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Nachtschatten - Gesamtausgabe

von Juliane Seidel (Autor:in)
1400 Seiten

Zusammenfassung

Jedes Wesen, gleich ob Mensch, Vampir, Sidhe oder Werwesen, besitzt einen Schutzengel. Mit Bestehen der Prüfung zur Jägerin glaubt Lily, endlich das Rätsel ihrer ungeklärten Herkunft lösen zu können. Doch stattdessen wird sie plötzlich von rachsüchtigen Vampiren und größenwahnsinnigen Magiern gejagt, steht einem schier übermächtigen Gegner gegenüber und muss quer durch Europa flüchten. Selbst ihrem Schutzengel Adrian kann sie nicht mehr uneingeschränkt vertrauen, denn er hüllt sich bezüglich ihrer Vergangenheit in Schweigen. Als sich der mysteriöse Magier Silas auf ihre Seite schlägt und ihre Freunde in die perfiden Intrigen des Orden Tenebrae verwickelt werden, kommt Lily der schrecklichen Wahrheit näher. Das grausame Komplott des Ordensmeisters Rasmus gegen alle Wesen der Schatten hängt eng mit Lilys Vergangenheit zusammen - und nicht zuletzt mit Adrian. Kann sie sich beim letzten Kampf noch auf ihn und ihre Freunde verlassen? Und auf Silas, der für sie schon längst mehr ist als ein Verbündeter? **Die 1400 Seiten starke Gesamtausgabe der Urban Fantasy-Reihe „Nachtschatten“ enthält folgende Romane und Geschichten** Nachtschatten – Unantastbar Nachtschatten – Ungebrochen Nachtschatten – Unbezwingbar Nachtschatten – Fuchsgeister (Spin-Off – Kurzroman über Feenwesen mit japanischem Setting) Blonder Engel (Kurzgeschichte – die Originalgeschichte des Reihe) Neue Wege (Kurzgeschichte über die Vergangenheit der Werwölfin Hannah) Damians Geständnis (Kurzgeschichte über Lilys Mentor und Paten Damian) Grenzenlose Liebe (die finale Kurzgeschichte über Adrian und Radu)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

Nachtschatten 1

 

Unantastbar

 

 

Kapitel 1 - Vampirjagd

 

„Was für ein Auflauf!“, murmelte Lily und zwängte sich an einem knutschenden Pärchen vorbei, das im Gang vor den Damentoiletten stand. Der Junge schob gerade seine Hand unter das hautenge Oberteil seiner Freundin, als wären sie in einem der nahegelegenen Hotels. Mit einem Seufzen schloss sie die Tür hinter sich und sperrte das fummelnde Paar, einen Teil der Musik und die schwere, stickige Luft aus, die wie eine Glocke über der Tanzfläche schwebte. Stattdessen stieg ihr unangenehm süßer Parfumduft in die Nase, gepaart mit Schweiß und Haarspray. Lily schluckte den ersten Anflug von Ekel hinunter, atmete so flach, wie es ihr möglich war, und durchquerte den Raum. Ein halbes Dutzend Mädchen drängelte sich um die großen Spiegel. Sie kontrollierten ihr Make-Up und diskutierten kichernd über Jungs.

Als die kleine Kabinentür hinter ihr ins Schloss fiel, atmete sie auf und lehnte sich gegen die Trennwand. Es war zwar Freitagabend und die Sommerferien hatten gerade erst begonnen, doch jeder Jugendliche schien sein Zeugnis in der größten Wiesbadener Diskothek zu feiern. Wenigstens hatte der Türsteher beide Augen zugedrückt und sie eingelassen, obwohl sie erst in ein paar Stunden volljährig wurde. Zum Glück war sie den Mädels ihrer Clique nicht über den Weg gelaufen; es stand Wichtigeres auf dem Programm als Tanzen und Party. Sie musste Logan finden, ihn in das nahe Waldstück locken und dort ihren Auftrag erfüllen.

Leichter gesagt als getan. Der Euro Palace war riesig, bot nicht nur mehrere Tanzflächen, sondern auch verschiedene Bars, kleinere Restaurants und VIP-Bereiche. Lily wusste nicht einmal, wo sie nach ihm suchen sollte. Hoffentlich fand Adrian ihn und lotste sie zu ihm. So sehr ihr seine bisherige Unterstützung an diesem Abend missfiel, so sehr war sie nun auf seine Hilfe angewiesen. Schlimmer als das Outfit, das er ihr aufgequatscht hatte, konnte es nicht werden. Skeptisch sah sie an sich herab. Es war einfach nur peinlich! Auf dem T-Shirt prangte der Schriftzug „Ej äm Stjupit“, der Minirock schien ständig ihren Hintern freizulegen und mit diesen dämlichen Stilettos würde sie sich den Hals brechen, sollte es zu einem Kampf kommen.

Ich habe ihn gefunden, hörte sie eine wohlbekannte Stimme in ihren Gedanken.

Lily atmete tief durch und sah zu der schimmernden Gestalt, die direkt vor der Kabinentür an der Wand lehnte. Langes, glattes Haar umrahmte Adrians schmales, makelloses Gesicht. Wie ein Mantel floss es über seine Schultern und umgab seine schlanke Lichtgestalt. Ein Lächeln umspielte seine Lippen und in seinen farblosen Augen blitzte Amüsement und Schalk auf. Er stemmte die Hände in die Hüften und breitete seine leuchtenden Flügel aus. Obwohl dieses Bild Ehrfurcht und Bewunderung in Lily weckte, zwang sie sich, den Blick ihres Schutzengels zu erwidern. Er mochte optisch perfekt sein, doch sein Charakter stimmte selten mit seiner äußeren Erscheinung überein.

Ich habe unseren Mann vorhin an der Theke im Tanzcafé gesehen. Er scheint sich noch kein Opfer ausgesucht zu haben. Adrian machte eine einladende Handbewegung, ihm zu folgen.

„Toll.“ Der sarkastische Unterton ihrer Stimme ließ Adrian innehalten. „Wie soll ich denn mit diesen Dingern kämpfen? Ich kann ja nicht mal richtig laufen“, beschwerte sich Lily. Sie biss sich auf die Unterlippe und lauschte, ob jemand etwas von ihrem Disput mitbekommen hatte. Leise Gespräche und Gekicher erfüllten den Raum, untermalt von den dumpfen Schlägen des Basses. Glücklicherweise hörte niemand ihre Selbstgespräche. „Warum trage ich das nochmal?“

Weil Logan laut Alina auf diesen Typ Frau steht und er dir garantiert binnen weniger Minuten aus der Hand frisst. 

Lily verkniff sich eine Antwort. Sie fühlte sich wie ein Stück Fleisch, das man einem Wolf auf dem Silbertablett servierte. Missmutig erinnerte sie sich an die Akte, die ihr Alina vor einer knappen Woche in die Hand gedrückt hatte. Sie enthielt Informationen über den Unruhe stiftenden Vampir Logan, den sie im Rahmen ihrer Abschlussprüfung zur Strecke bringen sollte.

Wir beide wollen diese Lizenz. Deswegen wirst du deinen Hintern nach draußen schwingen und dich an ihn ranschmeißen. Sobald er mit dir die Disko verlässt, übernehme ich den Rest. 

Lily nickte. Wenn sie Logans blutigem Treiben ein Ende bereitete, würde sie als richtige Jägerin in das Team um Alina aufgenommen werden. Entschlossen verdrängte sie die leisen Zweifel, die sie zu den Toiletten getrieben hatten. Sie würde ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. Alina hatte ihr genug beigebracht, um sich gegen einen drittklassigen Vampir zu behaupten.

Mit neuer Zuversicht verließ Lily die kleine Kabine und folgte Adrian, der sie am Rand der großen Tanzfläche vorbei in einen anderen Teil des verschachtelten Gebäudes führte. Fast verlor sie ihn aus dem Blick, doch glücklicherweise war sein leuchtender Körper gut sichtbar. Er lotste sie aus der Haupthalle, weg von der tanzenden Masse, die sich zum dröhnenden Bass der Musik bewegte, in einen ruhigeren Teil des Euro Palace.

Er sitzt an der Bar. 

Lily spähte zu den Theken hinüber, die die ausgefallene Tanzfläche halbkreisförmig umgaben. Etliche Gestalten hockten auf den Barhockern und unterhielten sich. Lediglich ein Mann saß ein wenig abseits, ein nicht angerührtes Bier vor sich stehend. Er beobachtete die Tanzenden, seine Augen funkelten unnatürlich, doch in dem schummrigen Licht schien das niemandem aufzufallen. Lily konzentrierte sich auf den Mann. Sie hatte Logan gefunden, mitsamt seinem Schutzengel, dessen blasse Gestalt hinter ihm sichtbar wurde.

 

Es dauerte bis weit nach Mitternacht, bis Lily die Disco in Logans Begleitung verlassen konnte. Nachdem sie sich zu ihm gesellt hatte, sprachen sie miteinander, amüsierten sich und tanzten. Die Zeit verging wie im Flug. Trotz seiner harten Gesichtszüge und seiner herrischen Art war der Vampir durchaus charismatisch. Im Laufe des Abends steuerten etliche überschminkte Mädchen auf Logan zu, doch dieser wies sie ab. Scheinbar hatte er sich sein Opfer für diese Nacht bereits ausgesucht - Lily. Allerdings kostete es sie viel Mühe, die Rolle des naiven Mädchens überzeugend zu spielen. Innerlich verabscheute sie diesen Typ Frau zutiefst.

Glücklicherweise war Logan zu sehr von sich überzeugt, als auf seinen weiblichen Schutzengel zu hören, die den Vampir vor Lily warnen wollte. Er ignorierte ihre Hinweise, warf dem zierlichen Lichtwesen lediglich giftige Blicke zu, wenn er glaubte, Lily würde die tanzende Menge beobachten. Dass das typische Leuchten des Schutzgeistes fast erloschen war und er schwach und erschöpft wirkte, schien den Vampir nicht zu interessieren.

Auf der einen Seite regte sich Mitleid für Logans Begleiterin in ihr, auf der anderen war sie froh, dass der Vampir mit seinem Schutzengel keine Einheit bildete.

Als sie die Diskothek verließ und die kühle Nachtluft einatmete, war sie sicher, den bevorstehenden Kampf für sich entscheiden zu können. Logan folgte ihr wie ein Hund über den Parkplatz in den nahen Wald hinein, in den sich im Sommer immer wieder Pärchen zurückzogen.

„Ich bringe dich nach Hause“, bot Logan an. Seine braunen Haare fielen ihm ins Gesicht und ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Ich komm’ schon heim“, murmelte Lily mit belegter Stimme. Sie torkelte absichtlich ein wenig, vertrat sich fast das Fußgelenk. ‚Diese dämlichen Schuhe.’ Einen Wimpernschlag später war Logan an ihrer Seite und stützte sie.

„Das kommt gar nicht in Frage.“ Logan musterte sie mit brennendem Blick und sah zum Wald hinüber, der sich wie ein bedrohlicher Riese vom sternenübersäten Himmel abhob. „Ich bringe dich nach Hause.“

Unwillkürlich glommen Zweifel in ihr auf. Ein Kloß bildete sich in Lilys Hals. Was würde geschehen, wenn Adrian nicht stark genug war? Wenn sie Logan unterschätzte?

Keine Angst. Ich werde nicht zulassen, dass er dir etwas antut. 

Lily atmete tief durch und taumelte neben dem Vampir her. Ihre Trunkenheit war nur noch teilweise gespielt, so weich fühlten sich ihre Knie an. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie Angst hatte, es verriete Logan ihre Nervosität. Vor ihren Augen spielten sich schreckliche Szenerien ab, in denen er sie überwältigte und ein Blutbad im Wald anrichtete. Sie hatte bereits bei einer Hetzjagd mit Alinas Team ein derartiges Gemetzel gesehen, als ein Werwolf eine Gruppe Mädchen niedermähte. Mehrere Wochen plagten sie im Anschluss Albträume.

Du machst es dir nicht einfacher, wenn du über solche Dinge nachdenkst. Adrian schüttelte seufzend den Kopf. Sie vermied es, in seine Richtung zu sehen. Der Vampir konnte Adrian zwar nicht wahrnehmen, da ihm die Gabe des Erkennens fehlte, aber sie musste Logan auch nicht unbedingt auf die Anwesenheit ihres Schutzengels aufmerksam machen. Logan ist kein Werwolf – so blutrünstig ist er nicht, auch wenn er seit einer Weile nichts getrunken hat. Das erklärt, warum die Verbindung zu seinem Schutzengel so schlecht ist, wobei sie scheinbar auch sonst nicht sonderlich viel zusammenarbeiten. 

Lily schauderte. Ein Vampir, der eine Weile kein Blut zu sich genommen hatte, war unberechenbar. Wenn er in einen Rausch verfiel, würde es ihnen schwer fallen, Logan zu besiegen. Zudem war ihr mentales Band zu Adrian zwar vorhanden, aber noch relativ schwach. Ihre Kommunikation klappte nicht immer und die Tatsache, dass Adrian das ein oder andere Geheimnis vor Lily hatte, machte es nicht besser.

Egal wie, wenn es eng werden sollte, werden Alina und die anderen schon eingreifen. Du erinnerst dich doch daran, dass sie in der Nähe bleiben wollten. 

Lily schluckte ihre Bemerkung hinunter und ärgerte sich, dass sie mental nicht mit Adrian kommunizieren konnte. Er nahm zwar teilweise ihre Gedanken und Gefühle wahr, doch ein wirkliches Gespräch war nicht möglich. Dazu hätte sie reden müssen.

Sie starrte auf Logans Rücken, der sich nun vor ihr durch das Unterholz schob. Unterdessen waren die Bässe der Musik und die Gespräche der rauchenden Jugendlichen vor dem Euro Palace nicht mehr zu hören. Stattdessen rauschten die Blätter der Laubbäume im Wind und der Schrei einer Eule drang durch die Stille des Waldes.

Plötzlich blieb Logan stehen. Lily war so überrascht, dass sie über eine kleine Wurzel stolperte. Nur mit Mühe fand sie ihr Gleichgewicht wieder und starrte zu dem Vampir, der sie mit hungrigem Blick musterte. Sie sah gerade noch, wie die leuchtende Gestalt seines Schutzengels mit ihm verschmolz, ihm die typischen Kräfte eines Vampirs verlieh. Sofort phosphoreszierten seine Augen wie die einer Katze und verliehen dem Mann die Ausstrahlung eines Raubtiers, das zum Sprung ansetzte.

„Hab keine Angst.“ In Logans Stimme schlich sich ein besänftigender Unterton. Er bleckte die Zähne. Im fahlen Licht des Mondes leuchteten seine verlängerten Eckzähne weiß auf, verliehen seinem Gesicht eine gefährliche Attraktivität, die Lily sowohl ängstigte als auch faszinierte. „Schließ die Augen. Es wird schnell vorbei sein.“ Gemächlich schlenderte er auf Lily zu.

Ich übernehme jetzt! 

Adrian hatte nicht einmal zu Ende gesprochen, da spürte Lily bereits, wie ihr Schutzengel sie aus ihrem Körper verdrängte. Sekunden später schwebte sie über der Szenerie. Im Gegensatz zu einem Vampir oder Werwolf war ein Mensch nicht in der Lage, sich mit seinem Schutzgeist zu verbinden. Sie konnten lediglich die Plätze tauschen. Dunkel erinnerte sie sich an ihren ersten Versuch. Damals hielt der Körpertausch nur für wenige Sekunden, jetzt, nach Jahren harter Übung, konnten sie knapp fünf Minuten durchhalten. Es blieb wenig Zeit, Logan zu besiegen, doch sie musste genügen.

Adrian zögerte keine Sekunde und stürzte sich auf den überraschten Vampir. Sein erster Schlag zielte auf Logans Magen, dann visierte er sein Gesicht an. Adrian traf in beiden Fällen, zwang seinen Gegner ein gutes Stück zurück und drängte ihn gegen den Stamm einer Eiche. Noch bevor Adrian nachsetzen konnte, erwachte Logan aus seiner Verwirrung. Er wich einer weiteren Attacke aus und brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit.

„Was zum Teufel …?“ Logan strich sich über die Brust. Er schien mitbekommen zu haben, dass Adrians letzter Angriff auf sein Herz gezielt hatte. Wut zeichnete sich in seinem Gesicht ab, als er leise zischte: „Ich verstehe.“

Wieso hast du ihn nicht gleich getötet?, fragte Lily entsetzt. Sie hatten das Überraschungsmoment verspielt, Logan hatte sie durchschaut.

Im nächsten Moment stürzte sich der Vampir auf Adrian. Ein erbitterter Kampf entbrannte. Logans Hände glichen gefährlichen Klauen, die tiefe Wunden in die umstehenden Baumstämme und den trockenen Erdboden schlugen. Glücklicherweise verfehlte er Adrian immer wieder, der sich zunehmend aufs Ausweichen und Abblocken beschränken musste. Sie schienen einander ebenbürtig zu sein, obwohl Vampire aufgrund ihrer Schnelligkeit und extremen Ausdauer nahezu unbesiegbare Gegner waren. Logan hatte wahrscheinlich seit einiger Zeit nichts getrunken, da die Verbindung mit seinem Schutzengel sehr schwach war. Zudem ermüdete der tobende Vampir nach einer Weile. Seine Bewegungen erlahmten. Endlich gab Adrian seine passive Taktik auf und konterte.

Dennoch mussten sie sich beeilen. Lilys Seele zog es in ihren Körper zurück. Der unsichtbare Drang wurde immer stärker.

Beeil dich, Adrian! 

Mit einer geschickten Seitwärtsbewegung versuchte Adrian sich in eine günstige Position zu manövrieren und setzte zu einem Fußtritt in Logans Magen an. Der Vampir durchschaute die Finte, fing das Bein noch in der Luft und stieß Adrian mit aller Gewalt von sich. Blitzschnell schoss er hinterher, die Klauenhand zum finalen Schlag erhoben. In diesem Moment geriet Lilys Schutzengel ins Stolpern, was ihn vor Schlimmerem bewahrte. Logans Schlag zischte um Haaresbreite an Adrians Kopf vorbei, zerfetzte lediglich einen tiefhängenden Ast. Blätter segelten herab, umgaben die Kämpfenden wie wirbelnde grüne Schneeflocken. Logans Verwirrung währte nur kurz. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf Adrian, der wie angewurzelt stehenblieb, anstatt auszuweichen.

‚Verflucht!’

Adrian, was machst du? Lilys Panik wuchs, als Logan drei tiefe Kratzer in ihrer Schulter hinterließ. Der Schmerz erreichte sie nicht, noch nicht.

‚Diese dämlichen Schuhe!’ Überraschenderweise erreichten Adrians Gedanken Lily, doch ihr blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern.

„Das reicht“, zischte Logan und drängte Adrian gegen einen der Baumstämme zurück. Eine Hand schloss sich um den Hals des Schutzengels, die andere fing Adrians rechte Hand ab und presste sie über seinen Kopf. „Ich habe keine Lust mehr, gegen einen zweitklassigen Schutzengel zu kämpfen.“

„Zweitklassig?“, schnaubte Adrian mit Lilys Stimme. Sie klang seltsam dumpf, passte überhaupt nicht zu ihr. Lily hasste es, wenn er redete, während er ihren Körper besetzte. Doch es war nicht der richtige Zeitpunkt, um Adrian Vorhaltungen zu machen. Sie sollte …

Im nächsten Moment tat Adrian etwas, womit weder Lily noch Logan gerechnet hatten. Der Schutzengel stemmte sich mit aller Kraft vom Baum ab, näherte sich dem Vampir und presste seine Lippen auf Logans. Die Verblüffung seines Gegners ausnutzend, intensivierte Adrian den Kuss und ließ seine Zunge zwischen die Lippen des Vampirs gleiten. Mit der freien Hand strich er über Logans Schulter, tastete über die Muskeln seiner Oberarme.

Bist du verrückt?, schrie Lily entsetzt. Ekel stieg in ihr auf, als sie daran dachte, dass es ihr Körper war, der den Vampir küsste und in eindeutiger Manier über dessen Haut strich. Als Logan auf Adrians Verführung einstieg und den Kuss hungrig erwiderte, nahm sie sich vor, ihren Schutzengel mindestens einen Monat lang mit Nichtachtung zu strafen. Ihr war klar, welches Ziel Adrian verfolgte, doch das ging einfach zu weit. Nur ein Idiot fällt auf so einen plumpen Trick herein! 

Scheinbar war Logan wirklich ein Idiot. Oder er war dermaßen ausgehungert, dass er jegliche Vorsicht in den Wind schoss. Er lockerte den Griff um Adrians Hand, ließ ihn schließlich los, um über Lilys Körper zu streichen.

Darauf hatte Adrian nur gewartet. Er holte zum Schlag aus und stieß mit aller Kraft in die Brust seines Gegners. Von einem lauten Aufschrei begleitet, durchbrach der Schutzengel die Rippen des Vampirs. Seine Finger bohrten sich tief in den Körper seines Gegners. Glücklicherweise spritzte nur wenig Blut, dennoch wandte sich Lily ab. Sie wollte nicht sehen, wie Adrian ihm das Herz herausriss.

Als Logan endgültig verstummte, war von dem Vampir nicht mehr als ein Häufchen Asche übrig. Lediglich das Herz lag als grauer, erdiger Klumpen in Adrians Hand.

Als hätte ihre Seele nur auf diesen Augenblick gewartet, zog es Lily beinah schmerzhaft zurück. Einen Herzschlag später war sie wieder Herr ihres Körpers. Ein unangenehmes Gefühl der Enge und Schwere ergriff sie. Es fühlte sich an, als legte sich eine unsichtbare Hand um ihr Herz. Am liebsten hätte sie erneut mit Adrian getauscht, um diese unendliche Freiheit zurückzuerlangen. Jede Rückkehr war eine Qual, doch das war der Preis, den sie für den Tausch mit ihrem Schutzengel zahlen musste.

Alles in Ordnung? 

Lily rang nach Atem. Ihre Muskeln schmerzten, insbesondere ihre rechte Schulter brannte. Drei lange Kratzer verunzierten die blasse Haut, der mittlere blutete leicht. Nach einer Weile gewöhnte sie sich an ihren Körper, der Druck auf ihrer Brust schwand und sie holte tief Luft. „Ich hasse den Effekt der Rückkehr.“

Wir brauchen nur mehr Übung – dann ist der Tausch kein Problem mehr. 

„Ich habe vorhin für eine Sekunde deine Gedanken gehört.“ Lily biss die Zähne zusammen, als sie über ihre Verletzung strich.

Wirklich? Adrian strahlte übers ganze Gesicht. Wir machen Fortschritte. 

Lily verkniff sich eine Antwort. Als die Schmerzen abebbten, sank sie auf eine Wurzel und betrachtete die Überreste des Herzens in ihrer Hand. Mit einem entrüsteten Schnauben warf sie den Lehmklumpen weg und wischte die Finger im Moos ab. Gerade als sie ihre Schulterwunde untersuchen wollte, kam ihr Adrians Einzelaktion in den Sinn. Schlagartig wurde ihr schlecht.

„Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht?“, fauchte sie und ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, doch dies war nicht möglich. Also begnügte sie sich damit, ihn finster anzustarren.

Sei nicht böse, Lily. Mir ist in dem Moment nichts Besseres eingefallen. 

„Nichts Besseres?“ Lilys Stimme nahm einen hysterischen Unterton an. „Du hättest ihm die Beine wegtreten oder ihm mit der linken Hand einen Kinnhaken verpassen können.“

Das war mir zu riskant. Ich brauchte die rechte Hand, um nach seinem Herzen zu greifen. Adrian stand direkt vor ihr, die hellen Lichtschwingen eng an den Leib gezogen. Er schien zu schrumpfen und in seinem Gesicht zeichneten sich Scham und Unsicherheit ab.

„Das ist noch lange kein Grund, ihn zu …“ Lily biss sich auf die Unterlippe, um die Worte zurückzuhalten, die ihre Übelkeit steigerten.

Es tut mir leid. 

Lily seufzte. Sie brachte es nicht über sich, Adrian weitere Vorwürfe zu machen. Dennoch wollte sie die Sache nicht vollkommen auf sich beruhen lassen. „Wenn du meinen Körper noch einmal auf diese Art ausnutzt, werde ich dir das nicht verzeihen, Adrian! Ab sofort sprichst du derartige Sachen mit mir ab oder du wirst zukünftig nur noch Hektor als Gesprächspartner haben.“

Ein Schauder schien Adrian zu erfassen, doch er nickte. Ich … 

„Schon gut, lassen wir das Thema. Je eher ich diese Sache vergesse, umso besser.“ Sie hob die Schultern und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz ihren Arm hinabwanderte. Ihr Blick fiel auf die Kratzer.

Geht es? Adrian hockte sich neben sie und untersuchte ihre Verletzung. Es tut mir leid. Ich hab nicht gut genug auf deinen Körper aufgepasst. 

„Du hast zu lange gebraucht, um ihn zur Strecke zu bringen.“

Ich habe ihn unterschätzt. Sein Schutzengel gab ihm mehr Kraft, als ich vermutet hatte. Das größte Problem waren deine Schuhe. Beim Kampf bin ich mit dem Absatz in einer Wurzel hängengeblieben. 

Lily rollte mit den Augen. „Ach wirklich? Wer hatte noch mal diese tolle Idee?“

Adrian legte den Kopf schief und rang seine Hände. Ich gebe zu, dass meine Idee nicht die beste war, aber immerhin ist er auf dich angesprungen. Ohne diese Aufmachung hätte er sich womöglich jemand anderen gesucht. 

Lily ersparte sich einen Kommentar und rappelte sich auf. Ihre Beine fühlten sich wie Gummi an und eine unsägliche Müdigkeit kroch ihr in die Glieder. Sie wollte nur noch nach Hause, diese elenden Klamotten loswerden, duschen und schlafen. Für einen Moment überlegte sie, ihr Handy zu zücken und Alina anzurufen, aber wahrscheinlich wartete diese mit den anderen auf dem Parkplatz der Diskothek. Ob das gesamte Team Adrians unmöglichen Alleingang gesehen hatte? Suchend sah sie sich um, entdeckte jedoch weder Hannah noch Radu zwischen den Bäumen. Trotzdem konnte sie ihre Nervosität nicht mehr abschütteln, als ihr ein weiterer Gedanke durch den Kopf schoss: ‚Habe ich die Aufnahmeprüfung nun bestanden oder nicht?’

Kapitel 2 – Bestanden

 

*~*

 

Der beißende Geruch nach Desinfektionsmitteln stieg Lily in die Nase. Ein regelmäßiges Piepen durchbrach die Stille und dröhnte wie ein sich wiederholender Donnerschlag in ihrem Kopf. Ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei und ein beständiger Schmerz in der Brust erschwerte das Atmen. Alles fühlte sich seltsam verdreht an. Als wären ihre Gliedmaßen zu lang und ihr pochender Schädel zu klein.

Sie krümmte sich und stöhnte gepeinigt auf.

„Ist alles in Ordnung?“ Eine samtene Bassstimme riss sie aus ihrer Verwirrung. Verzweifelt wollte sie die Augen öffnen, doch sie schienen verklebt zu sein, als hätte jemand Honig über den Lidern verteilt. „Lass dir Zeit, Lily.“

Lily … Dieses Wort brachte etwas Unangenehmes in ihr zum Klingen, doch sie konnte nicht genau einordnen, was es war. „Wo bin ich?“, krächzte sie. Ihre Kehle fühlte sich rau und trocken an.

„Im Krankenhaus. Du hattest einen furchtbaren Unfall. Es gleicht einem Wunder, dass du noch lebst.“

Lily versuchte das Gesagte zu erfassen, doch die Worte entglitten ihrem Geist. Erst nach einer Weile sickerten Fetzen des Satzes in ihr Bewusstsein.

Hatte sie wirklich einen Unfall gehabt? Wie ging es ihrer Familie? Hatten sie die Flucht nicht überlebt? Lily stockte und folgte dem neuen Anhaltspunkt: Flucht. Wovor? Weitere Erinnerungen tauchten auf: eine düstere, alte Burgruine, in der sich ein halbes Dutzend vermummte Gestalten um sie versammelt hatte. Sie hatten etwas vor sich hingemurmelt, das in einem unglaublichen Schmerz in ihrer Brust gegipfelt hatte. Der fremdartige Schrei, der selbst jetzt noch in ihren Ohren gellte, kam ihr bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht einordnen.

Rose!

