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Nachtschatten - Fuchsgeister

von Juliane Seidel (Autor:in)
180 Seiten
Reihe: Nachtschatten, Band 4

Zusammenfassung

Japanische Tempel, Fuchsgeister, eine geheimnisvolle schöne Frau – Nele erwacht und bemerkt, dass sie jemanden aus ihrem Traum mit in die Realität mitgebracht hat: ihren Schutzengel Eason. Was er ihr an ihrem 15. Geburtstag offenbart, wirft ihr gesamtes Leben über den Haufen: Sie soll nicht nur übernatürliche Kräfte haben, jemand ist auch auf der Jagd nach ihr. Als sie dem Sidhe Cionaodh begegnet, erhält sie erste Antworten, doch der mysteriöse Mann ist nicht der Einzige, der ein reges Interesse an ihr hat. Ein Kampf um Nele entbrennt, an dem ihre vor Jahren verschwundene Mutter nicht ganz unschuldig ist. Was hat es mit Neles Vergangenheit auf sich und wie wirkt sich diese auf ihre Zukunft aus? Spin-Off der Urban Fantasy Trilogie "Nachtschatten". Hinweis: Das letzte Drittel des Kurzromans nimmt eine 75-seitige XXL-Leseprobe von "Nachtschatten 1: Unantastbar" ein. Nachtschatten-Reihe: Band 1: Unantastbar Band 2: Ungebrochen Band 2,5: Fuchsgeister (Spin-Off) Band 3: Unbezwingbar Band 4: Kurzgeschichten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

 

Als Nele den wuchtigen rot-weißen Tempel und die steinernen Fuchswächter am Eingang der beeindruckenden Tempelanlage erblickte, wusste sie, wo sie sich befand: Fushimi Inari Taisha, einer der größten und bekanntesten Schreine Japans. Ihr Vater hatte oft von dem faszinierenden Inari-Schrein gesprochen, der in ihrer Fantasie Schauplatz zahlreicher Abenteuer war. Während sie noch nie die Tausend Torii gesehen hatte, die den Hügel hinaufführten, war ihr Vater oft in Japan gewesen und hatte den Schrein regelmäßig besichtigt.

Immer wenn er Nele von ihrer Mutter erzählte, beschrieb er den Tempel in den buntesten Farben, zeigte ihr Fotos und Filme der weitläufigen Anlage. An einem kalten Februarmorgen hatte er seine Frau bei einer der unzähligen Fuchsstatuen kennengelernt und sich auf den ersten Blick in sie verliebt.

Als Kind hatte Nele gebannt an seinen Lippen gehangen, wenn er von dem Tempel berichtete und die Schönheit und Eleganz ihrer Mutter beschrieb – inzwischen war sie zu alt für derartige Ammenmärchen. Seine Version ihrer ersten Begegnung war zwar märchenhaft romantisch, jedoch endete der Traum, als ihre Mutter verschwand – von einem Tag auf den anderen, ohne einen Grund zu nennen. Seitdem war ihr Vater nicht mehr derselbe …

Nele schüttelte die tristen Gedanken ab, die ihr das Atmen erschwerten. Es fühlte sich an, als läge ein Stahlband um ihre Brust. So wunderschön der Schrein in der Morgensonne war, so sehr hasste sie ihn. Seitdem ihre Mutter sie im Stich gelassen hatte, verband sie keine positiven Gefühle mehr mit dem Tempel.

‚Wie bin ich überhaupt hierher gekommen?‘, kam ihr in den Sinn. Sie erinnerte sich nicht daran, nach Japan gereist zu sein, zumal ihr Vater unter keinen Umständen in dieses Land zurückgekehrt wäre. Zu sehr belasteten ihn die Erinnerungen an seine Frau. Nur selten sprach er von seinen Studienreisen durch Japan, den Menschen, den Sagen und Legenden. Lediglich die erste Begegnung mit Neles Mutter umschrieb er selbst heute noch in den schillerndsten Farben.

Plötzlich fiel ihr auf, dass sie allein am Fuß der Treppen stand, die zu den steinernen Fuchswächtern führten. Keine Menschenseele war zu sehen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Verunsichert ließ sie den Blick schweifen, in der Hoffnung, Touristen, Reiseführer oder Priester zu sehen. Nichts …

„Pa?“, setzte sie an, doch ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen. Sie schluckte den dicken Kloß in ihrer Kehle hinunter und versuchte es erneut: „Pa, wo bist du?“

Nele! Ihr Name - ein Flüstern im Wind.

„Wer ist da?“ Erschrocken wich sie von der Treppe zurück. Mit einem Mal erschienen ihr die Statuen bedrohlich, als würden die Füchse jeden Moment lebendig werden und sich auf sie stürzen.

Hör mir zu, du musst …

Eine Silhouette tauchte am oberen Ende der Treppe zwischen den Fuchswächtern auf. Langes Haar fiel der Gestalt wie ein Umhang über die zierlichen Schultern, das weiße, aufwendig gearbeitete Gewand verlieh der Frau eine königliche Aura. Wer auch immer sie war, sie strahlte Macht aus. Nele spürte ihren Blick beinah körperlich – brennend und eiskalt. Nele fröstelte. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie wollte weg, gleichzeitig sehnte sie sich danach, auf diese Frau zuzugehen und …

Panik flackerte in ihr auf – so plötzlich, dass ihr ein Schrei entwich. Was auch immer vor dem Schrein aufgetaucht war, es entfachte solch widersprüchliche Gefühle in ihr, dass ihr schwindelig wurde. Es brachte sie aus dem Gleichgewicht.

Hab keine Angst, ich bin bei dir.

Nele brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass die Stimme nicht von der Frau stammen konnte – zum einen schien sie von der anderen Seite zu kommen, zum anderen war sie eindeutig männlich.

Mit einem Ruck fuhr sie herum und starrte zu der schimmernden Gestalt, die direkt hinter ihr stand. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und raste schließlich doppelt so schnell weiter. Mit einem Keuchen wich sie zurück. Nie zuvor hatte sie ein solches Wesen gesehen!

