bräuer hatte ausgesagt, ihre Reaktion auf den Streich des Kollegen sei unverhältnismäßig emotional ausgefallen und sie habe ihm gegenüber geäußert, sie habe sich von dem Opfer bedrängt gefühlt.

Für Stelter klang dies nach einem hinreichenden Grund, sich des Kollegen zu entledigen. Sie hingegen glaubte nicht an diese Version der Geschichte. Beweise für ihr Bauchgefühl hatte sie aber keine.

Am Montag, so hoffte sie, würden sie endlich das Handy des Opfers finden und etwas über sein Privatleben in Erfahrung bringen. Sicher hatte er das Gerät an dem Tag zuhause vergessen oder er nahm es grundsätzlich nicht mit zur Arbeit, weil er Angst hatte, es könnte gestohlen werden.

Als Charlotte vor dem Vorstadt-Bungalow ihrer Eltern ankam, drängte sie die Gedanken an den Fall mit aller Kraft zurück. An diesem Tag wollte sie ganz die private Charlotte sein, die ihre Zeit im Kreise der Familie vollends genoß.

Sie liebte die alten Geschichten ihres Onkels und ihres Vaters. Wenn die beiden Polizisten zusammen waren, versuchten sie immer, sich gegenseitig mit haarsträubenden Geschichten aus dem Berufsleben zu übertrumpfen. Nur selten kam eine neue Episode hinzu, aber es war dennoch jedes Mal unterhaltsam.

Sie fand ihre Mutter in der Küche, wo sie letzte Hand an die Gemüsespieße legte, die im Laufe des Nachmittags auf den Grill wandern würden. Das Fleisch stand in seiner Marinade auf dem Tisch. Charlotte rieb sich voller Vorfreude die Hände.

»Wie kann ich dir helfen?«

»Schön, dass du kommst, Liebes. Ich bin hier fast fertig, aber wie ich deinen Vater kenne, hat er den Rost noch nicht gereinigt.«

Kopfschüttelnd wandte ihre Mutter sich zur Terrassentür. Es war typisch für ihren Vater, die notwendigen Reinigungsarbeiten so weit nach hinten zu verschieben, dass sie letztlich ein anderer übernahm.

In diesem Leben würde ihm das auch niemand mehr abgewöhnen können. Wenn sie diese Aufgabe nicht übernahm, würde es wahrscheinlich ihrer Tante oder ihrem Onkel zufallen.

»Wo steckt er denn?«, rief sie über die Schulter.

Etwas gedämpft hörte sie ihre Mutter antworten.

»Der zieht sich schon mal um.«

Die Gäste würden frühestens in einer Viertelstunde kommen. Da hätte er auch ruhig erst noch den Rost reinigen können. Aber ihm das zu sagen, war vergebene Liebesmühe. Sie griff nach Rost und Bürste und machte sich am Gartenwasseranschluss an die schmutzige Arbeit.

* * *

Drei Stunden später waren die Gäste wieder auf dem Heimweg und Charlotte desillusioniert. Letzten Endes war es ein ziemlich langweiliges Fest gewesen. Der Charme der alten Geschichten entfaltete sich nicht wie gewohnt.

Stattdessen war sie immer wieder in Gedanken bei dem Fall und der Yogalehrerin. Sie war überzeugt, dass es sich um einen unglücklichen Zufall handeln musste, dass der Streit ausgerechnet am Tag seines Todes stattgefunden hatte.

Wenn der Gerichtsmediziner Recht behielt, war das Opfer auch viel länger im Studio geblieben, als notwendig.

Die Auszubildende hatte angegeben, er habe direkt nach ihr gehen wollen. Doch bis zum Eintritt seines Todes war noch einige Zeit vergangen. Eine Viertelstunde Diskrepanz hätte sie noch akzeptiert – vielleicht hatte das Opfer getrödelt. Aber hier war es rund eine Stunde, von der sie nicht wussten, wie das Opfer sie verbracht hatte.

Stelter davon zu überzeugen, dass sie hier etwas übersahen, würde dennoch nicht einfach werden. Der alte Sturkopf schien sich völlig festgefahren zu haben. Oder war sie es, die sich in etwas verrannte?

Vor den anderen Familienmitgliedern wollte sie nicht über ihren Fall reden, also schwieg sie, bis sie mit ihren Eltern allein in der Küche stand.

»Wie läuft es denn mit deinem Fall?«, erkundigte sich ihre Mutter, als sie ihr einen feuchten Teller reichte.

»Hach, irgendwie ist es nicht wie im Fernsehen.« Sie trocknete den Teller und stellte ihn in das offene Fach im Küchenschrank, bevor sie den nächsten sauberen Teller entgegen nahm. »Nicht dass ich das erwartet hätte, aber trotzdem… Ich habe gehofft, die wichtigen Hinweise wären leichter zu erkennen.«

»Gibt es zu viele Hinweise?« Ihre Mutter widmete sich einem Topf, in dem vorhin noch der Nudelsalat gewesen war, dessen Reste sie bereits für das morgige Mittagessen im Kühlschrank gelagert hatte.

»Eigentlich kaum welche. Nur einen öffentlichen Streit. Aber ich will einfach nicht glauben, dass seine Streitpartnerin Stunden später zurückgekehrt ist, um ihn umzubringen. Das ergibt in meiner Welt einfach keinen Sinn.«

»Hm«, brummte ihr Vater vom Küchentisch hinter seiner Zeitschrift.

»Was?«, erkundigte sich Charlotte verunsichert.

Er faltete die Zeitschrift zu und legte sie auf den Tisch.

»Wenn du die Meinung eines alten Hasen hören willst, sage ich sie dir.«

»Ja, bitte.« Sie betete insgeheim, dass er nicht in die gleiche Kerbe schlagen würde wie ihr Partner, denn dann würde sie den Beiden wohl oder übel recht geben müssen. Auf ihren Vater hörte sie fast immer und wenn nicht, bereute sie es stets.

»So ein Bauchgefühl ist nicht zu unterschätzen, aber halt dich an deine erfahrenen Kollegen. Du musst noch viel lernen und das tust du am besten, indem du zuschaust, was die Anderen tun. Ich sage nicht, du sollst es ihnen nachmachen«, warnte er mit erhobenem Zeigefinger. »Vermeide das, womit sie scheitern, und übernehme das, womit sie erfolgreich sind.«

* * *

Noch nachdenklicher als zuvor, brach sie auf und fuhr zurück in die Stadt. Einem spontanen Impuls folgend nahm sie einen Umweg. Vielleicht brachte es sie weiter, vielleicht nicht. Schaden würde es auf jeden Fall nicht.

Als Charlotte in ihrem Kleinwagen auf der Torstraße parkte und den arabischen Imbiss gegenüber dem Fitnessstudio im Auge behielt, begann es trotz der positiven Wettervorhersage wieder zu regnen.

Der Mann, der hinter der Scheibe seine Arbeit verrichtete, hatte angegeben, er selbst habe am Tatabend wie gewohnt um 21 Uhr Feierabend gemacht. Aber er meinte, dass sein Kollege möglicherweise mehr wusste.

So wartete sie nun auf den Kollegen der Spätschicht, der ihr vielleicht endlich mehr zu den Vorgängen am Mittwochabend sagen konnte. Falls sich neue Spuren ergeben mochten, wollte sie Stelter am Montag mit ins Boot holen.

Die wichtigste Frage, die sie klären wollte, war: Was hatte das Opfer in der fehlenden Stunde im Studio getrieben?

Ihr Blick schweifte ab und blieb an den Fenstern des Studios hängen. Hin und wieder bewegte sich etwas hinter der Theke. Ob David Bräuer wohl gerade dort war?

Er war genau der Typ Mann, der ihr zum Verhängnis werden konnte. Groß, maskulin und voll ungezügelter Kraft. Leider war er in diesem Fall auch ein Verdächtiger. So gern ihre Libido auch die Nummer wählen wollte, die er ihr gegeben hatte, sie würde es nicht tun.

So lange sie allein mit ihren Gedanken war, konnte sie sich dem breitschultrigen Mann mit den eisigen Augen zwar hingeben, aber in der Realität würde es nicht zu einem näheren Kontakt kommen. Auch nach Abschluss des Falles nicht. Das verlangte die Professionalität.

Immer wieder betraten einzelne Personen oder kleinere Gruppen den Imbiss und kehrten kurz darauf gesättigt oder mit weißen Plastiktüten ausgestattet wieder heraus. Mit den Händen in den Hosentaschen betrat eine dunkel gekleidete Gestalt den Imbiss.

Der Mitarbeiter am Tresen zog seine Schürze aus, warf sie darüber und marschierte grußlos hinaus. Wirklich gut verstanden sich die beiden Mitarbeiter des Imbisses wohl nicht.

Der Blick auf die Uhr im Armaturenbrett verriet auch warum. Es war 21:24 Uhr. Der Kollege hatte sich deutlich verspätet und dem Kollegen Überstunden zugemutete. Vermutlich ohne vorherige Absprache.

Ein paar Minuten später stieg sie aus dem Wagen und überquerte eilig die Straße, damit sie nicht bis auf die Haut nass wurde.

Der fettige Geruch von Frittiertem schlug ihr entgegen. Sie sah sich im Laden um. Außer ihr und dem Mitarbeiter war niemand zu sehen.

»Sind Sie Hassan Nasir? Ich hätte da ein paar Fragen zu Mittwochabend.«

Der Angesprochene legte den Kopf schief und nahm einen Schluck aus einer Cola-Dose. Er ließ sie lange warten und behielt sie dabei im Auge wie ein Raubvogel seine Beute.

»Bist du von der Polizei?«, fragte er schließlich, statt ihre Frage zu beantworten. Charlotte zückte ihren Dienstausweis und hielt ihm das Dokument entgegen.

»Na, dann frag mal«, bedeutete er ihr nickend und lehnte sich entspannt zurück.

Seine Haltung ihr gegenüber machte sie seltsam nervös. Sie mochte es nicht, dass er sie duzte. Dass sie allein mit ihm war, machte die Sache nicht angenehmer. Doch sie wollte Antworten, also zwang sie sich, die Befragung durchzuziehen.

Wenn sie jetzt abbrach, hatte er mit seiner respektlosen Art gewonnen. Sie war Polizistin. Sie durfte ihn nicht damit durchkommen lassen, durfte keine Angst zeigen.

»Herr Nasir«, begann sie betont förmlich, um die Verhältnisse gerade zu rücken. »Haben Sie am Mittwochabend gegenüber etwas Ungewöhnliches bemerkt?«

Sie deutete nun ihrerseits mit einem Kopfnicken durch das Schaufenster auf das Fitnessstudio. Dort waren die Fenster auch an diesem Abend hell erleuchtet. Sie konnte im hinteren Bereich Bewegungen von Menschen erahnen. Genauere Beobachtungen waren durch den vorgelagerten Ladenbereich nicht möglich.

»Du meinst in der Muckibude drüben?«, fragte er und Charlotte nickte.

Trotz seines ausländisch klingenden Namens hatte er keinen wahrnehmbaren Akzent. Er warf einen Blick in die Auslage auf der anderen Seite der Theke und griff nach einem Salatkopf und einem billig aussehenden Küchenmesser. Wieder machte er zunächst keine Anstalten, ihre Frage zu beantworten.

»Was heißt da schon ungewöhnlich? Da ist halt abends immer gut was los.«

Er zerteilte mit konzentriertem Blick den Salatkopf und schnitt die beiden Hälften in große Würfel. Während er seelenruhig seiner Arbeit nachging, warf er ihr die Antworten Bröckchen für Bröckchen vor die Füße.

»Besonders nach Ladenschluss, wenn du verstehst, was ich meine.«

Er grinste wissend und schob den Salat mit dem Messerrücken vom Schneidebrett direkt in ein Behältnis in der Theke. So langsam wurde es ihr zu bunt.

Wie viel Respektlosigkeit sie sich bieten lassen wollte und wo Schluss war, hatte sie für sich noch nicht abgesteckt. Auf Streife hatte sie immer einen Kollegen dabei, doch hier war sie schutzlos. Zwar konnte sie jederzeit gehen, aber sie fühlte sich in der Situation trotzdem unbehaglich.

»Nein, verstehe ich nicht. Erklären Sie es mir doch.«

Außerdem mochte sie es gar nicht, dass er ständig nur Andeutungen machte, anstatt klar zu sagen, was er wusste. Sie versuchte, sich ihre Verstimmtheit nicht anmerken zu lassen und die Ruhe zu bewahren. Wenn sie Herrin der Situation blieb, würde auch er spüren, dass sie die Regeln bestimmte.

Ihn jetzt direkt in die Schranken zu verweisen, würde der Sache nicht helfen. Er würde dicht machen – wie alle Machos von seinem Kaliber – und sie hätte kaum mehr vorzuweisen, als sie bereits vor ihrem Besuch des Imbisses gewusst hatte.

Sie entspannte die verkrampften Schultern und gab sich Mühe, harmlos auszusehen.

»Na ja, wenn die Ladentüren sich schließen, gehen regelmäßig Leute in der kleinen Gasse ein und aus. Ich wette, die haben Erledigungen zu machen, von denen nicht jeder etwas mitbekommen soll.«

Charlotte wusste, dass die Gasse, die er meinte, zum Hintereingang führte. Die Putzfrau hatte angegeben, der sei generell nicht verschlossen. Er hatte eine selbstschließende Tür, die sich wie ein Notausgang von innen jederzeit öffnen ließ.

Wenn das Rolltor heruntergefahren war, konnte man durch diesen Ausgang das Studio verlassen, aber man konnte natürlich auch weitere Personen durch diese Tür hineinlassen.

Zu gern hätte sie gewusst, wer dort ein- und ausging. Wenn es sich um Frauen handelte, könnte er den Laden als Liebesnest benutzt haben. Bei Männern wäre das prinzipiell auch möglich, allerdings hatten bislang sämtliche Zeugen ausgesagt, dass er sich ausschließlich für Frauen interessierte.

»Männer oder Frauen?«

Nasir zuckte mit den Schultern und suchte nach einer weiteren Beschäftigung für seine Hände. In der Theke gab es sonst nichts aufzufüllen und Gäste waren ebenfalls nicht in Sicht.

»Ich schaue nicht so genau hin, aber vermutlich Männer.«

Demonstrativ wanderte sein Blick über Charlottes Figur. Sie würde ganz dringend duschen müssen, wenn sie nach Hause kam.

Doch so langsam kam wenigstens ein Hauch einer Spur zum Vorschein. Wenn es dafür nötig war, diesem Macho ein wenig Futter für seine nächtlichen Fantasien zu liefern, nahm sie das auf sich. Was soll’s?

Die Gedanken sind frei.

»Haben Sie auch eine Ahnung, was für Erledigungen diese Männer dort machten?«

Er zuckte desinteressiert mit den Schultern. Entweder wusste er nicht mehr oder er wollte nicht mehr darüber sagen. »Da mische ich mich nicht ein,« murmelte er, wandte sich ab und verschwand in einem Hinterzimmer.