War sie ebenfalls im Krankenhaus? Hatte sie den Autounfall überlebt? Was war mit ihren Eltern? Die Erinnerung an die Worte einer fremden Person wallte in ihr auf. Sie wusste nicht mehr, wer zu ihr gesprochen hatte, doch jede Silbe glich einem Versprechen.

Ich lasse dich nicht sterben! Noch einmal verliere ich meinen Schützling nicht und Rose hätte das nicht gewollt. Du wirst leben! 

Die Stimme verblasste.

Stattdessen erfasste sie reißende Panik. Lily versuchte, sich aufzurichten und aus dem Bett zu springen, doch sie konnte nicht einmal die Arme heben. Was für ein kranker Alptraum war das? War sie wach oder schlief sie?

„Sie hyperventiliert gleich“, erklang die flüsternde Stimme einer Frau.

Lily schnappte nach Luft. Wie viele Leute standen um ihr Bett herum? „Wer ist das?“, kam über ihre bebenden Lippen.

„Hab keine Angst, Lily.“ Die melodische Stimme des Mannes beruhigte ihr wild schlagendes Herz. In diesem Moment sehnte sie sich nach einer kühlen Hand auf ihrer Stirn, doch der Fremde berührte sie nicht. Angestrengt lauschte sie auf den leisen Atem ihres Besuchers, doch dieser war dank des beständigen Piepens der Maschinen und ihres dröhnenden Herzschlages kaum zu hören.

„Sie weiß zu viel. Es wird sie in den Wahnsinn treiben, wenn sie sich an alles erinnert …“ Die Frau nannte ihren Begleiter beim Namen, doch Lily konnte ihn nicht verstehen. Er ging in einem merkwürdigen Rauschen unter, das sie noch nie gehört hatte.

Sie spürte Müdigkeit in sich aufsteigen, doch sie hatte Angst vor den schrecklichen Bildern, die in der Dunkelheit lauerten …

Konzentriert lauschte sie auf die leise Diskussion, die sich zwischen dem Mann und der Frau entspann, doch sie schnappte nur einige zusammenhangslose Begriffe auf: erster Versuch, Versprechen, Sicherheit; und einen Namen: Adrian. Hieß der Fremde Adrian? Lily konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Sie wusste nur eins: wer auch immer dieser Mann war – Freund oder Feind – er hatte Antworten parat.

Schließlich siegte die Erschöpfung. Bevor sie wegdämmerte, spürte sie endlich die Hand des Mannes auf ihrer fiebrigen Haut, doch er strich ihr nicht beruhigend über die Wangen oder fühlte ihre Stirn. Stattdessen legte er ihr einen Finger über die Lippen und hauchte ihr nur ein einziges Wort ins Ohr. „Vergiss.“

 

*~*

 

Happy Birthday! 

Mit einem leisen Aufschrei fuhr Lily aus ihren Träumen auf. In ihren Ohren klang noch die Stimme, die sie vor so vielen Jahren im Krankenhaus gehört hatte und die allmählich im morgendlichen Lärm des Wohnhauses verblasste – dem hektischen Geplapper eines Radiomoderators, dem Geschirrklappern aus der Küche und dem Geschrei der Kinder auf der Straße. Wider besseres Wissen sah sich Lily nach dem Mann aus ihren Träumen um, doch lediglich Adrian stand am Kopfende ihres Bettes und lächelte breit.

Lily setzte sich wortlos auf und strich ihre blonden Locken aus dem Gesicht. Seit Monaten hatte sie nicht mehr von ihrem ersten wachen Moment nach dem Autounfall geträumt, doch als sie jünger war, ereilte sie diese Vision in fast jeder Nacht. Dabei wusste sie nur zu genau, dass diese Begegnung nie stattgefunden hatte. Egal wie realistisch ihre Erinnerungen an das Timbre in der Stimme des Mannes, die angenehme Wärme seiner Finger und das Rascheln seiner Kleidung waren, er existierte nicht. Weder die Ärzte noch die Schwestern hatten den mysteriösen Besucher gesehen. Auch Adrian bestätigte die eindeutigen Aussagen des Krankenhauspersonals. Niemand hatte sie in ihrem Zimmer besucht. Dennoch glaubte sie, manchmal dieses letzte Wort zu hören, wenn sie aus einem düsteren Alptraum schreckte.

Vielleicht haftete ihrem Traum dennoch ein Funken Wahrheit an, da Lily kaum etwas über ihre Vergangenheit wusste. Als hätte der Mann aus ihren Träumen einen Gedächtnisverlust heraufbeschworen, blieben ihre Erinnerungen an die Ursachen des Unfalls im Dunkeln, ebenso wusste sie nichts mehr von ihrer Familie. Nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatte, hatte sie mehrfach versucht herauszufinden, wer ihre Eltern waren oder ob sie Geschwister hatte - vergebens. Ebenso wenig erinnerte sie sich an ihr Leben vor dem schrecklichen Tag vor sieben Jahren. Wie kam es zu dem Autounfall? Waren ihre Eltern wirklich auf der Flucht gewesen oder spielten ihre Träume und Visionen ihr einen Streich?

Als ihre Patentante Alina die Bildfläche betrat, erhoffte sich Lily Antworten, doch die sportliche junge Frau wusste nur wenig über ihre verstorbenen Eltern. Auch ihr Schutzengel Adrian schwieg, wenn sie nach ihrer Familie fragte, oder wich dem Thema aus. Dabei begleitete er sie von Geburt an, musste also von ihrer Vergangenheit wissen. Doch zumeist zog er sich mit den Worten, dass der Gedächtnisverlust auch ihn betreffe, aus der Affäre. Stimmte das? Konnte die Amnesie eines Menschen auch auf dessen Schutzengel übergehen?

Herzlichen Glückwunsch zum achtzehnten Geburtstag, Lily!, riss Adrians fröhliche Stimme sie aus ihren düsteren Gedanken. Er schwebte vor dem Bett und musterte sie eindringlich. Alles in Ordnung? Du siehst so blass aus. Schlecht geträumt? 

„Ja …“ Lily schenkte ihm einen kurzen Blick. Verheimlichte er ihr wirklich etwas oder hatte auch er seine Erinnerungen verloren? Seit Jahren grübelte sie über eine Antwort.

Du hast schon eine Weile nicht mehr davon geträumt. Adrian setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Die Matratze gab keinen Millimeter nach und als er behutsam über Lilys Wange strich, nahm sie die Berührung nicht wahr. Lediglich ein leichter Windhauch wehte über ihre Haut.

Dennoch spendete diese Geste Trost und sie schüttelte die letzten Fetzen des Traumes ab. Sie blinzelte Adrian an und lächelte.

„Geht schon. Vielleicht träume ich wegen der gestrigen Sache davon.“ Lily erhob sich und streckte sich wie eine Katze. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie an den Kampf gegen den Vampir dachte. „Ich sehe nach Alina. Vielleicht hat sie bereits eine Nachricht vom Rat bekommen.“

Ein breites Grinsen stahl sich in Adrians Gesicht, doch er schwieg. Er schien bereits zu wissen, wie sie abgeschnitten hatten, doch Lily wollte das Ergebnis von Alina erfahren.

Mit rasendem Herzen schob sie sich an ihm vorbei und öffnete die Türen des Kleiderschrankes. Direkt vor ihr hingen das widerliche T-Shirt und der Minirock zum Auslüften. Sie schob energisch beide Kleidungsstücke beiseite und wühlte sich durch ihre weiten Shirts.

Adrian warf einen Blick in das wohlgeordnete Chaos des Schrankes und deutete auf ein hautenges, mit Pailletten besetztes Top, von dem Lily nicht einmal wusste, wie es in ihren Schrank gekommen war.

Sie schüttelte den Kopf und zog ein einfaches Shirt und eine dunkle Cargohose hervor. Sie musste nicht einmal Adrians Gesicht sehen, um zu wissen, dass ihn diese Kleiderwahl entsetzte.

Das willst du anziehen?, fragte er entrüstet und drängelte sich zwischen sie und den Kleiderschrank. Heute ist ein wichtiger Tag! Der wohl wichtigste Tag in deinem jungen Leben und du willst deinen üblichen Schlabberlook anziehen? 

„Es geht ja wohl nicht darum, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.“ Sie wandte sich ab und knallte die Schranktüren zu, ohne darauf zu achten, ob sie Adrian traf oder nicht.

Gestern sahst du wirklich gut aus, weißt du das? Ich fände es toll, wenn du mal etwas aus dir machen würdest, lamentierte Adrian weiter.

„Immer dieselbe Leier. Ich bin ich und kann dieses typische Dummchen-Schema nicht ausstehen. Noch einmal überlasse ich dir die Wahl meines Outfits nicht.“

Aber es hat ihn überhaupt erst angelockt und … 

„… und uns beide im Kampf so sehr behindert, dass er mich fast ausgesaugt hätte!“, vollendete Lily seinen Satz. Sie schlüpfte in ihre Hose und zog sich ihr Schlafshirt über den Kopf. Ihr Haar nahm ihr für einen Moment die Sicht, dann sah sie Adrian in die Augen. Es störte Lily nicht, dass sie halbnackt vor ihm stand. Er hatte sie oft genug unbekleidet und in ganz anderen Situationen gesehen. Das waren die Momente, in denen sie sich keinen Schutzengel an ihrer Seite wünschte oder wenigstens jemanden, der taktvoll genug war, das Zimmer zu verlassen.

Adrian stemmte die Hände in die Hüften. Wenn du auf mich hören würdest, könntest du dir aus knapp einem Dutzend Männern den Hübschesten aussuchen! 

Lily rollte mit den Augen. Diese Diskussionen waren sinnlos. Wenn ein Mann mit ihrer natürlichen Art nichts anfangen konnte, dann war er es auch nicht wert, dass sie sich mit ihm beschäftigte. Sie würde weder sich selbst noch anderen etwas vorspielen.

Sie ignorierte Adrians Litanei und trat vor den Spiegel, der an der Zimmertür hing und zur Hälfte von einem langen Mantel verborgen war. Die Anstrengungen der letzten Tage und die schlechten Träume hatten sichtbare Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Dunkle Ringe lagen unter ihren blauen Augen und ihr katzenhaftes Gesicht wirkte müde und erschöpft. Ihr Haar glich einem Vogelnest. Mit gespreizten Fingern fuhr sie sich durch die Mähne und knotete sie zu einem einfachen Zopf zusammen.

Du hörst mir gar nicht mehr zu! 

„Den Rest können wir uns doch sparen, oder? Ich habe keine Lust, meinen Geburtstag mit Streiten zu verbringen“, murmelte Lily und betrachtete ihre Figur im Spiegel. Das lange Shirt verdeckte den Großteil ihrer weiblichen Rundungen. Nach den gierigen Blicken in der Disco war ihr dies nur recht. Ihr Bedarf an männlicher Aufmerksamkeit war für die kommenden Wochen gedeckt.

Sie angelte sich ihr Handy und überflog die What’s App-Nachrichten und SMS ihrer Freunde und Klassenkameraden. Etliche hatten ihr zur Volljährigkeit gratuliert und der ein oder andere fragte nach einem abendlichen Treffen im Euro Palace, um Lilys Geburtstag gebührend zu feiern.

Es klopfte.

„Na, seid ihr wieder am Streiten?“ Alinas leicht zynische Stimme klang gedämpft durch die Tür. Noch bevor Lily etwas erwidern konnte, steckte ihre Meisterin neugierig den Kopf hinein. Ihre kurzen feuerroten Haare glänzten feucht und standen in alle Richtungen ab. Mit funkelnden grünen Augen musterte sie Lily und huschte in das Zimmer. Ein leichtes Sommerkleid betonte ihren schlanken Körper, stand ihr allerdings nur bedingt. Zum Einen zierten verschlungene Tätowierungen Alinas Rücken und ihre Oberarme, zum Anderen war sie zu hager und groß für derartige Kleidung. Zu ihrem sportlichen Typ passten eher Hosen und enge Tops, doch seit Neustem schien sie sich weiblicher kleiden zu wollen. Zum wiederholten Mal fragte sich Lily, ob Alina Adrian nicht doch sehen und hören konnte.

Dabei war es Lily, die mit der Fähigkeit des Erkennens gesegnet war und seit dem Unfall die Schutzengel aller Wesen wahrnehmen und mit ihnen sprechen konnte. Außenstehenden vermittelte es jedoch den Eindruck, als würde sie mit der leeren Luft reden.

„Ihr wärt ein tolles Team, wenn ihr endlich das Kriegsbeil begraben würdet“, fügte Alina hinzu.

„Ach, du kennst ihn ja. Immer dasselbe Theater!“ Lily antwortete flink einigen ihrer Freunde, sagte einen Discobesuch ab und sah schließlich wieder zu Alina.

Ihre Patentante wartete geduldig, bis Lily ihr Handy in die Hosentasche schob, umarmte sie dann und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Alles Gute zum Geburtstag, meine Kleine. Jetzt bist du also bereits volljährig. Die Zeit vergeht wie im Flug.“ Sie schob Lily auf Armeslänge von sich und musterte sie. „Aber zur Feier des Tages hättest du dir ruhig etwas anderes anziehen können …“

„Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Ich habe diese Diskussionen wirklich satt.“ Sie warf Adrian einen giftigen Blick zu, der bereits zu einem Spruch ansetzte. „Das gilt auch für dich. Du brauchst gar nicht zu versuchen …“

„Ihr seid wirklich goldig. Ich wünschte, ich könnte Adrian sehen.“

„Glaube mir, so toll ist diese Gabe nicht.“

„Aber sie hat durchaus ihre Vorteile.“ Alina musterte sie voller Neugierde. Wahrscheinlich wartete sie darauf, dass Lily nach den Ergebnissen der Prüfung fragte.

Just in diesem Moment bemerkte Lily, dass Alinas Schutzengel nicht an seinem angestammten Platz hinter ihrer Meisterin schwebte. „Wo ist Hektor?“

„Bitte?“ Alina sah aus, als hätte man ihr kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Dennoch antwortete sie: „Der ist in meinem Zimmer und sichtet die neuen Aufträge, die gestern Morgen angekommen sind. Gibt es nichts anderes, was du wissen willst?“

„Natürlich will ich das!“ Lilys Hände wurden vor Nervosität feucht, wenngleich sie ahnte, dass sie bestanden hatte. Adrians Grinsen war dahingehend recht eindeutig gewesen. „Wie habe ich abgeschnitten?“

Alinas Gesicht erhellte sich und ein spitzbübisches Lächeln stahl sich auf ihre schmalen Lippen. Es war offensichtlich, dass sie es genoss, Lily auf die Folter zu spannen. „Komm mit.“

Sie betraten die schmale Küche und zu Lilys Überraschung war der Frühstückstisch gedeckt. Frische Lilien standen in einer schlanken Vase zwischen einer Käseplatte, Antipasti, gekochten Eiern und einem Teller Räucherlachs. Der intensive, süße Duft der schneeweißen Blüten überdeckte den von frischem Kaffee und knusprigen Brötchen.

Lilys Magen knurrte vernehmlich. „Du bist ein Engel.“ Mit einem Lächeln griff sie nach der Tasse Kaffee und ließ ihren Blick über den Tisch schweifen. „Wer soll das nur alles essen?“

Alina ließ sich auf den weiß lackierten Holzstuhl sinken und angelte sich eine Traube. „Das kriegen wir schon klein. Heute haben wir immerhin zwei Ereignisse zu feiern. Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung. Ich bin so stolz auf dich, Lily. Ich wusste, dass in dir eine Jägerin schlummert.“ Sie zog eine hölzerne Schatulle hervor.

Lily verschluckte sich beinah an ihrem Kaffee und stellte rasch die Tasse ab. Obwohl die Jagd vorbei war und das Ergebnis feststand, übermannten sie Aufregung und Nervosität. Ihre Hände waren schweißnass, als sie das unscheinbare Kästchen entgegennahm.

Auch von mir alles Gute. Adrian schwebte mit einem seligen Lächeln neben ihrem Stuhl und beobachtete die Szenerie.

„Danke“, krächzte sie und klappte mit zitternden Fingern den Deckel auf. Ein schlichter, silberner Ring lag in dem dunklen Futteral. Der Rubin funkelte im warmen Sonnenlicht, das durch die geöffneten Fenster fiel. Zum ersten Mal erreichten sie Adrians und Alinas Glückwünsche, erfasste sie die Bedeutung ihrer Worte. Ab sofort war sie eine vollwertige Jägerin! Vergessen war der morgendliche Streit, die Diskussionen über Kleidung und die Strapazen des gestrigen Abends. Dieser Ring war Entschädigung genug.

Plötzlich überkam sie das seltsame Gefühl, dass etwas fehlte. Trauer schlich sich in ihr Herz, als sie an ihre Eltern dachte. Wie würden sie jetzt reagieren? Die Übergabe des Rings der Jäger war der bisher wichtigste Moment in ihrem Leben. Wären sie stolz? Würden sie sich mit Glückwünschen überschlagen oder das Ereignis mit einem Schulterzucken abtun?

Lily wusste es nicht, konnte weder ihren Vater noch ihre Mutter einschätzen. Sie erinnerte sich kaum an sie, wusste nicht einmal, wie sie aussahen.

Mit einem wehmütigen Gefühl dachte sie an den wiederkehrenden Traum, der mehr über ihre Vergangenheit offenbarte, als Alina und Adrian es jemals getan hatten. Ihre Patentante wechselte geschickt das Thema, wenn sie auf ihre Familie zu sprechen kam, Adrian wusste angeblich nichts mehr. Lily ahnte, dass sie ihr die Wahrheit absichtlich vorenthielten, doch es fehlten ihr die passenden Ansatzmöglichkeiten, um Antworten zu bekommen.

Wenn ihre Träume sie wenigstens weiterbringen würden. Doch leider verblassten die Bilder bereits beim Aufwachen und hinterließen nichts als ein dumpfes Verlustgefühl und das Wissen, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Das Einzige, woran sie sich erinnerte, waren Dinge, die sie bereits wusste: dass ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Dabei gab es so viele offene Enden, die geklärt werden mussten.

Seufzend schüttelte sie die kreisenden Gedanken ab. Jetzt war der falsche Zeitpunkt für Melancholie. Sie strich über den unscheinbaren Ring und streifte ihn über den kleinen Finger ihrer rechten Hand. Er passte perfekt.

Der Wunsch, mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren, war plötzlich übermächtig. War es nicht an der Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen? Sie war kein Kind mehr, das man schützen musste, sondern eine vollwertige Jägerin. Sie hatte ein Anrecht auf …

„Damit bist du eine richtige Jägerin und Teil meines Teams“, riss Alina sie aus ihren Gedanken. Stolz schwang in ihrer Stimme mit. „Nach dem Frühstück brechen wir zum Rat auf und holen deine Lizenz ab.“

Lilys Herz schlug schneller. Sie schob die Gedanken an ihre Eltern und ihre Vergangenheit in den Hintergrund – vorerst. Jetzt war der falsche Zeitpunkt, um Alina auf den Zahn zu fühlen. Stattdessen spürte sie dem wohligen Kribbeln nach, das sich in ihrem Magen breitmachte. Endlich würde sie die einzelnen Ratsmitglieder zu Gesicht bekommen. Bisher hatte man ihr den Zutritt zum versteckt liegenden Ratsgebäude nicht gestattet, doch der charismatische Radu, ein knapp zweihundert Jahre alter Vampir und einer von Alinas Jägern, erzählte ihr oft von den verschiedenen Mitgliedern.

„Am späten Nachmittag kommen die anderen, um deinen Geburtstag zu feiern. Ach, und im Übrigen wissen sie nicht, wie du abgeschnitten hast.“ Alina lächelte verschwörerisch.

„Du hast es ihnen noch nicht gesagt?“ Lily überlegte, ob sie Hannah anrufen sollte. Die Werwölfin wollte noch vor Radu über das Ergebnis ihrer Prüfung informiert werden. „Das solltest du nachholen – du weißt doch, wie neugierig sie sind.“

„Wenn ich ehrlich bin, wussten sie noch nicht einmal etwas von deiner Prüfung.“

Lily fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Ihr Herz sank eine Etage tiefer und kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie hatte gestern Nacht nur deswegen so viel riskiert, weil sie darauf gebaut hatte, im Notfall von den anderen unterstützt zu werden. „Sie waren nicht da? Aber als ich zum Parkplatz zurückkam, sagtest du, sie seien schon nach Hause gegangen …“ Im Nachhinein erkannte Lily, wie unsinnig Alinas Erklärung war. Als hätte Radu sich so einfach abschieben lassen! Es erklärte jedoch auch, warum der Vampir während des Kampfes nicht aufgetaucht war, als Adrian Logan geküsst hatte.

„Tut mir leid, dass ich dich angelogen habe, Lily.“ Alina fuhr sich nervös durch ihr kurzes Haar und griff nach ihrer Tasse. Bevor sie an dem starken Kaffee nippte, nuschelte sie: „Du solltest kämpfen können, ohne dass dir Radu in die Quere kommt. Du weißt doch, wie vernarrt er in dich ist.“

„Und wenn mir etwas passiert wäre?“

„Ich war die ganze Zeit in deiner Nähe und hatte ein Auge auf dich.“ Sie hob belustigt eine Augenbraue. Lily ahnte, was ihrer Meisterin durch den Kopf ging, doch bevor sie Alina zurechtweisen konnte, fuhr diese fort: „Ich wusste, dass du es ohne unsere Hilfe schaffst. Radu und Hannah hätten dich im Vorfeld unter Druck gesetzt und mit idiotischen Tipps bombardiert, wenn ich ihnen von deiner Prüfung erzählt hätte.“ Sie rollte mit den Augen und angelte sich ein Brötchen. „Als deine Meisterin habe ich entschieden, dass du ohne die anderen besser agieren kannst.“

Lily musste zugeben, dass Alina recht hatte. Hannah und Radu wären wirklich ein Klotz am Bein gewesen. Der Sturm in ihrem Kopf legte sich und die Angst, die sie bei Alinas Worten befallen hatte, fiel von ihr ab. Logan war tot, zerfallen zu Staub. Sie griff nach einer Olive und schob sie sich in den Mund. „Aber du hast recht. Allein Addy hat mir mehr Tipps gegeben, als ich überhaupt gebrauchen konnte. Allein diese Klamotten …“ Sie schielte über die Schulter zu ihrem Schutzengel, der beleidigt das Gesicht verzog und ohne Kommentar zurück in ihr Zimmer schwebte.

 

Es war fast Mittag, als Lily und Alina das Frühstück beendeten. Das Treffen mit dem Rat war für die späten Nachmittagsstunden anberaumt und Lily fieberte diesem Augenblick entgegen. Wie wohl die vier Mitglieder waren, die die unterschiedlichen Rassen oder Clans repräsentierten? Von Radu wusste sie, dass die Vampirin Estera wunderschön und unglaublich mächtig war, aber auch kalt und berechnend. Die Vampire folgten ihr blind und sie ließ keinerlei Verfehlungen zu. Auf Phileas, den wilden Anführer der Werwölfe, hatte Alina ein Auge geworfen, was dafür sorgte, dass Lily in den letzten Wochen mehr über den stattlichen Mann erfahren hatte, als ihr lieb war. Die beiden anderen Mitglieder waren eine Frau namens Adora, die für die Belange der Menschen eintrat und Lord Aldwyn, das Oberhaupt der hier ansässigen Feenwesen. Wie würden die Ratsmitglieder auf sie reagieren? Gab es eine richtige Zeremonie für neue Jäger? Alina gab ihr nicht einmal einen kleinen Hinweis auf das, was sie erwartete. Ob Adrian wusste, was auf sie zukam?

Ein leiser Anflug von Sorge wallte in ihr auf, als sie den Flur durchquerte und ihr Zimmer ansteuerte. Adrian war nicht mehr aufgetaucht, nachdem sie sich über seine Unterstützung beschwert hatte. Hatten ihre Worte ihn so sehr getroffen? Normalerweise fing er sich schnell wieder und setzte zu einem Widerspruch an. Dieses Mal …

Du bist eine Schande als Schutzengel! Hektors aufgebrachte Stimme drang an Lilys Ohren, noch bevor sie ihre Zimmertür erreichte. Alinas Schutzengel musste ihn abgefangen haben, nachdem er den Frühstückstisch verlassen hatte. Sie blieb stehen und lauschte, obwohl sie wusste, dass sich das nicht gehörte. Lily ist bei der Prüfung verletzt worden, weil du nicht aufgepasst hast! 

Das ist nicht wahr!, fuhr Adrian entrüstet dazwischen. Ihr Absatz blieb zwischen einer der Wurzeln stecken und … 

Und wenn schon, unterbrach Hektor ihn. So ein Fehler darf dir nicht widerfahren. Ein falscher Schritt und es könnte ihr letzter sein. Nur weil du ihren Körper übernimmst, heißt das nicht, dass sie nicht sterben kann. 

Ein wütendes Schnauben erklang. Lily konzentrierte sich auf Adrian, um mehr von der Gefühlswelt ihres Schutzengels zu erfahren. Wut und Unsicherheit strömten auf sie ein. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und obwohl er es gegenüber Hektor nie zugegeben hätte, gab er dem anderen Schutzgeist recht. Eine Welle von Schuldgefühlen erfasste Lily, doch sie konnte nicht sagen, ob sie von Adrian stammten oder ihrem eigenen Herzen entsprangen.

Und alles nur, weil du dir einredest, in Radu verliebt zu sein! Hektors Stimme vibrierte vor Abscheu. Lily wusste, wie sehr Alinas Schutzengel Adrians Gefühle für den Vampir missbilligte.

Wie bitte? Adrians Zorn überlagerte seine Unsicherheit und Selbstvorwürfe um ein Vielfaches. Ich rede mir gar nichts ein! 

Umso schlimmer. Warum auch immer du überhaupt Liebe empfinden kannst, es ist falsch! Ein Schutzengel hat an niemanden zu denken außer an seinen Schützling! Weil du dich für Radu interessierst, kannst du Lily nicht angemessen beschützen.

Aber … 

Hektors Stimme näherte sich der Tür. Spar dir deine Ausreden, ich kenne sie zu gut. In meinen Augen vernachlässigst du Lily und sie muss unter deinen halbherzigen Schutzversuchen leiden. Ihr kämpft zwar miteinander, aber noch immer hast du keine richtige Verbindung zu ihr aufgebaut. Und das ist für einen menschlichen Jäger das Wichtigste. 

Woher willst du das wissen?, fragte Adrian, doch seine Stimme war hörbar von Zweifeln durchzogen.

Weil sie vor der Zimmertür steht und du sie noch nicht einmal bemerkst! 

Lily fühlte sich gleich zweifach ertappt. Hektor wusste nicht nur, dass sie lauschte, er hatte auch erkannt, wie schwach ihre geistige Verbindung zu Adrian war. Einen Wimpernschlag später spürte sie deutlich Adrians schüchternes Anklopfen, ein leichtes Zupfen an ihrem Geist. Reflexartig blockierte sie Adrian, sperrte ihn aus ihren Gedanken und Gefühlen aus, wie er es tat, wenn sie in seinen Erinnerungen nach ihrer Vergangenheit suchte. In diesen Momenten zweifelte sie seine Amnesie an, war sich sicher, dass er etwas vor ihr verbarg. Sie versteckten sich voreinander, verheimlichten unschöne Wahrheiten und traten deswegen seit einer Weile auf der Stelle. Ihre geistige Verbindung bestand zwar und sie konnten auch den Körpertausch für einige Minuten aufrecht halten, doch ein eingespieltes Team waren sie noch immer nicht.

Sie konnte nur hoffen, dass sie bald einen Weg aus dieser Zwickmühle fanden. Seitdem Adrian ihr gestanden hatte, was er für Radu empfand, suchte sie Distanz. Im Grunde war es ihr egal, wem Adrian Gefühle entgegenbrachte, doch was geschah, wenn sich seine Empfindungen mit den ihren vermischten? Allein der Gedanke daran jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Sie wollte ihre eigenen Gefühle bewahren und nicht von Adrians starker Liebe zu Radu beeinflusst werden. Erschwerend kam hinzu, dass sich Radu in sie verliebt hatte. Lily mochte den Vampir durchaus, aber Liebe empfand sie nicht für ihn. Er war einfach nicht ihr Typ.

Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, schwebte Hektor durch die geschlossene Tür. Der hagere Schutzengel verharrte vor Lily und seine tiefliegenden Augen richteten sich auf sie. Für einen Moment huschte ein pflichtschuldiges Lächeln über sein schmales Gesicht. Es tut mir leid, dass du das alles mit angehören musstest. Es klang einstudiert und alles andere als ernst gemeint.