Die riesigen, goldenen Augen fesselten sie von der ersten Sekunde an. Sie waren das Auffallendste an dem Mann, der ihrem Blick mit Unruhe und Nervosität begegnete. Erst als sie sich von ihnen losriss, bemerkte Nele, dass er auch aus anderen Gründen kein gewöhnlicher Mensch war. Große, plüschige Fuchsohren standen zu beiden Seiten seines Kopfes ab, halb verdeckt von langem, feuerrotem Haar, das in ein schmales, ebenmäßiges Gesicht fiel. Ein buschiger roter Schwanz mit weißer Spitze peitschte hin und her. Er trug asiatische Kleidung, einen leichten Yukata, der Nele an den Sommerkimono ihres Vaters erinnerte.

‚Ein Traum!‘, schoss es Nele mit einem Mal durch den Kopf. ‚Kein Wunder, dass ich plötzlich in Japan bin …‘

„Bist du sicher?“, fragte die Frau am Tempeleingang mit rauer Stimme. Nele hatte ihre unheimliche Gegenwart fast vergessen, so sehr hatte der Fuchsmann sie fasziniert.

„Was willst du von mir?“ Sie sah zu der bedrückend schönen Frau, die langsam die Stufen hinunter schritt. Automatisch wich Nele zurück. Sie fühlte sich wie ein Tier, das man in eine Ecke gedrängt hatte.

„Du bist in großer Gefahr, Nele.“ Sie verharrte. Eine heftige Böe fing sich in ihrem langen Haar und brachte den feinen Schmuck in den Strähnen zum Klingen. „Einer meiner Boten wird mit dir Kontakt aufnehmen – bitte vertraue ihm. Er wird dir alles erklären und dich vor meinen Feinden beschützen.“

„Welche Feinde?“, setzte Nele atemlos an. „Wer sollte denn mich …?“

Ein leichtes Lächeln huschte über die Lippen der Frau. Sie streckte die Hand nach Nele aus, setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment wurden die Fuchswächter lebendig. Mit einem lauten Krachen platzte der Stein auf und fiel in kleinen Stücken ab. Er offenbarte zwei nebulöse Geistertiere, die sich knurrend auf die Frau stürzten.

Du wagst zu viel, Hiko!

„Unmöglich …“, keuchte die Frau entsetzt und führte eine komplizierte Geste vor ihrer Brust aus.

„Pass a…!“ Neles warnender Schrei erstarb auf ihren Lippen, als die Fuchsgeister ihr Opfer erreichten. Nebel umwaberte die schlanke Gestalt der Asiatin. Sie bäumte sich ein letztes Mal auf, dann war sie verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Lediglich die beiden Füchse schwebten über dem Boden. Sie schienen Teil der weißen Schwaden zu sein, die ihre Pfoten umspielten. Oder brachte der Nebel sie erst hervor? Sie waren wesentlich größer als gewöhnliche Tiere. Schimmernde Ornamente zierten ihre schlanken, langen Köper. Nele wusste sofort, dass sie es mit Kitsune zu tun hatte - sagenumwobene japanische Fuchsgeister. Ihr Vater hatte sie als Glücksbringer bezeichnet, doch Nele zweifelte daran, dass diese Wesen Gutes bedeuteten. Sie hatten die Frau angegriffen und vertrieben, noch bevor Nele nachfragen konnte, in welcher Gefahr sie schwebte.

Im nächsten Moment richteten die Füchse ihre Aufmerksamkeit auf Nele. Mit Schrecken wurde ihr klar, dass sie die nächste sein würde. Vielleicht waren diese Geschöpfe sogar die Feinde, von der die Frau gesprochen hatte. Sie musste von hier verschwinden – weglaufen oder aufwachen. Hauptsache, sie blieb nicht auf dem Tempelvorhof.

Unglücklicherweise wollten ihre Beine ihr nicht gehorchen. Sie waren butterweich und drohten unter Neles Gewicht nachzugeben. Ihr panisch klopfendes Herz schien Nele jeden Moment aus der Brust zu springen.

Plötzlich schob sich der Fuchsmann vor sie. Mit einem Ruck zog er sie in eine feste Umarmung, barg ihr Gesicht an seiner Schulter und strich ihr behutsam durchs Haar. Der Duft von wilden Blumen, Sommer und Feuer stieg ihr in die Nase. Er versprach Ruhe und Sicherheit.

Mein Name ist Eason – vergiss ihn nicht. Und jetzt solltest du aufwachen!

 

 

Nele

 

Der fremdartige Name hallte durch ihren Kopf, als Nele aus den Tiefen ihres Traumes schrak. Mit rasendem Herzen starrte sie zur Zimmerdecke empor und versuchte sich zu beruhigen. Die Erinnerung an den Traum war noch vollkommen präsent und sorgte für kalten Schweiß auf ihrer Stirn. Mühsam schüttelte sie die Gedanken an den Fuchsmann und die wunderschöne Frau ab. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das Wechselspiel von Licht und Schatten, das huschende Bilder auf die helle Tapete malte. Ihr Blick wanderte aus dem geöffneten Fenster. Blauer Himmel kündigte einen weiteren heißen Sommertag an.

Nach einer Weile fielen die letzten Traumfäden von Nele ab und sie beruhigte sich. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass der Albtraum endgültig verblasste. Sie wollte den Tag nicht mit düsteren Erinnerungen beginnen. Gerade als ihre Gedanken in gemächliche Bahnen drifteten, riss sie eine Stimme in die Realität.

Alles Gute zum Geburtstag, Nele.

Mit einem Satz war sie auf den Beinen. Direkt am Fußende ihres Bettes stand er: der Fuchsmann aus ihren Träumen. Er wirkte wesentlich blasser und durchscheinender, fast wie ein Geist. Ein unsicheres Lächeln lag auf seinen Lippen. Seine Ohren zuckten unter dem langen Haar, während er nervös mit den weiten Ärmeln der Yukata spielte.