Sie blieb noch einen Augenblick stehen. Nur für den Fall, dass er zurückkam und ihr noch etwas sagen wollte. Aber er blieb verschwunden. Sie zückte eine Visitenkarte und legte sie auf die Theke.

»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an!«

* * *

EMI

Es war zwanzig nach acht. Zwar war Emi wie immer zu früh dran gewesen, doch Miriams Verspätung wurde nun langsam auffällig. Sie schaute zum wiederholten Mal auf ihr Handy, aber es war keine Nachricht eingegangen. Wo steckte sie bloß?

Der Kellner hatte ihr schon mehrfach durch Blicke zu verstehen gegeben, dass sie es nicht nötig hatte, auf einen Kerl zu warten. Aber das tat sie ja auch nicht. Es war völlig normal, dass Miriam zu spät kam. Zwanzig Minuten, ohne sich zu melden, durften allerdings sogar bei ihr ein Rekord sein. Sie saß in dem Lokal vor einem alkoholfreien Cocktail. Mit der Bestellung des Essens wollte sie aber auf ihre Begleitung warten.

»Hallo Sonnenschein«, erklang eine Stimme aus dem Gemurmel hinter ihr.

»Hi Miri«, begrüßte sie die Freundin mit einem auf die Wange gehauchten Kuss. »Es ist so schön, dich zu sehen.«

Sie war unfassbar glücklich, ihre Freundin endlich für sich zu haben und ihr von all ihrem Kummer erzählen zu können. Miriam wusste zwar von dem Streit, aber dass Thomas tot war und sie unter Verdacht stand, konnte sie unmöglich ahnen. Obwohl sie all das so dringend loswerden wollte, begannen sie zunächst mit dem üblichen Austausch von Klatsch und Neuigkeiten. Miriam fläzte sich auf den freien Hocker und warf ihre kleine Handtasche auf den Stehtisch. Der geriet daraufhin leicht ins Schwanken und Emis Cocktail kleckerte auf die darunterliegende Serviette.

»Ups, sorry«, entschuldigte Miriam sich.

Emi lächelte dankbar für dieses Stück Normalität in ihrer Woche. Die dunkelhaarige Journalistin mit der auffälligen Brille war nun einmal besonders tollpatschig. Wer sich mit ihr traf, durfte nicht in weißer Kleidung auftauchen und erwarten, damit sauber wieder nach Hause zu kommen. Dafür hatte man mit ihr immer einen mordsmäßigen Spaß.

Seit Mittwochnachmittag waren ihre Gedanken fast durchgängig trüb und neblig gewesen, doch Miriam schaffte es, sie in ihren gewohnten Gemütszustand zurückzuversetzen. Die Freundin war das totale Gegenteil von ihr selbst. Emi war immer darauf bedacht, nichts umzuwerfen, fallenzulassen oder gar Zerstörungsprozesse ungeahnten Ausmaßes zu starten. Miriam hingegen war impulsiv und ließ sich leicht mitreißen, wo Emi normalerweise vorsichtig abwartete. Sie liebte diese Gegensätze in ihrer Freundschaft. So versprach jeder Abend etwas Besonderes zu werden, weil Emi nie wusste, wie er enden würde.

»Was gibt’s Neues bei dir?«

»Ach, frag nicht, meine Woche war die Hölle«, klagte Miriam theatralisch. »Ich habe dir doch erzählt, dass ich am Wochenende mit diesem Marius aus war, ne?«

Wie von ihr erwartet wurde, nickte Emi zur Bestätigung, woraufhin Miriam ihre Erzählung fortsetzte.

»Alles war super und er sagte, er meldet sich. Ich wartete Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch. Dann hatte ich genug von diesem Eiertanz. Ich habe ihn also selbst angerufen, weil ich keine Lust hatte, noch länger meine Zeit mit dem Gedanken an jemanden zu verschwenden, der Spielchen spielt.«

Emi nickte noch einmal. Sie wusste, dass Miriam von dem Mann, den sie suchte, erwartete, dass er sich schnell festlegte. Das machte die Sache schwieriger, aber es war nun mal ihr Anspruch.

»Er hat mich mit irgendwelchen fadenscheinigen Antworten abgespeist und ich war echt frustriert. Ich weiß wirklich nicht, was dieses Mal schief gelaufen ist. Wir hatten einen netten Abend und haben uns gut unterhalten. Alles schien zu passen. Ich bin nicht sofort mit ihm ins Bett gesprungen, war aber sonst aufgeschlossen. Also im Prinzip alles nach Lehrbuch. Trotzdem springt die Pfeife ab.«

Emi zuckte mit den Schultern. Sie wusste auch nicht, was mit den Männern in dieser Stadt los war. Wahrscheinlich war das auch einer der Gründe, warum sie lieber Single blieb, als sich mit diesen Datingdramen selbst noch zusätzlich zu belasten. Drama hatte sie aktuell wahrlich auch ohne Liebe genug.

»Na ja, dann habe ich halt spontan beschlossen, dass ich zum Speeddating im Pink Moon gehe. Habe ich dir, glaube ich, schon erzählt, oder?«

Ja, das hatte sie. Zwar ohne Details, aber sie erinnerte sich, dass laut Miriam die Stadt voller Idioten war, und musste schmunzeln.

Der Kellner kehrte zurück und die beiden jungen Frauen bestellten ihr Essen. Sie waren regelmäßig hier und mussten deshalb keinen Blick mehr in die Karte werfen, um zu wissen, was sie wollten. Emi entschied sich jedes Mal für die vegetarischen Enchilladas mit Bohnendip und Guacamole. Miriam wählte an diesem Abend einen Burger mit BBQ-Sauce.

»Jedenfalls«, nahm Miriam ihren Bericht wieder auf. »Was ich dir noch nicht erzählt habe. Da war ich dann also beim Speeddating und sitze irgendwann so einem süßen Typen gegenüber. Und gute Manieren, sage ich dir. Der schaut mir in die Augen statt in den Ausschnitt.«

Emi nickte anerkennend und war erleichtert, dass sie noch in der Lage war, sich kopfüber in Miriams Erzählungen über den Berliner Dating-Dschungel zu verlieren. Sie hatte schon befürchtet, den ganzen Abend mit ihrer Geschichte um den Todesfall zu versauen. Vielleicht war es ganz gut, wenn sie das Thema zunächst doch für sich behielt.

»Kurz und gut: Ich glaube, mit Liam könnte es klappen!«

Miriam lehnte sich zurück und signalisierte Emi, dass ihre Geschichte damit vorerst beendet war. Es tat ihr gut, die Freundin so glücklich zu sehen, während es ihr selbst ausnahmsweise mal nicht so gut ging.

Alles fand irgendwo seinen Ausgleich. Auch wenn es bei Miriam ständig auf und ab zu gehen schien wie in einer Achterbahn, die keinen Looping ausließ, waren doch diese Momente der Vorfreude auf das, was sich aus einer neuen Bekanntschaft entwickeln konnte, den Einsatz jedes Mal wert. Sogar dann, wenn man letzten Endes enttäuscht wurde, denn das kurzlebige Glück, das sie genoss, nahm ihr niemand wieder weg.

»Was gibt es denn bei dir?«

Sie zuckte mit den Schultern. Ja, den Todesfall würde sie auslassen. Er zerstörte die Unbeschwertheit der Unterhaltung.

»Ich bin den Job in der Torstraße los«, erklärte sie ohne sonderliche Gefühlsregung und Miriam begann zu grinsen. »Oh, das ist gut. Der hat sowieso nicht zu dir gepasst.« Ihre beste Freundin bestätigte damit, was sie selbst seit Wochen ebenso empfunden hatte. »Ich habe da etwas organisiert. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich da so reingrätsche.«

Nun war Emi neugierig. Sie hätte Miriam vermutlich niemals für irgendwas ernsthaft böse sein können. Schon gar nicht, wenn sie ihr eine Möglichkeit bot, Geld zu verdienen oder zumindest neue Leute kennenzulernen, mit deren Hilfe sie Geld verdienen konnte. Sie legte den Kopf schief und forderte Miriam zum Weiterreden auf. »Ich hatte da neulich so eine Idee und habe mal mit meiner Chefin darüber gesprochen. Wenn du mittwochs gegen Mittag noch nichts vor hast, solltest du nächste Woche unbedingt bei uns vorbeikommen und eine Probestunde in meiner Redaktion unterrichten.«

»In der Redaktion? Habt ihr überhaupt Zeit dafür?«

Emi konnte sich nicht vorstellen, dass so etwas mitten im Arbeitsalltag klappen konnte. Niemand trug die richtige Kleidung und auch im Kopf würden alle noch mitten im letzten Artikel stecken. Andererseits war das vielleicht genau die Herausforderung, die sie brauchte.

»Genau das ist es ja. Wir stehen immer total unter Zeitdruck. Ich habe meiner Chefin das Ganze als Entschleunigungsmaßnahme verkauft. Und wenn du deine Sache gut machst, kannst du die nächsten drei Monate einmal pro Woche mittags bei uns unterrichten. So viel konnte ich fürs Erste rausschlagen. Wenn es den gewünschten Erfolg bringt – du weißt schon, weniger Krankheitstage, höhere Produktivität und so – können wir neu verhandeln.«

Emi war total perplex. Das war ja wirklich der Hammer. Eine Tür ging zu und das sprichwörtliche Fenster öffnete sich.

KAPITEL ZWÖLF

DIE LEUTE REDEN

EMI

Am nächsten Morgen plagte Emi ein fürchterlicher Muskelkater. Sie hatte sich von der angenehmen Stimmung, den guten Nachrichten und der hervorragenden Gesellschaft so mitreißen lassen, dass ihr nun nicht nur vom Lachen jeder Muskel schmerzte.

Im Anschluss an das Essen waren sie noch in einem Club um die Ecke gegangen und Emi hatte allen Frust der vergangenen Tage einfach weggetanzt. Es war ein herrlicher Abend gewesen.

Dennoch musste sie aufstehen. Ihre liebste Unterrichtsstunde der Woche wartete auf sie. Sie zog sich eine bunt gemusterte Yogahose an, griff sich ihre geliebte Matte, schlüpfte in ein paar Sneakers und warf sich den schlammgrünen Parka über, der nach dem Regenschauer am Mittwoch nun endlich wieder richtig trocken war.

Unterwegs genehmigte sie sich einen Soja-Latte aus dem Coffeeshop und stieg in die Bahn. Der Weg ins Yoga Daily kostete sie jedes Mal eine halbe Stunde, aber der Unterricht dort war die Mühe wert.

Schon als sie die Tür öffnete, umfing sie der Geruch nach frischen Blumen gemischt mit einem zarten Hauch Räucherstäbchen und Gummi.

Sie liebte dieses kleine Studio, das Yoga in sämtlichen Facetten anbot. Es gab Vinyasa, Jivamukti, Yin Yoga und vieles mehr, sodass für jeden Schüler etwas dabei war. Dadurch konnte jeder Schüler herausfinden, welcher Stil am besten zu ihm und seinem Leben passte.

An der kleinen mit Blumen geschmückten Theke empfing sie Carla, die gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten das Yogastudio leitete und es sich nicht nehmen ließ, jeden Schüler persönlich zu begrüßen. Sie machte dieses Studio zu diesem wundervollen Ort, an dem sie sich geborgen fühlte.

Eine Vollzeitstelle hier wäre allein schon aufgrund der tollen Atmosphäre ein echter Traum, obwohl sie dann nicht mehr selbstständig wäre. Aber die Besitzer könnten aufgrund des abwechslungsreichen Programms keine solche Anstellung vergeben. Denn für die verschiedenen Stile beschäftigten sie unterschiedliche Lehrer auf Stundenbasis und natürlich übernahm auch Carla selbst einen Großteil der Stunden.

»Emi, Liebes, wie schön dich zu sehen«, begrüßte die charismatische Spanierin sie und umfasste dabei ihre Hände, um eine Verbindung herzustellen.

Emi liebte diese Yogablase – diese Welt, in der alles schön und friedlich war. Vielleicht war es eine Illusion, aber zumindest eine, in der es sich zu leben lohnte.

Der Unterrichtsraum war lichtdurchflutet, obwohl weiße Vorhänge die direkte Sicht nach draußen blockierten. Die ersten Schülerinnen und Schüler hatten bereits ihre Hilfsmittel wie Blöcke und Gurte um sich herum ausgebreitet, um sie später griffbereit zu haben.

Es war in diesem Studio nicht verpöhnt, sich Unterstützung zu holen, wo man sie brauchte. Yoga war hier kein Wettbewerb in Flexibilität oder Akrobatik. Natürlich hatte Carla auch Material für Gäste im Angebot, dieses unterschied sich aber deutlich von dem in den Sportstudios der Stadt. Hier gab es keine billigen Kunststoffmatten, sondern nur Produkte in ähnlicher Qualität wie Emi sie selbst benutzte.

In der friedvollen Atmosphäre genoss sie den Unterricht und spürte, dass es den Schülern ähnlich ging. Sie dehnte die Meditationsphasen ein wenig aus und konzentrierte sich auf Übungen, die den Herzraum öffneten und die Lebensenergie fließen ließen.

Alles würde wieder gut werden.

Langsam glaubte sie sogar selbst daran. Ihre Klasse hier wusste, worum es ging und konnte die Meditationen genießen, ohne ständig auf die Uhr zu schielen.

Die Zeit verging wie im Fluge und zum wiederholten Male wünschte sie sich, sie könnte öfter in solcher Atmosphäre arbeiten. Auch wenn es in Carlas Studio nicht möglich war, gab es dennoch viele Möglichkeiten in der Stadt, solchen Unterricht zu geben.

Sie musste sich nur noch den richtigen Ruf und ein paar gute Referenzen erarbeiten, um in den Olymp der Berliner Yogis aufzusteigen.

Nach der Unterrichtseinheit schwebte sie selig wie auf Wolken hinaus ins Foyer, wo sich noch einige Schülerinnen unterhielten. Emi wollte sich unbedingt noch von Carla verabschieden, aber sie konnte die Spanierin nirgends entdecken.

»Habt ihr schon gehört, dass bei uns in der Stadt eine Yogalehrerin jemanden umgebracht hat?«, hörte Emi eine stämmige Blondine sagen.

Der Alptraum kehrte zurück. Jeden Augenblick konnte ihre Welt kollabieren. Wenn der verdammte Journalist sie mit der Sache in Verbindung brachte, war das ihr Ende. Sie spitzte die Ohren, um auch den Rest der Unterhaltung der Schülerinnen mitzubekommen.

»Ja, das habe ich in der Zeitung gelesen«, erwiderte eine kleine Schwarzhaarige aufgeregt. »Schlimm sowas.«

»Man sollte doch erwarten, dass sich ein echter Yogi auch in stressigen Situationen im Griff hat«, nörgelte eine Dritte, die Emi von ihrer Position aus nicht sehen konnte.

Von diesen daher geplapperten Weisheiten hatte sie wirklich die Nase voll. Sollten die doch alle erstmal vor ihrer eigenen Haustür kehren. Ärgerlich stemmte Emi die Hände in die Taille, aber sie konnte die Gruppe nun unmöglich mit ihrem Fehlverhalten konfrontieren, ohne sich als die Beschuldigte zu outen.