Lily ignorierte den Unterton in Hektors Stimme. „Könnt ihr euch nicht aus dem Weg gehen, wenn ihr euch nicht mögt? Ehrlich gesagt ist es mir egal, in wen er sich verliebt.“

Mir aber nicht. Schutzengel sollten nicht in der Lage sein, solche Gefühle zu entwickeln. Ihre einzige Liebe gilt ihren Schützlingen. Wie will er auf dich aufpassen, wenn ihr einem wirklich mächtigen Gegner entgegentretet? Um gegen einen solchen Feind zu bestehen, müsst ihr endlich eine richtige geistige Bindung aufbauen. Ich vermute, dass es nicht klappt, weil ihm Radu durch den Kopf spukt. 

„Er ist trotzdem ein guter Schutzengel“, sagte Lily und stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf.

Adrian hockte mit angelegten Flügeln auf dem Bett. Er wirkte geknickt, doch sein Gesicht erhellte sich, als er aufblickte. Er setzte ein Lächeln auf, um nicht zu zeigen, wie tief ihn Hektors Worte getroffen hatten.

„Alles in Ordnung, Addy?“, fragte sie und ließ sich neben ihm nieder.

Klar, aber ich kann Hektor einfach nicht ausstehen. Er atmete tief durch, doch es fiel ihm sichtlich schwer, seine Fassung zu bewahren. Seine vollen Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst und er ballte die Hände zu Fäusten. Er kämpfte mit sich, rang um Worte, doch letztendlich schwieg er.

Lily wusste, was ihm auf der Seele brannte. Sie las es in seinen hellen Augen, in denen Angst und Unsicherheit standen. Irgendwann mussten sie über ihre Verbindung reden, doch dies musste von Adrian ausgehen. Er war derjenige, der ihr etwas verheimlichte. Sobald Adrian sich ihr öffnete, würde sie ihre Besorgnis bezüglich Radu mit ihm teilen und gemeinsam nach einer Lösung suchen.

„Manchmal kann er ein echtes Ekel sein“, fügte Lily mit einem zurückhaltenden Lächeln hinzu, um ein versöhnendes Gespräch einzuleiten.

Er liebt es einfach, Salz in meine Wunden zu streuen. Adrian richtete sich auf und fuhr sich mit einer Hand durch sein langes, schimmerndes Haar. Seine Flügel waren dank der Sonne kaum zu sehen, doch ein feines Rauschen zeigte Lily, dass er sie ausbreitete. Ich weiß, wie unmöglich meine Gefühle für Radu sind. Ich bin ja nicht dumm! Aber ich kann sie leider nicht ignorieren und einfach verschwinden lassen … 

„Nimm dir Hektors Worte nicht zu sehr zu Herzen, Addy. Du weißt doch, wie er ist.“

Er kann mich nun mal nicht ausstehen, weil ich nicht wie andere Schutzengel bin. Adrian wandte sich an Lily. Ist das wirklich solch ein Verbrechen? Die Verletzungen, die du dir gestern Abend zugezogen hast, sind für ihn Beweis genug, dass ich dich in Gefahr bringe. 

„Jetzt beruhige dich“, versuchte Lily ihren Schutzengel zu beschwichtigen. Die Worte, ‚Hektor hat es nicht so gemeint!’, lagen ihr auf der Zunge, doch sie wusste, dass sie einer Lüge gleichkamen. Stattdessen griff sie den Hauptgrund für Hektors Ablehnung auf: „Warum musste es ausgerechnet Radu sein?“

Als hätte ich mir das ausgesucht. Wenigstens weiß Radu selbst nichts davon. 

„Und Florica?“, hakte Lily nach. Sie dachte an den zierlichen Schutzengel des Vampirs, der sich meistens im Hintergrund hielt.

Sie ist wie Hektor. Sie missbilligt meine Gefühle noch mehr, aber wenigstens verrät sie Radu von sich aus nichts. Wobei das im Grunde auch egal ist. Er kann mich ja gar nicht sehen … Er sank bedrückt in sich zusammen.

„Sei froh, dass sie es ihm verschweigt, obwohl sie ihm eigentlich die Wahrheit offenbaren müsste. Immerhin dürfen Schutzengel nicht lügen.“

Schweigen ist nicht automatisch Lügen. Wenn er sie direkt fragen würde, könnte sie ihm all das auch nicht mehr verheimlichen. 

Lily zog die Augenbrauen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. In ihr glomm erneut die Frage auf, ob sich Adrian hinter der Lüge des Erinnerungsverlustes versteckte, wenn es um ihre Vergangenheit ging. Doch als Schutzgeist durfte er nicht lügen, oder? Stellte sie womöglich die falschen Fragen?

Sie verdrängte das ungute Gefühl in ihrem Inneren und konzentrierte sich wieder auf ihren Schutzengel, der nervös im Zimmer auf und ab tigerte und aufgebracht mit beiden Händen gestikulierte.

Wenn ich wenigstens einen eigenen Körper hätte, könnte ich es ihm sagen und damit abschließen, … aber so. Er verharrte mitten in der Bewegung und wirbelte zu Lily herum. Könnte ich mir nicht einmal deinen Körper ausleihen? Nur für eine Stunde oder so? 

Lily schnappte erschrocken nach Luft. „Bist du noch zu retten? Natürlich darfst du nicht! Damit stachelst du ihn nur noch weiter an und er beginnt, mich ernsthaft zu umwerben. Nein danke!“

Was hast du nur gegen ihn? Ich finde ihn süß. 

Lilys Nackenhaare stellten sich auf, als sie an das charmante Lächeln des Vampirs dachte, der trotz seines hohen Alters wie Mitte zwanzig aussah. Allein die Vorstellung, dass Radu sich von Adrians Liebesgeständnis ermutigt fühlen würde, sorgte für ein flaues Gefühl im Magen. „Lass gut sein. Wir finden eine andere Lösung für dein Problem.“

Ach ja? Und was schwebt dir vor? 

„Ich weiß es nicht.“ Das Treffen mit dem Rat schob sich in Lilys Gedanken. Es wurde Zeit, sich fertig zu machen, damit sie nicht zu spät kamen. „Können wir das Thema auf später verschieben? Der Rat will mich heute Nachmittag sehen. Dann bekommen wir die Lizenz und werden ein fester Bestandteil von Alinas Team.“ Sie deutete lächelnd auf ihren Kleiderschrank. „Hilfst du mir, etwas Passendes zum Anziehen zu finden?“

Sicher … In Adrians Stimme schwang Enttäuschung mit.

„Keine Sorge. Ich vergesse deine Probleme nicht. Sobald sich alles beruhigt hat, lassen wir uns etwas einfallen. Versprochen.“

Kapitel 3 – Der Rat

 

Es war früher Nachmittag, als Lily in Alinas aufgewärmten Ford Fiesta stieg. Die Sonne brannte und die Luft flirrte. Lily verabscheute die schwüle Hitze, die wie eine riesige Glocke über Wiesbaden lag, das Atmen erschwerte und jede Bewegung in eine Qual verwandelte. Die ganze Stadt schien dank der Hitze stiller zu sein. Dabei mochte Lily das hektische Treiben in den vertrauten Straßen des Westends, die spielenden Kinder und die unterschiedlichen Kulturen, die hier aufeinandertrafen … Jetzt wirkten die Straßen ausgestorben, als hätte die Hitze alle Menschen in die umliegenden Freibäder vertrieben.

Seit fast sieben Jahren lebte Lily bei Alina und teilte sich mit ihr die Dachgeschosswohnung in einem sanierten Jugendstilgebäude. Es war eine gewaltige Umstellung gewesen, sich an ein Leben in der Innenstadt zu gewöhnen, doch Lily blieb keine Wahl. Als Patentante oblag es Alina, sich nach dem Tod ihrer Familie um sie zu kümmern. Alina schlug die Fahrertür zu und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. „Benehmen sich die beiden?“

Lily wandte sich um und bejahte. Adrian hockte hinter ihr und starrte wie ein beleidigtes Kind aus dem Fenster. Hektor, der unerschrocken Alinas Blick erwiderte, saß gelassen auf der anderen Seite der Rückbank. Das schulterlange Haar trug er in einem strengen Zopf und sein kantiges Gesicht wirkte angespannt, fast schon verhärmt. Er ignorierte Adrian vollkommen.

Ich gratuliere zu deinem Erfolg und deinem Geburtstag, Lily. Hektor setzte ein pflichtschuldiges Lächeln auf, doch es erreichte seine Augen nicht. Erst jetzt schien ihm in den Sinn zu kommen, dass er Lily noch gar nicht gratuliert hatte.

„Du benimmst dich wie ein kleines Kind, Hektor. Ich habe keine Ahnung, was Adrian gemacht hat, aber reiß’ dich bitte zusammen. Heute ist Lilys Geburtstag und ich möchte nicht, dass du uns die gute Laune verdirbst.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, startete Alina den Wagen und manövrierte ihn aus der Parklücke.

„Lass gut sein, Alina. Am besten setzen wir uns in den nächsten Tagen zusammen und diskutieren das Ganze in Ruhe.“ Ein Blick über die Schulter genügte. Weder Hektor noch Adrian schienen von ihrem Vorschlag begeistert zu sein. ‚Und da wir dann in der passenden Stimmung für Konflikte sind, können wir uns auch gleich über meine Eltern unterhalten‘, fügte sie stumm hinzu. ‚Es wird Zeit für Antworten.‘

 

Lily achtete nicht darauf, wohin Alina fuhr. Sie war damit beschäftigt, die beiden Engel im Blick zu behalten, die so viel Platz wie möglich zwischen sich wahrten, um einen weiteren Streit zu vermeiden. Dass sie ebenso wenig mit Hektor klarkam, ignorierte sie geflissentlich. Alinas Schutzengel war streng und überkorrekt, duldete keinen Widerspruch und verabscheute alles, was in irgendeiner Weise gegen die Norm verstieß. Sogar die Tatsache, dass Lily ihre Ausbildung mit der gestrigen Mission erfolgreich abgeschlossen hatte, missfiel ihm. Er sprach es nicht aus, aber sie las es in seiner Mimik.

Als sie die letzten Häuser der Stadt verließen, lenkte Alina den Wagen die steile Platter Straße hinauf, vorbei an grünen Laubbäumen, die sich soweit über die Straße neigten, dass sich ihre Kronen fast berührten. Lily hatte das Gefühl, durch eine Kirche zu fahren.

Ihre Nervosität wuchs. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. In wenigen Minuten würden sie den Hauptsitz des Rates erreichen, ein gewaltiges Anwesen, das Lord Aldwyn gehörte.

Als sie die Hügelkuppe überquerten, bog Alina scharf nach rechts ab und holperte einen schmalen, unebenen Feldweg entlang. Zum ersten Mal fragte sich Lily, wo dieses prächtige Anwesen überhaupt lag und warum es noch kein Mensch zufällig gefunden hatte. Ob ein Feenzauber darüber lag, der es vor fremden Blicken schützte? Im nächsten Moment entdeckte sie eine gut zwei Meter hohe Bruchsteinmauer, die parallel zur Straße verlief und immer wieder hinter Bäumen und Sträuchern verschwand.

„Wir sind gleich da. Dort vorne ist das Tor.“

Lily folgte ihrem Kopfnicken und entdeckte ein gewaltiges, schmiedeeisernes Tor, das offen stand. Alina drosselte die Geschwindigkeit, als sie den Eingang passierten, und fuhr im Schritttempo einen geschotterten Weg zum Haupthaus empor.

Es fühlte sich an, als würden sie quer durch die Zeit reisen und plötzlich ein anderes Jahrhundert betreten. Die Auffahrt führte in einem sanften Bogen einen kleinen Hügel empor. Rechts und links erstreckten sich gepflegte Blumenbeete, die symmetrisch im Park angeordnet waren und ein weitläufiger Garten mit gestutzten Hecken, die die Form verschiedener Tiere hatten, hauptsächlich Fische und Meereslebewesen. Hier und da plätscherte Wasser in kleinen Brunnen oder künstlich angelegten Bächen. Vögel trällerten in den Wipfeln der Bäume, Schmetterlinge flatterten zwischen den Blumen umher und Eichhörnchen und andere Tiere huschten über den Rasen. Fast glaubte Lily elegant gekleidete Damen mit ausgebreiteten Schirmchen zu sehen, die durch die schmalen Pfade flanierten und sich heimlich mit ihren Kavalieren trafen.

„Wie eine andere Welt, nicht wahr?“, riss Alina sie aus den Gedanken. „Aldwyn liebt es, dem vergangenen Jahrhundert Leben einzuhauchen und seine Besucher zu faszinieren.“

„Wieso?“

„Weil er diese Epoche geliebt hat und es noch immer tut. Ich finde diese kleine Macke sympathisch.“ Sie deutete auf das mehrstöckige Gebäude, das sich vor ihnen in den Sommerhimmel reckte. „Das ist das Haupthaus und der Sitz des hohen Rates.“

„Wieso wurde nie über diesen Ort berichtet? Die Presse müsste sich doch überschlagen, wenn …“

„Wenn sie es wüssten? Glaubst du ernsthaft, Aldwyn würde zulassen, dass hier eine Horde Journalisten durchtrampelt?“ Alina zwinkerte ihr zu. „Natürlich schützt er sein Domizil mit Zaubern. Nur diejenigen, die erwünscht sind oder über entsprechende Fähigkeiten verfügen, sind in der Lage, das Anwesen zu betreten. Alle anderen sehen hier nur Bäume und Sträucher. Manchmal laufen Wanderer geradewegs durch das Haus, ohne zu registrieren, wo sie sind. Aldwyn macht sich einen Spaß daraus, sie zu erschrecken, indem er ihnen Worte ins Ohr flüstert.“ Sie lachte und hielt in der Nähe einer großen Freitreppe, die zum Eingangsportal führte.

„Der mysteriöse Geisterwald?“, fragte Lily tonlos. In der Schule machten Geschichten über diesen Teil des Waldes die Runde und er war zu einem beliebten Element für Mutproben in den unteren Klassenstufen geworden.

„Richtig.“ Alina öffnete die Autotür und atmete auf, als eine frische Brise ins Auto wehte. „Du hast eine andere Welt betreten, als wir das Tor passierten.“

Lily nickte sprachlos. Warum hatte Radu nie von den Eigenheiten und der Magie dieses Ortes berichtet? All die Beschreibungen des Anwesens waren zweitrangig, wenn es sich um einen verzauberten Ort handelte.

Wahrscheinlich wollte Alina nicht, dass du danach suchst. Adrian legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Das hätte ich nicht“, flüsterte Lily.

Oh doch. Du bist viel zu neugierig, um eine solche Geschichte zu ignorieren. Ich wette, dass Alina den anderen verboten hat, dir mehr über Aldwyns Anwesen zu verraten, damit du nicht losstapfst und suchend durch den Wald streifst. 

Lily musste ihrem Schutzengel recht geben.

Sie schob die Gedanken beiseite und gesellte sich zu Alina, die vor der Treppe auf sie wartete. Das Hauptgebäude mochte fast zwanzig Meter lang sein und die verspielten Türmchen und Giebel verliehen ihm den Hauch eines Märchenschlosses. Der gelbe Putz wirkte makellos, als sei er frisch saniert worden. Fünf gewaltige Säulen trugen ein steinernes Vordach, das die gesamte Treppe überspannte und mit stilisierten Fischen, Krebsen und Seesternen geschmückt war. Efeu rankte sich an der Fassade bis zum Dach hinauf und fiel wie ein natürlicher Vorhang vor einige Fenster des Erdgeschosses. 

Als Wind den schweren Duft von Rosen zu Lily hinüberwehte, entdeckte sie üppige Rosenbüsche, die am Sockel des Hauses gepflanzt waren. Die Blüten strahlten in einem satten Rot und wirkten so prächtig, dass Lily sie beinah für Plastikblumen hielt, wenn nicht Bienen und Schmetterlinge zwischen den Rosen umhergeflogen wären. Ein beständiges Summen erfüllte die Luft, begleitet vom Rauschen des Windes und dem lauten Gezwitscher der Vögel. 

Lily schwindelte. Die Hitze setzte ihr zu, ebenso der betäubende Duft der Rosen. All diese Pracht war zu viel für ihre Sinne. Überall gab es etwas zu sehen, zu hören und zu riechen; und ihr Gehirn kam gar nicht mehr hinterher, all diese Eindrücke zu verarbeiten.

Mit geschlossenen Augen zählte Lily bis zehn und horchte in sich hinein. Aldwyns Magie musste die Schönheit des Anwesens hervorheben, um unvorsichtige Menschen zu verzaubern oder junge Jäger wie sie zu testen. Immerhin war er ein Feenwesen und diese waren für ihre Blendzauber bekannt. Sie durfte sich von diesem Ort nicht ablenken lassen, sondern musste sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag – die Zeremonie.

Als sie die Lider hob, wirkte die sommerliche Schönheit des Gartens mit einem Mal weniger einladend auf sie. Die Blumen schienen an Farbe verloren zu haben, das Licht wirkte gedämpfter und der Duft der Rosen weniger intensiv. Lily schüttelte die letzten Reste des Zaubers ab, der sie gefangen gehalten hatte.

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel zog ihren Blick zu einem der Fenster im ersten Stock. Die Silhouette eines schlanken Mannes zeichnete sich an einem geöffneten Fenster ab, doch er zog sich sofort zurück, als er bemerkte, dass Lily ihn entdeckt hatte.

„Ein schönes Haus, oder?“, riss Alina sie aus ihren Beobachtungen. Ihre Meisterin hatte das hölzerne Portal bereits erreicht, klopfte jedoch nicht. Hektor stand direkt hinter ihr, den Blick sichernd auf die Umgebung gerichtet. Die Pracht schien ihn überhaupt nicht zu tangieren.

„Ja …“ Lily behielt noch immer das Fenster im Blick, doch ihr unbekannter Beobachter zeigte sich nicht noch einmal. Stattdessen ließ sie den Blick durch den Garten schweifen, während sie ihren Weg fortsetzte. Sie entdeckte einige Atlanten in Form von Meerjungfrauen, die einen wuchtigen Balkon stützten. „Lord Aldwyn beherrscht das Wasser, oder?“

„Das ist offensichtlich, oder? Die kleinen Brunnen im Park sind alle mit Meereswesen verziert und bei den mit Blüten bepflanzen Amphoren bestehen alle Musterungen aus Muscheln und echten Perlen.“

Lily schloss zu ihr auf. Die Eingangstür stand unterdessen offen und ein zierliches Mädchen verneigte sich vor ihnen. „Mein Name ist Ciara. Ich bringe Sie zu meinem Herrn.“ Unter den braunen Locken blitzten rot bepelzte Ohren hervor, als sie aus Katzenaugen zu Lily schielte. Dicht neben ihr stand ein kleiner roter Fuchs, der aus großen goldenen Augen zu ihr aufsah.

Alina klopfte Lily zuversichtlich auf die Schulter.

Gemeinsam betraten sie das Haupthaus. Weiße Bodenfliesen und terracottafarbene Wände verliehen der Eingangshalle ein sonniges Flair. Verwachsene Bäume und bunte Blumen säumten die hohen Wände, wuchsen an einigen Stellen bis zur Decke und verzierten den Raum, wie es in anderen Häusern Gemälde und Teppiche taten. Ciara steuerte rasch eine Treppe an, die in den ersten Stock führte, und Alina zog sie am Arm hinter sich her. Dennoch hatte Lily Mühe, Schritt zu halten. Zu einnehmend waren all diese Wunder, die es in den Korridoren zu entdecken gab. Die Natur beherrschte die Räumlichkeiten und Flure, und je tiefer sie ins Innere der Villa kamen, desto mehr glich Aldwyns Anwesen einem Urwald. Schmetterlinge und Kolibris flatterten an ihr vorbei und setzten sich auf Leuchter, die wie riesige Blumenkelche aussahen. 

Du verlierst schon wieder den Blick fürs Wesentliche, Lily, mahnte Adrian sie. 

Lily nickte und heftete ihren Blick auf die gemusterten Bodenfliesen. Von diesen schien wenigstens kein Zauber auszugehen, der sie in den Bann schlagen konnte.

„Die Villa eines Feenwesens verzaubert jeden. Ich kann verstehen, dass dich all das fasziniert.“ Alina legte lächelnd eine Hand auf Lilys Schulter. „Deswegen sind sie gefährliche Gegner, die man nicht unterschätzen sollte. Ihre Magie macht sie unberechenbar und sie können sie überall wirken. Du kennst gewiss die Legenden, oder?“

Lily nickte. Es gab unzählige Sagen und Geschichten über das Feenreich, beginnend bei Shakespeares „Sommernachtstraum“, bis hin zu den unzähligen Wikipediaeinträgen über einzelne Kreaturen des Seelie und Unseelie Courts.

„Wir sind da.“ Ciara blieb vor einer großen, hölzernen Tür stehen, die Lily durch ihre strenge Schlichtheit sofort ins Auge fiel. Hinter dieser Tür saß gewiss der Rat und wartete auf sie. Ihre Hände wurden feucht. Mühsam straffte sie die Schultern. Sie durfte den Mitgliedern nicht als schwacher Mensch entgegentreten, sondern als vollwertige Jägerin.

Leicht staubiger Geruch schlug Lily anstelle des süßen Duftes von Lilien und Rosen entgegen, als die Tür aufschwang und sie den Raum betraten. Im Vergleich zu dem leichten Rascheln der Blätter und dem Summen der Insekten auf den Fluren war es hier totenstill. Die holzvertäfelten Wände waren frei von Bildern und Pflanzen, stattdessen nahmen Bücherregale die rechte und linke Seite ein. Die großen Fenster am anderen Ende des Raumes reichten bis zum Boden und standen offen. Leichter Wind bewegte die feinen Gazevorhänge und fuhr raschelnd durch einen Stapel Papier, der auf einem langen Tisch lag. An diesem saßen sie auf hohen, lederbezogenen Stühlen – die Mitglieder des Rates. Sie musterten Lily stumm und im ersten Moment starrte sie einfach nur zurück. Schließlich besann sie sich und grüßte die Anwesenden mit einer leichten Verneigung, wie Alina es ihr vor einigen Stunden gezeigt hatte.

Aus den Augenwinkeln betrachtete Lily die Ratsmitglieder neugierig. Links außen saß ein breitschultriger Mann, der vielleicht Mitte vierzig sein mochte. Unbändige, braune Locken, zwischen denen Federn, Steine und Knochen hervorblitzten, umrahmten sein breites Gesicht. Die tiefliegenden Augen schimmerten golden und um seinen Mund lag ein harter Zug. Neben seinem Ohr verunstaltete eine lange Narbe sein Gesicht. Das musste Phileas, der Anführer der Werwesen, sein.

Zu seiner rechten saß eine menschliche Frau unbestimmbaren Alters. Ihr schwarzes Haar war bereits von grauen Strähnen durchzogen, doch in ihren silbernen Augen loderte ein unbändiges Feuer. Von nun an nahm sie die Position von Lilys direkter Vorgesetzten ein – Adora, die die menschlichen Rechte im Rat vertrat.

In der Mitte hatte der Herr des Hauses Platz genommen – ein zierlicher und wunderschöner Mann, der Lily fast den Atem nahm. Schneeweißes Haar fiel in ein schmales, jugendliches Gesicht und spitze Ohren lugten unter einigen Strähnen hervor. Über den hohen Wangenknochen leuchteten zwei saphirblaue Augen, in denen leiser Spott stand. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, bevor er sich abwandte und seiner Sitznachbarin etwas zuflüsterte. Diese wirkte jünger als Alina, doch ihre dunklen Augen zeugten von Weisheit und verrieten ihr wahres Alter. Aus der kunstvoll hochgesteckten, roten Haarmähne ringelten sich einige Strähnen in ihre hohe Stirn und den Nacken. Als sie lächelte, entblößten ihre vollen Lippen für einen Moment zwei scharfe Zähne. Estera war noch schöner, als Radu sie ihr beschrieben hatte. Lily verstand, warum der Vampir seine Herrin so abgöttisch liebte und verehrte. Mit einer eleganten Bewegung lehnte sie sich zurück und wickelte versonnen eine Haarsträhne um ihre Finger.

Das waren sie also, die vier Mitglieder des Rates, die die Arbeit der Jäger steuerten und den Frieden zwischen den Rassen wahrten.

Plötzlich blieb Lilys Blick an einer weiteren Person hängen. Fünf Vertreter? Unmöglich …

Überrascht hob sie den Blick und musterte den jungen Mann, der auf der rechten Seite der langen Tafel saß. Sein jugendliches Gesicht war hübsch, aber ausgemergelt, und würde er ihr in Straßen des Westends begegnen, Lily würde ihn nicht einmal bemerken. Hier jedoch, zwischen all den außergewöhnlichen Geschöpfen stach er hervor. Er war groß und schlaksig und überragte Estera selbst im Sitzen um fast einen Kopf. Dunkelbraunes Haar fiel vor stechend grüne Augen, die Lily an ein wenig Jade erinnerten. Etwas an seinem Blick kam ihr merkwürdig vor, doch sie konnte nicht sagen, was sie beunruhigte.

Sie schluckte trocken und wollte sich abwenden, als ihr ein verschlungener Anhänger auf seiner Brust ins Auge fiel. Nie zuvor hatte sie etwas Derartiges gesehen. Das silberne Schmuckstück schien in Bewegung zu sein, als schlängelten sich die Ornamente um den blassgrünen Stein, der im Zentrum saß. Ein seltsames Gefühl des Erkennens flammte in Lily auf, doch noch bevor sie nach dem Wissen greifen konnte, verflüchtigte es sich wieder.

Sie schüttelte die abstrusen Gedanken ab. Wer auch immer dieser Mann war, der mit den Ratsmitgliedern am Tisch saß, es war falsch ihn anzustarren, als sei er das achte Weltwunder. In dem Moment trafen sich ihre Blicke und Lilys Herz setzte einen Schlag aus, nur um doppelt so schnell weiter zu schlagen. Was um alles in der Welt war mit ihr los? Wieso brachte dieser Mann sie so aus dem Konzept?

Alles in Ordnung, Lily?, raunte Adrian ihr zu. Mit seinem leuchtenden Körper versperrte er ihr die Sicht auf den Fremden. Normalerweise konnte Lily es nicht leiden, wenn er sich unaufgefordert einmischte, doch dieses Mal begrüßte sie es. Sie atmete tief durch und wandte sich den anderen Ratsmitgliedern zu.

„Ich denke, wir müssen uns nicht vorstellen“, begann Aldwyn, als hätte er nur darauf gewartet, dass sie ihm Aufmerksamkeit schenkte. „Du kennst uns alle gewiss aus den Geschichten deiner Freunde, oder?“

Lily nickte, schielte jedoch unwillkürlich zu dem jungen Mann. Radu, Hannah und der Feenmann Cionaodh, der ebenfalls Alinas Jägerteam angehörte, hatten in all ihren Berichten kein weiteres Ratsmitglied erwähnt. Er war ein Mensch, das spürte Lily sehr deutlich, allerdings umgab ihn eine seltsame Aura, die ihn von Adora unterschied.

„Fragst du dich gar nicht, wo unsere Schutzengel geblieben sind?“

Lily erstarrte. Erst jetzt bemerkte sie, dass die hellen Lichtwesen gar nicht hinter ihren Schützlingen schwebten.

Sie sind nicht hier, flüsterte Adrian. Aber sie sind ganz in der Nähe. 

„Hör auf, sie zu ärgern, Aldwyn.“ Ein leises Lachen begleitete Esteras Worte und sie zwinkerte Lily amüsiert zu. „Es ist doch offensichtlich, dass sie Meister Silas’ Anwesenheit verwirrt.“

‚Silas also …’, schoss es Lily durch den Kopf. Sie spürte, wie ihr vor Scham die Röte ins Gesicht stieg. Man hatte sie durchschaut und es war ihr peinlich, dass die Vampirin es auch noch offen aussprach. Dennoch zwang sie sich zur Ruhe und fragte leise: „Wo sind sie?“

„Wir hielten es für besser, wenn du sie ein andermal kennenlernst.“ Über Aldwyns Gesicht huschte ein kurzes Grinsen und er breitete gönnerhaft die Arme aus. „Wir gratulieren dir zu deiner bestandenen Prüfung.“

„Du hast den gefährlichen Vampir Logan erfolgreich zur Strecke gebracht“, fügte Estera anerkennend hinzu. „Es tut mir sehr leid, dass er dich verletzt hat. Da er in gewisser Weise zu meiner Brut gehört, bin ich für seine Taten verantwortlich. Es ist bedauerlich, dass immer mehr vom rechten Weg abkommen und den alten Riten und Regeln abschwören.“

Lily wagte es nicht, sie zu unterbrechen. Die Vampirin schien sehr zerknirscht zu sein.