„Oh mein Gott!“, entfuhr es Nele. Unwillkürlich wich sie vor der Gestalt zurück. Ihr Herz raste und ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Fragen türmten sich in ihrem Kopf auf. Schlief sie etwa noch? War sie möglicherweise gar nicht erwacht und lediglich in einen anderen Traum gestolpert? Sie atmete tief durch und kniff sich in den Arm. Es tat weh.

Du träumst nicht mehr, falls du das wissen willst. Ich hab dich aus dem Traum gestoßen, bevor sie dich … Er verstummte. Seine helle Stimme klang weniger beeindruckend als in ihrem Traum: kindlich und angstvoll.

Ohne eine Antwort zu geben, wandte sich Nele ab. Ob das Wesen verschwand, wenn sie es ignorierte? Wahrscheinlich war es nicht einmal real. Sie hatte gestern Abend einfach zu lange mit ihrer Freundin Lene über Fantasyromane geredet – zumeist diskutierten sie bis spät in die Nacht via Skype über ihre Lieblingsbücher. Und dann dieser Traum … Kein Wunder, dass sie von solch abstrusen Dingen träumte und sich seltsame Geschöpfe zusammenfantasierte.

Am besten folgte sie ihrer täglichen Routine und beachtete ihn nicht mehr. Gewiss verschwand er von selbst, wenn sie sich nicht um ihn scherte. Sie zögerte und drehte ihm den Rücken zu, bevor sie ihr verschwitztes Schlafshirt auszog und es auf den Wäscheberg neben dem Bett warf. Peinlich darauf achtend, sich ihm nicht zuzuwenden, trat Nele zu ihrem Kleiderschrank und schlüpfte in frische Shorts und ein hautenges Top. Dabei klammerte sie sich verbissen an die Vorstellung, dass das Wesen nicht real war. Es gab niemanden, der ihr beim Umziehen zusah und …

Du willst mich ignorieren?, fragte der Mann. Dabei ist es wirklich wichtig, dass wir uns unterhalten. 

„Ich will aber nicht mit dir reden. Du bist nichts als meine galoppierende Fantasie.“ Sie schnaubte und kämmte sich mit den Fingern das lange, schwarze Haar.

Du denkst, ich existiere nur in deiner Einbildung, Nele. Doch wir reden miteinander. Und ich habe einen Namen: Eason … ich hab ihn dir doch genannt, bevor du aufgewacht bist. Er geriet ins Stocken und stieß ein leises Seufzen aus. Oder hast du ihn bereits vergessen? 

Obwohl Neles Gedanken sich überschlugen, verbiss sie sich jeglichen Kommentar. Sie durfte dem Fuchsmann keine Ansatzpunkte zur Diskussion geben – immerhin wollte sie seine Gegenwart verdrängen. Also sollte sie besser gar nicht mehr antworten und ihn wie Luft behandeln. Erst als sie ihr asiatisches, hochwangiges Gesicht und ihre schmalen, dunklen Augen eine Weile im Spiegel betrachtet hatte, warf sie einen Blick über die Schulter.

Eason war noch da. Er erwiderte ihren Blick eingehend und ohne Zurückhaltung. Seiner Mimik war nicht zu entnehmen, was er dachte. Sie wirkte starr und unbeweglich wie eine Maske. Lediglich die goldenen Augen leuchteten im Sonnenlicht. Es kostete Nele Mühe, die tierischen Attribute zu ignorieren und ihn eingehender zu betrachten. Er war auf seltsame Art und Weise schön. Schmale, ebenmäßige Züge, durchscheinende Haut und volle Lippen. Wäre seine Stimme nicht männlich, hätte sie ihn auch für eine Frau halten können.

Bist du bereit, mir zuzuhören? Es ist wirklich wichtig. Die Unruhe, die das Fuchswesen ausstrahlte, war fast greifbar. Verunsichert nagte er an seiner Unterlippe.

„Nein“, erwiderte sie automatisch. Sie überlegte, einfach das Zimmer zu verlassen und zu ihrem Pa in die Küche zu laufen. Wahrscheinlich wartete er bereits mit dem Frühstück auf sie. Die Frage war, was der Fuchsmann machen würde. Wenn er ihr folgte … was würde ihr Vater zu ihm sagen? Sie schielte zu Eason, der sie mit gerunzelter Stirn beobachtete.

Du bekommst Antworten, wenn du mir zuhörst. Außerdem werde ich nicht wieder verschwinden. Fortan bleibe ich in deiner Nähe. Um ehrlich zu sein, war ich schon immer da, du hast mich lediglich nie bemerkt.

Ein eiskalter Schauder rieselte über ihren Rücken – schon immer da? Das war gänzlich unmöglich! Nie hatte sie ihn in ihrer Nähe gesehen, nicht einmal ein Geschöpf wie ihn. Diesen Anblick hätte sie nie vergessen.

Eason näherte sich ihr – langsam und behutsam. Er hob die Hände leicht an, um ihr zu zeigen, dass er nichts Böses plante. Bitte, Nele. Gib mir die Chance, dir alles zu erklären. 

Mit einem Seufzen ließ sich Nele aufs Bett sinken und nickte. Sie hatte keine andere Wahl, um ihre Gedanken zu sortieren und Ordnung in das Chaos zu bringen, das Easons plötzliches Auftauchen verursacht hatte. „Also gut. Du hast fünf Minuten.“

Eason nickte erleichtert. Er ließ sich neben ihr nieder, achtete jedoch darauf, sie nicht zu berühren. Die Matratze ihres Bettes rührte sich keinen Millimeter, als wöge er nichts …

Da du mir nur wenig Zeit einräumst, fasse ich mich kurz – ich bin dein Schutzengel. Seit deiner Geburt passe ich auf dich auf. Bisher hast du mich nicht wahrgenommen und normalerweise bleiben wir unseren Schützlingen immer verborgen, aber … tja … Ein schiefes Grinsen huschte über seine Lippen. Jetzt kannst du mich sehen und sogar mit mir sprechen. Das könnte an deinem Traum liegen oder an der Tatsache, dass du heute fünfzehn Jahre alt wirst. Er zuckte die Schultern, griff nach seinem Schwanz und glättete behutsam das Fell.