»Wahrscheinlich war es eine von denen, die Yoga für einen Modesport halten und damit eine schnelle Mark machen wollen«, urteilte eine Vierte. »Stand denn ein Name dabei?«

»Nein, leider nichts Genaues«, gab die Schwarzhaarige zurück und klang enttäuscht, dass sie das Feuer der Gerüchteküche nicht weiter anheizen konnte.

Die Zuhörerinnen machten große Augen und saugten gierig die Informationsfetzen auf, die die beiden besser informierten Schülerinnen über den Fall von sich gaben.

Emi atmete erleichtert auf. Wenigstens hatte dieser Pseudojournalist nicht auch noch ihren Namen in den Dreck gezogen. Es war schon schlimm genug, dass er überhaupt so unqualifizierten Mist abdruckte.

Ihr Ruf wäre völlig ruiniert, wenn ihr Name damit in Verbindung gebracht wurde, bevor ihre Unschuld erwiesen war. Selbst danach war es noch schlimm genug, denn es blieb immer etwas von dem Schmutz zurück. Ihre Existenz als selbstständige Yogalehrerin konnte sie in Berlin wohl schon jetzt begraben.

Nach dieser Sache würde ihr niemand mehr Stunden anbieten. Sie schlich mit gesenktem Kopf an den Schülerinnen vorbei und versuchte, möglichst nicht aufzufallen. Aber sie hatte nicht so viel Glück wie erhofft.

»Tschüß, Emi, bis nächste Woche!«, rief eine von den Vieren hinter ihr her. Emi drehte sich um, winkte ihr zu und schenkte der Schülerin ein Lächeln, aus dem sie ihre Traurigkeit nicht ganz heraushalten konnte.

Nächste Woche? Wer wusste schon, ob sie dann noch hier war?

* * *

CHARLOTTE

»Frau Kollegin, schön, Sie auch hier zu sehen. Ich hatte schon fast nicht mehr mit Ihnen gerechnet. Wollen wir gleich aufbrechen oder hätten Sie lieber noch einen Kaffee?«

Stelters Worte troffen nur so vor Hohn, als Charlotte Rothenburg am Montag um kurz nach acht zum Dienst im Büro erschien. Man konnte es dem Kerl einfach nicht recht machen. Sie war zu engagiert, zu gut gelaunt, zu spät, zu unerfahren…

»Verraten Sie mir doch, wann sie mich gern hier sehen würden, dann habe ich eine realistische Chance, Ihren Erwartungen auch mal zu entsprechen«, blaffte sie zurück.

Ihr Wochenende war überhaupt nicht so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Weder hatte sie den Stein der Weisen in Form eines anständigen Hinweises gefunden, noch hatte sie sich entspannen können.

Stelter überging ihre Frage, griff nach den Wagenschlüsseln und erhob sich schwerfällig aus seinem Drehstuhl. Die Wohnungsdurchsuchung des Opfers stand an. Hintereinander trapsten sie die Treppe hinunter und überquerten den eingezäunten Parkplatz.

»Soll ich Sie mit ihrer schlechten Laune lieber in Ruhe lassen oder legt sich das gleich wieder?« Stelter warf ihr einen Seitenblick zu und schwang sich in den Wagen. »Bei Frauen weiß man ja nie so genau.«

Altmännerhumor in Reinkultur – sie blieb neben dem Wagen stehen und und schüttelte den Kopf, was Stelter aus dem Inneren nicht bemerkte. Zwar hatte er irgendwie Recht – ihre Laune war ziemlich mies. Doch er hatte sie mit seiner Begrüßung nicht gerade nach oben getrieben und seine diskriminierenden Sprüche waren unangemessen. Ob sie das aber an einem Montagmorgen um kurz nach acht mit ihm diskutieren wollte? Eher nicht. Sie stieß die angehaltene Luft aus und stieg auf der Beifahrerseite in das Dienstfahrzeug.

»Ich habe am Samstag die Mitarbeiter aus dem Imbiss gegenüber dem Studio befragt«, erklärte sie. »Einer von ihnen hat angegeben, dass nach Geschäftsschluss reger Personenverkehr am Hintereingang besteht.«

»Hm«, brummte er. »Haben Sie sich mal auf die Lauer gelegt und das überprüft?«

Sie schlug sich vor den Kopf. Daran hätte sie auch gleich selbst denken können. Wenn das Phänomen mit dem Opfer zusammenhing, hätte sie zwar niemanden angetroffen, aber sie wäre jetzt wenigstens nicht um eine Antwort verlegen.

»Muss ich wohl noch machen«, grummelte sie.

Charlotte staunte über die schicke Gegend, die Stelter ansteuerte. Der Fitnesstrainer verdiente wohl deutlich mehr als sie.

In ihrem Viertel waren die Straßen immer ein bisschen dreckig und die Fassaden nie frei von Schmierereien. Es lohnte sich kaum, sie aufwändig zu reinigen, weil in der nächsten Nacht ohnehin neue Tags auf den Wänden landeten. Der Kollwitzkiez hingegen war richtig fein herausgeputzt.

Kaum hatte Stelter den Wagen abgestellt, zündete er sich auch schon eine Zigarette an. Am liebsten hätte sie ihn an diesem Morgen dafür gerügt. Doch nach dem wenig kameradschaftlichen Start in den Tag, wollte sie es sich nicht vollends mit ihm verscherzen. Außerdem war es schließlich seine Gesundheit, die er damit ruinierte, und nicht ihre.

Nachsichtig schüttelte Charlotte den Kopf. Stelter schmunzelte.

»Kommen Sie erstmal in mein Alter«, tat er ihr unausgesprochenes Urteil mit einem Schulterzucken ab. »Bis dahin werden sich auch bei Ihnen noch ein paar schlechte Angewohnheiten einschleichen.«

Sie spürte, dass die Stimmung zwischen ihnen sich besserte. Nur ungern würde sie diesen Fortschritt wieder zu Nichte machen, aber sie wollte sich nicht ständig verstellen müssen.

»Vermutlich werde ich dann immer noch nicht mit dem Rauchen angefangen haben.«

Sie zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schief, um zu unterstreichen, dass sie ihre Worte nicht böse meinte.

Er machte eine abwägende Geste mit den Händen. Bei der Bewegung rieselte Asche von der glühenden Spitze der Zigarette. Auf dem Fußweg zum Hauseingang bemerkte Charlotte, wie viele nett aussehende Lokale ihre Stühle auf dem Bürgersteig stehen hatten.

Morgens um kurz vor neun an diesem Herbsttag waren die dunkelroten Markisen noch eingerollt und die Stühle mit Ketten an den Tischen befestigt, damit sich niemand unbefugt daran bediente. Aber abends sah es sicher nett und einladend aus.

Wenn der Polizeidienst ein besseres Gehalt mit sich brächte, würde sie auch gern hier wohnen. Eines Tages könnte ihr Einkommen reichen – besonders wenn sie mal jemanden fand, mit dem sie sich eine Wohnung teilen konnte. Doch das schien noch in weiter Ferne. Selbst wenn sie morgen jemanden kennenlernte, wollte sie die Entscheidung zu einer gemeinsamen Wohnung nicht überstürzt treffen.

Gemeinsam stiegen sie die Treppen ins Dachgeschoss hinauf. Stelter fluchte darüber, dass es auch hier keinen Fahrstuhl gab, und keuchte bereits im zweiten Stock. Oben ging sein Atem pfeifend.

Wieder schüttelte Charlotte den Kopf über seine mangelnde Fitness.

»Wenn Sie das Rauchen bleiben ließen, wären sie nicht schon auf der Hälfte der Strecke aus der Puste, verehrter Herr Kollege!«, scherzte sie.

Außer Atem schnaufte er ihr ein müdes »Ach« entgegen.

Charlotte zog sich ein paar Gummihandschuhe über und öffnete die Tür mit dem Schlüssel, den das Opfer in seiner Hosentasche getragen hatte.

Sie betrat die großzügige Altbau-Wohnung und fand sich in einem hellen Flur mit gepflegten Dielen und einem großen Spiegel wieder. Ein breiter Durchbruch führte in ein großzügiges Wohnzimmer mit drei kippbaren Dachfenstern, auf denen feine Wassertropfen vom jüngsten Regen lagen.

Das Zimmer war nur spärlich möbliert und wirkte dadurch noch größer, als es ohnehin schon war. Ein riesiger Fernseher hing an der Wand. Unter dem Gerät befand sich ein offenes Sideboard voller DVDs, BluRays und einigen Konsolenspielen. Den Titeln nach handelte es sich ausschließlich um Actionfilme und -spiele. Umzingelt von den Boxen des Soundsystems kam sie sich vor wie im Showroom eines Elektronikfachmarktes.

Vor dem grau melierten Sofa mit tiefer Sitzfläche lag ein weißer quadratischer Teppich, auf dem ein blattförmiger Couchtisch aus dunklem Holz stand.

Alles in allem vermittelte dieses Zimmer Charlotte den Eindruck eines Menschen, der zwar ausreichend Geld hatte, dem es aber an Geschmack fehlte, um die richtigen Stücke zu kombinieren. Alles war einfach nur teuer und wahllos zusammengewürfelt.

Es gab keine einzige persönliche Note im ganzen Raum.

»Ganz schön pompös, was?«, sprach Stelter ihre Gedanken aus.

Sie nickte zustimmend und warf durch die Fenster neben der Glastür einen Blick auf den Balkon, der auf den Hinterhof ausgerichtet war. Entweder hatte der Mann reiche Eltern, die ihm seinen Lebensstil finanzierten oder er hatte eine zusätzliche Einnahmequelle, von der sie bislang nichts wussten. Der angebliche Publikumsverkehr nach Ladenschluss würde dazu passen.

Sie hielt vorsichtshalber die Augen nach verdächtigen Objekten auf und erkundete den Rest der Wohnung.

»Vielleicht sollten wir über einen Jobwechsel nachdenken. Oder Sie zumindest.«

Was sollte das nun wieder heißen? Wollte Stelter ihr unterstellen, sie hätte nicht das Zeug zur Polizistin? Nein, das war sogar für ihn zu hart.

»Wieso?«

»Offensichtlich verdient so ein Fitnesstrainer recht einträglich. Mich würden die wohl kaum für den Job einstellen, aber Sie machen einen ziemlich fitten Eindruck.«

Sie erkundete den Rest der Wohnung, um sich einen groben Überblick zu verschaffen.

»Danke für die Blumen, aber ich bin Polizistin geworden, weil ich es wollte und nicht wegen des Geldes«, erklärte sie.

»Da hätten Sie auch eindeutig eine schlechte Wahl getroffen.« Stelter schmunzelte. »Ich bin ja nun ein paar Jahre älter als Sie und kann Ihnen sagen, dass da nicht so wahnsinnig viel an Gehaltssprüngen auf Sie wartet. Es reicht zum Leben, aber ich bin froh, dass meine Frau keine besonders hohen Ansprüche hat. Sonst wäre sie bestimmt schon mit einem Fitnesstrainer durchgebrannt. Oder dem Postboten. Manchmal glaube ich, sogar ein Gassigeher verdient besser.«

»Gassigeher?« Nun musste auch sie grinsen, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich würde ja mal behaupten, dass sich unser Opfer diese Wohnung nicht von seinem regulären Gehalt finanziert hat…«

Es gab ein Bad, eine Küche, ein Schlafzimmer und ein kleines Büro am Ende des Flures. Das Schlafzimmer verfügte über ein Doppelbett, zwei Dachfenster und einen Schrank mit verspiegelten Schiebetüren. So gar nicht ihr Geschmack. Es fehlte an allen Ecken an Persönlichkeit. Überhaupt glaubte sie inzwischen, dass Thomas Kubica keine echte Persönlichkeit gehabt hatte. Von einem Leben ganz zu schweigen. Charlotte und ihr Partner wussten von Kollegen, von denen aber niemand nennenswerte private Kontakte zu ihm unterhielt. Doch weder Familie noch Freunde hatten sich in den vergangenen Tagen zu erkennen gegeben. Ohne das blöde Handy würde es auch schwierig werden, seine Kontakte herauszufinden.

Sie schob die rechte Seite des Schranks auf und fand dahinter allerhand sportliche Kleidung, Handtücher und eine zusammengefaltete Reisetasche. Auf der anderen Seite hing seine Ausgehkleidung. Charlotte stellte fest, dass auch die Kleidung relativ teuer war. Unter der Stange befanden sich einige Schubladen, die Unterwäsche und Socken enthielten. Sie durchsuchte akribisch alle Schubfächer und klopfte auch die Kleidungsstücke an den Bügeln ab, um herauszufinden, ob sich etwas in den Taschen befand. Nichts.

Neben dem Bett stand ein Nachttisch, in dessen Schublade sie zwei Kondompackungen fand. Eine davon war fast leer, die andere noch verschlossen. Um den restlichen Inhalt des Schränkchens in Augenschein zu nehmen, stützte sie sich auf der Matratze ab. Ein Stich ließ sie sofort wieder hochfahren. Sie verhakte sich mit einem Schuh unter dem Rahmen des Bettes und stürzte nach hinten gegen die Wand. Mist. Ein spitzer Gegenstand hatte nicht nur ihren Handschuh durchbohrt, sondern auch ihren Daumenballen. Es tat fürchterlich weh und begann, zu bluten, während sie schockiert auf die Stelle starrte. Mit der unverletzten rechten Hand tastete sie die Oberfläche des Bettes ab.

Was zur Hölle war das?

Genau dort wo die Bettdecke endete, stieß sie auf ein metallisches Objekt. Es war keine Spritze, wie sie zunächst befürchtet hatte, sondern ein Ohrring. Sie hob ihn auf und hielt ihn ins Licht.

Das war definitiv ein besonderes Stück. Es bestand aus einer metallischen Lotusblüte in einem Ring aus orangenem Band, auf das funkelnde Steinchen aufgezogen worden waren. Drei metallische Federn hingen an feinen Kettchen herab. Kein Stück, das man jeden Tag tragen konnte. Während sie es betrachtete, dachte sie unwillkürlich an Emi Moorkamp und ihren extravaganten Schmuckständer im Flur. Doch der Ohrring konnte nicht ihr gehören. Das war überhaupt nicht möglich. Jemand mit einem ähnlichen Geschmack musste ihn hier verloren haben.

Sie ließ das Fundstück in einen Plastikbeutel gleiten. Nach einem weiteren Blick auf ihre Hand stellte sie fest, dass die Blutung bereits wieder nachließ. Dennoch würde sie die Verletzung melden müssen. Was für ein Anfängerfehler, ärgerte sie sich stumm.

Sie warf nun doch noch einen Blick in die Tiefen der Nachttischschublade. Zu ihrer Enttäuschung fand sich darin nichts, was ihr mehr über die Tat oder das Opfer verraten wollte.

»Stelter, kommen Sie mal?«

Langsam schlurfte ihr Kollege aus dem angrenzenden Büro herein und warf ihr einen skeptischen Blick zu.

»Na, was haben Sie gefunden?«

Sie hielt den Beutel in die Höhe und ließ ihn zwischen zwei Fingern baumeln.