„Dafür gibt es die Jägergruppen, meine Liebe.“ Adora erhob sich, schenkte Estera ein kaltes Lächeln und winkte Lily zu sich. Ihre Stimme nahm einen feierlichen Ton an, als sie fortfuhr: „Ab heute bist du einer von ihnen, Lily. Du hast deine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und deine Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Daher erhebe ich dich offiziell in den Rang eines menschlichen Jägers. Ab sofort unterstehst du meinem Befehl oder dem deiner Meisterin Alina. Du bist mir gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet und wirst nichts tun, um meinem Namen zu schaden.“

Lily nickte eifrig.

„Versprichst du, den alten Kodex zu wahren?“

„Ich verspreche es.“

Adora nickte wohlwollend und fuhr fort. Es hörte sich an, als wiederholte sie Worte, die sie bereits hundert Mal gesprochen hatte. „Kein Sterblicher darf von der Existenz der Vampire, Feen- und Werwesen erfahren, das ist unser oberster Kodex. Die Pflicht eines Jägers besteht darin, diejenigen zur Strecke zu bringen, die dieses eiserne Gesetz brechen. Du wirst gegen alle Abtrünnigen kämpfen, die unser sensibles Gleichgewicht stören.“

„Ich werde kämpfen“, sagte Lily wild entschlossen. Darauf hatte sie seit Jahren gewartet.

„Vergiss eine Sache niemals: Auf dir als Mensch ruht eine größere Last, da du dich mit Leuten umgibst, die nichts von alldem wissen. Sei dir stets bewusst, dass du ihnen gegenüber nie etwas verraten darfst – keine Hinweise, keine Warnungen. Ansonsten brichst du selbst den Kodex und wirst vom Jäger zum Gejagten.“

Lily schauderte unwillkürlich. Sie hatte bisher nie von einem Menschen gehört, der in den Fokus des Rats gerückt war. Wenigstens würde sie nicht hinzugezogen werden, wenn es darum ging, einen Menschen zur Strecke zur bringen, sagte doch ein weiteres Gesetz aus, dass Jäger und Gejagte nicht derselben Rasse angehören durften.

„Wenn du alles verstanden hast, tritt näher.“ Adoras Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln und es wirkte nicht einmal aufgesetzt.

Entschlossen setzte Lily einen Fuß vor den anderen und blieb vor dem menschlichen Ratsmitglied stehen. Lediglich die breite Tischplatte trennte sie voneinander. Mit Stolz nahm sie ein versiegeltes, zusammengerolltes Pergament entgegen.

„Mit dieser Lizenz bist du ab sofort berechtigt, in unserem Auftrag solche zu jagen und zu vernichten, die den Kodex brechen, unwissende Menschen bedrohen und unsere Existenz in Gefahr bringen.“

„Ich danke Euch.“ Lily senkte den Blick und registrierte beiläufig, wie Estera verärgert den Kopf in den Nacken warf und das Spielen mit ihrer Haarsträhne einstellte. Aus irgendeinem Grund funkelten die Augen der Vampirin zornig, doch Lily wusste nicht, wieso. Lag es an ihr? Oder konnte sie Adora nicht leiden?

„Wir haben entschieden, dass du aufgrund deines jungen Alters …“ Sie warf einen überheblichen Blick auf Estera und ließ diese Worte einen Moment im Raum stehen. „… vorerst bei Alina und ihrer Gruppe bleiben wirst. Es ist zwar unüblich, zwei menschliche Jäger in einem Team zuzulassen, doch wir denken, dass es besser ist. Du kannst noch viel von Alina lernen und später zu einem passenden Team wechseln.“

„Danke“, flüsterte Lily und verneigte sich leicht, das Pergament an ihre Brust gedrückt.

Adora lachte kurz auf. Es klang wie das rostige Scheppern einer Gießkanne.

Ich wünschte, sie würde dieses überhebliche Gehabe ablegen, flüsterte Adrian. Er stand neben ihr, beobachtete jedoch noch immer den unbekannten Mann. Und ich frage mich, was dieser Mann hier im Rat macht. Sind sie wahnsinnig geworden? Ein seltsamer Unterton beherrschte seine Stimme. Sie klang ungewohnt hart, streng und … angsterfüllt? Am liebsten hätte sie ihn gefragt, was er damit meinte, doch sie konnte jetzt unmöglich das Wort an ihn richten.

Stattdessen folgte sie seinem Blick, um Silas zu mustern. Noch immer starrte er sie an, doch es hatten sich Erkennen und Ungläubigkeit in seine Gesichtszüge geschlichen. Fragen erwachten in ihr und am liebsten hätte sie auch das fünfte Ratsmitglied damit bombardiert.

Mühsam riss sie sich von den seltsamen grünen Augen los und fixierte Adora, die beständig weiter redete. Lily achtete kaum auf ihren Monolog, der sich um die Jagd, die Aufträge und die Pflichten der Jäger drehte. „Damit ist der offizielle Teil beendet“, schloss Adora schließlich. „Auf eine gute Zusammenarbeit.“

Lily ergriff die ihr dargebotene Hand. Mit fester Stimme wiederholte sie die Worte, die Alina ihr eingetrichtert hatte. „Vielen Dank für Euer Vertrauen. Ich werde den Rat nicht enttäuschen.“

Als sie sich mit einer Verneigung abwandte und zu Alina trat, fuhr ihr kalter Schrecken durch Mark und Bein. Adrian war nicht an ihrer Seite, sondern trat zu Silas und musterte ihn ausgiebig. Die Schultern ihres Schutzengels wirkten angespannt, seine Hände zitterten sichtlich. Lily war froh, dass die Begleiter der Ratsmitglieder ihre Schützlinge nicht auf Adrians Verhalten aufmerksam machen konnten. Lediglich Hektor sog scharf die Luft ein und flüsterte Alina etwas zu.

Was bedeuteten Adrians seltsames Gebaren und seine obskuren Worte? Wieso diese offene Feindschaft gegenüber Silas? Zum ersten Mal wünschte sie sich, mit ihrem Schutzengel verbunden zu sein, seine Gedanken und Gefühle lesen zu können.

Kapitel 4 – Eine Feier mit Hindernissen

 

„Wie viel hast du von Adoras Worten mitbekommen?“ Alina warf ihr einen stechenden Blick zu, als sie die Autotür hinter sich zuwarf.

„Also um ehrlich zu sein …“ Lily zögerte und drehte das Pergament in ihren schweißnassen Händen. Sie fühlte sich wie ein Dieb, den man auf frischer Tat ertappt hatte.

„… hast du gar nicht mitbekommen, was sie gesagt hat“, vollendete Alina ihren Satz.

Mit einem leichten Nicken gab sich Lily geschlagen. Es hatte keinen Zweck, ihr etwas vorzumachen. „Du hast recht – ich war nicht ganz bei der Sache.“

„Nicht bei der Sache?“, wiederholte ihre Meisterin entrüstet. „Jeder hat mitbekommen, dass du ihr nicht zugehört hast. Phileas Blicke waren bezeichnend und Estera hast du mit deiner mangelnden Konzentration in die Hände gespielt. Sie und Adora fechten schon so lange diesen Kampf um Macht und Kontrolle aus … Du kannst froh sein, dass Adora weise genug war, dich nicht zurechtzuweisen.“

„Es tut mir leid“, murmelte Lily und wünschte sich, Alina würde losfahren. Sie wollte so schnell wie möglich diesen Ort verlassen und diese grünen Augen vergessen.

„Das sollte es auch!“ Alina schnaubte, drehte den Schlüssel und startete den Wagen. „Vielleicht warst du doch zu jung für die Prüfung.“

Lily schüttelte energisch den Kopf. „Das ist es nicht. Ich war nur überrascht, dass der Rat aus fünf Mitgliedern besteht. Keiner von euch hat mir von diesem Silas erzählt!“ Mühsam schluckte sie ihren Zorn hinunter. Dennoch musste Lily ihrem Ärger ein Ventil geben, sonst würde sie platzen. Sie drehte sich zu Adrian herum, der hinter ihr aus dem Fenster starrte. „Was zum Teufel hast du dir eigentlich dabei gedacht? Bin ich froh, dass dich niemand gesehen hat.“

Ich hab ihn nur ein wenig unter die Lupe genommen, immerhin ist er ein … 

„Ein was?“, hakte Lily nach, als Adrian nicht weiter sprach. Unsicher sah er zu Hektor hinüber, der ihm missbilligende Blicke zuwarf.

„Was hat Addy genau gemacht?“, mischte sich Alina ein, deren Zorn scheinbar verflogen war und von Neugierde ersetzt wurde. „Hektor sagte nur, dass er sich seltsam verhält.“

Er hat sich vor Silas gestellt und ihn so lange gemustert, bis diesem ein Schauder über den Rücken gelaufen ist, beantwortete Hektor die Frage.

„Er hat was?“, fragte Alina entsetzt.

„Er hat dich bemerkt?“, keuchte Lily fast zeitgleich. Sie schlug die Hände vors Gesicht und grub ihre Finger ins Haar. Ob Silas ihn gesehen hatte? Das Gesicht des jungen Mannes hatte unbewegt ausgesehen, doch wer wusste schon, ob er die Fähigkeit des Erkennens nicht doch besaß. Lily sah gewiss ähnlich aus, wenn sie die Schutzengel anderer Menschen ignorierte. Sie hatte früh lernen müssen, an den Begleitern ihrer Freunde und Mitschüler vorbeizusehen und nicht auf ihre Blicke und Fragen zu reagieren.

Musst du ihnen alles auf die Nase binden? Ich wollte nur herausfinden, ob er gefährlich ist. 

Verärgert fuhr ihn Hektor an: Er gehört zum Rat! Wie gefährlich kann er da sein? 

Das kannst du gar nicht beurteilen! Du hast nie … Erneut brach Adrian ab und biss sich auf die Unterlippe.

Ich werde den Rat ja wohl einschätzen können. Immerhin war ich mit Alina regelmäßig hier und … 

„Schluss damit, Hektor“, unterbrach Alina die Ausführungen ihres Schutzengels. „Worum geht es überhaupt? Ich bekomme nur die Hälfte mit.“

Das ist auch besser so, kommentierte Adrian ungerührt und streckte ihr die Zunge heraus.

Was fällt dir ein, du … Erstmals stolperte Hektor über seine eigenen Worte. Du drittklassiger Schutzengel! 

Noch bevor Adrian etwas entgegnen konnte, zischte Lily wütend: „Wenn du jetzt den Mund aufmachst, Adrian, kannst du was erleben!“ Sie funkelte Alina an, die plötzlich nichts Eiligeres zu tun hatte, als Aldwyns Anwesen zu verlassen. „Warum hast du mir verschwiegen, dass es fünf Ratsmitglieder gibt?“

Alina wich ihrem Blick aus und konzentrierte sich auf den Kiesweg. „Ich hätte nicht gedacht, dass er bei deiner Ernennung dabei ist.“

Tolle Erklärung, Alina! Adrian schüttelte missbilligend den Kopf.

Lily fuhr zu ihrem Schutzengel herum und fixierte ihn mit einem strengen Blick. In ihrem Inneren brodelten Wut, Ärger und das Gefühl, dass man sie mutwillig im Dunkeln tappen ließ. Sie hasste es. „Dann mach es besser. Was hast du vorhin gemeint? Warum stellt Silas eine Gefahr für den Rat dar?“

Weil er ein Magier ist. 

Lilys Gedanken wirbelten durcheinander. Silas war ein Magier? Er gehörte zu den Menschen, die mit Hilfe der Energie eines Schutzengels zauberten? Lily hatte bisher nur wenig von ihnen gehört, zumeist schwieg sich Alina über dieses Thema aus, da Magier im Allgemeinen nicht sonderlich beliebt waren. Dennoch schien ihre Meisterin Nachforschungen über Magier und deren Ordenssysteme anzustellen. Adrian hatte ihr einmal von Akten berichtet, die in Alinas Büro auf dem Schreibtisch lagen, doch er kam nicht dazu, sie durchzustöbern. Hektor hatte ihn erwischt und seitdem waren die Mappen verschwunden.

Eine Gänsehaut überzog Lilys Arme. „Silas ist wirklich …“, presste sie schließlich hervor.

„Adrian hat es dir gerade gesagt, oder?“, fragte Alina, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. „Wie ich schon sagte, ich habe nicht gedacht, dass er anwesend ist. Du musst wissen, dass die Sache mit ihm eine Art Test ist. Normalerweise haben Magier keinen Anspruch auf einen Sitz im Rat. Da die Zusammenarbeit mit dem Orden Tenebrae seit einiger Zeit gut läuft, räumte man dem Versuch einer dauerhaften Zusammenarbeit eine Chance ein. Silas ist seit drei Jahren Ratsmitglied auf Probe.“

Adrian schnappte hörbar nach Luft, doch als Lily sich umdrehte, starrte er unverwandt aus dem Fenster. Er wirkte blasser, doch Lily war sich nicht sicher, immerhin bestanden die meisten Schutzengel aus Licht. Sie richtete ihren Blick auf die Platter Straße, die sie hinunter fuhren, und murmelte: „Drei Jahre … Du hättest es mir wirklich früher erzählen können.“

Alina atmete hörbar aus und krampfte ihre Finger so sehr um das Lenkrad, dass ihre Fingerknöchel weiß hervorstachen. „Da gibt es nicht so viel zu erzählen. Silas ist zwar der erste Magier innerhalb eines Rates, doch wirklich oft bekommt man ihn nicht zu Gesicht. Er hält sich zumeist im Hintergrund.“

Lily schwieg und beobachtete die vorbeihuschenden Bäume, die zu grünen Schlieren gerannen. Mit geschlossenen Augen rief sie sich Silas in Erinnerung. Je länger sie über den Magier nachdachte, desto weniger gefährlich wirkte er. Zapfte er wirklich die Seelenenergie der Schutzengel an, um zu zaubern? Er wirkte überhaupt nicht wie die mächtigen Zauberer, die sie aus Fantasyromanen und Filmen kannte. „Können Magier eigentlich die Schutzengel aller Lebewesen sehen?“, fragte Lily aus einem Impuls heraus.

„Nein, es sei denn, sie besitzen die Gabe des Erkennens. Allerdings müssen sie fremde Schutzengel nicht sehen, um ihnen ihre Energie zu rauben. Das Wissen, dass sie da sind, genügt ihnen, um Magie zu wirken.“

Lily wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte, dass Silas Adrian nicht sehen konnte, oder nicht. Das nagende Gefühl der Unsicherheit blieb in ihrer Brust. Er hatte Adrians Musterung mitbekommen. Lag das daran, dass er ihn für seine Zauberei benutzen konnte? Spürte er ihn ganz instinktiv? „Ist es nicht gefährlich, so jemanden in den Rat zu holen?“, fragte sie, um wenigstens eine Antwort auf ihre vielen Fragen zu erhalten.

„Ungefährlich ist es nicht, aber es bietet uns auch einige Vorteile. Der Rat erfährt mehr über die Macht, die ein Orden innehat und kann gleichzeitig dessen Aktivitäten kontrollieren.“

„Ist der Orden denn gefährlich?“

Alina hob die Achseln. „Ich weiß es nicht. Nur weil sich Silas‘ Orden ruhig verhält und kooperativ ist, würde keiner den Magiern dort vollständig vertrauen. Die Angst existiert immer noch in unseren Köpfen, doch vielleicht ist der Versuch, Silas einen Platz im Rat zu gewähren, ein Schritt in die richtige Richtung.“ Sie sah zu Lily und tätschelte ihr Knie. „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Das ist hohe Politik und kümmert uns einfache Jäger nicht. Sonderlich oft wirst du sowieso nicht auf Silas treffen.“

Alinas Worte hinterließen einen kurzen Stich in Lilys Brust, gefolgt von einer unangenehmen Leere, die sie nicht einordnen konnte. Ohne dass sie es verhindern konnte, rutschte ihr eine Frage heraus, die ihr die Röte ins Gesicht trieb: „Ist Silas wirklich gefährlich?“

Jeder Magier ist gefährlich! Adrians Stimme klang eisig und unbeschreibliche Abscheu flammte in seinen hellen Augen. Nie zuvor hatte sie Adrian derart hasserfüllt gesehen. Woher kam diese Abneigung, dieser Zorn? Lily konzentrierte sich auf ihr gemeinsames, mentales Band, um mehr von den Beweggründen ihres Schutzengels zu erfahren, doch sie schien gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Adrian verwehrte ihr den Zutritt zu seinen Gedanken, ebenso wie er es tat, wenn sie den Versuch startete, mehr über ihre Kindheit zu erfahren. Wieso blockte er bei diesen beiden Themen so vehement ab? Gab es zwischen ihrer Vergangenheit und den Magierorden eine Verbindung?

Sie hatte das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein, doch es mangelte ihr an weiteren Informationen. Sie musste mehr über Magier herausfinden! Vielleicht kam sie dann endlich mit der Recherche über ihre Familie weiter.

„Ich denke nicht, dass er so gefährlich und verdorben ist, wie manch anderer Magier“, antwortete Alina verspätet auf Lilys Frage. „Er ist noch jung. Vielleicht hat er den alten Riten seines Ordens abgeschworen und einen neuen Weg eingeschlagen.“

 

Während der restlichen Autofahrt nahm niemand mehr Bezug auf Silas oder die Tatsache, dass ein Magier im Rat saß. Alina fasste Adoras Rede zusammen und Lily lauschte den Worten dieses Mal konzentrierter. Dennoch drehten sich ihre Gedanken immer wieder um Silas, obwohl sie nicht wusste, was sie so sehr an diesem Mann faszinierte.

Schließlich lenkte Alina sie erfolgreich von den Ereignissen des Vormittages ab, indem sie von ihrem nächsten Auftrag berichtete. Eine Gruppe Werwölfe machte des Nächtens ein kleines Waldstück im Taunus unsicher. Alinas Team sollte die Werwesen stellen und ihren Anführer zum Rat bringen, damit er sich für die Taten seines Rudels verantwortete. Erst wenn eine derartige Aufforderung ignoriert wurde oder man den Jägern feindlich gegenübertrat, wurde das Rudel zur Jagd freigegeben.

„Ein guter Auftrag für deine erste richtige Mission“, sagte Alina und bog in den Zietenring ein. „Du wirst uns unter die Arme greifen und deine Fähigkeiten steigern können. Adora ist zuversichtlich, dass du bald ein eigenes Team leiten kannst. Sie ist stolz auf dich. Was meinst du, warum sie zu deiner Ernennung den gesamten Rat zusammengerufen hat?“

Lily sah sie überrascht an. „Ist das nicht normal?“

„Natürlich nicht – eigentlich reicht es, wenn du vor dem Ratsmitglied erscheinst, dem du verpflichtet bist. In deinem Fall hättest du Adora getroffen und von ihr die Lizenz erhalten.“

„Aber warum …“

„Sie wollte Estera vorführen und ihr beweisen, dass eine außergewöhnliche Jägerin zu ihren Leuten gehört.“ Ein Schmunzeln huschte über Alinas Gesicht, während sie den roten Fiesta an der Leibnizschule vor einigen Glascontainern parkte. „Ein weiterer Grund, weswegen ich dir nichts von Silas erzählt habe.“

Ein Schauder rieselte über Lilys Rücken. War sie in Adoras Augen wirklich außergewöhnlich? Mit stolz geschwellter Brust stieg sie aus. Die Hitze des Tages traf sie wie ein Schlag und binnen weniger Sekunden stand ihr Schweiß auf der Stirn. Bei der Aussicht, ihren Geburtstag und ihre Ernennung in der stickigen Hitze der Dachwohnung zu feiern, seufzte sie. Vielleicht sollten sie sich in das Eiscafé Cortina an der Dotzheimer Straße flüchten.

Adrian glitt durch die geschlossene Tür und schwebte an ihre Seite. Er wirkte noch immer verärgert, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen. „Was ist los mit dir?“, raunte sie ihm zu. „Du übertreibst ein bisschen.“

Ich kann Magier nicht ausstehen. 

Lily biss sich auf die Unterlippe. Ob sie einen weiteren Anlauf starten sollte, mehr aus ihm herauszukitzeln? Vielleicht konnte sie ihn indirekt aushorchen, wenn sie ihre Fragen geschickt verpackte.

„Wieso? Hast du schlechte Erfahrung mit ihnen gemacht?“

Adrian stockte. Er schien über ihre Frage nachzudenken und in Lily erwachte das Gefühl, das sie einen wunden Punkt erwischt hatte. Schließlich wandte er sich schulterzuckend ab. Sie sind einfach gefährlich. Jeder Schutzengel fürchtet sie. 

„Du weichst meiner Frage aus. Dabei dürfen Schutzengel nicht lügen.“ Lily wusste, dass sie Adrian damit in die Ecke drängte, doch eine innere Stimme wisperte ihr zu, dass sie jetzt nicht nachlassen durfte.

Ich lüge nicht. Ich weiß einfach nur, wozu Magier in der Lage sind. Adrian wandte sich ab und legte seine Flügel schützend um sich, um Lily keinen direkten Blick auf sein Gesicht zu gewähren.

„Woher?“

Es betrifft dein früheres Leben und darüber darf ich nicht sprechen. Die Worte kamen ihm verdächtig schnell über die Lippen, wenn man bedachte, dass er über derartige Dinge nicht sprechen durfte. Dass eine Seele mehrere Wiedergeburten durchlief, war ihr bekannt. Es war die erste Lektion, die Alina ihr beigebracht hatte. Ein Schutzengel begleitete eine Seele durch mehrere Leben. Er brachte sie nach jedem Tod zurück zum Kreislauf der Wiedergeburt und blieb an ihrer Seite, wenn sie auf die Erde zurückkehrte. Nur die Begleiter erinnerten sich an jede einzelne Inkarnation, an jedes Leben, das sie an der Seite ihrer Schützlinge gelebt hatten. Sie wussten, was die Seele schon einmal gesehen und erlebt hatte. Allerdings blieb dieses Wissen ein Geheimnis. Sie sprachen nie darüber. Lily hatte vor Jahren versucht herauszufinden, wer sie in ihrem vorherigen Leben gewesen war, doch Adrian hatte ihr nicht einmal verraten, ob sie Mann oder Frau, Mensch oder Vampir war.

Lilys Verärgerung verpuffte schlagartig. War sie einst durch die Hand eines Magiers gestorben? Oder hatte ein Zauberer Adrians Seelenenergie für seine dunklen Künste missbraucht? Das würde seinen Hass auf Magier erklären.

„Also hat eine meiner Inkarnationen einmal eine schlimme Erfahrung mit Magiern gemacht?“

Adrian schwieg.

„In Ordnung, das muss ich wohl als Antwort akzeptieren. Dennoch wäre es schön, wenn du dich zukünftig nicht so extrem verhalten würdest. Silas ist nun einmal ein Ratsmitglied, ob Magier oder nicht.“

Sei einfach vorsichtig in seiner Nähe, Lily. 

Sie nickte.

Alina umrundete den Wagen und legte eine Hand auf Lilys Schulter. Dennoch richtete sie ihre folgenden Worte an Adrian: „Hör auf, dir Sorgen um Lily zu machen, Addy. Silas bekommt ihr in den kommenden Wochen wahrscheinlich nicht mehr zu Gesicht. Selbst ich sehe ihn nur selten, wenn ich in Aldwyns Palast bin.“

Dann bin ich beruhigt. 

Gemeinsam überquerten sie den stark befahrenen zweiten Ring, eine der Hauptverkehrsstraßen Wiesbadens, und bogen in die Büllowstraße ab. Die quirlige Nachbarin aus dem ersten Stock, die gerade auf dem Weg zur Bushaltestelle war, grüßte sie freundlich und eine Gruppe Kinder tobte an ihnen vorbei Richtung Blücherspielplatz. Die brennende Sonne schien ihnen gar nichts auszumachen und Lily beneidete sie um ihre Energie. Sie selbst fühlte sich ausgelaugt und erschöpft.

„Du bist nicht in Partylaune, oder?“

Lily fuhr erschrocken herum. Wenige Meter entfernt lehnte Hannah an der Hauswand, die Arme lässig vor der Brust verschränkt. Sie trug ein ärmelfreies schwarzes Top, das einen Blick auf ihre muskulösen, tätowierten Oberarme freigab, und weite Stoffhosen. Aus wilden Augen funkelte sie zu ihnen hinüber. Ihre schulterlangen braunen Haare waren ungewohnt ordentlich und ihr katzenhaftes Gesicht wirkte so braun, als käme sie von einem dreiwöchigen Karibikurlaub zurück. Zumindest wirkte sie erholt genug.

„Hannah!“ Alina warf einen hektischen Blick auf die Uhr. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder – du bist nicht nur pünktlich, sondern fast eine Stunde zu früh dran!“

„Ich will doch unserem Geburtstagskind vor Radu gratulieren.“ Sie grinste schelmisch und entblößte zwei scharfe Eckzähne. Mit wenigen Schritten war sie bei Lily und zog sie in eine herzliche Umarmung. „Alles Gute zum Geburtstag, meine Kleine!“

„Danke.“ Der Geruch nach Erde und Blumen stieg Lily in die Nase, als sie die freundschaftliche Geste erwiderte. Sie schielte zu Charon, Hannahs Schutzengel. Er war kräftig und überragte sie um mehr als einen Kopf. Seine langen Klauen waren das Markanteste an ihm. Charon wirkte wesentlich älter als Adrian und Hektor, insbesondere, da graue Strähnen sein schwarzes Haar durchwebten. Ein Lächeln zierte sein bärtiges Gesicht und vertiefte die wettergegerbten Falten um seine goldenen Augen.

Lily wusste, wozu Charon in der Lage war, wenn er von Hannah Besitz ergriff. Nur ein einziges Mal hatte sie die Verwandlung ihrer Freundin in einen Werwolf miterlebt und es war sowohl erschreckend als auch faszinierend.

Meinen Glückwunsch, Lily! Ein breites Lächeln huschte über Charons Lippen. Er musterte Adrian einen Moment. Spott glomm in seinem Blick auf, als er ihn mit einem Schlag auf die Schulter begrüßte, der Lilys Schutzengel beinah in die Knie zwang.

„Achtzehn Jahre! Wie fühlt man sich als Volljährige?“ Hannah stutzte und ihre Augen weiteten sich. „Dieser Ring!“

„Lily hat gestern Nacht die Prüfung abgelegt und bestanden“, erklärte Alina beiläufig, ergriff Lilys Hand und lotste sie auf ein heruntergekommenes Jugendstilgebäude zu. Hannah folgte ihnen sofort.

„Wieso hast du uns nichts davon erzählt, Alina? Wir wollten ihr doch helfen.“

„Genau deswegen habe ich euch nichts gesagt. Ihr hättet Lily nur nervös gemacht.“ Alina schloss die hölzerne Eingangstür des Wohnhauses auf. Gemeinsam erklommen sie die vier Etagen bis unters Dach. „Es war besser so. Ihr hättet nur die Prüfung gestört und den Kampf gegen Logan behindert.“

„Logan? Der Vampir, den wir morgen Abend zur Strecke bringen wollten?“

„Ja, Lily hat hervorragende Arbeit geleistet.“

„Deswegen wolltest du dich nicht darum kümmern, als der Auftrag 'reinkam.“ Ein leises Grollen entrang sich Hannahs Kehle. „Und uns hast du weisgemacht, dass du Lilys Geburtstag vorbereiten musst.“

Bevor Alina antworten konnte, mischte sich Lily in den anbahnenden Streit. „Sei nicht böse, Hannah. Wir sollten feiern, statt zu streiten.“

Hannah strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und nickte widerwillig. „In Ordnung. Du hast bestanden, das ist das Wichtigste. Scheint so, als hätte Adrian gute Arbeit geleistet.“

Wieso geht jeder davon aus, dass ich meinem Schützling nicht ordentlich beistehen kann? Hoch erhobenen Hauptes schwebte Adrian durch die geschlossene Wohnungstür, bevor Alina aufschließen konnte.

„Er hat wirklich gute Arbeit geleistet.“ Für einen Moment überlegte Lily, ob sie von der kleinen Episode erzählen sollte, bei dem ihre High Heels und eine Wurzel die Hauptrolle spielten, doch sie entschied sich dagegen. Auf Hannahs sorgenvolle Miene konnte sie verzichten.

Lily ignorierte die abgestandene Luft, die ihr im Flur entgegenschlug. Adrian war nirgends zu sehen, wahrscheinlich hockte er in ihrem Zimmer und war wegen Hannahs Worten beleidigt.