Nele wusste nicht, wie sie auf diese Eröffnung reagieren sollte. Sie hatte keine Ahnung, mit was sie gerechnet hatte, aber das hatte sie nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen. Sogar die Option, dass er aus einem ihrer Bücher geschlüpft war, wie es den Figuren bei Tintenherz erging, klang plausibler als das!

Du kannst mich gerne auf die Probe stellen …, fuhr Eason nach einer Weile fort. Scheinbar fühlte er sich unwohl, weil sie nichts zu seiner großen Enthüllung sagte. Ich weiß alles über dich: dein Lieblingsessen, der erste Junge, den du geküsst hast, dass du in Mathe von Tom abgeschrieben hast und dass deine Mutter … 

Hitze stieg ihr ins Gesicht. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass sie knallrot geworden war. Zudem paarte sich Wut zu ihrer Verwirrung. „Kein Wort mehr!“, stieß sie hervor. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. „Du wirst kein Wort über meine Mutter verlieren, ansonsten ist das Gespräch beendet.“

Aber alles dreht sich um sie. Wie kann ich dir erklären, was geschieht, wenn ich nicht über deine Mutter reden darf? Du musst verstehen, dass …

„Hast du nicht zugehört?“, fauchte Nele und sprang auf. „Ich will weder über sie sprechen, noch etwas über sie erfahren. Wenn du das nicht akzeptieren willst …“

In Ordnung. Eason hob beschwichtigend die Hände, wirkte aber alles andere als glücklich. Ich werde das Thema vorerst nicht mehr anschneiden 

„Gut …“ Nele wanderte nervös in ihrem Zimmer auf und ab. Mit jedem Schritt wurde sie ruhiger. Ein Gedanke jagte den nächsten, bis ihr in den Sinn kam, dass dieser Kerl sie immer und überall beobachtet hatte – wenn er denn die Wahrheit sprach. „Du spannst, wenn ich mich ausziehe und bade? Und spionierst mir nach, wenn ich …“

Das ist alles, was dir dazu einfällt?, fragte Eason fassungslos.

„Natürlich nicht!“, herrschte sie ihn an. Sie atmete mehrfach tief durch, um den hämmernden Schmerz in ihren Schläfen zu besänftigen. „Das ist nur alles nicht so einfach, okay? Mein Schutzengel …“, murmelte sie fassungslos und schüttelte den Kopf. „Halluzination ist viel wahrscheinlicher … ich könnte mir beim Schlafen den Kopf gestoßen haben.“

Das ist garantiert nicht passiert! Wir hatten einen sehr … ich will mal sagen beunruhigenden Traum. Allein die Tatsache, dass wir uns berühren konnten … Er schauderte kurz und rieb sich die Oberarme. Es ist notwendig, dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Hiko hat nicht umsonst versucht, mit dir in Kontakt zu treten. 

„Hiko?“

Der Fuchsmann rang sichtlich mit sich, bevor er eine Antwort gab. Die Frau, die dich um Hilfe gebeten hat, bevor die Kitsune aufgetaucht sind. 

„Und was wollte sie genau von mir?“

Ich weiß es nicht. Eason wiegte den Kopf und runzelte die Stirn. Ich kann nicht einmal sagen, ob sie dir gut oder böse gesonnen war. Einerseits verströmte sie Gefahr, andererseits ist sie … Er ließ den Satz offen.

Nele nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Sie hatte dieselben widersprüchlichen Gefühle gehabt: einerseits der stechende Blick, der sie zutiefst erschreckt hatte, andererseits diese Stimme, die etwas in ihr zum Klingen brachte. Sie entschied sich, das Gespräch auf eine andere Aussage des Fuchsmannes zu lenken: „Und was ist so merkwürdig daran, dass wir uns berührt haben?“

Anstatt zu antworten, streckte Eason die Hand nach ihr aus und berührte ihre Schulter. Mehr als einen kühlen Lufthauch spürte Nele nicht, dann glitten seine Finger durch sie hindurch.

Erschrocken wich Nele zurück. Ihr Herz raste, obwohl er ihr nichts antun konnte.

Ich sollte erwähnen, dass ich kein Geist bin und dir auch keine Lebensenergie entziehe – im Gegenteil. Ich versorge dich notfalls damit. In seinem Gesicht zeichneten sich Resignation und Sorge ab. Er schlang die Arme um seinen Oberkörper, als müsse er sich vor ihr schützen. Hör mal, ich weiß selbst nicht genau, was hier los ist, aber ich bin weder dein Feind, noch musst du Angst vor mir haben. Wenn du willst, bleibe ich im Hintergrund, aber ich kann mich nicht in Luft auflösen. 

„Schade …“, purzelte das Wort aus ihrem Mund, bevor sie es zurückhalten konnte. Sofort fühlte sie sich schlecht, als sie sein enttäuschtes Gesicht sah. „Tut mir leid. Das ist nicht einfach für mich“, fügte sie hinzu. Sie dachte über Easons Eröffnung nach und murmelte dann: „Kannst du mir mehr über Schutzengel erzählen? Was muss ich mir darunter vorstellen? Und wieso kann ich dich plötzlich sehen?“

Glücklicherweise nahm Eason ihre Worte nicht persönlich. Meines Wissens ist ein Mensch nur dann in der Lage, seinen Schutzengel zu sehen, wenn seine Seele die seines Begleiters berührt hat. Das passiert normalerweise nur, wenn man stirbt und vom Übergang zurückkehrt. Quasi eine Nahtoderfahrung. Er wandte sich dem Fenster zu und blinzelte in die morgendliche Sonne. Das Licht umschmeichelte seinen Körper und brachte sein rotes Haar zum Leuchten. Wenn ein Mensch stirbt, ist es die Aufgabe des Schutzengels, die Seele zum Ursprung zu geleiten und auf die Wiedergeburt vorzubereiten. In seltenen Fällen wird der Mensch jedoch von der Schwelle des Todes zurückgeholt, obwohl die Seele den Körper bereits verlassen und sich in die Hände des Schutzengels begeben hat. Diese Berührung reicht aus, um eine besondere Bindung zu schaffen. Passiert das, kann ein Mensch seinen Schutzengel sehen und mit diesem reden. Ein Seufzen entrang sich seiner Kehle. Bevor du fragst – du bist nicht gestorben. Trotzdem scheint in der letzten Nacht etwas vorgefallen zu sein, was dir gewissermaßen die Augen geöffnet hat. 