»Den hier habe ich im Bett gefunden. Das hätte unser Opfer sicher bemerkt, wenn er sich hingelegt hätte.«

Er deutete mit einem Kopfnicken auf ihre verletzte Hand. Sie winkte ab und grummelte vor sich hin, woraufhin er nach dem Beutel griff und sich das Schmuckstück genauer ansah. »Kommt mir bekannt vor«, murmelte er mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Ihnen auch?«

Charlotte nickte widerwillig, weil sie wusste, dass auch er an Emi Moorkamp dachte. Wieder einmal war das Wasser auf seine Mühlen. Trotz der Erkenntnisse, die sie am Wochenende gewonnen hatte, stand für ihn nun wieder Yogalehrerin Emi im Fokus der Ermittlungen.

»In seinem Nachtschrank waren Kondome«, informierte Charlotte ihren Partner weiter. »Sollen wir mal in Erfahrung bringen, mit welchen Frauen er die benutzt hat?«

Stelter zuckte mit den Schultern und sah sich ebenfalls im Raum um. »Wenn Sie mir sagen, wo wir diese Frauen finden können, gerne!«

Charlotte zog nun ihrerseits die Augenbrauen hoch.

»Haben Sie etwa auch kein Handy gefunden?«

»Ein Ladegerät hing im Büro, aber von dem Gerät keine Spur. Wenn Sie mich fragen, hat der Täter es mitgenommen.«

Charlotte nickte zustimmend. Eine andere Idee hatte sie im Augenblick auch nicht.

»Dann müsste ja etwas drauf sein, das den Täter verrät«, spekulierte sie, doch er ließ sich nicht darauf ein. Sie kratzte sich am Haaransatz und lenkte das Gespräch wieder auf die Durchsuchung der Wohnung.

»Haben Sie denn auch etwas gefunden?«

Stelter nickte und forderte sie auf, ihm ins Büro zu folgen nur zu gern ließ sie das Schlafzimmer mit seinen furchtbaren Spiegeltüren hinter sich. Die Vorstellung, sich ständig selbst zu beobachten, war ihr zuwider.

»Schauen Sie sich das mal an«, forderte Stelter und deutete auf einige handschriftliche Tabellen und einen Wochenplaner, die auf dem Schreibtisch verstreut lagen. Die tabellarischen Aufzeichnungen ergaben beim ersten Hinsehen für Charlotte keinen Sinn. Jede Zeile enthielt eine Kombination von Zahlen und Buchstaben und in einigem Abstand standen erneut Buchstaben.

»Eine Idee, was er da notiert hat?«

Ihr Partner verzog die Lippen und schüttelte den Kopf. Die Aufzeichnungen im Wochenplaner waren leichter zu dechiffrieren. Es schien sich bei den Notizen um Trainingstermine mit Kunden zu handeln. Sie wussten vom Studioleiter, dass Thomas außerhalb seiner regulären Arbeitszeiten auch auf eigene Rechnung Trainings mit Kunden abgemacht hatte. Wie es klang, hatte Bräuer nichts dagegen, wenn seine Mitarbeiter auch für sich das Bestmögliche herausholten. Beim Gedanken an den attraktiven Manager begannen ihre Wangen zu glühen. Hoffentlich bemerkte Stelter davon nichts.

»Vielleicht kommen wir darüber ja auf ein paar seiner Kontakte.«

Stelter brummte etwas, das gleichermaßen Zustimmung oder Skepsis sein mochte, und verdrückte sich auf den Balkon, um sich erneut eine Zigarette anzustecken. Sie blätterte einige Minuten allein in den Unterlagen. In dem Planer standen teilweise Vornamen, teilweise Nachnamen, aber keine Adressen oder Telefonnummern. Es würde nicht leicht werden, aber vielleicht ergab ein Abgleich mit den Studiomitgliedern etwas Brauchbares.

Die anfängliche Freude über ihren ersten Fall war längst verpufft. Es war harte Arbeit. Ein mühsames Aufsammeln von Brotkrumen, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung, ob sie der richtigen Spur folgten. In den Krimis führte es immer zu irgendeiner Lösung, doch im echten Leben konnten ebenso gut alle Spuren im Sand verlaufen.

»Noch irgendwas in den Ordnern?«, nahm sie das Gespräch wieder auf, als Stelter erneut im Türrahmen erschien.

»Bislang nichts Interessantes, aber ich bin auch noch nicht durch«, erklärte er. »Wir rufen die Spurensicherung und lassen die Unterlagen abholen, wenn es Sie beruhigt.«

»Sie glauben immer noch an die Yogalehrerin?«

Stelter nickte ernst.

»Auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen, deutet bislang doch alles darauf hin, oder?«

Sein Blick ging erneut zu dem Beutel in ihrer Hand und sie musste sich eingestehen, dass dieses Indiz nicht zu ignorieren war. Doch es beruhigte Charlotte tatsächlich ein wenig, dass er ihrem unausgesprochenen Wunsch nachgab und eine weitere Ermittlungsrichtung zuließ.

KAPITEL DREIZEHN

AUF NEUEM KURS

EMI

Miriams überfallähnliches Angebot mit dem Yogakurs in ihrer Redaktion hatte Emi das ganze Wochenende lang nicht mehr losgelassen. Nachdem nun auch noch der Kurs im Daily in Gefahr war, wurde es höchste Zeit, sich ein zweites Standbein aufzubauen. Warum sollte sie also nicht Miriams Idee nutzen und sie auch anderen Firmen anbieten?

Ein Kurskonzept für die Mittagspausen war schnell ausgearbeitet. Der Fokus lag hier eindeutig auf dem Entspannungsfaktor. Kein Schweiß, keine Dehnübungen, die der Bürokleidung gefährlich wurden, aber eben etwas, bei dem man den Kopf schön frei bekam. Stress reduzieren und Problemen durch mentale oder physische Überlastung vorbeugen. Mit etwas Glück konnte sie in diesen Kursen sogar jemanden für privaten Unterricht begeistern.

So machte sich Emi am Montagmorgen mit einem knappen Konzept und einigen Adressen von kleinen und mittelgroßen Firmen in der Tasche auf den Weg. Da sie keine Termine vereinbart hatte, war ihr von vornherein klar, dass sie an diesem Tag nicht mit freudigen Zusagen zu rechnen hatte.

Im Copyshop machte sie einige Kopien des Angebotsflyers, den sie entworfen hatte. Wenn sie schon kein Gespräch mit den Chefs bekommen konnte, wollte sie wenigstens den Flyer hinterlassen und um einen Termin bitten.

Im schlimmsten Fall war man eben nicht interessiert und im besten Fall, ergab sich etwas daraus. Sie hatte keine bezahlte Tätigkeit, der sie stattdessen hätte nachgehen können, also war das Risiko, das mit dieser Maßnahme verbunden war, ausgesprochen gering.

Ihre Haare hatte sie an diesem Morgen in einstündiger Handarbeit sorgfältig geglättet, damit sie offen einen gepflegten Eindruck hinterließen. An Glanzölen hatte sie dabei nicht gespart, aber dafür musste sie sicher am Abend die Haare noch einmal waschen. Sie fühlten sich schon ganz schwer an.

Das seriöseste Outfit in ihrem Kleiderschrank bestand aus einer schwarzen Skinnyjeans mit weißen Chucks und einer Tunika mit Blumenprint. Ganz zufrieden war sie damit nicht, aber eine weiße Bluse und Pumps hätten an ihr auch nicht authentisch gewirkt, selbst wenn sie diese gehabt hätte. Ganz zu schweigen von den Fußschmerzen, die sie sich damit eingehandelt hätte.

Sie hatte gegen Mittag bereits zehn Kilometer Fußmarsch hinter sich. Von Tür zu Tür war sie durch die Straßen gelaufen und hatte ihr Angebot vorgebracht. Hier und da wirkten die Chefs sogar ganz aufgeschlossen für ihre Idee und wollten es sich durch den Kopf gehen lassen. Die Meisten bemängelten jedoch das Fehlen einer Webseite, auf der sie sich ein Bild von dem Angebot machen konnten. Der Flyer sei zwar ganz nett, aber doch ein bisschen rückständig, so sagten sie.

Rückständig war sie also auch noch. Nicht gerade optimal, aber immerhin etwas, an dem sie arbeiten konnte. Mittlerweile hatte jeder eine Webseite, das würde sie bestimmt auch irgendwie hinbekommen, aber nicht mehr an diesem Tag.

Emi ließ sich auf eine Bank sinken und genoss die kurze Entlastung ihrer Füße. Für den Wochenstart hatte sie nun genug Klinken geputzt. Nach einem kurzen Nachrichtenaustausch mit Sonja schaute sie zu einer gemeinsamen Mittagspause bei der Köchin im Restaurant vorbei.

»Schickes Outfit«, lobte Sonja, die ihre zusammengelegte Schürze unter der Theke verstaute. Sie klopfte auf die Tasche, in der sie ihre Geldbörse vermutete und bemerkte ihr Fehlen. »Ich muss noch mal kurz zurück.«

»Dankeschön,« rief Emi ihr hinterher, als Sonja erneut in der Küche verschwand.

Sie lächelte aufrichtig erfreut über den Kommentar in sich hinein. Zwar sah man es durch die geschickte Kombination mit der Bluse nicht, aber streng genommen war die Jeans mittlerweile eine Nummer zu klein für sie. Der Knopf zwickte unangenehm. Trotzdem sah sie darin noch gut genug aus, um ein Kompliment von Sonja zu bekommen, die sonst eher sparsam damit war, Äußerlichkeiten zu kommentieren.

»Was gibt’s Neues?«, erkundigte sich Sonja auf dem Weg nach draußen. »Und warum bist du so schick?«

Emi legte den Kopf schief und zog eine Grimasse.

»Also grundsätzlich bin ich ja immer schick, nur nicht ganz so adrett.«

»Adrett? Aha, also ich finde ja Yogahosen und Co. nicht so schick, wenngleich ich ihren praktischen Nutzen anerkenne.«

Emi brach in Gelächter aus.

»Also gut, ich habe heute ein paar Unternehmen abgeklappert, weil ich ein Konzept vorstellen wollte«, erklärte sie und gab Miriams Plan wieder. Sonja nickte und legte nachdenklich den Zeigefinger über ihre Oberlippe. In Gedanken war sie schon wieder drei Schritte weiter.

»Du musst sowieso weg von diesen Fitness-Bitches! Die bringen dir nichts und die zwanzig Euro oder was du da verdienst, reichen lange nicht, um dir die Stunde plus Anfahrt und Vorbereitung auszugleichen. Du brauchst andere Kunden. Miss Mira hat da eine gute Idee.«

Die Neugier darüber, warum Sonja und Miriam diesen Insiderwitz hatten, bei dem die Köchin die Reporterin Miss Mira nannte, verbrannte ihr jedes Mal fast die Zunge, aber sie hatte sich verboten, noch einmal nachzufragen. Jedes Mal hatten sich ihre beiden besten Freundinnen in verschwörerisches Schweigen gehüllt.

Emi seufzte, denn Sonja hatte wie immer vollkommen Recht. Die undankbare Arbeit in den Fitnessstudios war nicht nur unterbezahlt und frustrierend, sondern brachte sie auch kein Stück weiter in die Richtung, in die sie wollte.

Ihre rosigen Zukunftsaussichten in den Mühlen der Krankenhäuser aufzugeben, um als Sklavin der Fitnessindustrie von einem miesen Studio ins nächste zu hetzen, war nicht ihr Ziel.

Sie wollte echtes Yoga unterrichten und ein friedvolles Leben führen. In den Studios waren die Leute viel zu aggressiv. Das übertrug sich sogar auf sie. Wenn das alles war, was ihr diese Szene zu bieten hatte, würde sie zurück ins Krankenhaus gehen. Dort bezahlte man sie wenigstens halbwegs anständig für ihre Arbeit.

»Stimmt schon«, gestand Emi ein. »Da kann ich dann auch zurück in die Medizin gehen.«

Sonja hielt ihr die Tür zu einem thailändischen Imbiss auf, in dem sie regelmäßig ihre Mittagspausen verbrachte. Es gab dort eine angemessene Auswahl an veganen Gerichten, ganz im Gegensatz zu dem Restaurant, in dem sie selbst arbeitete.

Auch Emi musste nicht lange überlegen. Beide bestellten an der Theke und warteten an einem Hochtisch darauf, dass ihr Essen fertig wurde.

»Es muss ja nicht gleich das Krankenhaus sein. Vielleicht kannst du ja auch etwas anderes mit deinen medizinischen Kenntnissen anfangen. Auf jeden Fall solltest du nicht so tun, als könntest du nichts außer Yoga.«

Da hatte Sonja einen Nerv getroffen. Einen 200-Stunden Kurs konnte jeder absolvieren, der sich die Kursgebühr leisten konnte. Das allein war offenbar nicht mehr genug, um sich ein passables Auskommen im Yogabereich zu erarbeiten.

Bislang hatte sie jedoch nur selten erwähnt, dass sie Ärztin war. Viele Menschen begegneten einem mit einem ganz anderen Respekt, wenn man erklärte, dass man erfolgreich Medizin studiert hatte und prinzipiell dazu in der Lage wäre, sofort Leben zu retten. Und genau deshalb sagte sie nichts darüber. Sie wollte nicht anders behandelt werden, weil sie ein Studium abgeschlossen hatte. Es sollte eigentlich keine Bedeutung haben. Man sollte jedem Menschen mit dem gleichen Respekt begegnen.

* * *

CHARLOTTE

Seit dem Ende der Mittagspause, saßen Stelter und sie vor dem Haus der Yogalehrerin und warteten darauf, dass sie sich blicken ließ. Nach der Durchsuchung der Wohnung wollte Stelter sie sofort zur Vernehmung abholen, aber Charlotte konnte ihn überreden, erstmal die Fundstücke zu den Technikern zu bringen. Anschließend waren sie in die Schönleinstraße gefahren und zu Emi Moorkamps Wohnung hinaufgestiegen. Doch sie war nicht zuhause.

»Früher oder später taucht die schon wieder auf«, hatte Stelter gebrummt und war in die durchgesessenen Polster des Dienstwagens gerutscht. Es war Charlotte zuwider, Emi Moorkamp als Hauptverdächtige in diesem Fall zu sehen, aber der Fund des Ohrrings hatte sogar ihre Überzeugung ins Wanken gebracht.

Immer wieder stieg Stelter aus und zündete sich eine Zigarette an. Dabei machte er einen komplett zufriedenen Eindruck, Charlotte hingegen war entsetzlich langweilig. Sie wusste nichts mit sich anzufangen, während sie warteten. Seit fast drei Stunden saßen sie nun schon im Wagen.

Es war einfach nicht mehr auszuhalten. Keine weitere Minute würde sie in der Karre verbringen. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte Charlotte an der Beifahrerseite des Wagens und blickte die Straße entlang. Ihr Blick streifte über die Köpfe der Passanten. Glatzköpfe, Blondinen, dunkle Locken, Kinderköpfe.