„Und, was hältst du von Adora?“, fragte die Werwölfin neugierig und schlüpfte aus ihren schweren Springerstiefeln. Kurz streckte sie die Nase in die Luft und grinste. „Lilien und Kaffee, war ja klar.“

„Faszinierend, geheimnisvoll und ein wenig seltsam.“ Gemeinsam betraten sie die Küche und Lily angelte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Gierig trank sie und reichte sie an Hannah weiter. „Dennoch bin ich ein bisschen sauer auf euch.“

„Wieso?“

„Weil ihr nie von Silas erzählt habt.“

Ein keuchendes Husten erklang, als Hannah sich verschluckte.

„Wow. Also hast du den Magier kennengelernt, der im Rat vertreten ist.“ Hannah flüchtete sich in ein unschuldiges Lächeln und reichte die Flasche an Alina weiter, die soeben die Küche betrat. „Er sieht harmlos aus, oder? Wie ein Bonsai neben einer stattlichen Eiche, wenn man ihn und Phileas nebeneinander sieht.“ Bewunderung und Respekt schwangen in Hannahs Worten mit. Sie verehrte ihren Anführer und war ihm treu ergeben.

„Du und deine Vergleiche.“ Alina lachte und klopfe ihr spielerisch auf die Schulter. „Bonsai und Eiche …“

Hannahs Miene verdüsterte sich. „Das trifft allerdings nur auf ihr äußeres Erscheinungsbild zu. Man erzählt sich ja schreckliche Geschichten. Einem solchen Gegner möchte ich nie gegenüberstehen.“

 

„Hier steckst du also!“

Lily huschte in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie atmete auf und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Die Hitze des Tages hielt sich hartnäckig in der kleinen Wohnung, obwohl es fast Mitternacht war und alle Fenster weit offen standen. Die frische Luft reichte nicht, um die Mischung aus Essensdüften, Zigarettenrauch und Schweiß zu vertreiben, die eine feuchtfröhliche Geburtstagsparty mit sich brachte. Nicht nur sie schien zu feiern. Lautstarke Gespräche und Gelächter wehten durch das Fenster von einem der Hinterhöfe herein.

Als Adrian nicht antwortete, plapperte Lily, angeheitert vom übermäßigen Genuss von Sekt und Rum-Cola, munter weiter: „Ich brauche wirklich mal eine Auszeit vor Radu. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass er noch aufdringlicher wird, doch scheinbar ist meine Volljährigkeit wie ein Freifahrtschein für ihn, um mich noch stärker anzugraben.“ Leichtfüßig trat Lily zu ihm ans offene Fenster und sog die kühle Nachtluft ein. Sofort klärte sich ihr Kopf und sie fühlte sich sicherer auf ihren Beinen.

Du bist betrunken, stellte Adrian unumwunden fest.

„Schon möglich. Warum kommst du nicht mit rüber? Sonst lässt du dir doch auch keine Chance entgehen, um Radu zu sehen. Bis auf Sorcha ist außerdem kein anderer Schutzengel im Zimmer.“ Cions Seelentier, eine rotgestreifte Katze, lag schon den ganzen Abend lang träge auf der Sofalehne und schien trotz des Lärms zu schlafen. Lediglich wenn ihr Schützling sie streichelte oder Hannah ihr ein Stückchen Wurst anbot, erwachte Sorcha schnurrend. Für Lily war es immer wieder überraschend, dass jeder die Schutzengel der Feen sehen und berühren konnte. Sie stellten in dieser Beziehung eine große Ausnahme dar. „Die tummeln sich alle in Alinas Büro und studieren die Akten für den morgigen Fall“, fügte sie nach einer Weile hinzu.

Ich habe keine Lust. Adrian blickte nachdenklich aus dem Fenster zum Sternenhimmel hinauf. Sein Haar bewegte sich in dem ewigen Wind, der ihn zu umgeben schien, und verbarg immer wieder seine hellen Augen.

„Was ist los, Addy? So kenne ich dich gar nicht.“ Lily stützte sich auf das Fensterbrett und überblickte Wiesbaden. Sie konnte bis zur Marktkirche sehen, wenn sie sich weit genug aus dem Fenster lehnte. „Haben Hektor und die anderen dich schon wieder geärgert?“

Nein, das ist es nicht. Ich will dir nur nicht den Geburtstag vermiesen. Irgendwie bin ich nicht so sehr in Partystimmung und Radu …“ Er seufzte schwer und schloss die Augen. Lily ahnte, worauf dieser offene Satz abzielte. Die Gefühle, die Adrian hegte, waren hoffnungslos zum Scheitern verurteilt, ein Happy End unmöglich.

„Schon in Ordnung. Den Part mit dem Vermiesen übernimmt gerade Radu und er ist ziemlich gut darin.“ Sie lachte freudlos auf und biss sich auf die Unterlippe, als sie erkannte, welch ungünstige Worte sie gewählt hatte.

Dennoch schenkte Adrian ihr ein kurzes Lächeln. Er kann die Blicke kaum von dir lassen, nicht wahr? 

„Du kennst ihn ja.“

Der Engel nickte. Wegen der Sache mit dem Magier … 

„Lass gut sein, Addy. Ich verstehe schon, dass du mir nichts verraten darfst, wenn da mein früheres Leben mit reinspielt.“ Adrian zuckte zusammen und setzte schon zu einer Antwort an, die Lily mit einer Handbewegung abwehrte. „Ist zwar kein schönes Gefühl, so in der Luft zu hängen, aber weißt du was …“

Was? 

„Ich vertraue dir.“ Sie tastete nach seiner Hand, die auf dem Fensterbrett ruhte. Wirklich berühren konnte sie ihn nicht, doch in diesem Moment zählte die Botschaft.

Danke.

„Gehen wir zu den anderen.“

Ich weiß nicht … 

Lily schob die tristen Gedanken endgültig beiseite. „Nichts da! Du hast jetzt lange genug wie ein Trauerkloß in meinem Zimmer gesessen. Heute ist mein Geburtstag und ich möchte dich dabei haben.“

 

Aus dem großen Wohnzimmer klang fröhliches Gelächter, als Lily mit Adrian im Schlepptau zurückkehrte. Niemand schien ihre Abwesenheit bemerkt zu haben, mit Ausnahme Radus, der sofort zu ihr sah. Seine dunklen Augen verengten sich für einen Moment und er lächelte. Der geflochtene Zopf seines schwarzen Haares lag über seiner Schulter; lediglich eine vorwitzige Strähne lockte sich in sein blasses Gesicht. Mit einer eleganten Bewegung deutete er auf den freien Platz neben sich und schlug die Beine übereinander. Das Weinglas in seinen Händen war leer, doch er spielte gedankenverloren damit, als wollte er seine feingliedrigen Finger und seine Geschicklichkeit damit zur Geltung bringen. Er entsprach dem typischen Bild des Vampirs so sehr, dass es fast schon klischeehaft wirkte.

Lily kannte niemanden, der sich so perfekt in Szene setzen konnte, ohne dass es albern wirkte. Sie dachte an Radus literarische Verwandte: Bram Stokers ‚Dracula’, Anne Rices ‚Armand’. Die Eleganz und das überhebliche Gehabe bildeten einen festen Bestandteil ihres Charakters. Bis auf die Feenwesen gab es keine Rasse, die so arrogant auf die Welt hinabblickte. Wahrscheinlich war das der Grund, weswegen Radu eine Abfuhr ihrerseits nicht akzeptierte und es immer wieder versuchte. Er begriff nicht, dass es Menschen gab, die seinem Charme widerstehen konnten und keinerlei Interesse an ihm hegten.

Dafür hatte Radu Adrian unwissentlich voll und ganz verzaubert. Bereits jetzt klebten die Augen ihres Begleiters an der erhabenen Erscheinung des Vampirs. Wie erwartet war seine schlechte Laune und Niedergeschlagenheit wie weggeblasen. Ein seliges Grinsen schlich sich auf Adrians Lippen und Lily glaubte fast, Herzchen in den Augen ihres Schutzengels zu sehen.

„Komm schon“, formten Radus fein geschwungenen Lippen tonlos und er klopfte auf den freien Platz zwischen sich und Alina.

Lily warf Cionaodh einen verärgerten Blick zu, der mit den Augen rollte und die Schultern hob. Vor zehn Minuten hatte der Feenmann noch neben dem Vampir gesessen, doch dieser musste seinen Freund davon überzeugt haben, den Platz zu räumen.

Cionaodh ging Lily nur bis zur Schulter, doch in ihm loderten Feuer und Temperament. Sein kurzes rotes Haar stand in alle Richtungen ab und riesige blaue Augen dominierten sein fein geschnittenes, hochwangiges Gesicht. Manchmal wirkte Cionaodh wie ein Mädchen und er nutzte seine feminine Ausstrahlung, um seine Feinde an der Nase herumzuführen.

Lily gab sich geschlagen und schob sich an dem Sessel vorbei, den Hannah für sich eingenommen hatte.

„Wo warst du denn so lange?“, erkundigte sich Radu, als Lily sich neben ihm niederließ. Seine scharfen Eckzähne blitzten auf, als er grinste. Im Vergleich zu Hannahs wirkten sie im elektrischen Licht tatsächlich gefährlich.

„Ich hab nur Addy geholt.“ Lily ignorierte ihren Schutzgeist, der sich auf der Sofalehne niederließ, um Radu aus nächster Nähe anzuschmachten. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Adrian hierher zu holen. Jetzt konnte sie sich noch weniger auf ein Gespräch konzentrieren, da ihre Blicke immer wieder zu ihm wanderten.

„Ich habe gar nicht mitbekommen, dass er nicht hier war.“ Der Vampir schmunzelte über seinen eigenen Witz.

Lily rollte mit den Augen. „Sehr witzig.“

„Morgen gehen wir zum ersten Mal gemeinsam auf Jagd“, schnitt Radu ein anderes Thema an. „Alina hat erzählt, dass wir es mit einem Rudel Werwölfe zu tun bekommen. Damit ist Hannah dieses Mal wohl außen vor.“

Lily warf einen nachdenklichen Blick auf Hannah. Nachdem sie erfahren hatte, dass es in ihrem nächsten Auftrag um Werwesen ging, hatte sie sich zurückgezogen und beteiligte sich kaum an den Gesprächen.

„Von einer Jagd ist noch keine Rede, Radu!“, mischte sich Alina mit scharfer Stimme ein. „Wir sondieren lediglich die Lage und erstatten dem Rat Bericht. Hoffen wir, dass ihr Anführer zu Gesprächen bereit ist und die Angelegenheit friedlich geklärt werden kann.“

„Das hoffe ich natürlich auch“, sagte Radu spöttisch und prostete Hannah zu, die ihn finster anstarrte. „Aber wir wissen alle, wie unzugänglich Werwesen sein können.“

„Wenn sie sich mit so überheblichen Vampiren wie dir abgeben müssen, ist es ja kein Wunder, dass sie lieber zuschlagen“, knurrte Hannah.

Radu schlug theatralisch die Hand vor die Brust. „Deine Worte treffen mich tief.“

„Schluss jetzt!“ Alina unterband jedes weitere Wort mit einer herrischen Handbewegung. „Halte dich zurück, Radu. Meine Geduld hat Grenzen. Cionaodh wird sowieso den Hauptteil der Arbeit übernehmen und mit etwas Glück kommen wir anderen nicht einmal zum Einsatz. Laut Adora halten sie sich im Wald auf und das fällt in sein Spezialgebiet.“

Cionaodh nickte. „Die Bäume werden mir sagen, wo sie ihr Lager aufgeschlagen haben.“

„Was wird ihnen eigentlich zur Last gelegt?“, fragte Hannah.

„In der Nähe tauchen vermehrt übel zugerichtete Tierkadaver auf, was natürlich die gegenwärtigen Förster und die Menschen aufmerksam macht. Der Rat vermutet, dass das Rudel mit der Sache zu tun hat, das Wild entweder vermehrt reißt oder zu Tode hetzt.“

„Vielleicht irrt sich der Rat. Kein Werwolf reißt aus Spaß an der Freude Tiere und verstreut die Überreste im Wald. Das kann ich mir nicht vorstellen“, schnaubte Hannah.

„Wir haben lediglich den Auftrag bekommen, die Vorfälle zu untersuchen. Noch gibt es keinen direkten Befehl, die Werwölfe unschädlich zu machen. Vielleicht haben sie nichts mit der Sache zu tun und können uns Hinweise geben, wer für die Vorfälle verantwortlich ist. Immerhin müssten sie wissen, was in ihrem Wald vor sich geht.“ Alina ergriff ihr Glas und schwenkte den Wein eine Weile. „Wenn du willst, kannst du einen Blick in die Akten werfen.“

„Das werde ich!“ Hannah ballte die Hände zu Fäusten. Sie tat Lily leid. Es war offensichtlich, dass ihr als Werwolf die Sache zu Herzen ging.

Ein seltsamer Fall, ertönte plötzlich Adrians Stimme dicht an Lilys Ohr. Sie zuckte zusammen und sah fragend zu ihm. Ihr Schutzengel war wie ausgewechselt. Er ignorierte Radu und hatte sein verliebtes Schmachten komplett aufgegeben. Ich verstehe Hannahs Skepsis. Ich habe noch nie von einem Rudel gehört, das derart auffällig ist. Es klingt danach, als würden sie absichtlich eine Spur Kadaver hinterlassen, damit wir sie finden. Hätten sie Menschen angegriffen, der Rat hätte ihnen mehrere Jägerteams auf den Pelz gehetzt. Aber in so einem Fall schickt man eher Leute zum Sondieren und um zu verhandeln. Ich kann mir nicht helfen, aber es klingt fast so, als wollten uns die Werwölfe dorthin locken. 

Adrians Gedankengang war gar nicht so verkehrt, im Gegenteil. Jetzt wo er es aussprach, klang das Verhalten der Werwesen noch seltsamer, so als legten sie es auf ein Zusammentreffen an. Aber zu welchem Zweck? Wollten sie das Team wirklich in eine Falle locken? Wie gerne würde sie ebenfalls einen Blick in die Akten werfen, doch bisher hatte ihr Alina dies nicht gestattet. Ob Lily sie fragen sollte? Immerhin war sie inzwischen eine vollwertige Jägerin und hatte ein Anrecht sich vor einer Mission zu informieren.

„Vielleicht solltest du ebenfalls einen Blick in die Akten werfen, Lily“, sagte Alina, als hätte sie Lilys Gedanken gelesen. Ihre Wangen waren vom vielen Wein gerötet und ihr Blick wirkte verklärt. Sie neigte sich zu Lily und flüsterte ihr ins Ohr: „Du bist jetzt eine Jägerin und damit hast du auch ein Anrecht, die Akten in Augenschein zu nehmen. Dass du Adrian das ein oder andere Mal zum Spionieren in mein Büro geschickt hast, vergesse ich jetzt einfach mal.“ Sie grinste breit und schien sich köstlich über Lilys verdutztes Gesicht zu amüsieren. „Schau nicht so entsetzt. Ich kenne dich gut genug und auch ohne Hektor, weiß ich, wann Addy in meinem Arbeitszimmer herumlungert.“

Lily gab Alina nicht die Genugtuung, ihren Kommentar zu bestätigen. Ein Blick zu Adrian genügte, um zu wissen, dass ihre Patentante ihn das ein oder andere Mal erwischt haben musste.

Alina störte sich nicht an der Stille, die ihr entgegen schlug. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“

Ärger sammelte sich wie ein harter Klumpen in Lilys Magen und verdrängte die angenehme Leichtigkeit, die der Alkohol und die vorangeschrittene Stunde mit sich gebracht hatten. Sie konnte Alinas selbstgefällige Art nicht ertragen. „Da wir gerade bei meiner Volljährigkeit sind und du mir großmütig das ein oder andere Recht einräumst: Wie wäre es mit der Wahrheit über meine Familie?“

Augenblicklich erstarb Alinas Lächeln. Aus großen Augen sah sie zu Lily und für einen Moment hatte diese das Gefühl hinter die aufgesetzt fröhliche Fassade blicken zu können. Sie sah Angst, Unsicherheit und Trauer.

„Das ist der falsche Zeitpunkt, Lily.“

„Wann dann? Ich bin kein Kind mehr. Habe ich nicht allmählich das Recht zu erfahren, wer meine Eltern waren und wie sie gestorben sind?“

Schweigen.

Wie immer, wenn Lily Fragen nach ihrer Herkunft und Vergangenheit stellte. Weder von Adrian noch von Alina hatte sie bisher Antworten erhalten. Ihr Schutzengel faselte etwas von Amnesie oder ihrem früheren Leben, verstrickte sich jedoch immer mehr in Widersprüche. Alina verschwieg ihr absichtlich die Wahrheit, was wesentlich schwerer wog und stärker schmerzte. Sie sei zu jung, zu unerfahren und zu verletzlich, um der Realität ins Gesicht sehen zu können. Aber jetzt war sie erwachsen. Sie wollte wissen, was sie vergessen hatte.

„Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, Lily“, ermahnte Alina sie streng.

„Wann dann?“

„Sobald sich die Wogen etwas glätten und …“

„Welche Wogen?“, unterbrach Lily sie. „Wenn wir Probleme haben, dann sag‘ es mir.“

Mit einem Seufzen erhob sich Alina und stellt ihr halbvolles Weinglas auf dem Tisch ab. Erst jetzt bemerkte Lily, wie still es im Zimmer geworden war. „Es ist zu früh. Wenn die Zeit gekommen ist, erzähle ich dir alles, Lily. Bis dahin bitte ich dich um Geduld.“

„Aber …“

„Kein aber“, wischte sie Lilys Einwände beiseite. „Ich sehe mir die Akten für die morgige Aktion an. Feiert ruhig ohne mich weiter.“ In ihrer Stimme schwang ein Befehl mit, der sogar Radu davon abhielt, etwas zu sagen.

„Ich habe es so satt!“, zischte Lily, als Alina verschwunden war. Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, ihrer Patentante zu folgen und sie zur Rede zu stellen. Warum sperrte sie sich so? Ihr Blick huschte zu Adrian, der unschlüssig in der Nähe der Tür stand. Er wirkte seltsam rastlos, als hätte er am liebsten die Flucht ergriffen.

„Du musst Geduld haben, Lily“, brach Cion das unangenehme Schweigen. „Vor deiner ersten großen Mission ist es wirklich unangebracht, dich mit deiner Vergangenheit zu konfrontieren. Du musst morgen vollkommen bei der Sache sein.“

„Er hat recht“, stimmte Radu zu. Mit einem schiefen Lächeln schenkte er sich Rotwein ein. „Heute haben wir Grund zu feiern, also lass dich nicht gänzlich deprimieren. Alina wird dir schon noch alles erzählen. Ich bin mir sicher.“

Lily nickte unwillig, auch wenn es ihr schwerfiel. Vielleicht hatten die anderen recht. Wenn sie morgen als Jägerin ihr bestes gab und Alina ihre Fähigkeiten unter Beweis stellte, hatte ihre Meisterin womöglich weniger Bedenken, ihr die Wahrheit zu sagen.

Sie griff nach ihrem Glas Rum-Cola und leerte es in einem Zug. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle, doch anschließend ging es ihr besser.

„Ist Adrian eigentlich immer noch hier?“, fragte Radu plötzlich.

„Warum?“

Er fragt nach mir? Adrian klang aufgeregt und neigte sich dem Vampir entgegen, als wollte er ihm die weiteren Worte von den Lippen saugen. Sorcha beobachtete ihn skeptisch. Ihr Schwanz peitschte hin und her.

„Weil ich wissen will, was mit ihm los ist.“

Lilys Verwirrung wuchs. Sie runzelte die Stirn, während Adrians gute Laune in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus.

„Du hast mal gesagt, dass die anderen Schutzengel nichts mit Adrian zu tun haben wollen, aber keiner sagt mir den Grund dafür.“ Radu betrachtete Sorcha, als könnten ihre Reaktionen ihm einen Hinweis geben, doch diese wandte ihm lediglich den Rücken zu. „Allmählich möchte ich wissen, was los ist und ob es dich in Schwierigkeiten bringen könnte. Florica verrät mir leider nichts, wenn ich sie frage.“

Lily biss sich auf die Unterlippe. Es kostete sie alle Kraft, Radu nichts von Adrians Gefühlen zu sagen. Sie war sich sicher, dass die anderen Schutzengel ihn deswegen ablehnten. Die einzige Ausnahme stellte Charon dar, der Adrian ebenso ruppig und gutmütig behandelte, wie vorher. Im Gegensatz dazu hatte Hektor Adrian vor einiger Zeit ins Gesicht gesagt, wie abstoßend und widernatürlich er dessen Liebe fand. Ob es daran lag, dass Adrian und Radu Männer waren, wusste sie nicht.

Radu wiegte den Kopf und fuhr fort, als niemand etwas sagte: „Florica verhält sich einfach nur seltsam, wenn das Gespräch auf ihn kommt. Was haben die anderen nur gegen deinen Schutzengel?“

Wie gerne hätte sie dem Vampir die Wahrheit gesagt, doch Adrians flehender Blick hielt sie davon ab. Sie hatte es ihm versprochen. Sie würde weder Alina noch ihren Freunden etwas von Adrians Gefühlen erzählen, solange deren Begleiter nichts preisgaben. Auch wenn die Aussicht, Radu aus dem Konzept zu bringen, ungemein verlockend war.

Cionaodh fuhr Sorcha über den Rücken und kraulte sie unter dem Kinn. „Sie mag mir auch nichts sagen, egal wie oft ich nachhake. Vielleicht handelt es sich um eine Sache, die sie geheim halten müssen.“

„Wie das Wissen, wer man im vorherigen Leben war?“, fragte Radu und seine Augen leuchteten auf. Schon seit einer Weile versuchte er, mehr über seine Inkarnationen herauszufinden, doch Florica schwieg beharrlich, machte nicht einmal eine Andeutung. „Ich würde gerne erfahren, wer ich einst gewesen bin – vielleicht kann man auf diesem Weg Kräfte erlangen, die …“

„Du redest zu viel!“ Alina stand in der Tür und funkelte Radu verärgert an. Ihre Angetrunkenheit war verschwunden und um ihren Mund lag ein strenger Zug. „Das ist nicht umsonst ein Geheimnis. Ich will gar nicht wissen, wer ich war, und du solltest diesem Wissen nicht nachjagen. Du weißt, wie Estera darauf reagiert.“

„Wolltest du nicht die Aktion morgen planen?“, fragte Radu spöttisch.

Alina erwiderte nichts, doch ihre Blicke sprachen Bände. Wenn sie sich mit dem Vampir anlegte, brachte es nichts sich in das stumme Blickduell einzumischen.

„Keine Sorge, ich habe nicht vor, die Regeln zu brechen“, griff Radu das vorherige Thema wieder auf.

Lily beobachtete Radu aus dem Augenwinkel. Entgegen seiner laxen Worte wirkte er angespannt, wie ein Raubtier vor dem Sprung. Er folgte zwar den Gesetzen des Rates, doch er sehnte sich nach Freiheit und mehr Macht über sein eigenes Leben. Er stammte aus einer Zeit, in der die Menschen um ein Stück Land oder einen prall gefüllten Geldbeutel bis aufs Blut gekämpft hatten und Kriege und Rebellionen das europäische Festland beherrschten. In ihm schlummerte entweder noch immer ein Krieger längst vergangener Zeiten oder aber er wandelte schon zu lange auf Erden und war den friedlichen Trott der letzten Jahrzehnte leid.

„Ich meine es ernst, Radu.“ Alina war von seiner Antwort ebenfalls nicht überzeugt. „Ich will dich nicht verlieren, weil es dir irgendwann zu langweilig wird oder du Logans Lebensweise austesten willst.“

„Auf dieses Niveau werde ich mich nie begeben.“ Ein wütender Unterton mischte sich in seine Stimme und seine Augen glommen für den Bruchteil einer Sekunde unheilvoll auf. „Allerdings würde ich mir wünschen, dass der Rat die Gesetze ein wenig lockert. Damals konnte man mit den Menschen wenigstens im Einklang leben; heute sieht Estera ja schon ein Problem darin, wenn sich ein Vampir mit normalen Menschen anfreundet …“

„Es steht dir frei, Deutschland zu verlassen und dein Glück in einem anderen Land zu versuchen.“

Lily wusste, dass sich Alina vor dem Tag fürchtete, an dem Radu diesen Worten Taten folgen ließ. Der Vampir war der Älteste der Gruppe und hatte im Laufe seines langen Lebens genug Erfahrung und Wissen gesammelt, um dem Team einen Großteil der Jagderfolge zu bescheren. Radu war stark, nahezu unbezwingbar, und hatte seinen Blutdurst selbst dann unter Kontrolle, wenn er sich um einen Schwerverletzten kümmerte. Ihn zu verlieren würde einer Katastrophe gleichkommen.

„Du weißt, dass ich das nicht machen werde.“ Radu erhob sich und richtete seinen Blick auf Lily. „Ich habe meine Gründe hierzubleiben.“

Eine Gänsehaut kroch über Lilys Arme und die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, als sie den Blick erwiderte. Erneut war sie ins Zentrum des Gesprächs gerückt und für einen Moment überlegte sie, Radu vor allen anderen einen Korb zu geben.

Hannah verhinderte, dass sie ihre Überlegung in die Tat umsetzte. „Warum haben wir uns noch mal hier versammelt? Um Lilys Geburtstag und ihre Ernennung zu feiern. Also schieben wir diese tristen Themen beiseite. Morgen haben wir noch genug Zeit, um über die Mission und den Rest zu sprechen.“ Wie eine Katze schoss sie aus dem Sessel und packte Radu am Oberarm. „Du bist doch meiner Meinung, oder?“

Ein leises Grollen entrang sich Radus Kehle. Seine Muskeln zeichneten sich deutlich sichtbar unter dem schwarzen Stoff seines Hemdes ab, als er die Hände zu Fäusten ballte.

„Ich brauch’ frische Luft!“ Brüsk schob er sich an Hannah vorbei und verließ das Wohnzimmer. Adrian folgte ihm, was Lily nur recht war. Sie wollte sich in diesem Moment nicht mit ihrem Schutzengel auseinandersetzen. Es fiel ihr schwer genug, die verliebten Blicke zu ignorieren, die er dem Vampir zuwarf, und sich normal zu verhalten.

„Danke.“ Lily atmete auf, als die Wohnungstür ins Schloss fiel, und lehnte sich zurück.

„Er ist so durchschaubar.“ Hannah schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

Alina schüttelte seufzend den Kopf. „Hoffentlich fängt er sich bis morgen. Wir brauchen ihn für die Mission. Falls etwas schief geht, ist er der Einzige, der es mit Werwölfen aufnehmen kann.“

Kapitel 5 – Ungeahnte Kräfte

 

Lily hetzte durch den Wald, so schnell es ihre Beine erlaubten. Sie sprang über Wurzeln, wich tiefhängenden Ästen aus und umrundete niedrige Büsche und Efeuranken möglichst geschickt und ohne wertvolle Zeit zu verlieren. Zeit, die sie benötigte, um die Lichtung zu erreichen, auf der Alina und Radu auf sie warteten. Sie betete darum, schnell genug zu sein, bevor …

Der Gedanke an ihre Verfolger verlieh ihr Flügel. Obwohl ihre Kehle brannte, als würde sie pures Feuer trinken, und ihre Seite so sehr stach, dass sie glaubte, die Besinnung zu verlieren, stürzte sie weiter. Das gefährliche Grollen, das sie seit einem knappen Kilometer verfolgte, spornte sie zusätzlich an. Als hätte ihr jemand einen Peitschenhieb verpasst, preschte sie ungebremst durch einen mannshohen Busch. Dornen und Äste zerkratzten ihr Gesicht und ihre Arme, doch sie kümmerte sich nicht um die leichten Kratzer. Wenn einer der Werwölfe seine Zähne in ihrem Fleisch versenkte, würde es wesentlich schlimmer werden.

Ich übernehme! Adrian flog direkt über ihr, behielt die Verfolger im Auge und gab ihr Hinweise, wohin sie laufen sollte. Du bist am Ende deiner Kräfte. 

Lily ersparte sich eine Antwort und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den unebenen Waldboden. So schnell der Körpertausch auch vonstattenging, sie würde dafür stehen bleiben und sich auf ihren Schutzengel konzentrieren müssten. In der jetzigen Situation war das reiner Selbstmord. Sie würden ihren Vorsprung einbüßen und Adrian brauchte zudem immer einige Sekunden, um sich an Lilys Körper zu gewöhnen.