Nele schwieg. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Jedes Wort blieb ihr in der Kehle stecken. All das klang vollkommen verrückt! Seelen, Schutzengel, Tod.

Das mag unglaublich klingen, aber jedes Wesen besitzt einen Schutzengel: Menschen, Vampire, Werwesen und Sidhe … Eason erhob sich und trat zu ihrem Bücherregal. Er betrachtete ihre Buchsammlung mit skeptischem Blick.

„Vampire?“, wiederholte Nele tonlos. „Es gibt sie wirklich?“

Ja, gab er mit verkniffenem Gesichtsausdruck zu. Aber sie sind nicht so, wie sie in den Büchern dargestellt werden, die du so gerne liest. 

„Ach ja? Wie sind sie denn dann?“, entgegnete Nele sofort.

Eason hob eine Augenbraue und grinste spöttisch. Irgendwann zeige ich dir einen, wenn wir ihm in der Stadt begegnen. Du wirst nicht glauben, wie viele dir bereits über den Weg gelaufen sind … 

Nele wollte ihn am liebsten zu all den Fantasy-Geschöpfen löchern, die es gab, doch sie beherrschte sich. Zunächst galt es, einen anderen Punkt zu klären. „Was ist mit meinem Vater und anderen Menschen? Können sie dich sehen?“

Zu ihrer großen Erleichterung schüttelte Eason den Kopf. Mach dir darüber keine Sorgen. Mit Ausnahme derjenigen, die die Fähigkeit des Erkennens haben und alle Schutzengel sehen können – was wirklich eine furchtbare Gabe ist – kann mich niemand wahrnehmen. 

„Gott sei Dank.“

Dennoch solltest du wissen, dass ich dich überall hin begleite, ganz gleich wohin. Als dein Schutzengel ist es schließlich meine Aufgabe, auf dich zu achten. Daher ist es mir nicht möglich, mehr als fünf Meter von deiner Seite zu weichen. Das solltest du bedenken, wenn du mich ansprichst. Für deine Freunde sieht es dann nämlich aus, als würdest du Selbstgespräche führen.

„Na toll!“ Nele hätte einen frustrierten Schrei ausgestoßen, wenn das nicht ihren Vater auf den Plan gerufen hätte. Sie biss sich auf die Unterlippe und suchte nach einer Lösung. Es würde sie mit der Zeit wahnsinnig machen, wenn Eason um sie herum war. Er war so auffällig, dass man ihn gar nicht ignorieren konnte.

„Nele? Bist du wach?“ Die Stimme ihres Vaters hallte vom Erdgeschoss in den ersten Stock hinauf. „Ohne dich kann dein Geburtstagsfrühstück nicht beginnen!“

„Ich komme gleich!“, erwiderte sie. An Eason gewandt fügte sie hinzu: „Bitte lauf mir nicht hinterher. Du sagtest etwas von fünf Metern – das schließt unsere Küche mit ein.“

Aber …

„Bitte, ich brauche Zeit, um dieses Geburtstagsgeschenk zu verdauen …“ Sie wandte sich zum Gehen und öffnete die Tür. „Wenn du nachher immer noch da bist, reden wir, ansonsten gehe ich davon aus, dass das ein ziemlich irrer Traum ist.“

 

„Happy Birthday, mein Schatz!“ Mit einem Lächeln schloss ihr Vater die Arme um Nele und drückte sie an seine Brust. „Willst du erst frühstücken oder gleich zu den Geschenken übergehen?“

Ein Lächeln huschte über Neles Lippen und sie atmete den erdigen Geruch ihres Vaters ein. Er beruhigte ihr Herz und vertrieb die Gedanken an Eason.

„Frühstück wäre nicht schlecht.“

„In Ordnung.“ Er entließ sie aus der Umarmung und führte sie zum gedeckten Frühstückstisch. Wie jedes Jahr türmten sich die Leckereien auf Platten, Tellern und in Schüsseln. Es war ihr jährliches Geburtstagsritual, den Tag mit einem ausgedehnten Frühstück zu beginnen. Normalerweise ersetzte das teure Geschenke, dieses Mal lag jedoch ein Päckchen auf ihrem Teller.

„Was ist das?“ Fragend hob Nele die kleine Schachtel hoch und wog sie in der Hand. „Ich dachte …“

„Das stammt nicht von mir.“ Er ließ sich auf den Stuhl sinken und betrachtete sie. Sein rundes, bärtiges Gesicht nahm einen seltsam ernsten Ausdruck an, bevor er fortfuhr: „Das ist ein Geschenk deiner Mutter Sakura.“

„Meiner Mutter?“ Nele hätte das Päckchen am liebsten von sich geworfen. Es gab nichts, was sie mit der Frau verband, die ihre Familie vor über zehn Jahren im Stich gelassen hatte. Sie redete ungern über sie – weder mit ihrem Vater, der seitdem keine andere Frau kennengelernt hatte, obwohl Nele es ihm wünschte, noch mit ihren Freunden. Nele fand, dass diese Frau es nicht verdient hatte. Nur manchmal, wenn sie allein gewesen war, hatte sie die Tränen zugelassen.

Dieses Geschenk fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. War sie etwa hier gewesen? Hatte sie es bei ihrem Vater abgegeben, ohne nach ihr zu sehen?

Eine Mischung aus Wut, Hass und Abscheu ballte sich in ihrem Magen zusammen. Plötzlich hatte sie keinen Appetit mehr, egal wie liebevoll ihr Vater das Geburtstagsfrühstück vorbereitet hatte.