Langsam verschwammen sie alle vor ihren Augen zu einem Brei. Dann endlich etwas Rotes in der Menge. Diese roten Haare waren auch in der Entfernung unverkennbar. Aber so glatt hatte sie das Haar nicht in Erinnerung. War es wirklich die Yogalehrerin?

Sie wartete noch einen Moment und ließ die Frau näher kommen, ehe sie Stelter aus seiner Lethargie riss. Die Beifahrertür war nur angelehnt. Charlotte zog sie ein Stück weiter auf und beugte sich hinein.

»Da kommt sie.«

Ihr Partner grummelte, als er begriff, dass er nun wohl wieder aussteigen musste. Seite an Seite wie ein echtes Team schritten sie die Straße entlang und nahmen die Verdächtige in Empfang.

»Frau Moorkamp, wir hätten da noch ein paar Fragen an Sie«, erklärte Stelter mit gesenkter Stimme. »Wenn Sie uns bitte aufs Revier begleiten würden.«

Sie riss erschrocken die Augen auf. Ihr Blick wanderte zwischen ihm und Charlotte hin und her.

Charlotte war übel. Es war ihr unangenehm, Emi auf diese Weise wiederzusehen. Aber vielleicht lag es auch an dem Fastfood, das sie zu Mittag gegessen hatte und der mangelnden Bewegung.

Ohne Widerstand zu leisten, folgte sie ihnen zum Auto. Charlotte öffnete ihr die hintere Tür und begegnete ihrem unsicheren Blick.

»Bin ich etwa verhaftet?«, fragte sie nach einigen Sekunden.

Charlotte konnte sehen, wie schwer die Verdächtige schluckte. Was auch immer sie jetzt sagte, sie konnte die junge Frau nicht gleichzeitig beruhigen und ihr die Wahrheit sagen.

»Nein, wie mein Kollege sagt, nur ein paar Fragen.«

Sie stieg ein und ließ Charlotte die Tür zuschlagen. Zu. Ein sattes Geräusch, das sich so furchtbar endgültig anhörte. War das schon alles? Man holte einen Verdächtigen ab, setzte ihn ins Auto und der Fall war abgeschlossen.

Stelter jedenfalls schien zu glauben, dass sie hier bereits am Ziel ihrer Ermittlungen waren. Die Verdächtige sollte jetzt nach seinen Wünschen noch gestehen und dann sollte bestenfalls jemand anderes den Bericht schreiben. Sie warf Stelter einen skeptischen Blick über das Dach des Wagens zu, doch er zuckte nur mit den Schultern und stieg ein.

»Darf ich trotzdem meinen Anwalt anrufen?«, fragte sie auf der Fahrt ins Präsidium.

Natürlich durfte sie das. Woher sie allerdings so schnell einen Anwalt bekommen wollte, war Charlotte ein Rätsel. Im Fernsehen tauchten die Anwälte immer direkt nach einem Anruf auf, doch in der Realität vergingen oft Stunden, ehe sich jemand fand, der verfügbar war. Die meisten Menschen hatten überhaupt niemanden, den sie in einer solchen Situation anrufen konnten.

Schließlich half ein Scheidungsanwalt oder ein Anwalt für Arbeitsrecht, den man vielleicht schon einmal benötigt hatte, an dieser Stelle nicht weiter. Wer hatte schon einen Katalog von Anwälten verfügbar, die für einen alles stehen und liegen ließen?

Charlotte bezweifelte, dass Emi regelmäßig einen Anwalt für Strafrecht konsultierte, aber sie konnte ihr den Anruf nicht verweigern und würde das nicht einmal tun, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte. Es war sicher hilfreich, wenn ihr gegen Stelter jemand beistand, der sich auskannte.

Während die Verdächtige telefonierte, erklärte Stelter Charlotte, dass er einen Durchsuchungsbeschluss für ihre Wohnung beantragt hatte. Wenn dieser unterschrieben war, würden einige Kollegen dort nach dem Gegenstück für den gefundenen Ohrring suchen.

Charlotte betete, dass sie nichts fanden, doch sie glaubte, sich daran zu erinnern, dass ein solches Schmuckstück im Flur gehangen hatte. Ihr Blick hatte dort länger verweilt als gewöhnlich, weil sie die Wohnung so anheimelnd fand und überlegt hatte, wie sie ihren eigenen vier Wänden mehr Persönlichkeit einhauchen könnte.

KAPITEL VIERZEHN

EIN ANWALT FÜR ALLE FÄLLE

Weniger als eine Stunde nach ihrem Telefonat war tatsächlich ein Anwalt zur Stelle. Ein hochgewachsener, schlanker Mann in einem dunkelblauen Anzug betrat das Vernehmungszimmer und ließ sie verstummen.

Seine ruhigen braunen Augen hefteten sich augenblicklich auf Charlotte und ihren Partner. Er war kaum älter als sie, doch er wirkte trotz seines Alters ausgesprochen souverän.

»Guten Tag zusammen, diese Befragung ist vorerst beendet. Wenn ich Sie bitten dürfte, mich einen Moment mit meiner Mandantin allein zu lassen.«

Zwar war dieser Mann absolut nicht ihr Typ, aber Charlotte musste anerkennen, dass er auf seine Art sehr attraktiv war. Stelter erhob sich und schubste sie unauffällig an. Sie tat es ihm nach.

Ihr Partner nickte dem Anwalt zu und verließ mit ihr im Schlepptau den Raum. Der Mann hatte sich nicht vorgestellt und sie hatte ihn noch nie hier gesehen.

»Wer ist der Kerl?«

Stelter zuckte grimmig mit den Schultern und marschierte zielstrebig auf die Kaffeemaschine zu.

»Ihr Anwalt.«

Die Kanne war leer. Er musste wohl oder übel einen Neuen aufsetzen, wenn er noch eine Tasse trinken wollte. Charlotte lehnte sich mit dem Rücken an den Kühlschrank und beobachtete das Treiben auf dem Flur.

Dem Plan ihres Partners spielte es in jedem Fall in die Karten, wenn sich die Befragung weiter verzögerte. Sie fragte sich, ob die Kollegen wohl schon auf dem Weg in Emis Wohnung waren.

»Wie lange geben wir ihm?«

Auch mit dieser Frage erntete sie nur ein Schulterzucken. Langsam ging es ihr auf den Geist, dass er sie immer aus seinen Gedanken ausschloss, während er sie mit allen anderen Kollegen zu teilen schien.

»Sie reden wohl nicht gern mit mir?«, fragte sie offensiv.

Der grauhaarige Mann kramte umständlich in einem der oberen Schrankfächer, in dem sich Kaffeefilter und Pulver befanden. Mit einem Filter und der Kaffeedose in den Händen begegnete er ihrem fragenden Blick.

Sie hatte ihn förmlich eingeladen, sich seinen Frust von der Seele zu reden. Wenn er nicht gern mit ihr arbeitete, sollte er es doch einfach sagen. Falls er einen Grund hatte, sie nicht zu mögen, würde sie ihm jetzt zuhören.

»Lieber hätte ich auf jeden Fall jetzt einen Kaffee«, gab er ihr schlicht zur Antwort.

Mehr sagte er nicht.

»Ich hätte es gleich wissen müssen«, brummte er, als die Maschine startete.

Charlotte blickte schweigend zu ihm herüber. Sie würde ihm nicht die Genugtuung verschaffen, ihm weitere Fragen zu stellen, auf die er ausweichend antworten würde.

»Das ist Julius Moorkamp. Ich hätte gleich darauf kommen müssen, dass die Kleine zu den Moorkamps gehört«, führte er kopfschüttelnd aus.

Nun war sie es, die mit den Schultern zuckte. Sie hatte keine Ahnung, was er meinte. Aber offenbar war das eine Familie, die man kennen musste. Berliner Stadtadel oder so.

Immerhin wusste sie nun, dass der Anwalt ein Verwandter von Emi war. Damit war sie nun wenigstens in guten Händen. Insgeheim freute sie sich darüber, dass der etwas naiv wirkenden Frau nun ein vertrauenswürdiger Anwalt zur Seite stand.

Er würde ihr helfen, Stelter gegenüber zu bestehen. Sie würde hier wieder herauskommen, sogar wenn Charlotte nichts zur Lösung der verfahrenen Lage beitrug.

Nebeneinander warteten sie, bis der Kaffee endlich durchgelaufen war. Ihr war nie aufgefallen, wie lange diese Maschine brauchte. Doch das Schweigen zwischen ihnen schien die Zeit zu dehnen.

Dehnen, das könnte sie jetzt auch gebrauchen. Ihre Schultern waren total verspannt von dem stundenlangen Sitzen im Wagen. Ein Blick auf ihr Telefon verriet, dass es schon nach sechs war. Eigentlich langsam Zeit für ein Abendessen. Es tat weder ihrem Schlaf noch ihrer Figur gut, wenn sie spät abends noch aß. Da ihr Feierabend jedoch in weiter Ferne zu liegen schien, fand sie sich damit ab, dass das Essen an diesem Tag ausfallen musste.

Als Stelter endlich seinen Kaffee hatte, entspannten sich seine verhärteten Gesichtszüge. Seine nächsten Worte trafen Charlotte umso härter.

»Lassen Sie mich die Fragen stellen und halten Sie sich im Hintergrund, in Ordnung?«, kommandierte er.

Niemand in dieser verdammten Abteilung schien ihr auch nur das Geringste zuzutrauen. Niemand vertraute auf ihre Meinung. Niemand ließ sie etwas sinnvolles tun. Jetzt sollte sie also stumm daneben sitzen, während er sein Ding durchzog.

Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass jeder ihrer Arbeitsschritte von ihm gegengeprüft wurde. Doch das hier war nun der Gipfel der Unverschämtheit.

Entschlossen sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen, folgte sie Stelter zurück in das Vernehmungszimmer. Er zog geräuschvoll seinen Stuhl zurück. Sogar sie zuckte bei dem fürchterlichen Quietschen zusammen, obwohl sie die Taktik kannte.

Stelter versuchte, der Befragten die Situation möglichst unangenehm zu machen, in der Hoffnung, so schnellstmöglich das erwünschte Geständnis zu bekommen. Emi sah neben ihrem Anwalt aber schon wieder viel zuversichtlicher aus.

»Zunächst zu den Formalitäten«, erklang Stelters erhobene Stimme, als spräche er zu einem ganzen Theater voller Zuschauer. Er schaltete ein Aufnahmegerät auf dem Tisch ein und las ihre persönlichen Daten von seiner Akte ab. »Ihr Name ist Emilia Louise Moorkamp, geboren am 16.03.1990 in Potsdam.« Emi nickte stumm.

»Bitte antworten sie laut und deutlich!«, befahl Stelter im Ton eines Offiziers.

Sie sah haltsuchend zu ihrem Verwandten. Charlotte überlegte immer noch, wie nah die beiden verwandt sein mochten. Für Geschwister war die optische Ähnlichkeit eigentlich zu gering, doch die beiden schienen eine ganz eigene Kommunikation aufgebaut zu haben, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar war. Vielleicht waren sie nicht verwandt, sondern verheiratet.

Nein, die Art und Weise, wie er unter dem Tisch ihre Hand hielt, überzeugte sie schließlich doch von der Geschwistertheorie. Die beiden kannten sich schon ihr ganzes Leben lang und sie vertraute ihm in dieser Situation vorbehaltlos.

»Ja, das ist richtig«, bestätigte sie krächzend nach einem aufmunternden Nicken ihres vermeintlichen Bruders.

»Woher kannten Sie Herrn Thomas Kubica?«

Sie räusperte sich und fuhr anschließend mit klarer Stimme fort.

»Er war ein Trainer in einem Studio, in dem ich seit einigen Wochen ebenfalls unterrichte.«

Stelter feuerte die nächsten Fragen nur so auf sie ab. Auch wenn sie daraus zunächst nichts Neues erfuhren, schien sich die Befragte dennoch immer unwohler zu fühlen.

»Wie war Ihre Beziehung zu ihm?«

»Ich hatte keinerlei besondere Beziehung zu ihm.«

»An dem Abend seines Todes kam es zu einem recht heftigen Streit zwischen Ihnen. Worum ging es dabei?«

Sie seufzte und schüttelte verärgert den Kopf. Lag es an der Frage oder daran, dass sie noch immer einen Groll dem Opfer gegenüber hegte?

»Er hat mir einen blöden Streich gespielt, ich habe mich darüber geärgert.«

»Sie haben sich so sehr darüber geärgert, dass im Zuge des Streits sein Handy Schaden nahm, ist das korrekt?«

Emi nickte betreten.

»Bitte antworten Sie laut und deutlich.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte sie.

»Was haben Sie mit dem Gerät gemacht?«

»Ich habe es auf den Boden geworfen.«

»Und anschließend?«

Sie sah ihn verwirrt an, zuckte mit den Schultern und zog irritiert die Augenbrauen zusammen. Charlotte ahnte, worauf er hinauswollte. Noch immer war unklar, wo sich das Telefon des Toten befand. Es war immerhin möglich, dass sie das Gerät an sich genommen hatte. Vielleicht hatte sie es in Rage eingesteckt und in ihrer Tasche vergessen.

»Nichts anschließend. Ich bin ins Büro von David, unserem gemeinsamen Chef, zitiert worden und danach nach Hause gegangen.«

»Dann haben Sie das Gerät also zuletzt gesehen, als es auf dem Boden lag?«

»Ja!«Sie brüllte ihm die Antwort fast entgegen.

Offenbar wusste sie nicht, dass sie nach dem Telefon suchten, sonst hätte sie doch mittlerweile verstanden, warum er diese Fragen stellte. Charlotte war noch immer sauer über den Maulkorb, den ihr Stelter verpasst hatte, aber sie musste zugeben, dass seine Verhörmethode ein Spiel für eine Person war.

»Ist es ebenfalls korrekt, dass sich Herr Kubica Ihnen in ungebührlicher Weise genähert hat?«

»Ja«, antwortete sie deutlich leiser als zuvor, doch Stelter schien die verringerte Lautstärke nicht zu stören.

Seine eigenen lauten Worte waren ohnehin nur Teil seiner Taktik. Das Aufnahmegerät funktionierte tadellos. Es war nicht nötig, die Stimme besonders zu erheben.

»Bitte schildern Sie uns die Situation.«

Sie sah erneut hilfesuchend zu ihrem Anwalt. Ein knappes Nicken von ihm brachte sie zum Reden.

»Er hat schon öfter versucht, mich einzuladen, aber ich war nicht interessiert«, erklärte sie zögerlich. »An dem letzten Abend war ich allein in der Umkleidekabine und plötzlich stand er hinter mir. Es ist nichts passiert, aber ich hatte Angst vor ihm. Ich bin rausgelaufen.«

»Hat er Sie unsittlich berührt oder Ihnen gedroht?«

»Es hat sich ein bisschen wie eine Drohung angefühlt, aber ich weiß nicht, ob es so gemeint war«, gab sie zu.

Dieser Kubica schien wirklich ein echtes Arschloch gewesen zu sein. Charlotte war froh, dass sie ihm erst nach seinem Ableben begegnet war. Sie hätte ihn sicher auch nicht besonders gemocht.