Das Heulen hinter ihr klang näher als jemals zuvor. Fast glaubte sie, den warmen Atem der Werwölfe in ihrem Nacken zu spüren. Sie zwang sich, keinen Blick zurückzuwerfen, um keine wertvollen Sekunden zu verschenken.

Dann hole ich wenigstens Hilfe. Adrian verschwand mit einem leichten Flackern. Sie betete, dass sie der Lichtung nah genug waren. In Ausnahmesituationen konnten sie sich für kurze Zeit voneinander lösen, doch sie durften nie allzu weit auseinander sein.

Für eine Sekunde lenkte sie die plötzliche Trennung von Adrian so sehr ab, dass sie die Wurzel übersah, die sich wie ein riesiger Wurm über den Boden wand. Mit einem Aufschrei stürzte sie, riss sich Hände, Arme und Knie blutig. Der brennende Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, als Erde, Dreck und trockene Blätter in ihre Wunden drangen. Sie schnappte nach Atem, doch die Luft schien sich in glühende Lava zu verwandeln, die jeden Atemzug zur Qual machten.

‚Weg hier!’, schrie ihre innere Stimme panisch, doch noch bevor Lily sich aufrappeln konnte, erreichte sie der erste Wolf. Mit lautem Geheul stürzte er sich auf sie und setzte sein ganzes Gewicht ein, um sie zu Boden zu drücken.

Lily schrie, wich dem zuschnappenden Maul aus und stemmte sich gegen das grauschwarze Monstrum. Wenn sie schon von einem wild gewordenen Werwolf zerfleischt wurde, dann würde sie bis zum letzten Blutstropfen kämpfen.

Plötzlich war sie frei. Von einem Moment zum anderen fiel aller Schmerz von ihr ab und unerwartete Freiheit umgab sie. Erleichtert atmete sie auf. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Adrian sie aus ihrem Körper verdrängt hatte und nun an ihrer Stelle gegen den Werwolf ankämpfte.

Wie immer schwebte sie ein gutes Stück oberhalb der Szenerie, beobachtete das Duell aus sicherer Entfernung. Die restlichen Mitglieder des Rudels hatten unterdessen aufgeholt, zögerten jedoch mit ihrem Angriff. Sie belauerten Adrian, der den Anführer der Werwölfe im Genick packte und mit aller Kraft von sich schleuderte. Diese Kraft hätte sie nie aufbringen können.

Adrian ignorierte die Wunden, die seinen Körper übersäten, und richtete sich auf. Seine Augen funkelten golden, als er die Wölfe fixierte.

Die Luft war wie elektrisiert und die Atmosphäre glich der Ruhe vor dem Sturm. Obwohl Lily nicht direkt involviert war, kroch Angst in ihr Herz. Was geschah mit ihr, wenn ihr Körper unter den Angriffen starb? Bisher hatte Adrian nie gegen eine solche Übermacht kämpfen müssen. Im Vergleich dazu war die Mission gegen Logan ein Kinderspiel gewesen.

Das leise Knacken war wie ein Kanonenschuss. Drei der Werwölfe stürzten sich mit gefletschten Zähnen auf Adrian, der sich mit einem tollkühnen Sprung vor dem ersten Angreifer in Sicherheit brachte. Seiner Geschicklichkeit hatte er es zu verdanken, dass er den Zweiten mitten im Sprung mit einem Tritt gegen einen Baum schleudern konnte und genügend Zeit fand, mit beiden Händen den Kopf des weißen Tieres zu packen. Mit aller Gewalt drückte er das Maul zu, hielt den gewaltigen Schädel. Der Wolf wehrte sich wie ein Wahnsinniger. Immer wieder schnappte er nach Adrians ungeschützter rechter Seite, wand sich und hinterließ blutige Kratzer auf den Oberschenkeln ihres Körpers. Erst als sich der Anführer grollend näherte, ließ Adrian von seinem Gegner ab, entzog sich den scharfen Zähnen und taumelte einige Meter zurück. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Noch war er, bis auf die Kratzer der Klauen, unverletzt, doch Adrians Kräfte schwanden. Jede Attacke und jedes Ausweichmanöver zehrte an seiner Energie und obwohl er mit Müh und Not drei Wölfe in Schach halten konnte, stand die Zeit nicht auf ihrer Seite. Die Werwesen verfügten nicht nur über eine stärkere Konstitution, auch der Körpertausch war nicht von Dauer. In einigen Minuten würde Lily sich dort unten wiederfinden. Bereits jetzt deutete ein unangenehmes Ziehen darauf hin, dass ihre Seele zurück in ihren Körper drängte.

„Keine Angst, die anderen sind auf dem Weg.“

Wollte er so lange weiterkämpfen, bis Alina und Radu hier waren? Unmöglich – sie und Adrian waren noch nicht so weit, um für mehr als fünf Minuten den Platz zu tauschen.

Adrian ignorierte ihre Zweifel und ging stattdessen in den Angriff über. Mit einem gewaltigen Sprung schoss er auf den schwarzen Anführer zu und rammte ihm die Faust in die Seite. Ein keuchendes Heulen entfloh dem Wesen und noch bevor es seine Überraschung überwinden konnte, setzte Adrian nach. Er packte den Werwolf, warf sich mit seinem Gewicht gegen den monströsen Körper und rang ihn zu Boden. Mit beiden Armen umklammerte er den Hals des Werwolfs, versuchte ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Leider griffen in diesem Moment zwei Tiere des Rudels ins Geschehen ein.

Pass auf! 

Ihr Warnruf half nicht. Scharfe Zähne gruben sich tief in Adrians Schulter; noch schlimmer, der Wolf biss sich an ihm fest. Er zerrte so heftig an ihm, dass Lily bereits das Knacken von Knochen und das Reißen der Muskelstränge zu hören glaubte. Sie würden ihn und damit ihren Körper zerfleischen, wenn die Kavallerie nicht binnen der nächsten Sekunden die Bildfläche betrat.

Adrian bäumte sich auf, drückte allerdings immer noch mit aller Gewalt den schwarzen Wolf zu Boden. Woher er die Kraft nahm, den Arm zu nutzen, wusste Lily nicht, doch er hielt den Anführer wie in einem Schraubstock fest. Der schwarze Werwolf schnappte knurrend nach Adrians Händen und Armen, zerkratzte mit seinen Klauen Oberarme und Brust. Lilys Shirt hing längst in Fetzen herab.

Obwohl sie den Schmerz nicht spürte, tastete Lily über ihre Schulter. Noch war sie unversehrt, doch sie glaubte, das riesige Gebiss bereits jetzt zu spüren. Wie würde es sich erst anfühlen, wenn sie in ihren Körper zurückkehrte und die Verletzungen direkt wahrnahm?

Plötzlich veränderte sich Adrians Haltung. Er spannte sich an, als wollte er die Werwölfe abschütteln und fliehen. Lily wusste, dass er nicht davonlaufen würde, doch sie begriff nicht, was ihr Schutzengel plante. Seine Gedanken waren ihr ein Rätsel, ungreifbar und irreal. Zum ersten Mal fühlte sich Adrians Gegenwart seltsam an, als wäre er ein Fremdkörper, der nicht zu ihr gehörte.

Im nächsten Moment brachen leuchtend weiße Schwingen aus seinem Rücken. Mit einem einzigen Schlag schleuderte er den Wolf an seiner Schulter beiseite und drängte die übrigen zurück. Blut spritzte, benetzte den Waldboden und Lilys Körper. Mit einem Aufschrei stürzte sich Adrian auf den Anführer und drückte dessen Kehle zu, bis die gelben Augen aus den Höhlen quollen.

Die Wölfe überwanden ihren Schreck und kamen ihrem Alpha zu Hilfe. Mit wütendem Geheul stürzten sie sich auf Adrian, schlugen ihre Fänge in die weißen Flügel, bis sie unter dem Ansturm des Rudels brachen.

Übelkeit stieg in Lily auf. Noch nie hatte sie so viel Blut gesehen. Es floss über Adrians Arme und Rücken, färbte seine Schwingen rot, bis sie sich in graue Asche verwandelten und verschwanden.

Adrian atmete schwer. Sein Gesicht war kalkweiß, sein Blick flackerte. Er murmelte etwas, das Lily nicht verstand, doch die Worte klangen seltsam rau und fremdartig. Sie wusste weder, was er tat, noch konnte sie es in seinen Gedanken erkennen. Für den Bruchteil einer Sekunde glühte ein verschlungenes Symbol auf Adrians Stirn auf. Gleichzeitig baute sich eine bläulich schimmernde Schutzwand um ihn auf und schleuderte die Angreifer zurück. Einige Werwölfe prallten gegen die umstehenden Bäume, andere wichen zurück und brachten einige Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und den Schutzengel.

„So leicht mache ich es euch nicht!“, presste Adrian zwischen bebenden Lippen hervor. Obgleich er immer mehr Blut verlor und Lily sich sicher war, dass er kaum noch Kraft hatte, hielt er den schwarzen Wolf gefangen.

Wie hast du das gemacht? Nie zuvor hatte Lily etwas Derartiges gesehen. Erst die Flügel, die aus ihrem Körper hervorbrachen, jetzt dieses Schutzschild. Von Alina wusste sie, dass einem Engel im Notfall einige Zauber zur Verfügung standen, um ihren Schützling zu verteidigen, aber so etwas? War es normal, dass aus ihrem menschlichen Körper Flügel wuchsen? War eine solch starke Symbiose möglich?

Anstatt einer Antwort, spürte sie den Sog ihres eigenen Körpers mit einer Gewalt, der sie kaum etwas entgegensetzen konnte. Alles in ihr drängte zurück und allmählich mischte sich Schmerz in ihre Empfindungen. Sie waren länger getrennt als jemals zuvor und dieser Umstand forderte seinen Tribut. Sie schwebte näher, obwohl sie wusste, dass es Wahnsinn war, jetzt zurückzukehren. Der Anführer hatte seine erbitterte Gegenwehr zwar aufgegeben, doch es war offensichtlich, dass er auf eine Chance lauerte.

„Komm ja nicht auf die Idee, jetzt zu tauschen!“ Adrians Stimme hallte laut durch die Nacht. Er schob ein Knie in das Genick des Wolfes und erntete ein Jaulen. Das Wesen schnappte nach ihm, doch Adrian drückte sein Maul unbarmherzig in den weichen Waldboden.

Ich kann es nicht verhindern. Meine Seele will zurück. 

„Dann konzentriere dich mehr. Alina hat dir gezeigt, wie du den Tausch verlängern kannst.“ Er blickte Lily direkt an. Ihr eigenes Gesicht kam ihr merkwürdig vor, jetzt wo sich Adrians Züge damit vermischten. Sie hätte nie gedacht, dass sich ihr Körper so sehr verändern würde, wenn sie tauschten. Der Schutzschild flackerte. Adrian verzog die Lippen. Die Verletzung an der Schulter schwächte ihn, ebenso die Magie, die er anwandte, und die Kraft, die er benötigte, um in ihrem Körper zu verharren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Adrian zusammenbrach.

„Du hältst nicht mehr lange durch!“ Ein Knurren begleitete die kehligen Worte des Anführers der Werwölfe. Es überraschte Lily, dass er trotz seiner tierischen Gestalt in der Lage war zu sprechen.

Adrian ignorierte ihn. Er umklammerte den Hals seines Gegners, wollte ihn endgültig erwürgen oder ihm das Rückgrat brechen. Vergebens. Dazu fehlte ihm unterdessen die notwendige Kraft.

„Schade, dass du vorhin zu abgelenkt warst, als du noch genügend Kraft hattest“, höhnte der Wolf. Er spannte seine Muskeln an und stemmte die Pfoten in die Erde. Nur mit Mühe konnte Adrian ihn zu Boden drücken. „Es dauert nicht mehr lange und du kannst mich nicht mehr halten.“

Lily schauderte. Der Werwolf hatte recht.

„Gib auf! Auf die paar Sekunden kommt es nicht mehr an.“ Er fletschte die Zähne und ein Grollen entstieg seiner Kehle.

Im nächsten Augenblick brach ein riesiger brauner Wolf hinter einem Baum hervor und stürzte sich mit gebleckten Zähnen und wütendem Geheul auf das verwirrte Rudel. Er bewegte sich mit solch einer Kraft und Schnelligkeit, dass sein erster Gegner nicht einmal Zeit zum Aufjaulen hatte. Scharfe Fangzähne rissen dem Wolf die Kehle auf.

Hannah!

Lily würde sie unter hundert Wölfen wiedererkennen.

Noch bevor ihr erstes Opfer zusammenbrach, setzte sie zum Sprung an und attackierte den nächsten. Dieser wich aus und Hannah setzte ihm nach. Ein wilder Kampf entbrannte. Holz splitterte. Wütendes Gebell, Fauchen und Knurren erfüllten die Nacht. Hannah kämpfte mit einer solchen Wut und Grausamkeit, dass niemand sie bezwingen konnte. Binnen weniger Minuten hatte sie einen Großteil der Werwölfe verletzt oder getötet.

Adrians Schutzschild zerbrach, als Hannah die letzten Wölfe davonjagte. Obwohl die Niederlage der Werwölfe feststand, gab der schwarze Wolf nicht auf. Mit funkelnden Augen bäumte er sich auf und schüttelte Adrian wie eine lästige Fliege ab. Der Engel taumelte zurück und stürzte zu Boden.

„Wenn ich schon sterbe, nehme ich dich wenigstens mit mir!“

Adrian! 

Plötzlich geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ein schwarzer Schatten stürzte sich mit glühenden Augen auf den Anführer der Wölfe. Mit unsäglicher Gewalt riss er ihn von Adrian hinunter. Noch bevor Lily erkennen konnte, wer ihnen in letzter Sekunde das Leben rettete, nahm der Sog, in ihren Körper zurückzukehren, überhand. Er war so stark, dass sie fast die Besinnung verlor. Sie durfte nicht länger außerhalb verweilen.

Mit einer unsäglichen Wucht spürte sie ihren eigenen Körper und ihre Seele zerbrach fast an der plötzlichen Enge ihres körperlichen Gefängnisses.

Lily keuchte auf und blinzelte die Tränen aus den Augen. Die Rückkopplung war heftiger als jemals zuvor. Blut rauschte in ihren Ohren, ebenso hallte jeder Herzschlag in ihrem Kopf wider. Sie wartete auf den Moment, in dem ihr Geist die vielen Verletzungen wahrnahm, sich der Schmerz in ihren Verstand bohren würde, doch nichts dergleichen geschah. Ihre Muskeln brannten vor Erschöpfung, ihre Sprunggelenke waren überdehnt und ein Krampf saß in ihrer rechten Hand, aber darüber hinaus fühlte sie nichts. Das war unmöglich …

„…ly“, schob sich eine leise Stimme in ihre Verwunderung. „Lily! Alles in Ordnung?“ Beharrlich wiederholte jemand ihren Namen und es dauerte einen Augenblick, bis sie die panischen Worte mit Alina verband.

„Ja …“, krächzte sie.

„Gott sei Dank.“ Alina atmete auf und legte ihre Jacke über Lilys nackten Oberkörper. „Bist du verletzt?“

Ohne dass Lily es verhindern konnte, entschlüpfte ihr ein irres Lachen. Sah Alina denn die klaffende Schulterverletzung nicht? Die blutigen Kratzer, die ihren Körper übersäten, die Bisswunden an Armen und Beinen? Mit zitternden Fingern strich sie über ihren Oberarm, ertastete jedoch unversehrte Haut. Sie riss die Augen auf, starrte verwirrt in Alinas besorgtes Gesicht und wandte den Kopf zur Seite. Nichts. Die tiefe Wunde war verschwunden, nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben. Auch die blutenden Bissspuren und die Kratzer hatten sich in Luft aufgelöst.

Was um alles in der Welt war geschehen?

Lily richtete sich vorsichtig auf. Es kostete sie enorm viel Kraft, sich in die sitzende Position zu stemmen, doch mit Alinas Hilfe gelang es ihr. Sie atmete tief durch und schloss die Augen, bis der Schwindel nachließ und die bleierne Müdigkeit verschwand, die ihr in den Knochen saß.

„Geht es?“ Alina schob die Jacke über Lilys Schultern. Tränen standen in ihren hellen Augen. „Als ich den Kampflärm hörte, dachte ich schon, wir seien zu spät. Es tut mir so leid. Ich hätte dich nie einer solchen Gefahr aussetzen dürfen.“

„Es ist nicht deine Schuld. Du konntest nicht wissen, dass sie angreifen, sobald sie mich sehen.“ Lily schauderte und ließ den Blick über das aufgewühlte, blutige Schlachtfeld schweifen. Gräser und Moose waren zertrampelt, Kratzer und Risse zierten die breiten Baumstämme. Hier und da lagen die Kadaver der Wölfe, einige atmeten schwach oder stöhnten leise. Die wenigstens würden den kommenden Sonnenaufgang erleben, bei einigen lösten sich bereits die Schutzengel aus dem Körper, einen leuchtenden Seelenkristall an die Brust gedrückt. Etwas abseits lag der übel zugerichtete Körper des Anführers. Das Leben hatte ihn bereits verlassen. Von den übrigen Werwesen fehlte jede Spur. „Wo sind die Überlebenden?“

„Hannah und Radu kümmern sich um sie. Die beiden haben sie sofort von hier weggetrieben, als sie dich fanden.“

Endlich konnte Lily den schwarzen Schatten einordnen, der den Alpha der Werwölfe gepackt hatte, kurz bevor sie in ihren Körper zurückgekehrt war – Radu. Dankbarkeit erfüllte ihr Herz. Wäre er nur wenige Augenblicke später aufgetaucht, hätte sie diesen Kampf nicht überlebt.

Nur was war aus ihren Verletzungen geworden?

‚Adrian!’, schoss es ihr mit einem Mal durch den Kopf. Konnte es sein, dass er … Sie unterdrückte ihre aufkeimende Sorge und sah sich um. Adrians schimmernde Silhouette war nirgends zu entdecken. Ein seltsam bekanntes Gefühl des Verlustes stieg in ihr auf. „Adrian? Wo bist du?“

„Ist er nicht bei dir?“, fragte Alina besorgt und sah sich unwillkürlich suchend um.

Lilys Angst schlug in nackte Panik um. Sie wusste nicht, woher dieses Gefühl kam, doch ihre Sorge um Addy wuchs ins Unermessliche. Hatte er ihre Wunden angenommen, als sie in ihren Körper zurückkehrte und war nun zu schwach, um sich zu zeigen? War etwas Derartiges jemals vorgefallen? Sie wandte sich an Alina: „Ich war schwer verletzt, fast tot, als Hannah und Radu hier aufgetaucht sind.“

Alle Farbe wich aus Alinas Gesicht. Blankes Entsetzen stand in ihrem Blick und sie zog Lily in eine feste Umarmung. Sie zitterte.

„Kann ein Schutzengel bei einem Körpertausch Verletzungen auf sich nehmen, wenn er das möchte? Hat Adrian mich vor all dem bewahrt und …?“ Ihre Stimme überschlug sich und sie umfasste hilfesuchend Alinas Arme. „Ist er jetzt verletzt und kann sich deswegen nicht zeigen?“

Alina schüttelte den Kopf und strich sich nachdenklich über ihr kurzes Haar. „Ich habe noch nie von einer derartigen Heilung gehört. Schutzengel können lediglich deinen Körper lenken und im Notfall ihre Flügel für eine kurze Zeitspanne nutzen, um zu fliehen.“

„Aber er muss es gewesen sein. Wer sollte es sonst …“ Lily verstummte. Ihre Augen weiteten sich. „Wie meinst du das mit Flügel nutzen?“

„Ist der Schützling einer übermächtigen Gefahr ausgesetzt und besteht keine Hoffnung mehr, den Kampf zu gewinnen, kann ein Schutzengel seine eigenen Flügel zum Einsatz bringen. Das ist eine riskante Angelegenheit, da sie dank des menschlichen Körpers stofflich und damit angreifbar sind, aber es gibt ihm die Möglichkeit zu fliegen und seinen Schützling schneller in Sicherheit zu bringen. Aber heilen …?“ Sie stockte und für einen Moment erbleichte sie, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Ihr Mund formte stumme Worte.

„Was?“ Lily umfasste Alinas Arm fester und bohrte ihre Finger in die kühle Haut ihrer Meisterin. „Du hast eine Vermutung. Dir ist etwas eingefallen, oder?“

„Ich …“

„Lily!“ Radus tiefe Stimme unterbrach Alina.

Sie stöhnte frustriert auf. Musste er Alina gerade jetzt unterbrechen? Mühsam schluckte sie einen bissigen Kommentar hinunter, immerhin hatte er sie gerettet. Sie würde schon noch herausfinden, was ihre Meisterin sagen wollte.

Der Vampir überbrückte die kurze Distanz in einem Wimpernschlag und legte ihr trotz Alinas Jacke seinen schwarzen Mantel um die Schultern. „Geht’s dir gut? Bist du verletzt?“

„Mir geht’s gut. Danke für deine Hilfe vorhin.“

„Und ich dachte, ich käme zu spät.“ Er legte seine Hände auf Lilys Schultern und kniete sich neben Alina. „Ich war krank vor Sorge, als Florica Adrians Botschaft überbrachte. Gott, zum ersten Mal bin ich froh, dass sich Hannah über Alinas Anordnungen hinweggesetzt hat und uns heimlich gefolgt ist.“ Er zog sie fest in seine Arme und lehnte seine Stirn an ihre Wange. Lily war zu erschöpft, um zu protestieren. Sie sehnte sich nach ihrem Bett und mehreren Stunden Schlaf. Erst jetzt sickerte in ihr Bewusstsein, dass sie dem Tod nur um Haaresbreite entkommen war. Sie fröstelte und vergrub sich in Radus Mantel und seinen Armen. Nur einen Moment wollte sie ausruhen, bevor sie über Adrians Verschwinden und die Ereignisse nachdachte.

„Was ist mit den Werwölfen?“, fragte Alina. Ihre Stimme klang ungewohnt hölzern und fremdartig.

„Die sind keine Gefahr mehr.“ Ein leichtes Rascheln erklang, als Radu sich ins Moos setzte. „Einer lebt noch, die anderen haben wir in Stücke gerissen.“ In seiner Stimme schwang Genugtuung mit und gleichzeitig mischte sich ein leises Grollen hinein.

„Gut, dann können wir wenigstens einen befragen.“

„Das solltest du gleich machen – ich weiß nicht, wie lange er noch überlebt. Ich hab den Mistkerl ziemlich fertiggemacht. Aber ich warne dich - er verhält sich irgendwie seltsam und redet wirr, als wüsste er nicht, was geschehen sei.“

„Ich seh' ihn mir an. Du kümmerst dich währenddessen um Lily.“ Alina strich ihr sanft über den Kopf. „Ich rufe gleich Cionaodh an, damit er den Bus holt und hier in der Nähe parkt.“

„Soll ich den Rat informieren?“

„Nein, das mache ich am besten selbst. Ich muss sie über Hannahs Einmischung aufklären und davon überzeugen, dass sie zum Handeln gezwungen war“, sagte sie und entfernte sich durch das Unterholz.

„Lily? Geht’s dir wirklich gut?“ Radu schob sie auf Armeslänge von sich und musterte sie eingehend.

„Addy ist weg.“ Tränen schossen in ihre Augen.

„Wie weg?“, fragte Radu überrascht.

„Er ist nicht mehr in meiner Nähe, als sei er verschwunden“, stammelte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Und ich war so schwer verletzt. Jetzt sind die Wunden weg und Addy auch.“ Sie wusste, dass Radu ihren Worten nicht folgen konnte, doch das war ihr egal. Sie wollte sich nicht erklären, sondern wissen, was mit ihrem Schutzengel geschehen war.

Ein sanftes Schimmern tauchte hinter Radu auf und warf rote Schatten in das Gesicht des Vampirs. Im ersten Moment glaubte Lily, Adrian sei zurückgekehrt, dann erkannte sie Floricas schlanke, kleine Gestalt. Ihre großen Augen blickten fragend zwischen ihnen hin und her.

„Florica, kannst du nach Adrian suchen? Weit weg kann er nicht sein.“

Der zierliche Engel nickte und flog davon.

„Keine Sorge, sie findet ihn. Hast du schon mal versucht, mit Adrian Kontakt aufzunehmen? Er ist auf jeden Fall noch da, ansonsten würde es dir wesentlich schlechter gehen.“ Mit einer Hand wischte er Lilys Tränen weg. „Euer Band ist noch nicht so stark, daher ist er gewiss in der Nähe. Vielleicht hat er Angst, sich zu zeigen, dabei hat er dich dieses Mal wirklich vorbildlich beschützt.“

Lily schwieg. Sie zog den Mantel enger um sich und lehnte sich erschöpft an Radus Schulter. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf Adrian. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie ein leichtes Echo spürte, einen leisen Widerhall ihrer Gefühle. Die Antwort war kaum wahrnehmbar, doch sie war vorhanden. Der Vampir hatte recht – ihr Schutzengel war nicht verschwunden, lediglich geschwächt.

‚Adrian?’

Hab keine Angst, Lily. Ich könnte dich nie im Stich lassen. Das habe ich dir vor einigen Jahren versprochen und ich halte mich daran. Gib mir nur Zeit, neue Kräfte zu sammeln, damit ich mich wieder materialisieren kann. 

‚Wieso bin ich unverletzt? Hast du mich geheilt?’

Dieses Mal blieb ihr Adrian eine Antwort schuldig. Doch die Klärung dieser Frage konnte warten, bis er bei Kräften war. Es galt nur, dass Adrian noch existierte und in ihrer Nähe war. Die Erleichterung, die Lily erfasste, spülte alle Ängste und Sorgen weg und machte einer unsäglichen Müdigkeit Platz. Sie kämpfte sie verbissen zurück und wandte sich an Radu:

„Du hattest recht. Adrian ist da, aber sehr schwach und nicht in der Lage, sich zu zeigen.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen und er nickte ihr zu. „Das freut mich. Wusst’ ich’s doch, dass Adrian nicht einfach so verschwindet. Ich rufe gleich Florica zurück.“

Eine Weile saßen sie schweigend beieinander und lauschten auf die Geräusche des nächtlichen Waldes. Ein Uhu stieß in der Nähe seinen unheimlichen Ruf aus, während der Wind seufzend durch die Baumwipfel fuhr.

„Irgendwie ist die ganze Mission gegen die Wand gefahren. Erst die Irreführung von Cionaodh, als er mit Hilfe der Pflanzen nach ihrem Lager gesucht hat …“, durchbrach Lily die unangenehme Stille. Sie dachte an den Feenmann, der mit geschlossenen Augen an einer Eiche lehnte, warme grüne Funken, die über die raue Borke wanderten, als er mit dem uralten Geist kommunizierte. Er hatte nichts herausfinden können. Auch die anderen Pflanzen konnten ihm nicht helfen, fanden das Lager des Rudels nicht, als verberge es sich vor den Bäumen des Waldes. Als Alina schließlich beschloss, getrennt nach dem Lager zu suchen und sie in alle Himmelsrichtungen ausschwärmten, ahnte niemand, dass die Werwölfe Lily verfolgten und angriffen, als diese weit genug von ihrem Treffpunkt auf der Lichtung entfernt war. Als hätten sie es darauf angelegt, sie von ihren Freunden zu trennen und auf sie Jagd zu machen. Steckte ein grausamer Plan dahinter? Aber warum sollten die Werwölfe es auf sie abgesehen haben? Sie war als neuernannte Jägerin ungefährlich und schwach, niemand, den man gezielt töten würde. Oder?

„Was ist nur in den Köpfen dieser Werwölfe abgelaufen?“

„Was weiß ich … sie sind einfach durchgedreht. So was passiert immer mal wieder, wenn sie die Rituale zu ihren Schutzengeln nicht regelmäßig wiederholen.“

„Arme Hannah. Ihre eigenen Leute töten zu müssen.“ Ein unangenehmer Gedanke kroch in Lilys Bewusstsein. „Ihr wird doch nichts geschehen, oder? Ich meine jetzt, wo sie gegen eines der Gesetze verstoßen hat und …“ Die Sorge schnürte ihr die Kehle zu.

„Das war eine Notsituation. In diesem Fall gibt es Ausnahmen. Du kannst das bezeugen, Alina und ich ebenfalls. Ihr wird nichts passieren.“

„Aber sie werden es untersuchen, oder?“

„Ja, das werden sie.“ Radu schnaubte und zog sie fester zu sich. „Und ich hasse es, wenn sie das tun.“

 

Der Morgen dämmerte bereits, als Alina und Hannah erschöpft und verwirrt zurückkehrten. Die Werwölfin hatte lediglich eine karierte Decke um ihren muskulösen Körper gewickelt, einige blaue Flecke verunzierten ihre Oberarme.