„Sakura hat dir das hinterlassen, bevor sie uns verlassen hat, Nele.“ Der Blick ihres Vaters richtete sich auf einen Punkt hinter ihr. „Ich habe ihr versprochen, dass ich es dir zu deinem fünfzehnten Geburtstag gebe. Das war das einzige, worum sie mich gebeten hat, als …“ Er verstummte und angelte sich ein Brötchen. Seine Hand zitterte, als er es aufschnitt. „Ich habe es aufbewahrt und nie einen Blick hineingeworfen, genau wie ich es versprochen habe.“

Nele biss die Zähne aufeinander, bis ein feiner Schmerz durch ihren Kiefer zog. „Und du denkst, ich würde es annehmen?“ Sie schob das Päckchen von sich. „Ich will nichts von ihr haben – weder zu diesem Geburtstag noch zu einem anderen.“

„Ich dachte mir, dass du das sagst.“ Mit einem traurigen Lächeln ließ er die Brötchenhälften sinken, als wüsste er nicht, was er mit ihnen machen sollte. „Und glaube mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Aber es war ihr so wichtig. Sie hat mich angefleht, es dir zu geben. Ihrer Meinung nach würde sich alles zum Guten wenden, wenn du es annimmst.“

„Ich will es nicht“, brach es aus Nele heraus. „Du hättest es fortwerfen sollen.“

Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Riskiere wenigstens einen Blick.“

„Nein!“ Sie wusste, dass sie sich bockig verhielt, doch sie konnte ihren Zorn nicht unterdrücken. Dieses Geschenk ergab keinen Sinn. Es steigerte nur ihre Verwirrung. Als hätte Eason nicht ausgereicht!

Ihr Vater runzelte die Stirn. „Hör mal, ich weiß, dass dir das schwerfällt, aber vielleicht enthält dieses Päckchen Antworten – für uns beide. Ich weiß zwar einiges über Sakura, aber …“ Er räusperte sich.

Nele schluckte. Ein bissiger Kommentar erstarb auf ihren Lippen, als sie darüber nachdachte. Er hatte nicht unrecht – ihre Mutter hatte nicht nur sie verlassen, sondern auch ihren Mann. Ohne eine Erklärung. War es nicht unfair, ihnen beiden die Möglichkeit zu nehmen, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen? Vielleicht lag ein Brief dabei, der das Verhalten ihrer Mutter erklärte. Ihr Vater liebte seine Frau noch immer. Wie schwer musste es ihm gefallen sein, dieses Päckchen all die Jahre zu ignorieren.

Sie schielte zu dem verpackten Kästchen. Die Farbe des Papiers war verblasst, das Material sogar leicht porös. Er hatte es gewiss nicht ausgepackt, um mehr über den Inhalt zu erfahren.

Behutsam nahm Nele das Paket in die Hand und drehte es in alle Richtungen. Es war nicht sonderlich schwer.

„Packst du es aus?“ Anspannung und Neugier lagen in der Stimme ihres Vaters.

Sie nickte und löste die Schleife. Das rote Band fiel fast von selbst herab, kaum dass sie den Knoten löste; ebenso das alte Seidenpapier, das sich zwischen ihren bebenden Fingern beinah auflöste. Eine bemalte Holzschatulle kam zum Vorschein. Stilisierte Füchse jagten wie Nebelgestalten durch einen Bambuswald, im Hintergrund befand sich ein Tempel auf einem Hügel.

„Die Verzierungen sehen japanisch aus“, murmelte ihr Vater, der sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Er fuhr mit der Hand über das glatt polierte Holz. „Sie ist sehr alt und wertvoll. Kein Billigding aus dem Chinaladen.“

Beklommenheit manifestierte sich in ihrem Magen. Der Anblick der gemalten Füchse jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Zu stark erinnerte die Schatulle an ihren Traum – der Tempel, die Nebelfüchse, der Fuchsmann in ihrem Zimmer … fehlte nur noch die bildschöne Frau auf der Treppe.

Du solltest es nicht öffnen. Irgendwie hab ich ein ungutes Gefühl dabei.

Nur mühsam unterdrückte Nele einen Aufschrei. Eason stand neben ihr, den Blick auf das Kästchen gerichtet. Seine Ohren zuckten und sein Schwanz peitschte aufgebracht hin und her. Sie fluchte innerlich. Dabei hatte sie ihn gebeten, in ihrem Zimmer zu warten.

„Alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Ihr Vater legte die Hand auf ihren Unterarm. „Du musst es nicht wegen mir öffnen. Wenn du es nicht aufmachen willst – es zwingt dich niemand dazu.“

Nele schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte sie Eason an den Kopf geworfen, was sie von seiner Meinung hielt, doch das war unmöglich, wenn sie sich nicht verraten wollte. Ihr Vater schien den Fuchsmann wirklich nicht sehen zu können. Es blieb nur eine Möglichkeit, dem vorlauten Schutzengel zu zeigen, was sie über seine Einmischung dachte. Entschlossen klappte sie den Holzdeckel auf.

Die Schatulle war mit Samt ausgelegt. Unter einem roten Kissen blitzte etwas Silbernes hervor, das Nele im ersten Moment für einen Ring hielt. Erst als sie das Kissen anhob, sah sie, dass es sich um ein Armband handelte.

Eason stöhnte verhalten. Er wich einige Schritte zurück. Obwohl Nele ihn nur aus dem Augenwinkel beobachtete, bemerkte sie, dass er kalkweiß geworden war.

„Was ist drin?“, fragte ihr Vater neugierig.

„Ein Armband.“ Nele zog es hervor und drehte es zwischen ihren Fingern. Silberne Kettenglieder umschlossen filigran gearbeitete Figuren, deren Augen mit winzigen roten Edelsteinen geschmückt waren. Erst auf dem zweiten Blick erkannte Nele drei Füchse, die miteinander zu verschmelzen schienen. Wie die Nebelfiguren auf der Schatulle umrankten sie einander und die Kettenglieder, die mit einem einfachen Verschluss zusammengefügt waren. Die Schönheit des Armbands nahm sie gegen ihren Willen gefangen. Nie zuvor hatte sie ein solches Schmuckstück gesehen.