»Sie waren also nie in seiner Wohnung?«

Stelters Tonfall klang gelangweilt, doch Charlotte wusste, dass er nun zum Kern der Befragung vordrang. Emi war sichtlich entrüstet über seine letzte Frage, doch sie antwortete sachlich.

»Nein.«

»Auch nicht für ein kurzes Schäferstündchen?«

»Natürlich nicht. Was fällt Ihnen eigentlich ein?«, brach es aus ihr heraus. Doch der Anwalt brachte sie mit einer beschwichtigenden Handbewegung zum Schweigen.

Stelter schien sich zu freuen, dass er es mit seiner dreisten Nachfrage geschafft hatte, die junge Frau aus der Reserve zu locken. Doch Moorkamp kannte das Spiel, das der ältere Polizist spielte.

»Sie geben also an, nie in der Wohnung gewesen zu sein?«, fragte er noch einmal mit hochgezogenen Brauen.

»Sie haben meine Mandantin gehört. Sie war nie in der Wohnung des Opfers«, intervenierte der Anwalt.

»Dann interessiert es Sie Beide vielleicht, dass wir etwas in seiner Wohnung gefunden haben. Etwas, bei dem wir gleich an Sie denken mussten, Frau Moorkamp.«

Er machte eine rhetorische Pause und beobachtete die Reaktion der beiden Moorkamps. Keiner der Beiden zeigte eine verräterische Regung. Stelter schob dem Anwalt den Beschluss über den Tisch. Als Nächstes zog er ein Foto des gefundenen Ohrrings aus seinem Hefter.

»Kommt Ihnen das bekannt vor?«

KAPITEL FÜNFZEHN

WOHL DEM, DER FREUNDE HAT

EMI

In dem tristen fensterlosen Raum, in den man sie bei ihrer Ankunft im Polizeipräsidium gebracht hatte, hatte sie stundenlang gefroren. Doch außer ihr schien es niemand zu spüren. Sie hatte Gänsehaut auf den Armen und fühlte sich hundeelend. Sogar dann noch als Julius eintraf.

Es war ihr furchtbar unangenehm, dass sie ihren großen Bruder mit ihren Problemen belästigen musste. Sicher hatte sie ihn von wichtigeren Fällen abgehalten, aber sie brauchte nun dringend Hilfe. Die beiden Polizisten machten ihr Angst. Als Julius eintrat, wurde es zwar ein bisschen wärmer, aber sie hatte alle Mühe, ihm zu erklären, warum sie hier war.

Jedes Mal, wenn der Polizist sie ansprach, wurde ihr übel von seinem furchtbaren Mundgeruch. Eine ekelhafte Mischung aus kaltem Rauch und Kaffeeatem. Sie erinnerte sich an Thomas Minzatem, den sie zwar auch sehr unangenehm fand, aber wenigstens hatte er nicht nach Tod und Verwesung gestunken.

Emi urteilte nie vorschnell über andere Menschen. Natürlich wusste sie aus ihrer Ausbildung, dass Mundgeruch auch krankheitsbedingt sein konnte, aber der Lebenswandel des Polizisten, den sie ihm ansehen konnte, reichte aus, um zu erklären, warum er so roch.

Als der Mann schließlich ein Foto ihres Ohrrings hervorzog, wurde ihr ganz anders. Sie sah schon, wie sich die Gittertür schloss. Wie der Ohrring in Thomas Wohnung gekommen sein mochte, war ihr unerklärlich.

Die Welt um sie herum begann sich immer schneller zu drehen. Zu ihrem Glück fand Julius einen Weg, sie trotzdem nach Hause gehen zu lassen. Wie ihm dieses Kunststück gelungen war, konnte sie sich allerdings nicht erklären. Sein Glaube an sie wurde durch die Beweise nicht im Mindesten erschüttert, aber er wirkte aufrichtig besorgt.

An seiner Seite verließ sie das Gebäude und sah dankbar zu ihm auf. Julius fuhr sich mit einer Hand durch die dunklen Haare und senkte den Kopf.

»Ich bin so froh, dass du mir glaubst.«

Seine Augen zeigten eine Mischung aus Überraschung und Irritation, den sie schon seit frühester Kindheit von ihm kannte.

»Natürlich glaube ich dir«, entrüstete er sich, als wäre etwas anderes komplett unmöglich. »Du bringst doch nicht mal eine Mücke in deinem Schlafzimmer um!«

Sie musste trotz der ernsten Lage schmunzeln. Vor Jahren, als sie noch gemeinsam bei ihren Eltern gewohnt hatten, war sie einmal nachts zu ihm ins Bett geklettert, weil in ihrem Zimmer eine Mücke war und sie nicht wollte, das jemand das Tier erschlug. Julius hatte sich furchtbar aufgeregt.

Er fand es überhaupt nicht lustig, dass seine fünf Jahre jüngere Schwester zu ihm ins Bett kam, immerhin hatte er damals seine erste Freundin und was sollten die Leute von ihm denken, wenn er mit seiner Schwester das Bett teilte. Trotzdem hatte er im Laufe der Nacht den Arm um sie gelegt und seine Bettdecke mit ihr geteilt.

Er war der beste große Bruder, den sie sich je hatte wünschen können. Es gab Dinge, die änderten sich nie.

»Ich glaube, jemand will dir diese Sache anhängen.«

Sie konnte es sich auch nicht anders erklären. An einen bloßen Zufall zu glauben, fiel nach der Sache mit dem Schmuckstück zunehmend schwerer.

Es war isoliert betrachtet möglich, dass der Zeitpunkt nur zufällig mit ihrem Streit zusammenfiel. Ebenso möglich war, dass jemand die gleichen Ohrringe hatte und es sich gar nicht um das Gegenstück zu ihrem handelte. Doch warum sie nur noch einen hatte, erklärte das nicht.

»Wenn ich nur wüsste, warum?«

Emi blickte traurig auf den Bürgersteig zu ihren Füßen. Die Straßenlaterne warf einen verschwommenen gelben Lichtkreis auf das feuchte Pflaster.

Nur weil Julius sie so gut kannte, war er überzeugt von ihrer Unschuld. Für einen Außenstehenden wie den Polizisten musste sie aussehen, wie die perfekte Verdächtige. Schon vor dem Ohrring sah es nicht gut für sie aus. Nun schien es auch noch, als versuchte sie, eine Affäre mit Thomas zu vertuschen.

Ganz unabhängig davon, ob sie Thomas attraktiv gefunden hatte oder nicht, sie hätte doch zugegeben, wenn sie etwas mit ihm gehabt hätte. Es war ja nicht so, als wäre Sex etwas, das einem peinlich sein musste. Sie war kein Teenager mehr. Wenn sie Sex mit jemandem haben wollte, konnte sie offen damit umgehen.

»Wahrscheinlich warst du seine beste Chance, ungeschoren davon zu kommen. Nimm es nicht persönlich. Die Leute da drinnen müssen jetzt mal ihren Job machen und herausfinden, wer es war.«

Sie seufzte. Da sie nicht glauben konnte, dass jemand diesen Aufwand nur deshalb betrieb, weil er sie belasten wollte, erschien Julius Theorie schon recht schlüssig. Aber das bedeutete, dass der echte Täter irgendwie an ihre Ohrringe gekommen war.

»Mag sein, aber wie kommt der an meinen Ohrring? Und wieso liegt der bei Thomas in der Wohnung, wenn die Sache nicht von langer Hand geplant war?«

Es musste Monate her sein, dass sie die Ohrringe zum letzten Mal getragen hatte. Sie sammelte zwar hübschen Schmuck, aber sie trug ihn nur selten. Gerade die langen Ohrringe waren Stücke, die sich nur schwer kombinieren ließen.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand er. Julius warf einen Blick auf seine Armbanduhr und kratzte sich im Nacken. »Lass die Jungs und Mädels einfach erstmal ihre Arbeit machen. Die werden das schon rausfinden. Ich muss jetzt los. Wenn was ist, ruf einfach an, okay?«

* * *

Zunächst glaubte sie, ziellos durch die Straßen zu schlendern. Sie wollte weder allein nach Hause, noch wollte sie so wirklich unter Leute. Erst als sie sich bei Miriam vor der Haustür wiederfand, erkannte sie, wo sie hinwollte. Sie brauchte ihre beste Freundin.

Die Tür zum Hausflur war nur selten richtig zu. Ein kleiner Schalter im Türschloss war so eingestellt, dass man die Tür aufdrücken konnte, auch wenn sie geschlossen aussah. Sie klingelte an der Wohnungstür und erschrak, als sie Stimmen von drinnen hörte.

Es war Montagabend, Miriam hatte nicht erwähnt, dass sie Besuch erwartete. Hoffentlich störte sie nicht.

Am Samstag hatte ihre Freundin zwar erwähnt, dass es möglicherweise einen neuen Mann in ihrem Leben gab, aber Montag war nun wirklich kein traditioneller Dateabend. Entweder war die Beziehung schon so weit gediehen, dass sie sich nicht nur zum Ausgehen trafen oder es war jemand vollkommen anderes bei ihr.

»Emi, hi«, rief Miriam überrascht aus. Sie zupfte an ihrem Shirt und warf einen Blick über die Schulter den Flur entlang. »Was machst du denn hier?«

In einem der angrenzenden Zimmer polterte es. Emi schlug die Hand vor den Mund. »Oh Mist, ich störe. Nicht wahr?«

Miriam schmunzelte und schüttelte sachte den Kopf.

»Ach was, halb so wild. Jetzt ist es sowieso schon zu spät.« Sie trat einen Schritt zurück, um sie einzulassen, aber Emi blieb stehen. »Entschuldige, wenn ich das so sage, aber du siehst echt fertig aus und du kommst jetzt besser rein!«

Trotz des bestimmten Auftretens Miriams wehrte Emi sich. Die Sache war ihr unangenehm. Vor einem Fremden wollte sie sich nicht ausheulen, aber wegschicken sollte Miriam ihren Besuch ihretwegen auch nicht.

»Ich hatte einen echt miesen Tag, aber ich komme schon klar. Ich will wirklich nicht weiter stören. Macht euch noch einen schönen Abend.«

Emi machte auf dem Absatz kehrt. In diesem Moment erklang von drinnen eine männliche Stimme, die sie innehalten ließ.

»Sie soll sich nicht so anstellen und reinkommen.«

Wie Emi drehte sich auch Miriam zu dem Sprecher um.

»Wo er Recht hat, hat er Recht. Jetzt komm halt.«

Miriam legte ihr den Arm um die Schultern und schob sie ins Wohnzimmer. Ihr anderer Gast war zu Emis Erleichterung vollständig bekleidet und hatte lediglich eine Vase mit Trockenblumen umgeworfen, die er nun wieder aufstellte.

Als er sich zu Emi umdrehte, traute sie ihren Augen kaum. Vor ihr stand der freundliche Fremde aus dem Coffeeshop, der sie vor wenigen Tagen so selbstlos auf einen Kaffee eingeladen hatte. Das war also der Neue.

»Liam, das ist meine beste Freundin Emi«, stellte Miriam ihre Freundin vor. »Und das ist Liam.«

Sie reichte ihm die Hand und sah ihn prüfend an. Es war nicht zu erkennen, ob er sich auch an sie erinnerte oder nicht. Wenn er nicht der Mann aus dem Coffeeshop war, sah er ihm zumindest erstaunlich ähnlich.

Emi ließ sich auf den Zweisitzer plumpsen, schlüpfte aus den Schuhen und zog die Füße mit angewinkelten Beinen auf die Sitzfläche. Miriam und Liam nahmen nebeneinander auf dem größeren Sofa Platz.

»Erzähl mal, was passiert ist!« Miriam legte eine Hand auf Liams Schenkel und machte es sich ebenfalls etwas bequemer. »Möchtest du was trinken?«

»Ein Saft wäre super«, gestand sie.

»Ich gehe schon«, meldete sich Liam freiwillig und sprang vom Sofa auf. Kurz darauf konnte sie hören, wie der Kühlschrank geöffnet wurde. Er schien sich in der Wohnung schon wie zuhause zu fühlen.

»Ist er nicht toll?«, flüsterte Miriam und schaute ihm verliebt hinterher.

»Ja, ein sehr netter Kerl«, stimmte Emi der Freundin zu.

Die enge Hose, die sie am Morgen für die Gespräche mit den Unternehmern angezogen hatte, zwickte am Bauch und Emi rutschte unruhig auf dem Sofa herum, bis sie eine Position fand, in der es sich aushalten ließ. Der Tag war ungeheuer lang geworden. Der Morgen wirkte so weit entfernt, dass er schon kaum noch dazu gehörte. Doch die Kleidung war immer noch dieselbe.

»Also, was ist los?«, drängte Miriam sie, endlich mit ihrer ganz persönlichen Horrorstory herauszurücken.

Emi schüttelte den Kopf und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Liam kehrte mit einer Flasche Saft und drei Gläsern zurück und begann ihnen einzuschenken.

»Wo fange ich bloß an?«, sie atmete noch einmal tief durch und begann ihre Geschichte schließlich genau dort, wo sie auch für sie am vergangenen Mittwoch begonnen hatte.

Es fühlte sich an, als wären all diese Dinge einem anderen Menschen passiert und Emi hätte sie wie einen Film aus sicherem Abstand von der anderen Seite des Bildschirms betrachtet. Sie berichtete von ihrem ungewöhnlichen Ausraster im Studio und wie am nächsten Morgen plötzlich die Polizei mit der Nachricht von Thomas‘ Tod vor ihrer Tür stand.

Dann erzählte sie von den hässlichen Gerüchten, die bereits die Runde in der Szene machten, und wie sie heute beinahe verhaftet wurde.

»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich jetzt noch machen soll«, schloss sie ihre Erzählung ab.

Miriams rosiger Teint hatte deutlich an Farbe verloren. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und nippt an ihrem Glas, ehe sie eine Antwort herausbrachte.

»Mädel, warum sagst du denn nichts? Da sitze ich stundenlang mit dir beim Essen, quatsche sinnloses Zeug vor mich hin und du sagst kein Wort von dieser Sache.«

Emi zuckte hilflos mit den Schultern und murmelte eine Entschuldigung. Miriam erhob sich von ihrem Sitzplatz und ließ sich neben ihr nieder.

»Komm mal her«, forderte sie und zog Emi in ihre Arme.

Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Sie hatte keine Kraft mehr, sie noch länger zurückzuhalten und ließ an Miriam gekuschelt ihren Emotionen freien Lauf. Die Journalistin reichte ihr ein Taschentuch und runzelte bei Emis Anblick die Stirn.

»Jetzt weiß ich auch, warum du sonst kein Make-up trägst.«

Emi trocknete sich die Augen und sah Miriam fragend an. Resolut verließ Miriam das Wohnzimmer und kehrte kurz darauf mit Wattepads und Reinigungsmilch zurück. Sie benetzte ein Pad und begann, damit in Emis Gesicht herumzuwischen.

»Du siehst ein bisschen wie ein Panda aus, aber ich kriege das wieder hin«, schmunzelte Miriam.