„Was ist passiert?“ Lily schob Radu von sich und kam mühsam auf die Beine. Ihre Muskeln kribbelten protestierend und ihr Kopf dröhnte, doch sie behielt ihr Gleichgewicht. Allmählich wich die taube Erschöpfung aus ihren Knochen und der Schwindel legte sich.

„Der Beta ist tot.“ Hannah wandte den Kopf ab und blinzelte trotzig die Tränen fort. „Ich habe keine Ahnung, was mit ihm los war, aber irgendwie …“ Sie schluckte heftig und fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen.

„Was?“ In Radus Stimme schwang eine Mischung aus Neugierde und Gereiztheit mit. Er gesellte sich zu Lily und legte wie selbstverständlich einen Arm um ihre Schulter.

„Es war, wie du sagtest.“ Alinas Blick huschte von Radu zu Hannah, die mühsam die Tränen zurückhielt. Der Tod eines ihrer Artgenossen nagte schlimmer an ihr, als sie zugeben wollte. „Er sprach wirr und unzusammenhängend, wusste überhaupt nicht, was geschehen war. Hektor hat versucht, mit seinem Schutzengel zu sprechen, doch der bereitete die Seele seines Schützlings bereits für den Übergang vor und hat nicht geantwortet.“

„Ihr habt also gar nichts herausgefunden?“

Alina schüttelte den Kopf. „Nein. Hektor meint, dass der Werwolf manipuliert worden sei. Er ist sich sicher, dass weder er noch das Rudel den Angriff aus freien Stücken gemacht haben.“

„Aber das bedeutet …“ Radu biss sich auf die Unterlippe und warf Lily einen skeptischen Blick zu. Binnen weniger Sekunden zeichneten sich verschiedene Emotionen in den ebenmäßigen Gesichtszügen des Vampirs ab: Unentschlossenheit, Zorn, Sorge und Abscheu.

„Was?“, fragte Lily, als er seinen Satz unbeendet ließ. Sie sah zu Alina, die betreten den Blick senkte, allerdings ebenfalls nicht gewillt war, sie in die unausgesprochenen Überlegungen mit einzubeziehen. „Wieso habe ich das Gefühl, ihr verschweigt mir etwas Gravierendes?“

„Lily, denk bitte nicht, wir lassen dich absichtlich im Unklaren, aber es gibt Dinge, für die du noch nicht bereit bist.“

„Noch nicht bereit?“ Lily schüttelte Radus Hand ab und trat wütend auf Alina zu. „Die Werwölfe haben ohne jeglichen Grund angegriffen, ich bin fast gestorben und Adrian ist so schwach, dass er sich nicht zeigen kann“, fasste sie ihre rasenden Gedanken in Worte. Die Sorge um ihren Schutzengel versetzte ihr einen weiteren Stich, doch sie klammerte sich an seine Worte. „Ich will wenigstens wissen, was hier vor sich geht. Wer manipuliert ein ganzes Rudel Werwölfe und warum? Um mich zu töten?“ Sie schnappte nach Luft, als ihr die Bedeutung der Worte klar wurde. Konnte das sein? Hatte es jemand auf sie abgesehen? Die Wölfe hatten sie gezielt von ihren Freunden getrennt, sie durch den Wald gejagt. Aber warum? Weil sie die Schwächste des Jägerteams war? Oder gab es andere Gründe? „Wer ist dafür verantwortlich?“

„Lily …“

„Ein Magier natürlich.“ Radus eisige, hasserfüllte Stimme unterbrach Alina.

„Radu! Es steht dir nicht zu …“

„Hör doch auf, Alina.“ Mit einer fließenden Handbewegung wischte er ihre entrüsteten Worte beiseite. „Lily ist kein Dummkopf und sie sollte wissen, womit wir es hier zu tun haben. Nur ein Magier ist in der Lage, Wesen zu manipulieren, und jeder weiß, was das bedeutet. Meines Wissens nach gibt es in diesem Bezirk nur einen einzigen Seelenzauberer.“ Seine Augen glommen hasserfüllt auf und scharfe Eckzähne schoben sich über seine Lippe.

„Es gibt keinen Beweis, dass wir es wirklich mit Silas zu tun haben“, wies Alina ihn scharf zurecht. „Solange du diese Anschuldigungen nicht belegen kannst, solltest du dich zurückhalten, Radu!“

„Willst du ihn geständig auf dem Silbertablett serviert haben, eine Gruppe Vampire um sich geschart?“

Alina verdrehte die Augen. „Mach dich nicht lächerlich. Du weißt, wie der Rat über haltlose Anschuldigungen denkt. Also beruhige dich und halte deine Zunge im Zaum, bis du unwiderlegbare Beweise präsentieren kannst.“

Radu schwieg, doch Lily ahnte, wie schwer es dem Vampir fiel, das Thema fallenzulassen. Sie wusste nicht, warum er Silas solch tiefsitzenden Hass entgegenbrachte oder ob sich seine Abneigung gegen alle Magier richtete. Lily kannte Radu zwar gut, doch über seine Vergangenheit wusste sie nur wenig. Der Vampir hielt sein Leben geheim, offenbarte nur selten etwas aus seiner Jugend und der Zeit, bevor er nach Deutschland kam. Sie warf Florica einen fragenden Blick zu, doch der zierliche Engel schüttelte leicht den Kopf, während sie Radu von hinten umarmte. Ihr Gesicht glich einer ausdruckslosen Maske, die keinerlei Gefühlsregungen preisgab.

„Wir kehren erst mal nach Hause zurück und besprechen dort unser weiteres Vorgehen“, entschied Alina. „Weiß Cionaodh Bescheid?“

„Er wartet mit dem Kombi am Feldweg“, zischte Radu mit zusammengepressten Lippen und deutete in eine scheinbar beliebige Richtung. „Sorcha wartet dort hinten auf uns, um uns zu ihm zu bringen.“

Lily kniff die Augen zusammen, bis sie Cionaodhs Seelentier entdeckte. Sorcha hatte ihre Katzengestalt abgelegt und die eindrucksvollere Form eines goldenen Löwen angenommen. Sie hockte zwischen den Bäumen, das gewaltige Haupt in ihre Richtung gedreht. Ihr Schwanz peitschte ungeduldig hin und her, doch sie näherte sich nicht.

„Gut“, sagte Alina und ergriff Lilys Handgelenke, um sie mit sich zu ziehen. „Ist Adrian wieder da?“, flüsterte sie, nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren.

„Ja und nein. Er ist zwar noch da, aber zu schwach, um eine Form anzunehmen.“

Zu schwach? Hektor schenkte ihr einen skeptischen Blick. Er schwebte neben Alina her, die Augen prüfend auf das Unterholz gerichtet, als erwartete er weitere Feinde. Ein Schutzengel sollte trotzdem an der Seite …“ 

„Hör auf, schlecht über ihn zu reden!“, fiel Lily ihm ins Wort. „Er hat mich beschützt, meine Verletzungen geheilt und wäre dieser Schutzkreis nicht gewesen …“ Bittere Galle stieg ihr in die Kehle und sie würgte bei dem Gedanken.

Alina verharrte im Schritt und wirbelte zu ihr. „Er hat einen Schutzkreis gezogen?“ Sie verengte die Augen zu Schlitzen, dann sah sie zu Hektor.

Ein ungutes Gefühl erwachte in Lily. Sie erinnerte sich an Alinas Gesicht vor einigen Stunden, als sie ihr von Adrians Heilung berichtet hatte, dem Unglauben und dem kurzen Anflug von Wissen. „Was bedeutet das?“

„Nichts“, wiegelte ihre Meisterin ab.

„Du verheimlichst mir etwas. Ich sehe dir an, dass du eine Vermutung hast, also …“

„Nicht jetzt, Lily. Ich verspreche dir, alles zu erzählen, wenn ich Gewissheit habe. Gib mir ein paar Tage Zeit, um meine Vermutung zu überprüfen.“

Lily zögerte. Zu oft hatte Alina Fragen mit diesen Worten abgeschmettert. Sie hatte den Streit an ihrem Geburtstag nicht vergessen, doch sie war zu erschöpft, um sich jetzt mit ihrer Meisterin anzulegen. „In Ordnung, aber anschließend weihst du mich ein – und zwar in alles. Damit meine ich auch meine Vergangenheit.“

Alina schwieg eine ganze Weile, ehe sie die Worte aussprach, die Lily so lange hören wollte: „Versprochen.“

Kapitel 6 – Offenbarungen und Wahrheiten

 

*~*

 

„Guten Morgen, Lily. Wie geht es uns heute?“ Die gutmütige Stimme Dr. Kellers riss Lily aus ihrem Halbschlaf. Nachdem eine der Schwestern kurz nach sieben in das Zweibettzimmer gekommen war und ihre Mitpatientin geweckt hatte, war sie wieder eingedöst. Unterdessen war die junge Frau, die am Fenster lag, verschwunden, ebenso die Lichtgestalt, die sich zumeist am Kopfende des Bettes herumdrückte und über sie wachte. Dafür hatte der dicke Oberarzt seinen Schutzengel mitgebracht, eine große, stämmige Frau mit kurzen Locken und verkniffenem Gesicht. Sie starrte Lily unverhohlen an.

Als sie die Lichtgestalten zum ersten Mal entdeckt hatte, hatte sie vor lauter Angst und Panik das halbe Krankenhaus aufgeschreckt. Ihren Schrei hatte man noch am anderen Ende der Station gehört und sofort eine Schwester auf den Plan gerufen. Im Laufschritt war die untersetzte Frau ins Zimmer gestürzt, begleitet von einer Gestalt, die der ähnelte, die über das Mädchen im Nachbarbett wachte. Lily hatte schnell erkannt, dass nur sie die Wesen sehen konnte und ihr keine unmittelbare Gefahr drohte. Sie beobachteten sie zwar neugierig, aber sie kamen ihr nicht zu nahe, mit Ausnahme des Mannes, der sich als ihr Schutzengel Adrian vorstellte und versprach, sie vor Unheil zu bewahren.

Um nicht als verrückt abgestempelt zu werden, verriet sie niemandem, was sie sah, und versuchte, die Schutzengel der Menschen zu ignorieren, ihren eigenen eingeschlossen. Sie weigerte sich, auf Adrians Fragen einzugehen oder sich mit ihm zu unterhalten, selbst wenn sie allein auf dem Zimmer waren. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, diese Wesen nicht mehr zu sehen.

„Gut, Dr. Keller“, antwortete sie reichlich verspätet und bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln. Es ging ihr wirklich besser. Vor einer knappen Woche war sie von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt worden und seitdem ging es ihr von Tag zu Tag besser. Aufstehen konnte sie dank eines gebrochenen Beines zwar nicht, aber sie behielt feste Nahrung bei sich und ihr Körper erholte sich zusehends. Die blauen Flecken waren verschwunden, wenngleich noch immer dicke Verbände ihre Brust und Arme zierten. Man hatte ihr von den vielen Verletzungen des Unfalls und den Operationen erzählt, doch Lily war nicht ganz mitgekommen. Sie verstand nicht alle Fachbegriffe. Sie hatte Glück gehabt, da waren sich alle Ärzte einig.

Lily bezweifelte das. Ihre Familie war tot, ein Gedanke, der ihr wie ein Bleigewicht im Magen saß, ihre Kehle zuschnürte und einen dumpfen Schmerz in ihrer Brust auslöste. Sie erinnerte sich zwar nur undeutlich an ihre Eltern, eine kurzzeitige Amnesie, wie die Ärzte ihr erklärten, doch sie verstand, dass sie fortan allein war. Man suchte nach Verwandten und Freunden, doch weder die Polizei noch das Jugendamt war in der Lage, jemanden aufzutreiben, der sich um Lily kümmern würde, wenn sie genesen war. Wie sollte es weitergehen? Ein Heim? Eine Ziehfamilie? Betreutes Wohnen? Sie wusste es nicht.

„… gut aus“, beendete Dr. Keller die Analyse ihrer Vitalwerte und notierte etwas in ihre Patientenakte. Lily hatte nicht zugehört, doch in seinem breiten Gesicht zeichnete sich Zufriedenheit ab. „Wenn du weiterhin so schnell genest, können wir bereits Ende kommender Woche eine Entlassung anpeilen.“

Lily schluckte eine Antwort hinunter. Worte, die jedem anderen Patienten wie eine Erlösung erscheinen mussten, verursachten ihr Panik und Unwohlsein. Sie nickte und grub ihre Finger in die Bettdecke.

„Sorg’ dich nicht, mein Kind“, fuhr der Oberarzt fort und ein breites Lächeln schlich sich in sein Gesicht. Er fuhr sich über seinen kahlen Schädel und brachte die wenigen grauen Haare durcheinander, die er noch besaß. „Frau Mahl vom Jugendamt hat sich für heute angemeldet und wie sie mir verraten hat, scheint sie in den Akten jemanden gefunden zu haben, der sich um dich kümmern kann und will.“

„Wer?“, fragte Lily überrascht.

„Soweit ich weiß eine Patentante von dir.“ Er wiegte den Kopf und runzelte die Stirn. „Es klingt zwar ein wenig seltsam, wenn du mich fragst, aber es wird weitergehen, Lily. Du wirst sehen, alles wird gut.“

 

*~*

 

Das Klingeln der Wohnungstür riss Lily aus ihren Träumen. Es mochte kurz vor Mittag sein, denn die Sonne war bereits herumgezogen und beschien lediglich den einsamen Kaktus auf dem Fensterbrett.

Lily lauschte in die Stille der Wohnung, doch niemand ging zur Tür und sie selbst war zu müde, um sich aus dem Bett zu quälen. Wahrscheinlich war es sowieso nur der Postbote, der zu den Briefkästen wollte, die sich im Eingangsbereich des Mehrfamilienhauses befanden. Gedankenverloren starrte sie an ihre Zimmerdecke und versuchte, die letzten Eindrücke ihres Traumes zu greifen. Seit einiger Zeit träumte sie von ihrem Unfall und der Zeit im Krankenhaus. Ob das an ihren ersten Einsätzen lag, der beständigen Gefahr, die die Jagd nach Vampiren, Werwesen und Feen mit sich brachte? Die Erschöpfung, die ihren Gliedern innewohnte, kannte sie bereits. Als sie nach wochenlangem Liegen und Schlafen mit Hilfe einer Schwester und ihrer Patentante Alina das erste Mal den gelb gestrichen Krankenhausflur entlang gegangen war, hatte sie sich kaum auf den Beinen halten können. Ihre Muskeln hatten am Folgetag geschmerzt, sie sich schlapp und kraftlos gefühlt. Es dauerte, bis sie wieder eine Treppe hinaufsteigen oder durch die Einkaufsmeile von Wiesbaden schlendern konnte, ohne Pausen einzulegen. Vielleicht würde sie sich an die Strapazen einer Jagd ebenso gewöhnen wie an das normale Gehen vor einigen Jahren. Sie bräuchte nur Zeit.

Mit einem Seufzen richtete sie sich auf und strich sich das verschwitzte Haar aus dem Gesicht. Eine Dusche und ein großer Kaffee - und sie war bereit, sich dem Tag zu stellen und über den Kampf gegen die Werwölfe nachzudenken. Gestern war Lily dazu nicht mehr fähig gewesen. Nachdem sie und die anderen wieder in Wiesbaden waren, hatte Alina die Nachbesprechung verschoben und Radu, Hannah und Cionaodh nach Hause geschickt.

Obwohl in Lily dutzende Fragen auf Antwort warteten, war sie letztendlich dankbar gewesen, dass Alina die Diskussionen vertagt hatte. Sie war sogar zum Duschen zu müde gewesen, etwas was sie dringend nachholen musste. Lediglich ihre zerrissene Kleidung hatte Lily abgestreift und ihr Schlafshirt übergezogen, dann war sie ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Adrian würde ihr dafür die Leviten lesen, wenn er in der Nähe wäre.

„Adrian?“, flüsterte sie und horchte in sich hinein. „Bist du da?“

Eine ganze Weile vernahm sie nichts außer dem fernen Geschrei spielender Kinder und einem röhrenden Motor.

Ich bin da. Mach dir keine Sorgen. 

„Wie geht es dir?“

Ein wenig besser, aber noch nicht gut genug, um mich zu zeigen. Lily spürte, dass er mehr sagen wollte, sich jedoch vor ihr verschloss.

„Adrian, sprich mit mir. Ich habe das Gefühl, dass unsere Verbindung immer schwächer wird.“

Das liegt an dem Kampf gestern. Im Laufe des Tages bin ich wieder der Alte. 

Lily schwieg. Sie hatte das Gefühl, dass ihr mentales Band aus mehreren Gründen geschwächt war. Sicherlich war der gestrige Kampf hart und blutig gewesen, doch da war mehr. Ihre Unterhaltung am Vorabend der Party kam ihr in den Sinn. Adrian verschwieg ihr einiges und obwohl es ihr nicht zustand, ihn auszufragen, wuchs ihre Neugierde. Gab es wirklich keine Möglichkeit herauszufinden, was in ihrem früheren Leben passiert war? Waren keine Ausnahmen möglich? Immerhin belasteten diese unausgesprochenen Erklärungen ihre Zusammenarbeit. Wie sollten sie jemals als eingespieltes Team funktionieren, wenn düstere Geheimnisse zwischen ihnen standen? Irgendwann sollten sie in der Lage sein, eine Stunde lang den Körper zu tauschen oder sich über mehrere Kilometer voneinander zu entfernen. Hektor konnte am anderen Ende der Stadt sein, so fest war das mentale Band zwischen ihm und Alina. Im Vergleich dazu erschien Lily die Verbindung zu ihrem Schutzengel geradezu lachhaft.

Sie zwang die unliebsamen Gedanken zurück. Zunächst war es wichtig, dass es Adrian besser ging und er wieder Gestalt annehmen konnte.

Gähnend erhob sie sich und streckte sich wie eine Katze. Eine Dusche erschien ihr immer verlockender. Rasch zog sie eine kurze Hose und ein enganliegendes Top aus ihrem Kleiderschrank und durchquerte den Flur zum Bad. Auf dem Schuhschrank lag ein gelber Zettel. In Alinas schwungvoller Handschrift stand darauf geschrieben: Bin beim Rat, um über den gestrigen Vorfall zu sprechen und Hannah zu entlasten. Reden heute Abend über alles. 

Als Lily aus der Dusche stieg, schallte die Melodie von „Biotopia“ durch die Wohnung. Nur mit einem Handtuch umwickelt, stürzte sie aus dem Bad in ihr Zimmer und angelte nach ihrem Handy. Ohne auf das Display zu achten, nahm sie das Gespräch entgegen.

„Ja?“

„Lily, ich bin’s.“ Radus Stimme klang ein wenig gehetzt, im Hintergrund hörte sie das leise Getuschel von Menschen. Eine Glocke schlug zur vollen Stunde. „Ist Alina da?“

Lily seufzte und kämmte sich mit den Fingern ihr nasses Haar. „Nein“, antwortete sie.

„Kann ich vorbeikommen? Ich muss dringend mit dir sprechen. Es gibt Dinge, die du erfahren musst.“

„Und was?“

„Nicht am Telefon. Ich könnte in fünf Minuten bei dir sein.“

Lily überlegte einen Moment. Mit Radu allein zu sein, war ein Umstand, den sie normalerweise vermied. Allerdings nagte die Neugier an ihr und siegte schließlich. Vielleicht war dies eine gute Gelegenheit, um Radu schonend beizubringen, dass sie nie mehr als Freundschaft für ihn empfinden würde. Sie musste das allmählich klarstellen, wenn sie als Team zusammenarbeiten wollten. „In Ordnung. Gib mir eine halbe Stunde, okay?“

 

Nervosität stieg in ihr auf, als sie Radus Schritte eine knappe halbe Stunde später im Treppenhaus hörte. Zum ersten Mal wünschte sie sich, Adrian wäre bei ihr, selbst wenn er den Vampir auf seine nervende Art anschmachten würde.

„Guten Morgen“, begrüßte sie Radu, der erschreckend blass um die Nase war. Von seinem Schutzengel fehlte jede Spur.

„Wo ist Florica?“

„Ich hab sie unten gelassen, damit sie mir Bescheid geben kann, wenn Alina zurückkommt.“ Er warf einen Blick über die Schulter, dann betrat er die Wohnung. Betont langsam zog er seinen Mantel aus, den er trotz der sommerlichen Hitze als Schutz gegen die Sonne trug. Unsicherheit und Anspannung kennzeichneten seine Bewegungen, egal, wie sehr er sich um eine gelassene Ausstrahlung bemühte.

Lily hob eine Augenbraue. „Hast du Angst vor ihr oder wagst du dich wirklich auf gefährliches Terrain?“

Radu zuckte die Schultern. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Züge, das jedoch seine dunklen Augen nicht erreichte. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf, als er nicht antwortete. Sie schluckte das bittere Gefühl hinunter, das auf ihrer Zunge lag, schlug die Tür zu und lotste den Vampir ins Wohnzimmer. Allmählich machte sich eine Mischung aus Angst und Neugierde in ihr breit. Was wollte Radu ihr erzählen?

Sie setzten sich an den Esstisch, auf dem noch die krümeligen Überreste des gestrigen Frühstücks zu sehen waren. Irritiert wischte Radu sie zu Boden und musterte Lily anschließend gründlich. Tiefe Ringe lagen unter seinen Augen und wirkten seltsam deplatziert in dem perfekt geschnittenen Gesicht.

„Was ist denn nun?“ Lilys Ungeduld wuchs, je länger er sie beobachtete.

Der Vampir ließ sich Zeit, bevor er auf sein Anliegen zu sprechen kam: „Was weißt du über Magier?“

„Das, was jeder Jäger weiß. Sie wirken mit der Seelenenergie der Schutzengel mächtige Zauber und können so die Realität beeinflussen. Und seit gestern weiß ich, dass sie wohl auch in der Lage sind, Menschen und Wesen zu kontrollieren.“

Radu nickte. „Das stimmt. In meinen Augen ist diese Kontrolle viel gefährlicher als die Magie, mit der sie die Wirklichkeit verändern.“ Sein Blick verklärte sich ein wenig und er sah an Lily vorbei. Seine Stimme verlor alle Kraft, als er leise hinzufügte: „Ich selbst weiß, wie es ist, unter dem Bann eines Magiers zu stehen.“

„Wie bitte?“ Lily starrte ihn fassungslos an.

„Ich erzähle nicht gern davon. Alina weiß nichts, die anderen ebenso wenig.“ Er warf Lily einen beschwörenden Blick zu und wartete, bis sie ihm zunickte. „Das Ganze ist fast zwei Jahrhunderte her. Damals war ich noch ein sehr junger Vampir, mein Blutritual mit Florica gerade einmal dreißig Jahre her. Ich lebte mit meiner Familie in einem kleinen Bergdorf in Rumänien. Ich weiß nicht, ob es diesen Ort heute noch gibt, aber das spielt keine Rolle. Die Bewohner wussten von unserem Durst nach Blut, doch da wir uns kontrollieren konnten und nur sehr wenig benötigten, gaben sie uns ihres freiwillig. Als Gegenleistung schützten wir ihr Dorf vor Werwölfen, Räubern und Kriegern.“

Lily lauschte atemlos seinen Ausführungen. Durch das Blutritual erlangten Vampire eine übernatürliche Stärke und Geschicklichkeit, mussten jedoch in regelmäßigen Abständen Blut zu sich zu nehmen, um das Band zwischen sich und ihrem Schutzgeist zu erhalten. Bis zum Tag des ersten Trinkens glichen die jungen Vampire gewöhnlichen Menschen und alterten auf normalem Wege. Was wohl mit den Vampiren geschah, die das Ritual im Rahmen ihrer Volljährigkeit nicht vollzogen? Starben sie wie Menschen? Verloren sie ihren Schutzengel?

„Deswegen bin ich auf Werwölfe spezialisiert“, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu. „Ich hatte es von klein auf nur mit ihnen zu tun und weiß, wie sie zu bekämpfen sind.“

„Alina weiß das, oder?“

„Natürlich, sie schickt mich nicht umsonst immer in erster Reihe los, wenn es zu einer Werwolfjagd kommt.“ Seine Augen blitzen zornig auf. „Deswegen ärgert es mich, dass ich gestern nicht auf meinen Instinkt vertraut habe. Nachdem Cion das Lager nicht finden konnte, hätten wir zusammenbleiben sollen, anstatt uns aufzuteilen. Damit haben wir diesem elenden Magier in die Hände gespielt, da er es gezielt auf dich abgesehen hatte.“

„Wieso bist du dir so sicher, dass ein Magier dahinter steckt?“ In Lily regte sich Widerstand. Ihre Gedanken glitten zu Silas und ein unangenehmer Druck lastete plötzlich auf ihrer Brust. Sie wollte den undurchsichtigen Mann nicht als Gegner haben.

„Ich kenne Werwölfe, weiß, wie sie sich verhalten, was sie antreibt und wie sie jagen. Alles, was gestern passiert ist, spricht gegen ihre Natur. Sie mögen hartnäckige Bestien sein, wenn sie im Blutrausch sind, aber es ist mehr als ungewöhnlich, dass sich ein ganzes Rudel auf eine einzige Zielperson stürzt, wenn in der Nähe noch andere potentielle Opfer sind. Um es ganz pragmatisch auszudrücken: zu wenig Fleisch für alle Wölfe.“

Lily schauderte bei seinen Worten und rieb sich über die Oberarme. „Aber sie hätten doch sicherlich keine Jagd auf dich gemacht.“

„Auf mich vielleicht nicht, auf Alina schon. Sie hätten sich aufgeteilt, um beide Menschen zu verfolgen. Im besten Fall ist ihre Ausbeute dann größer. Dennoch jagten sie nur dich. Die Tatsache, dass sie verwirrt waren und ihnen die Erinnerung fehlte, ist der todsichere Beweis, dass ein Magier dahinter steckt. Sie wurden kontrolliert.“

„Du denkst, Silas steckt dahinter?“

„Natürlich. Er ist der einzige Magier in der Gegend und ich traue ihm nicht.“

„Aber damit würde er dem Rat in den Rücken fallen.“ Lily schüttelte den Kopf. „Er ist ein Teil von ihnen und wird gewiss überwacht. Ich kann mir nicht vorstellen …“

„Ich schon!“, fuhr Radu barsch dazwischen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, bis seine Knöchel weiß hervortraten. „Du weißt nicht, wie sie sind. Sie sind allein auf Macht aus und dafür ist ihnen jedes Mittel recht!“

„Aber warum sollte er mich töten?“

„Was weiß ich? Vielleicht weil du die Fähigkeit des Erkennens hast. Du kannst auf den ersten Blick sehen, ob du es mit einem Magier zu tun hast oder nicht.“ Radu atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Zorn und Hass verdunkelten seine Augen.

Lily wusste darauf keine Antwort. Sie verstand die Zusammenhänge nicht, konnte Radus Ausführungen nicht folgen.

„Alina kann es nicht wissen, kaum jemand hatte jemals mit einem Magier zu tun. Sie leben zumeist unter sich und geben wenig von sich preis. Aber es gibt einen einfachen Weg, einen Magier zu erkennen, wenn man deine Fähigkeiten hat.“

„Wie?“, flüsterte sie tonlos.

Er lehnte sich zurück, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Waren die Schutzengel der Mitglieder des Rates anwesend, als du ihnen vorgestellt wurdest?“ Lily musste nicht einmal den Kopf schütteln, da fuhr Radu bereits fort. „Ein Magier wirkt seine Zauber immer mit der Seelenenergie eines Schutzengels. Zu Beginn ist das sein eigener, später nutzt er die Macht von anderen Schutzgeistern.

Im Grunde sind Magier gewöhnliche Menschen, sie durchlaufen nur kurz nach ihrer Geburt unter der Anleitung eines Magiers einen Initiationsritus, der sie stärker an ihren Schutzengel bindet, als es bei einem gewöhnlichen Menschen der Fall ist. Es ähnelt wahrscheinlich dem Blutritual von uns Vampiren. Während dieser Zeremonie wird ein erzwungener Pakt zwischen dem Neugeborenen und dessen Schutzengel geschlossen, der es dem Magier fortan ermöglicht, auf die Macht eines Begleiters zurückzugreifen. Zudem kann das Kind nach dem Ritual die Seelenenergie eines jeden Schutzgeistes sehen. Das ist der Grund warum Magier mit der Macht fremder Schutzengel zaubern können, wenn sie stark genug sind.“

Lily wusste nicht, woher Radu dieses Wissen hatte, doch sie war zu gebannt von seinen Worten, um ihn zu unterbrechen.