„Das ist wirklich wundervoll, Nele.“ Ihr Vater schien von dem Anblick ebenso gefesselt zu sein wie sie. „Ich denke, es stammt von einem der Läden beim Fushimi Inari Taisha. Dort habe ich deine Mutter kennengelernt. Etwas hat sie immer mit diesem Tempel verbunden. Sakura war jeden Morgen dort, um zu beten. Du willst gar nicht wissen, wie oft ich sie bei den Fuchswächtern gefunden habe.“ Er deutete auf das Armband. „Füchse hatten es ihr angetan.“

Nele nickte leicht. Seine Worte hatten den Albtraum fast bildlich wachgerufen. Wenn sie aus dem Fenster sah, glaubte sie Hikos Silhouette zu sehen, die Treppe zum Tempelhof hinabschreitend. Irgendwie schien sich alles um Füchse zu drehen – die lebendig gewordenen Fuchswächter in ihrem Traum, ihr angeblicher Schutzengel, das Geschenk ihrer Mutter. Ein Gefühl sagte ihr, dass das alles zusammenhing.

„Soll ich es dir umlegen?“, fragte ihr Vater.

Nele zögerte nur einen Moment, dann nickte sie.

Nele, ich denke nicht, dass du das machen solltest. Etwas stimmt mit dem Armband nicht. Eason neigte sich näher, um das silberne Schmuckstück zu begutachten. Er knurrte leise, als er es musterte. Vertrau mir, es … 

Nele ignorierte ihn, gab ihrem Vater das Armband und streckte die Hand über den Tisch. Wenige Sekunden später zierte das Schmuckstück ihr Handgelenk. Es hinterließ ein Kribbeln auf der Haut und fühlte sich seltsam schwer an, ansonsten geschah nichts Ungewöhnliches. Das flaue Gefühl in ihrem Magen ertränkte sie mit einem großen Schluck Kakao, der griffbereit neben ihrem Teller stand.

Ich hoffe, das war kein Fehler …

 

 

Cionaodh

 

Ich habe Nele Frenzel endlich gefunden, Cion! Mit einem eleganten Sprung sprang Sorcha auf die niedrige Mauer, an der Cionaodh seit gefühlten Stunden gewartet hatte. Mit einem herzhaften Gähnen streckte die rotgetigerte Katze die Glieder, ließ ihn jedoch keine Sekunde aus den Augen. Ihr Fell leuchte im warmen Sonnenlicht, als sie sich auf die heißen Steine niederließ und den buschigen Schwanz präzise um ihre Pfoten legte. 

Na endlich!“ Cionaodh ließ den Blick die menschenleere Straße entlangschweifen. Dank der sommerlichen Hitzerekorde waren um die Mittagszeit nur wenige Menschen unterwegs. Je weniger Neugierige ihn wegen seines feuerroten Haars und der androgynen Gesichtszüge anstarrten, umso besser. Er konnte seine spitzen Ohren mit einem Zauber verbergen und sich menschlich kleiden, doch die Aura des Fremden umgab ihn immer. 

Damit kommt einiges an Arbeit auf uns zu, schnurrte Sorcha, als er nicht fortfuhr. Ihre grünen Katzenaugen funkelten schelmisch. 

Hoffen wir, dass uns niemand in die Quere kommt. Ich habe keine Lust auf einen Kampf gegen diese Abtrünnige, die sich mit dem Mädchen in Verbindung gesetzt hat.“ Er strich sich eine klamme Haarsträhne aus dem Gesicht und legte die Stirn in Falten. Wie sollte er am besten vorgehen? Er sollte es behutsam angehen, doch er war es nicht gewohnt, sich langsam und bedächtig auf ein Ziel zuzubewegen. Außerdem hatte er keine Lust, sich ausführlich mit einem menschlichen Mädchen zu beschäftigen. Konnte man sie überhaupt so bezeichnen? Er verwarf den Gedanken, als er an die Worte des Feenlords Aldwyn dachte, die er ihm mit auf den Weg gegeben hatte: „Ihr Leben ist in Gefahr. Bring sie so schnell wie möglich zu mir, damit wir sie in die Obhut des japanischen Konzils geben können.“ 

In ihr schlummern beträchtliche Kräfte – ich kann verstehen, warum diese japanische Abtrünnige hinter ihr her ist, riss Sorcha ihn aus den Erinnerungen. Und wenn sie so mächtig ist, wie Aldwyn sagt … 

Ein kalter Schauder kroch über Cionaodhs Rücken. Er wollte sich nicht gegen die fremdartigen Feenwesen eines anderen Landes behaupten müssen. Er hatte zwar Kampferfahrung, war aber nur ein gewöhnlicher Sidhe. Einer, der über das Feuer gebieten konnte – was ihn in seinem Volk zu einem Außenseiter machte –, jedoch nicht die Macht besaß, Nele Frenzel wirklich zu schützen. Aldwyn hatte ihn vorgewarnt, dass dieser Auftrag Gefahren barg, doch er hatte ihn unbedingt annehmen wollen, um sich vor dem Hohen Rat zu beweisen.

Dann müssen wir uns beeilen.“ Cionaodh stieß sich von der Mauer ab und schlenderte in Richtung des Einfamilienhauses, das sich kaum von den Behausungen der Nachbarn unterschied: klein, nachlässig verputzt und mit einem winzigen Garten davor. Die ganze Siedlung war schrecklich eintönig und langweilig, doch Cionaodh brachte keiner Stadt größere Sympathien entgegen. Ihm waren Wälder und naturbelassene Flüsse und Seen lieber. Die Pflanzen, mit denen er kommunizieren konnte, die Tiere, die ihm hilfreich zur Seite standen. Alles war ihm lieber als die Betonkolosse, in denen die Menschen lebten. 

Wo willst du hin? Sorcha sprang ihm in den Weg, die Ohren angelegt. 