Auch Liam musste grinsen und Emi begann trotz der immer noch fließenden Tränen zu lachen. Freunde zu haben, half wirklich in jeder Lebenslage, dachte sie voller Dankbarkeit. Als ihr Gesicht nach Miriams Dafürhalten wieder vorzeigbar war, versiegten auch die Tränen endgültig.

»Am besten kaufst du dir mal wasserfeste Mascara!«

Ihre Freundin war praktisch veranlagt, doch bei ihr traf das im Augenblick nicht auf offene Ohren. Noch immer hing Emi ihren düsteren Gedanken nach.

»Ich fürchte, alle spielen hier gegen mich«, schluchzte sie erneut. Mit gekräuselten Lippen sah Miriam sie skeptisch an.

»Jetzt reicht es aber!«, knurrte sie. »Zu glauben, die ganze Welt habe sich allein gegen dich verschworen, ist eigentlich gar nicht deine Art. Es ist sogar ziemlich egozentrisch, findest du nicht?«

Emi zog die Brauen in die Höhe, um sie auch mit gesenktem Kopf sehen zu können. Das Lächeln zeichnete sich nur in Miriams Augen ab. Ihr Mund bewegte sich keinen Millimeter aufwärts. Sie hob den Kopf und schmunzelte.

»Natürlich hast du recht, aber es ist so unfair!«

Liam warf ihr einen Blick zu, den sie nur schwer deuten konnte.

»Das klingt wirklich übel«, sagte er nach einiger Zeit. Nach einem Blickwechsel zwischen ihm und Miriam, sprach auch sie ihre Gedanken laut aus.

»Wahrscheinlich kennt dich der wahre Täter.«

Die Idee gefiel Emi überhaupt nicht, aber wenn das wirklich ihr Ohrring war, musste der Täter ihr nahe genug gewesen sein, um ihn an sich zu nehmen. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ein Mörder in ihrer direkten Umgebung herumlief.

Es war eine beängstigende Vorstellung. Julius schien sicher, dass die Polizisten die Wahrheit herausfinden würden, doch Emi war davon nicht überzeugt.

»Die Polizei hat sich komplett auf mich eingeschossen. Ich glaube nicht, dass die noch in andere Richtungen ermitteln«, erklärte Emi erschöpft.

Miriam streichelte ihr über den Kopf und starrte an ihr vorbei aus dem Fenster. Emi wusste nicht, was sie erwartet hatte. Es tat gut, sich aussprechen zu können, aber helfen konnte ihr weder Miriam noch deren neuer Freund.

»Du musst etwas finden, das dich entlastet«, erklärte Liam zuversichtlich. »Da du kein Alibi hast, ist das natürlich ein bisschen schwierig, aber wir finden bestimmt etwas.«

Sie erstarrte. Liam legte den Kopf schief und warf ihr einen fragenden Blick zu. Emi drehte sich zu Miriam. Sie hatte es auch gehört und nickte.

»Du hast Wir gesagt. Heißt das, du hilfst uns?«

Liam zuckte verständnislos mit den Schultern und zog eine Grimasse.

»Natürlich. Deine Freunde sind jetzt auch meine Freunde und wenn Freunde Hilfe brauchen, helfe ich!«

Emi staunte über seine Auffassung. Sie sah die Sache genauso, aber traf selten auf andere Menschen mit dieser Einstellung. Es stimmte also, in den dunkelsten Stunden erkennen wir, wer unsere wahren Freunde sind. Auch Miriam sah ihren neuen Freund voller Bewunderung von der Seite an.

»Okay, lasst uns mal überlegen! Wie können wir dir helfen?«

Miriam klatschte begeistert in die Hände und setzte sich auf.

»Wer ist denn der Tote?«, fragte Liam.

Emi versuchte zu erklären, was sie über Thomas wusste, doch es kam nicht viel dabei heraus. Sie hatte ihn schließlich kaum gekannt und konnte auf die Frage deshalb nicht viel antworten. Ihr Eindruck von seiner Persönlichkeit war alles, was sie hatte.

»Wenn wir mehr über sein Privatleben wüssten, könnten wir vielleicht herausfinden, wer seinen Tod wollte«, dachte Miriam laut.

Gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit ihm hatte Emi seine Freundschaftsanfrage auf Facebook angenommen. Sie erinnerte sich, dass sie das Abonnement seiner Beiträge sofort abgestellt hatte, weil ihr die Inhalte nicht gefielen.

»Vielleicht sollte ich mir sein Facebookprofil noch einmal näher ansehen und herausfinden, mit wem er viel Kontakt hatte.«

»Gute Idee«, stimmte Liam zu. »Wenn du Hilfe brauchst, sag mir einfach Bescheid.«

Die Ernsthaftigkeit seines Angebots unterstreichend notierte er seine Handynummer auf einem Stück Papier und reichte es ihr.

* * *

CHARLOTTE

Stelter war stur wie ein alter Maulesel. Allgemein hatten das Tier und er ungeheuer viel Ähnlichkeit miteinander. Das graue Fell, der müde Blick und man konnte am Führstrick ziehen, so sehr man wollte – sie bewegten sich nur, wenn ihnen danach war.

Charlotte hatte sich den Mund fusselig geredet, aber Stelter war nicht von seinem Standpunkt abzubringen. Für ihn war die Täterin gefunden, auch wenn der Anwalt sie wieder herausgeboxt hatte. Er war absolut überzeugt, dass er ausreichend Beweise gegen die Yogalehrerin sammeln konnte, um eine Anklage zu ermöglichen.

Zugegeben, der Ohrring sprach gegen sie, aber selbst wenn sie eine heimliche Liaison mit dem Opfer gehabt hatte, machte sie das nicht zur Täterin.

Seit über zwölf Stunden war sie schon im Dienst. Das frühe Mittagessen war das letzte, was sie gegessen hatte und das Abendessen war ersatzlos ausgefallen. Doch nicht nur der Hunger nagte an ihr. Sie war auch mit den Nerven völlig am Ende.

Der hauchdünne Faden, an dem ihre Geduld hing, drohte jeden Moment zu reißen. Als sie das erkannte, schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob sich die Yogalehrerin wohl ähnlich gefühlt hatte, als sie das letzte Mal auf Thomas Kubica getroffen war.

Hatte er sie ebenso zur Weißglut getrieben, wie ihr Partner nun sie? Aus diesem Gefühl heraus würde Charlotte niemals jemanden umbringen. Sie könnte schreien und um sich schlagen, aber sie würde gewiss nicht nach Stunden zurückkehren und Stelter einen Blumentopf über den Schädel ziehen.

Oder eine Hantelscheibe. Diese Wut lag im Moment und verschwand nach einiger Zeit von allein. Deshalb tötete man nicht.

Aber wie sie Stelter das begreiflich machen konnte, fiel ihr einfach nicht ein. Vielleicht war der alte Mann einfach nur faul und verließ sich deshalb auf seinen ersten Eindruck.

Andererseits hörte auch sie nur auf ihr Bauchgefühl und das war eben anderer Meinung als Peter Stelter. Wie sollte sie diesen Fall retten und der Yogalehrerin helfen, wenn sie nicht wusste, ob Stelter mit seiner Taktik erfolgreich sein würde oder nicht? Ihr Vater hatte gesagt, sie sollte beobachten und lernen. Doch in der echten Welt war es nicht so leicht zu sehen, welches Verhalten nun zum Erfolg führte und welches nicht.

Sie verbarg ihr Gesicht hinter den Händen und versuchte, sich ein letztes Mal für diesen Tag dem Gespräch zu stellen.

»Sie können doch nicht einfach so ignorieren, dass es auch noch andere Hinweise gibt!« Es war ein allerletzter Versuch, an seine Vernunft zu appellieren. »Die nächtlichen Besucher, das fehlende Telefon und all die Dinge, von denen wir noch nichts wissen, weil Sie sich auf die denkbar einfachste Lösung eingeschossen haben.«

Sie hatte alles in die Waagschale geworfen, was ihr durch den Kopf geisterte. Planlos und ohne Alternativen.

»Meistens ist die einfachste Lösung auch die richtige, verehrte Kollegin«, dozierte er.

Am wütendsten machte sie an seiner Antwort jedoch die Anrede. Entweder wusste er nicht, was die Worte ‚verehrt‘ und ‚Kollegin‘ bedeuteten oder er machte sich über sie lustig. All ihre Argumente waren ihm vollkommen egal.

Jegliche weitere Ermittlung in eine der anderen Richtungen musste in seinen Augen reine Zeitverschwendung sein. Sie wusste selbst noch nicht, wohin die Spuren sie führen mochten, aber genau darum ging es doch. Sie wollte es herausfinden und sich darauf einlassen. Er nicht.

»Jetzt regen Sie sich mal nicht so auf und schlafen Sie erstmal ne Nacht darüber«, murmelte Stelter und verschwand durch die offene Bürotür. »Ich werde das auch machen. Vielleicht hat meine Frau mir noch etwas Braten aufgehoben.«

Charlotte sah ihm nach. Es fiel ihr nicht schwer, die Wut, die in ihr kochte zurückzuhalten. Sie hatte Übung darin, mit ihren Emotionen allein zurechtzukommen. Man wurde nicht in so kurzer Zeit Kriminalkommissarin, wenn man sich nicht halbwegs im Griff hatte.

Das miese Gefühl, das sie seit Wochen bei der Arbeit beschlich, erschien ihr manchmal nur ihrer Einbildung zu entspringen. Doch im Augenblick war es so stark, dass es einfach echt sein musste. Niemand hier nahm sie ernst.

Sie schüttelte den Kopf und lockerte die verkrampften Schultermuskeln. Wenn das der Humor ihres Schicksals war, wollte sie lieber nicht wissen, was es noch für sie bereithielt.

Auf dem Flur hörte sie Schritte. Auch wenn sich ein Teil von ihr wünschte, ihr Partner würde reumütig zurückkehren, klangen die Schritte doch anders. Viel zu leichtfüßig, fast beschwingt.

In der Tür erschien das Gesicht von Kriminaloberrat Engelhardt und Charlotte nahm ganz automatisch Haltung an.

»Frau Rothenburg, so spät noch hier?«

Der Leiter des Dezernats war ihr Fürsprecher gewesen und hatte ihr ermöglicht, zur Kriminalpolizei zu wechseln. Doch obwohl sie sich schon seit zwei Jahren kannten, empfand sie immer noch eine erhebliche Distanz zu dem Mann. Aus diesem Gefühl heraus untersuchte sie jedes Mal ihre Kleidung nach Krümeln, wenn sie einen Termin bei ihm hatte. Sie wollte immer den bestmöglichen Eindruck hinterlassen.

»Ähm, ja, Entschuldigung, es ist wohl ein bisschen spät geworden.«

Ein gutmütiges Lächeln erhellte sein sonst so düsteres Gesicht. Tiefe Falten zeichneten sich darin ab und ließen ihn älter wirken, als er wirklich war.

Im vergangenen Jahr hatte er seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert, aber jedermann fragte sich, wann er wohl in Rente ging, wenn er ihn kennenlernte. Charlotte wusste nicht, welchem Umstand er sein frühes Altern zu verdanken hatte, und sie würde ihn auch niemals direkt danach fragen.

»Sie müssen sich für Ihren Eifer nicht schämen. Wie läuft es denn mit Ihrem ersten Fall?«

Charlotte rang mit sich. Sollte sie die Wahrheit sagen und sich bei ihm ausheulen oder sollte sie so tun, als sei alles in bester Ordnung? Er hätte die Frage sicher nicht gestellt, wenn es ihn nicht interessierte. So wie er sich gegen den Türrahmen lehnte, wartete er auf eine Antwort.

»Stelter hat bereits eine Verdächtige. Wir haben sie heute Nachmittag verhört«, tastete sie sich vor.

»Na, das klingt doch, als wären Sie auf dem richtigen Weg.« Er nickte zufrieden, aber er rührte sich nicht von der Stelle. »Kommen Sie zwei denn gut miteinander aus?«

Es war ihr ein inneres Bedürfnis, ihm ihr Herz auszuschütten. Wenn ihr irgendjemand in dieser Sache helfen konnte, war das sicher er. Er schien aufgeschlossen und ernsthaft daran interessiert, wie es ihr ging.

»Wissen Sie, ich bin mir sicher, dass Stelter falsch liegt«, erklärte sie sachlich. »Die Verdächtige ist ein absolut friedlicher Mensch und könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«

Noch immer sah Engelhardt sie interessiert an. Wenn er wüsste, wo ihr Problem lag, könnte sie vielleicht mit einem anderen Partner an dem Fall weiterarbeiten. Das wäre die bestmögliche Lösung für die Sache. Charlotte wollte sich nicht mehr an diesem sturen Esel aufreiben.

»Nun ja, mein Partner ignoriert jedoch vehement andere Spuren, nur weil sie ihm nicht ins Konzept passen. Er ist so verdammt stur und ich kann ihn einfach nicht davon abbringen. Seine Weigerung, den anderen Hinweisen nachzugehen, könnte uns wertvolle Zeit kosten.«

Sie spürte, dass ihr das Blut in den Kopf schoss. Jetzt war es zu spät, das Boot noch vor dem Wasserfall aufzuhalten. Sie hatte sich ohnehin schon zu weit vorgewagt, also konnte sie nun auch noch den letzten Schritt tun.

»Das Opfer ist schon seit fast fünf Tagen tot und er beißt sich an einer Unschuldigen fest. Nur weil er mehr Erfahrung hat als ich, ist er noch lange nicht der unfehlbare Gott der Ermittler.«

Erst als sie nun ihren Chef ansah, erkannte sie, dass das gutmütige Lächeln auf seinem Gesicht einem vollkommen anderen Ausdruck gewichen war. Oberhalb seines Hemdkragens waren rötliche Flecken zu sehen. Eine Ader trat an seiner Schläfe hervor.

»Die Anschuldigungen, die Sie gegen Ihren Partner erheben, sind unerhört. Ich kenne Kriminalhauptkommissar Stelter seit 14 Jahren und er hat sich in all diesen Jahren nie einer derartigen Verfehlung schuldig gemacht«, seine Stimme bebte, doch er hatte sich besser im Griff als sie.

Er holte tief Luft und das wilde Pochen der Ader ließ nach. Charlotte senkte den Blick zu Boden. Sie hätte wissen müssen, dass er sich in der Sache auf die Seite des erfahrenen Kollegen stellte. Sie war nur die Neue und hatte kein Recht, ihren Partner zu verurteilen, nur weil sie eine Meinungsverschiedenheit hatten.

Mit ein bisschen mehr Geduld wäre so oder so die Wahrheit ans Licht gekommen. Sie glaubte an das System, für das sie arbeitete. Ob Stelter sich nun durch besonderen Starrsinn auszeichnete oder nicht, hatte keinen Einfluss auf den Ausgang der Ermittlungen. Aber für die Yogalehrerin hatte es Folgen und sie war nicht bereit, dieses Unrecht zu akzeptieren.

Das Schweigen, das auf seinen Schiedsspruch folgte, strapazierte Charlottes Nerven. Sie könnte sich für ihre unbedachten Worte entschuldigen. Vielleicht hätte sie dann keine unmittelbaren Folgen zu befürchten. Aber vielleicht hätte auch dieser Rückzieher Folgen für sie.

Es blieb ein Hauch einer Chance, dass er sie einem Test unterzog. Möglicherweise wollte er wissen, ob sie zu dem stand, was sie sagte.

»Sie hatten in diesem Jahr noch keinen Urlaub. Vielleicht ist es an der Zeit, dass Sie sich einige Tage freinehmen und etwas ausspannen. Ich bin gewillt Ihren Ausbruch darauf zurückzuführen, dass Sie ein wenig überarbeitet sind.« Er zeigte ihr eine Möglichkeit auf, wie sie ohne Gesichtsverlust aus dem Gespräch herauskommen konnte. »Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass ich so etwas nicht noch einmal von Ihnen hören will.«

Charlotte nickte demütig. Sie würde sein Angebot annehmen. Wenn sie den Konfrontationskurs beibehielt, konnte sie eine Zukunft unter Engelhardt abschreiben.

»Ja, wahrscheinlich haben sie Recht. Ich fühle mich nicht besonders wohl. Es war ein langer Tag.«

KAPITEL SECHZEHN

BONBONS UND ANDERE GEFÄLLIGKEITEN

EMI

Der Bildschirm ihres Laptops zeigte den vertrauten blauen Navigationsbalken von Facebook. Dort war sie seit einigen Wochen mit Thomas vernetzt. Er hatte sagenhafte 1.535 Freunde, von denen nur drei auch mit Emi befreundet waren.

Isa und David waren natürlich unter seinen Kontakten, aber ebenso eine alte Schulfreundin, die Emi seit Jahren nicht gesehen hatte. Es schien ihr undenkbar, dass er all die Menschen, mit denen er über sein Profil in Verbindung stand, auch im echten Leben kannte. Aber wie sollte sie eine Auswahl treffen, wen sie sich näher ansah?

Emi rieb sich die Augen. Es war viel zu spät an diesem furchtbar langen Tag. Schon allein der Ansatz war zum Scheitern verurteilt. Auf diese Weise würde sie nichts über Thomas erfahren, was von Bedeutung war. Sie konnte unmöglich den Datenmüll von den relevanten Informationen unterscheiden.

Seine Chronik war voll mit fremden Inhalten, die er geteilt hatte. Hier mal ein sexistischer Spruch, dort ein Video von Leuten, die sich an unüberlegten Stunts versuchten und zur Belustigung der Zuschauer dabei kläglich scheiterten.

Unter seinen geposteten Fotos fanden sich vornehmlich Selfies, auf denen er wenig anhatte und selbstverliebt posierte. Dafür sammelte er Likes und zumeist wohlmeinende Kommentare anderer Nutzer. Sie musste zugeben, dass sein Oberkörper durchaus etwas hermachte, wenn man ihm nicht live gegenüber stand.

Er gehörte eindeutig zu den Menschen, die auf Fotos attraktiver wirkten als im wahren Leben. Allein die Erinnerung an seinen Geruch und sein Verhalten stellten ihr die Nackenhaare auf.

Sie erhob sich vom Sofa, stellte den Laptop auf dem Couchtisch ab und öffnete das Fenster mit der tiefen Fensterbank. Der Flügel schwang weit in den Raum und sie beugte sich hinaus, um den Geruch der feuchten Nachtluft aufzusaugen.

Der Nieselregen, der in den vergangenen Stunden stetig gefallen war, hatte aufgehört und nur das Fahrgeräusch der Autos auf der Straße unter ihr und dieser unvergleichliche Geruch erinnerten von hier oben noch an ihn.

Sie machte einige Dehnübungen, um die Schultern zu lockern, die nach den vergangenen Stunden am Laptop ziemlich eingerostet schienen. Leider hatte sie nichts hilfreiches herausgefunden. Seufzend lehnte sie sich an den Fensterrahmen.

* * *

Am nächsten Morgen packte sie der Eifer und verdrängte die Pläne, in Thomas Leben herumzuschnüffeln. Sie hatte ein Leben zu leben und am nächsten Tag erwartete sie bereits die erste Unterrichtseinheit in der Redaktion der »Helena«, dem Magazin für die unabhängige Frau, bei dem Miriam arbeitete.

Erste Ideen für die Stunde hatte sie schon am Sonntag gesammelt, doch jetzt musste sie die Übungen einmal absolvieren und ihre Ansagen üben, um zu prüfen, ob sie damit auch den vorgegebenen Zeitrahmen einhielt. Sie durfte auf keinen Fall überziehen, denn die Teilnehmer mussten im Anschluss wieder an die Arbeit.

Weil das Wetter ausnahmsweise einmal für einige Stunden schön bleiben sollte, packte sie ihre Unterlagen und ihre Matte ein und machte sich auf den Weg zum Tempelhofer Feld, das nur wenige Minuten von ihrer Wohnung entfernt lag.

Nach kleinen Korrekturen hatte sie ihr Programm fertig und startete die Stoppuhr auf ihrem Handy, um die Abfolge einmal zu durchlaufen. Die frische Luft und die Übungen halfen ihr, für einige Zeit zu vergessen, was sie seit Tagen plagte. Sie wertete dies als gutes Zeichen. Wenn es bei ihr klappte, würde es sicher auch für die Mitarbeiter der Redaktion eine wertvolle Auszeit bringen.

Am Ende hatte sie noch drei Minuten übrig und war zufrieden. Ein bisschen Pufferzeit musste man immer einkalkulieren, weil eine Störung auftreten konnte.

Am Nachmittag stand sie jedoch wieder vor der leidigen Frage, wie sie den wahren Täter finden konnte. Es musste eine Möglichkeit geben, mehr aus dem Facebook-Profil herauszuholen. Jemand, der dort so aktiv war, hinterließ doch bestimmt verwertbare Spuren. Wenn sie nur wüsste, wie sie diese von dem anderen Mist trennen konnte.

Auf ihrem eigenen Profil konnte sie auf ein Aktivitätenprotokoll zugreifen. So etwas würde ihr auch über Thomas‘ Aktivitäten deutlich mehr in kürzerer Zeit mitteilen, als wenn sie alle möglichen Kontakte einzeln durchsuchte. Wenn sie auf seine Seite wechselte, war das Kästchen mit dem Protokoll nicht zu sehen. Vermutlich war diese Funktion nur für den Inhaber des Kontos zugänglich.

Eigentlich war das beruhigend, dass diese Daten privat waren, aber in ihrem Fall sehr hinderlich.

Ein Luftzug wirbelte ein Stück Papier von dem kleinen Schreibtisch auf. Sie konnte es gerade noch einfangen und erkannte, dass es sich um die Telefonnummer von Liam handelte. Er hatte gesagt, wenn sie Hilfe bräuchte, sollte sie sich melden.

Aber wollte sie ihn in diese Sache hineinziehen? Sie kannte ihn kaum. Er hatte einen hilfsbereiten Eindruck gemacht, aber das durfte sie nicht ausnutzen, indem sie ihn zu illegalen Aktivitäten überredete. Es war falsch und moralisch verwerflich.

Wahrscheinlich kannte er sowieso keine Methode, auf das Konto zuzugreifen. Sie sollte weder Liam noch irgendwen anders in die Sache einbeziehen. Und dennoch tippten ihre Finger die Nummer in ihr Telefon. Viel zu schnell nahm er ab und die Entscheidung war gefallen.

»Yeah«, ertönte eine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Liam, bist du’s?«, fragte sie verunsichert. »Ich bin’s Emi, die Freundin von Miriam. Du hast mir gestern deine Nummer gegeben und gesagt ...«

»Ich weiß, wer du bist«, unterbrach er sie sanft.

Der freundliche Klang seiner Stimme machte es ihr leichter, sich ein wenig zu entspannen. Es war schwer genug, jemanden um Hilfe zu bitten, selbst wenn derjenige diese Hilfe freiwillig anbot – und besonders, wenn es sich bei dem Helfer um einen völlig Fremden handelte.

»Ich scheitere gerade kläglich beim Versuch, meinen Plan von gestern umzusetzen«, erklärte sie halb lächelnd, um ihre Verzweiflung zu verbergen. Dennoch erschien es ihr nicht klug, die Dinge am Telefon beim Namen zu nennen.

»Mein Angebot steht« sagte er knapp. Emi nickte und merkte erst einen Augenblick später, dass er das natürlich nicht sehen konnte. »Soll ich nach der Arbeit vorbeikommen und etwas zu essen mitbringen?«

Es war viel zu einfach, ihn für diese Mission zu begeistern. Warum tat er das für sie? Wusste er denn noch, dass ihr Plan nicht mit den geltenden Gesetzen in Einklang zu bringen war?

»Was magst du denn gerne?«, riss sie seine erneute Frage nach dem Essen aus ihren Grübeleien.

Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Das war zwar hilfreich, um ihre Figur wieder in Form zu bringen, aber sehr schlecht für ihr Gehirn. Hunger hinderte sie daran, rationale Entscheidungen zu treffen. Stattdessen zog sie Miriams neuen Freund in ihren persönlichen Abgrund.

Herzlichen Glückwunsch, Emi!

»Bei mir um die Ecke gibt es einen Vietnamesen, der ein tolles veganes Curry macht. Lass das Essen meine Sorge sein und sag mir nur, wann du da sein kannst.«

* * *

Knapp zwei Stunden später klingelte es endlich an Emis Haustür. Sie konnte es kaum erwarten, diesen Teil ihrer Aufgabe hinter sich zu bringen. Sie öffnete die Wohnungstür einen Spalt, huschte in die Küche und fischte vorsichtig die Take Away Boxen aus dem Ofen, wo sie sie warm gehalten hatte.

Liam stand bereits im Flur und lächelte sie an wie ein unschuldiger Schuljunge. Er zog seine schwarze Lederjacke aus, hängte sie an den Garderobenhaken und schien sich auch bei ihr gleich wie zuhause zu fühlen. Seine dunklen Haare sahen aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen. Zu dem dichten Drei-Tage-Bart sah das sogar richtig gut aus.

»Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte sie und drückte ihm einen Teller in die Hand.

»Ist doch Ehrensache«, winkte er ab.

Er folgte ihr ins Wohnzimmer, stellte den Teller auf dem Couchtisch ab und setzte sich.

»Bevor wir essen, lass mich doch schon mal kurz an den Rechner. Ich starte schon einmal das Programm.« Das klang in Emis Ohren viel zu einfach, doch sie reichte ihm ohne Widerworte den Laptop. »Weißt du, welche Emailadresse er zur Anmeldung verwendet hat?«

Gleich zu Beginn vor so schwierigen Fragen zu stehen, hatte sie nicht erwartet. Sie kannte keine Emailadresse von Thomas, aber natürlich brauchte man die, um sich in seinen Account einzuloggen. Kein Wunder, dass sie jemanden wie Liam brauchte, um dieses Problem zu lösen.

Computersachen waren nicht unbedingt ihr Spezialgebiet. Sie kam mit den alltäglichen Anwendungen zurecht, aber alles, was sie aus ihrer Komfortzone locken wollte, lehnte sie ab. Es gab nicht ohne Grund Fachleute für dieses Gebiet. Sie arbeitete lieber mit Menschen als mit Maschinen.

»Nein, ich habe keine Ahnung«, gab sie zerknirscht zu.

»Kein Problem, das finde ich schnell raus. Wie heißt er noch?«

Emi erzählte ihm, was sie über Thomas wusste und zeigte ihm das Profil. Liam gab einige Begriffe in der Suchmaschine ein und erhielt sehr schnell zwei passende Emailadressen.

Ihre Augen folgten ungläubigen den flinken Klicks auf dem Bildschirm. Er steckte den mitgebrachten USB-Stick ein und in weniger als zwei Minuten war das Programm überspielt. Mit ein paar weiteren Klicks erteilte er den Arbeitsauftrag und stellte das Gerät wieder auf dem Tisch ab.

»Jetzt können wir essen«, erklärte er mit einem zufriedenen Grinsen.

Nun sah er längst nicht mehr so unschuldig aus wie bei seinem Eintreten. Emi beschlich der Verdacht, dass er sowas nicht zum ersten Mal machte. Wer war dieser Typ, den sich Miriam da geangelt hatte?

Während sie aß, sah sie immer wieder zu ihm hinüber, wie er tief in den Polstern lehnte, schweigend seinen Teller leerte und auf ihren Fernseher starrte. Sie musste dringend mal mit Miriam über ihn sprechen. Es fühlte sich irgendwie unangenehm an, mit einem fremden Mann auf dem Sofa zu sitzen und ihn in ihr Leben zu lassen.

Sicher war ihr Misstrauen nur ihrer emotionalen Situation geschuldet und hatte nichts mit dem hilfsbereiten Freund ihrer besten Freundin zu tun. Die Erinnerung an den letzten Gast, der auf dieser Couch gesessen hatte, war ihr immer noch unangenehm.

Normalerweise hätte sie keinen fremden Mann zu sich eingeladen, aber wenn Miriam ihr Herz an ihn hängte, war er bestimmt ein guter Kerl. Trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend zurück. Der sonderbare Abend mit Giselle sollte sich auf keinen Fall mit Liam wiederholen.

»Bist du denn heute gar nicht mit Miriam verabredet?«

Wenn sie das Thema auf seine Freundin lenkte, so würde sie einem ungewollten Kuss vorbeugen, ohne offenbaren zu müssen, was sie fürchtete. Immerhin hatte er sie vor ein paar Tagen auf einen Kaffee eingeladen. Irgendwas an ihr musste ihn angesprochen haben. Oder es war eben doch nur ihre Paranoia und er war einfach ein netter Kerl.

Seine dunklen Augen bohrten sich in ihre. Ein Grinsen entlockte ihnen Lichtblitze. Er schien sich bestens zu amüsieren, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was er so lustig fand.

»Sie hatte heute keine Zeit, Sport oder so«, antwortete er schließlich mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Das passte zu Miriam. Sogar wenn sie frisch verliebt war, warf sie nicht all ihre Routinen über Bord. Sie blieb sie selbst, auch wenn jemand Neues in ihr Leben trat. Dafür hatte sie schon zu viele negative Erfahrungen gesammelt. Langjährige Freunde und Gewohnheiten priorisierte sie stets höher als ihren aktuellen Schwarm.

Emi sammelte die Teller ein und brachte sie in die Küche. Sie mochte es nicht, wenn sich in ihrer kleinen schlauchförmigen Küche dreckiges Geschirr stapelte, deshalb ließ sie sofort Spülwasser ein und beseitigte die Spuren menschlicher Anwesenheit.

»Wir haben es!«, rief er plötzlich aus dem Wohnzimmer herüber.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139402
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Emi Moorkamp Landhauskrimi Hobbyermittlerin Krimi Yoga Cosy Crime Yogalehrerin Humor Thriller Spannung

Autor

  • Erin J. Steen (Autor:in)

Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Sie liebt große Städte, möchte aber nicht mehr längere Zeit in einer Großstadt leben. Das Haus teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und und zwei tierischen Gefährten.
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Titel: Moorkamps Fälle Sammelband