Ihr die Wahrheit sagen. Je eher wir sie über ihre Herkunft in Kenntnis setzen, desto schneller können wir sie zu Aldwyn bringen. Dort ist sie sicher, bis die japanischen Sidhe sie in ihre Heimat bringen …“ 

Du kannst doch nicht einfach so mit der Tür ins Haus fallen, Cion, unterbrach Sorcha ihn und stieß ein leises Schnauben aus. Sie hat erst heute ihren Schutzengel kennengelernt, weil ihre Kräfte erst jetzt erwacht sind. Und glaub mir, das war schockierend genug für sie. 

Cionaodh hob die Katze auf den Arm und kraulte sie zwischen den Ohren. „War er so furchterregend?“

Nicht direkt, eher fremdartig. Sie schmiegte sich an seine Brust und schnurrte leise. Er ist ein Mischling aus einem menschlichen Schutzengel und einem Fuchs. Ehrlich gesagt, sieht er wirklich seltsam aus. Ich kann mir vorstellen, dass das ein gewaltiger Schreck für Nele gewesen ist, ihn an ihrem Geburtstag am Bett sitzen zu sehen. 

Cionaodh nagte an seiner Unterlippe. „Das war ja zu erwarten, oder? Wenn man bedenkt, was sie ist …“

Du solltest es behutsamer angehen, grollte Sorcha leise und machte es sich auf seinem Arm bequem. Egal wie dringend die Angelegenheit ist, du musst dir genügend Zeit nehmen. Es hilft niemandem, wenn du wie ein Trampeltier in das Leben des Mädchens polterst. 

Cionaodh verdrehte die Augen, musste aber zugeben, dass sein Schutzengel recht hatte. Er musste mehr Sensibilität an den Tag legen. Dennoch stand er unter Zeitdruck. Aldwyn hatte ihm versichert, dass dies die letzte Prüfung war, die man ihm auferlegte. Sobald er Nele gesund und munter zum Rat gebracht hatte, würde man ihn endlich in den Stand eines Jägers berufen. Seit Jahren arbeitete er auf dieses Ziel hin. Er hatte wahrlich genug Aufträge für den Hohen Rat erledigt, um sich und seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Sogar einen, wenn auch geschwächten, Vampir hatte er mit Sorchas Hilfe zur Strecke gebracht.

Hab Geduld. Sorcha zögerte, dann fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort. Ich hab dir schon vor einer Weile gesagt, dass deine mangelnde Beherrschung der Hauptgrund sein dürfte, warum du noch kein Jäger bist. 

Ich weiß … aber so langsam haben wir doch bewiesen, dass wir trotzdem gute Arbeit leisten.“ 

Sorcha gab ihm keine Antwort. Ein leises Schnurren erklang tief aus ihrem Bauch.

Cionaodh zwang seine Gedanken zum eigentlichen Problem zurück. Wie sollten sie vorgehen? Er hatte keine Lust, das Mädchen wie ein Stalker zu verfolgen. Gleichzeitig musste er in ihrer Nähe bleiben, falls die Abtrünnige oder jemand anderes Nele bedrohte. Ob er sie einfach ansprechen sollte? Er könnte sie nach einem Date fragen – machten Menschen das nicht so? Er hatte keine Ahnung von solchen Dingen. Noch nie hatte er sich mit einem Mädchen verabredet – im Feenreich lief das unkomplizierter ab. Ein Blick in die Augen genügte, um das Feuer der Liebe zu sehen, sofern es brannte. Leider waren menschliche Augen nicht so mitteilsam – die meisten wirkten auf ihn stumpf und leidenschaftslos. Ob Nele auch so war? Oder konnte sie aufgrund ihres Erbes Dinge sehen, die gewöhnlichen Menschen entgingen? Dann würde vielleicht ein Blick genügen, um …

Noch bevor sich Cionaodh über diesen Punkt Gedanken machen konnte, schwang die Haustür der Frenzels auf und ein blasses Mädchen trat in die Sonne. Es war schlank, was von den kurzen Shorts und dem engen, bunt gemusterten Top zusätzlich unterstrichen wurde. Ihr rabenschwarzes Haar war nachlässig hochgesteckt, einige dunkle Strähnen fielen über ihre schmalen Schultern. Es hatte ein außergewöhnlich hübsches Gesicht, das von hohen Wangenknochen und leicht schräg stehenden dunklen Augen dominiert wurde.

Unwillkürlich verdoppelte sich sein Herzschlag. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er hatte den Legenden, von denen Aldwyn ihm im Vorfeld erzählt hatte, keinen Glauben schenken wollen, doch Nele umwehte tatsächlich eine Aura, die ihn sofort gefangen nahm. Cionaodh hatte normalerweise keinen Blick für menschliche Mädchen übrig – sie kamen einfach nicht an weibliche Sidhe heran, deren Schönheit unbeschreiblich war. Seine Zielperson konnte jedoch problemlos mit den jungen Feen konkurrieren, die er aus seiner Heimat kannte.

Ich bin bei Lene!“, rief sie über die Schulter in den Flur, dann zog sie die Tür ins Schloss. 

Gerade rechtzeitig huschte Cionaodh hinter einen Baum, während das Mädchen den gekiesten Weg zur Straße entlangging und Richtung Innenstadt davon schlenderte.

Alles okay? Sorcha entwand sich seiner Umarmung und landete auf dem warmen Asphalt. 

Ja … irgendwie.“ 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739440088
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Liebesroman Feenwesen Japan Kitsune Abenteuer Fantasy Sidhe Schutzengel Urban Fantasy Liebe

Autor

  • Juliane Seidel (Autor:in)

Juliane Seidel wurde 1983 in Suhl/Thüringen geboren und lebt seit mehreren Jahren in Wiesbaden. Neben ihrer Arbeit als Teamassistentin steckt sie viel Zeit und Herzblut in queere Projekte und schreibt seit knapp zehn Jahren fantastische Kinder- und Jugendbücher. Unterdessen hat sie neben den ersten Bänden der Kinderbuchreihe „Assjah“ und der im Selfpublishing erschienenen Trilogie “Nachtschatten” auch erste Veröffentlichungen im queeren Bereich vorzuweisen.
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Titel: Nachtschatten - Fuchsgeister