„Nach der Initiation trägt der Magier ein entsprechendes Zeichen auf der Stirn, das nur sichtbar wird, wenn er einen Zauber wirkt. Im Gegenzug dazu büßt der Schutzengel einen Teil von sich ein. Ein neugeborener Begleiter, der gerade erst seine Flügel entfaltet hat, ist nicht in der Lage diesen Energieverlust auszugleichen, also verliert er einen Teil seines Körpers – eine Schwinge, ein Auge, vielleicht sogar einen Arm oder ein Bein. Der Schutzengel eines Magiers ist immer verstümmelt!“

Lily starrte den Vampir an. Ihre Gedanken überschlugen sich, der Druck auf ihrer Brust vergrößerte sich. Sie hatte geahnt, dass Magier über entsetzliche Kräfte verfügten, wusste auch, dass sie die Schutzengel verletzten, wenn sie mit deren Energie zauberten, aber dass es so schlimm sein würde, hatte sie nicht geahnt. „Aber sie haben doch gar keine Wahl! Sie sind schließlich noch Babys. Ihre Familie entscheidet, was geschieht, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen können.“

„Das mag sein, aber dennoch nutzen sie die Seelenenergie, wenn sie sie benötigen. Ich habe bisher von keinem Magier gehört, der seine Macht freiwillig aufgegeben hat.“

Lily dachte an Silas’ jadegrüne Augen, die Ruhe in seinem Blick. Er wirkte nicht wie eines der Monster, die Radu in den schillerndsten Farben beschrieb. Er war auf seltsame Art faszinierend gewesen, aber beängstigend? Nein, Lily war sich sicher, dass von ihm keine Gefahr ausging. Adrians Worte kamen ihr in den Sinn, sein unverhohlener Hass auf das fünfte Ratsmitglied. War sie zu verblendet, um zu erkennen, wie gefährlich Silas wirklich war?

„Woher weißt du das überhaupt alles, wenn es doch kaum ein Außenstehender weiß?“

„Ich wurde einst für einige Monate von einem Magier kontrolliert“, antwortete Radu tonlos. Sein Gesicht glich einer Maske und sein Blick verlor sich in weiter Ferne, als reise er in der Zeit zurück. „Damals tauchte ein Wanderer in unserem Dorf auf – ein seltsamer Mann namens Nazar, der sich ohne Probleme Kost und Logis sicherte. Die Dorfbewohner waren Fremden gegenüber normalerweise immer skeptisch, kaum einer blieb länger als eine Nacht. Doch diesen Mann hießen sie willkommen wie einen verlorenen Sohn, bewirteten ihn und boten ihm sogar die hübschesten Töchter gegen die Kälte der Winternächte an.“ Ein tiefsitzender Schmerz glomm in seinen Augen auf, doch er verschwand so schnell, dass sich Lily nicht sicher war. „Mein älterer Bruder Toma und ich gingen der Sache auf den Grund und erkannten bald, dass er die Familien verzauberte – auf eine Art, die wir nicht kannten. Damals erzählte mir Florica von seinem Schutzengel, dem ein Auge fehlte und der zumeist eher apathisch neben ihm stand. Allerdings wurde Nazar auf uns aufmerksam, bevor wir etwas gegen ihn vorbringen konnten. Und er nutzte seine Fähigkeiten …“

„Er hat deine Familie getötet?“, fragte Lily, die sich nicht mehr zurückhalten konnte.

Zu ihrer Überraschung schüttelte Radu den Kopf. „Das nicht, dazu war er nicht mächtig genug. Menschen zu kontrollieren ist leicht, aber Vampire unter seinen Einfluss zu zwingen und mittels Seelenenergie zu töten, ist wesentlich schwieriger. Es gelang ihm lediglich, Toma und mich unter seine Kontrolle zu bringen. Mehrere Monate spielte er uns gegen unsere Familie aus, säte Zwietracht und zerstörte das Vertrauen, das uns unsere Eltern und Geschwister entgegenbrachten. Als Nazar bemerkte, dass er die Mädchen in seinem Bett hatte, die wir liebten und heiraten wollten, wurde sein Spiel grausamer. Er zwang uns, die Abende und Nächte bei ihm zu verbringen und in dieser Zeit erzählte er viel, besonders, wenn er betrunken war. Er war ein abtrünniger Magier, verstoßen von seinem Orden, und zog durch die Welt. Wahrscheinlich hat Nazar nie gedacht, dass wir uns von seinen Fesseln befreien könnten …“

„Was ist passiert?“

Ein böses Lächeln zuckte über Radus Lippen. „Irgendwann erkannte ich, dass seine Konzentration nachließ, wenn er sich mit den Frauen des Dorfes vergnügte. Und als er mit meinem Mädchen zugange war und mich dabei zusehen ließ, habe ich mich befreit und ihn zerrissen.“ Er machte eine Pause, in der er sich die Lippen befeuchtete und seinen Blick auf Lily richtete. Eine ganze Weile sagte er nichts, dann fragte er leise: „Du kannst dir denken, wie es ausging, oder?“

Lily nickte, doch sie wagte nicht, ihre Vermutung in Worte zu fassen.

„Toma und ich wurden als Mörder abgestempelt und von unserer eigenen Familie aus dem Dorf gehetzt. Plötzlich waren wir die größte Gefahr für das Bergdorf und unsere Sippe glaubte den Bewohnern, die uns anklagten. Sie hatten schon vorher das Vertrauen in uns verloren und da sie ihren Stammsitz nicht aufgeben wollten, hetzten sie uns, wie sie es normalerweise mit Werwölfen tun. Toma hat diese Treibjagd nicht überlebt, mir gelang die Flucht und ich verließ Rumänien – für immer.“

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Lily fehlten die Worte. Sie wusste nicht, was sie zu dieser Offenbarung sagen sollte, aber erstmals glaubte sie, Radu zu verstehen. Er erschien ihr greifbarer, menschlicher und auf eine seltsame Art näher zu stehen. Schließlich sammelte sie sich und sagte: „Es tut mir …“

„Sag das nicht!“, fauchte der Vampir und sprang auf. „Ich habe dir das nicht erzählt, damit du mich bemitleidest, sondern damit du dich vor Silas in Acht nimmst. Er ist gefährlich und du solltest aufpassen, dass …“ Er brach ab und lauschte in sich hinein. Seine Mimik veränderte sich und von einem Moment auf den anderen wirkte er eher panisch als verärgert. „Alina kommt zurück. Ich muss gehen.“

In Windeseile schoss Radu aus dem Wohnzimmer, ergriff seinen Mantel und öffnete die Wohnungstür. Gerade als er ins Treppenhaus trat, drehte er sich zu Lily um und maß sie mit einem undefinierbaren Blick. „Bitte erzähl’ niemandem davon. Meine Vergangenheit geht keinen etwas an.“

Lily nickte und wünschte sich mit einem Mal, mehr über Radu und seine Gedanken zu erfahren. So arrogant und lax ihr der Vampir bisher vorgekommen war, so tiefgründig und geheimnisvoll erschien er jetzt. Trug Radu sein Leben lang eine Maske aus Überheblichkeit und Rebellion, um seine wahre Natur zu verstecken? Wer war der Mann, den sie bisher kennengelernt hatte?

„Schau nicht so, Lily. Zerstöre nie den guten Ruf eines Mannes!“ Er zwinkerte ihr zu. Das spöttische Glitzern in seinen Augen half ihr ihre gewohnte Schlagfertigkeit zurückzuerlangen.

„Welchen guten Ruf?“

Radu lachte kurz auf und entblößte für einen Moment seine Reißzähne. „So gefällst du mir schon besser. Miss diesem Gespräch nicht so viel Wert bei. Die Sache in Rumänien ist zwei Jahrhunderte her. Es gibt nichts mehr zu betrauern oder zu bedauern. Ich bin jetzt ein anderer … Mensch.“

„Idiot.“

Radu winkte ihr zu, dann huschte er lautlos die Treppenstufen hinunter. Lily schloss rasch die Tür, damit Alina sie nicht erwischte, und zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie ließ das Gespräch gedanklich Revue passieren. Was für eine Offenbarung! Wie sollte sie damit umgehen, wie Radu das nächste Mal entgegen treten?

Es beschäftigt dich, nicht wahr? 

„Adrian?“ Lily hob den Blick und sah das schwache Schimmern einer wohlbekannten Gestalt in der Mitte des Zimmers. Adrian erwiderte ihren Blick mit einer Spur Unsicherheit. Er wirkte zierlicher als zuvor. Lily glaube sogar, dass seine Flügel kleiner waren, doch das war unmöglich. Schutzengel veränderten sich nicht über Nacht. Oder war er noch zu schwach? „Du kannst dich wieder materialisieren?“

Ja. Es tut mir leid, wenn ich dir Sorgen bereitet habe. 

„Du Idiot!“ Sie hätte ihn am liebsten umarmt, wenn dies möglich gewesen wäre. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist. Geht es? Hast du Schmerzen?“

Mir geht es gut, Lily. Ich brauche zwar noch einige Tage, aber dann können wir wieder auf Jagd gehen. 

Ihr stiegen unwillkürlich Tränen in die Augen. Sie fühlte sich plötzlich mit der Situation überfordert. Der gestrige Kampf, der kurzzeitige Verlust von Adrians Gegenwart, das Geständnis von Radu und die Probleme, die ein Magier verursachte, rissen ihre Selbstbeherrschung nieder. Sie fühlte sich klein und schwach, wie vor einigen Jahren, als sie den ersten Schritt im Rahmen ihrer Reha gemacht hatte. Damals hatte sie nicht daran geglaubt, dass sie jemals wieder ein normales Leben führen konnte, und es war Adrian gewesen, der sie tagtäglich aufbaute und ihre kleinen Erfolge lobte.

Ein Windhauch strich über ihre Wange; Adrians Hand lag auf ihrer Haut.

Gib dir keine Schuld, in Ordnung? Du hättest nichts gegen die Werwölfe ausrichten können. Es waren zu viele und sie waren zu stark. 

Lily nickte. Ihre Augen brannten, doch sie verbot sich zu weinen. „Was ist gestern eigentlich geschehen?“, fragte sie mit brüchiger Stimme. „Was hast du getan? Dieser Schutzkreis und die Heilung. Wie hast du …?“

Verzeih, Lily. So gern ich dir auch erzählen würde, was ich getan habe, ich darf nicht … 

‚Darfst oder willst du nicht?’, schoss es Lily durch den Kopf. Sie konnte das Gefühl nicht verdrängen, dass es kein Verbot war, das Adrians Lippen versiegelte. Es schien eher ein Entschluss zu sein, den ihr Schutzengel selbst getroffen hatte. Aber er konnte nicht lügen … Ihre Vermutung stimmte einfach nicht mit dieser Tatsache überein!

Der Engel wandte den Kopf ab und wich ein wenig zurück. Langes Haar fiel vor seine Augen, doch er machte sich nicht die Mühe, es zur Seite zu streichen. Er breitete seine Flügel aus, dann legte er sie einem schützenden Mantel gleich um seinen Körper. Du musst verstehen … 

„Ich kann das nicht mehr hören. Erst Alina, jetzt du. Jeder hat Geheimnisse vor mir – du darfst sie mir nicht offenbaren oder erinnerst dich nicht daran, Alina will sie aus anderen abstrusen Gründen nicht preisgeben.“ Was um alles in der Welt war so düster, dass die beiden es vor ihr verheimlichten? Hing all das mit ihrer Kindheit zusammen? Wusste Adrian vielleicht doch, was vor dem Autounfall geschehen war? Ihr fehlte noch immer der Großteil ihrer Erinnerung. Hin und wieder blitzten Bruchstücke in dem großen grauen Nichts auf, das ihre Vergangenheit darstellte – eine düstere Ruine, ihr eigenes Spiegelbild, verzerrte Gestalten, die sie umringten, das Gesicht eines Mannes, das ihr vertraut und doch fremd erschien – doch sie konnte sie nicht zu einem Gesamtbild zusammensetzen.

Ihr Blick huschte zu Adrian, der sie aufmerksam beobachtete. Sein Gesicht verriet nichts und für den Bruchteil einer Sekunde kam er ihr fremd vor, als gehöre er nicht an ihre Seite. Mit jedem Tag wurde die Gewissheit stärker, dass Adrian sich hinter einer Mauer aus Lügen und Schweigen versteckte. Mental kam sie nicht an ihn heran, verbal ebenso wenig. Es war zum Haare ausreißen! Sie spürte, dass ihre Verbindung immer brüchiger wurde, dabei sollte es nach ihrer Prüfung doch stärker werden, sie enger zusammenschweißen. Dennoch schien das Gegenteil einzutreten – sie entfernten sich voneinander.

Lily atmete tief durch. In ihr kämpften die Erkenntnis, dass Adrian sie belügen könnte, und der Wunsch, ihm zu vertrauen miteinander. Schließlich drängte sie die Gedanken zurück. Im Moment waren andere Dinge wichtiger. Adrian hatte sich von dem Angriff und den gestrigen Strapazen erholt!

Entschuldige, Lily. Ich kann mir denken, wie das auf dich wirken muss, aber ich muss mich an meine Gesetze halten. Was Alina anbelangt … Adrian hob die Achseln. Das musst du mit ihr ausdiskutieren. 

Lily nickte stumm. Vielleicht war ein klärendes Gespräch mit Alina keine schlechte Idee. Es war ihr gleich, dass ihre Meisterin um ein paar Tage gebeten hatte – das eine hatte nichts mit dem anderen zu tun. Sie wollte nicht wissen, was gestern Nacht passiert war, sondern was sich vor sieben Jahren ereignete. Ein paar Details und Hintergründe konnte Alina langsam preisgeben. Gerade weil sie ihre Patentante war, musste sie mehr über ihre Eltern wissen als die wenigen Bröckchen, die sie ihr vor Jahren zugeworfen hatte. Weitere Informationen verbarg Alina hinter einer Mauer aus Schweigen, mit dem Unterschied, dass sie nicht an Regeln gebunden war wie Adrian.

Das wohlbekannte Klappern eines Schlüssels im Schloss unterbrach ihre rasenden Gedanken und kurz darauf ertönte Alinas fröhliche Stimme: „Ich bin wieder da.“

Schwungvoll öffnete Lily ihre Zimmertür und rief Alina das erste zu, was ihr in den Sinn kam und nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte. Immerhin wollte sie nicht mit der Tür ins Haus fallen. „Na, wieder da. Wie war’s beim Rat? Was sagen sie zu den Werwölfen und der gestrigen Katastrophe? Hannah wird doch keine Probleme bekommen, oder?“

„Lass mich erstmal ankommen.“ Alina schlüpfte aus ihren Schuhen und fächelte sich Luft zu. Plötzlich schnupperte sie. „Radu war hier, oder?“, fragte sie skeptisch.

Lily fühlte sich ertappt. „Wie kommst du darauf?“

„Ich kenne sonst niemanden, der ein solch aufdringliches Parfum benutzt wie er. Was hat er gewollt? Er hat über Silas gesprochen, oder?“

„Unter anderem“, wich Lily aus und senkte den Blick.

„Diese Idiot! Dabei habe ich ihm gesagt, dass er vorsichtig sein soll. Seine Äußerungen bringen ihn und damit uns noch in Teufels Küche.“ Hektor trat zu Alina und flüsterte ihr etwas zu. Ihre Augen weiteten sich überrascht. „Adrian ist wieder da?“

„Ja, er ist vor einigen Minuten wieder aufgetaucht.“

„Das freut mich, Lily.“ Ihre Augen funkelten, als sie Lilys Hände ergriff. „Wie geht es ihm? Er hat sich schneller erholt als gedacht.“

„Gut soweit.“ Sie schielte zu Hektor, der wie üblich ein desinteressiertes Gesicht zur Schau trug. „Ich würde mich freuen, wenn du ihn die kommenden Tage in Ruhe lassen könntest. Er ist noch ein wenig schwach, aber ich denke, wir können bald wieder voll einsteigen und …“

Alina schüttelte sofort den Kopf. „Das kommt nicht in Frage. Adrian und du werdet vorerst nicht an unseren Missionen teilnehmen.“

Lily hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr erster Auftrag war eine Katastrophe gewesen und jetzt wollte man sie davon abhalten, sich als vollwertiges Teammitglied zu beweisen? Wie hatte sie es die letzten Jahre gehasst, von den anderen daheim gelassen zu werden. „Das kannst du nicht machen! Ich habe hart trainiert, um euch unterstützen zu können. Bitte Alina …“

„Das kommt nicht von mir, Lily. Nach dem Vorfall mit den Werwölfen steht fest, dass ein Magier in der näheren Umgebung sein Unwesen treibt und du sein Ziel bist.“

„Wieso ich?“ Lily ließ die Schultern hängen und sah zwischen Hektor und Alina hin und her.

„Ich weiß es nicht, aber der Rat hat beschlossen, kein Risiko einzugehen und dich nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Bis wir diesen abtrünnigen Magier aufgegriffen oder beseitigt haben, bist du von allen Aufträgen, Aktionen und Jagden ausgeschlossen.“

„Aber …“

„Ich habe alles versucht, doch sie wollten nicht von ihrem Standpunkt abweichen.“ Mit einem leichten Lächeln legte Alina ihr eine Hand auf die Schulter. „Wir können froh sein, dass sie Hannahs Einmischung toleriert haben und auf weitere Nachforschungen verzichten. Mehr konnte ich leider nicht herausholen, tut mir leid.“

Kapitel 7 – Eigenmächtige Aktionen

 

Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist? Adrians Stimme klang zweifelnd und in seinem Gesicht zeichneten sich Sorge und Unsicherheit ab. Er schwebte neben einer riesigen Eiche, die in der Dämmerung wie ein schwarzer, unförmiger Riese wirkte. In den letzten Tagen hatte er sowohl seine Kraft und Energie als auch seine nervende Arroganz wiedergefunden. Seine Flügel leuchteten wieder so hell, wie Lily es gewohnt war, auch wenn sie sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass sie kleiner waren. Sie hatte bei ihm nicht nachgehakt. Ebenso wenig hatte sie Alina ausfragen können, da diese sich durch einen Berg Arbeit zu wühlen schien und Hektor wie einen Wachhund vor der Tür postiert hatte. All ihre Versuche wurden abgewiegelt, egal wie oft Lily um ein klärendes Gespräch bat. Alina wies sie zurück, war zwischendurch kaum zu Hause und hatte sogar den anderen angewiesen, sich vorerst zurückzuhalten. Als wäre es nicht schlimm genug, dass sie ihr die Wahrheit vorenthielt, ihre Patentante klammerte sie absichtlich aus. Unterdessen war Lily frustriert und erschöpft. Die Gesamtsituation zermürbte sie. Ihre Versuche sich anderweitig abzulenken scheiterten ebenfalls. Zwar traf sie sich mit einigen Mitschülern in der Stadt oder genoss einen Nachmittag mit Freunden im Schwimmbad, doch sie konnte ihre kreisenden Gedanken nicht abstellen. Egal wie oft sie sich selbst davon zu überzeugen versuchte, nicht nur an der Vergangenheit festzuhalten, die Sache ruhen zu lassen und im Hier und Jetzt zu leben – es half nichts.

Sie musste selbst auf die Suche nach Antworten gehen, auch wenn sie nicht wusste, wo sie ansetzen sollte. Ob es Akten über sie gab? Alte Zeitungs- oder Polizeiberichte? Da sie nicht einmal wusste, wo der Unfall stattgefunden hatte, war es schwierig, da anzusetzen. Dafür wusste sie, in welchem Krankenhaus sie als Kind gewesen war. Sie versuchte, Ärzte und Schwestern zu erreichen in der Hoffnung, jemand erinnerte sich an sie – bisher ohne Erfolg. Geduld war eine Tugend und Lily besaß sie nicht.

Daher konzentrierte sie sich auf ihre zweite Baustelle. Sie wollte ihrer Aufgabe als Jägerin gerecht und nicht wie ein kleines Kind daheim bleiben.

Deswegen befand sie sich jetzt hier.

Nachts. Mitten im Wald. Ohne zu wissen, wo sie war.

Lily konzentrierte sich wieder auf ihre Umgebung. Sie wollte weder von dem Magier entdeckt werden, der sich hier irgendwo versteckt halten sollte, noch von Alina und ihrem Team, die heute Nacht nach ihm suchten. Eigentlich sollte sie nicht einmal in der Nähe des Waldes sein, aber nachdem sie beim Durchsehen der Akten zufällig auf die geplante Aktion gegen den Zauberer aufmerksam geworden war, wollte sie Gewissheit haben, dass sich nicht Silas hinter der Angelegenheit verbarg. Seit Tagen spukte er ihr im Kopf herum, verfolgte sie sogar bis in ihre Träume. Dabei hatte sie ihn nur ein einziges Mal gesehen und kaum ein Wort mit ihm gesprochen.

Wie lange willst du dich noch im Wald herumdrücken? Gehen wir zurück. Wenn die anderen mitbekommen, dass du hier bist, gibt es gewaltigen Ärger und Hektor wird garantiert mir die Schuld geben. 

„Ich glaube nicht, dass er das tun würde.“

Adrian warf ihr einen skeptischen Blick zu und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie ich sehe, kannst du ihn dahingehend nicht einschätzen. Hast du überhaupt einen Plan? Wir kommen keinen Schritt weiter. 

„Kannst du dich nicht noch einmal vorsichtig umsehen?“, fragte Lily genervt. Die drängenden Worte ihres Schutzengels entfachten ihre Nervosität. Sie hatte tatsächlich keinen Plan.

Das habe ich bereits drei Mal gemacht. Erstens kann ich mich nicht so weit von dir entfernen, und zweitens will ich weder von den anderen noch von diesem Magier entdeckt werden. 

„Ich habe aber sonst keine Ideen“, gestand Lily und spielte mit ihrem Zopf, wickelte sich ihr blondes Haar um die Finger.

Aber wir können nicht ewig … 

„In Ordnung. Gehen wir da lang.“ Lily deutete wahllos in eine Richtung und stiefelte einen unsichtbaren Weg entlang. Der Boden unter ihren Füßen federte leicht. Äste knackten unter ihren Sohlen und Blätter raschelten, als sie an den niedrigen Büschen vorbeiging. Sie kam sich vor wie ein Elefant im Porzellanladen, egal, wie sehr sie sich bemühte, leise und unauffällig zu sein. Wenigstens überdeckten das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume, das leise Knarren der Äste und die Schreie der Vögel ihre Schritte.

Adrian sondierte rund zehn Meter vor ihr die Umgebung. Er wirkte konzentriert, sein Körper angespannt, als rechnete er hinter jedem Busch mit einer Bedrohung. Doch außer aufgeschreckten Rehen, etlichen Waldmäusen und einigen Eichhörnchen, die sich gegenseitig den Stamm einer Eiche hinaufjagten, begegneten sie niemandem.

Eine gefühlte Ewigkeit schlichen sie ziellos durch den immer dunkler werdenden Wald. Nachdem die Sonne untergegangen war, zog die Nacht so schnell herauf, dass es binnen einer halben Stunde fast zu dunkel war, um ohne Taschenlampe durch das dichte Unterholz zu stromern. Wenigstens waren Adrians Flügel hell genug, um die Umgebung auszuleuchten. Dennoch fühlte sich Lily immer unbehaglicher. Es war eine Schnapsidee gewesen, den anderen blindlings zu folgen, ohne zuvor genügend Informationen einzuholen. Ihr Schutzengel hatte lediglich davon berichtet, dass ihre Freunde im Wald nördlich von Wiesbaden auf die Suche nach dem Magier gehen wollten. Wo genau sie sich getroffen hatten, wusste Lily ebenso wenig wie die geplante Route der Jäger. Sie konnten überall sein, Kilometer weit von ihr entfernt.

„Ich glaube, du hast recht“, flüsterte sie Adrian zu, der sofort stehenblieb. „Ohne Plan hierher zu kommen, war einfach nur idiotisch. Es ist besser, wenn wir umkehren und mit dem Nachtbus zurückfahren.“

Zu ihrer Überraschung schwieg Adrian, anstatt sie mit dem üblichen „Ich-hab-es-dir-doch-gesagt“- Kommentar abzuspeisen. Stattdessen zog er die Stirn kraus und sah sich nachdenklich um.

Ist dir aufgefallen, dass wir Aldwyns Villa ziemlich nah gekommen sind? Ich bin mir sicher, dass sich der verborgene Sitz des Rates nicht allzu weit entfernt befindet. 

„Kann schon sein. Und?“

Ich kann mich irren, aber … 

Ein lautes Rascheln unterbrach Adrian, gefolgt von dem unheimlichen Ruf einer Eule. Lilys Herz setzte einen Schlag aus, dann raste es doppelt so schnell weiter. In ihren Ohren rauschte das Blut und eine Gänsehaut überzog ihre nackten Oberarme. Die Angst, die sich bisher nur am Rande ihres Bewusstseins herumgedrückt hatte, fiel über sie her wie ein hungriges Tier. Plötzlich fühlte sie sich wie auf dem Präsentierteller, obwohl sie sich zwischen den Bäumen und Büschen verstecken konnte.

Als sie sich nach Adrian umsah, war der Schutzengel verschwunden. Obwohl sie wusste, dass er lediglich dem Rascheln auf den Grund gehen wollte, schwappte Panik in ihr hoch. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie knapp sie bei dem Angriff vor einer Woche dem Tod entronnen war. Bisher hatte sie derartige Gedanken stets von sich geschoben, doch nun drängten sie unbarmherzig auf sie ein. Mit ihnen kam ein Schockzustand, der es ihr nicht ermöglichte, einen Schritt in Richtung Unterholz zu machen.

Von einem Moment zum anderen war Adrian wieder da. Sein warmes Leuchten war wie Balsam, der Lilys wild schlagendes Herz beruhigte. Allerdings wirkte er aufgebracht. Mit rauer Stimme flüsterte er: Wir müssen hier weg. Dort hinten … Lily? Ist alles in Ordnung? Sein Gesicht nahm einen besorgten Zug an.

Lily zwang sich zu einem Nicken, obwohl sie am liebsten schreien wollte. Kalter Schweiß lief ihr über den Rücken und verbissen kämpfte sie ihre Angst nieder. Wen oder was hatte Adrian ‚dort hinten’ entdeckt?

Noch bevor sie ihn fragen konnte, drangen verworrene Wortfetzen an ihr Ohr. Sie hallten so leise durch den Wald, dass sie nichts verstehen konnte, und sobald eine Windböe durch die Wipfel der Bäume fuhr, gingen die Stimmen im Rauschen der Blätter unter.

„Was ist das?“, flüsterte sie.

Die beiden Männer, die ich eben entdeckt habe. Aber ich weiß nicht, wer sie sind. Es erschien mir als zu riskant, mich ihnen zu nähern. Adrian schloss konzentriert die Augen und lauschte.

„Kannst du verstehen, was sie sagen?“ Lily wartete geduldig. Sie wusste, dass sein Gehör wesentlich feiner war als das ihre.

Leider nicht. Sie flüstern nur und der aufkommende Wind ist nicht gerade hilfreich. 

„Dann müssen wir näher ran.“ Neugierde verdrängte die Angst, die ihren Körper bis dahin gelähmt hatte. Stattdessen erwachte Tatendrang in ihr. Wer um alles in der Welt traf sich mitten in der Nacht zu einem Plausch im Wald? Vielleicht der abtrünnige Magier mit einem Komplizen.

Spinnst du? Ihre Schutzengel würden mich sofort entdecken und sie warnen. 

„Vielleicht sind es normale Menschen, Addy. Die können nicht mit ihren Begleitern sprechen“, versuchte Lily ihn zu beruhigen.

Natürlich! Als würden sich normale Menschen mitten in der Nacht in der Nähe von Aldwyns Palast herumtreiben. Adrian tauchte unvermittelt vor ihr auf und schüttelte den Kopf. Meine Aufgabe ist es, dich zu schützen, und das, was du jetzt vorhast, ist Wahnsinn. Wir wissen weder, wer das ist, noch ob sie uns nicht feindlich gesonnen sind. Wenn es der abtrünnige Magier ist, dann … Er stolperte fast über seine Worte. Kehren wir um. 

„Auf keinen Fall. Jetzt wo wir endlich eine Spur gefunden haben.“

Und wovon? Wer weiß schon, wer sich dort zum mitternächtlichen Stelldichein trifft. Es ist zu riskant. Ich darf meinen Schützling nicht in eine derartige Gefahr bringen. 

Lily schnaubte verärgert und trat entschlossen durch ihn hindurch. Ihre Härchen an den Armen stellten sich auf und ein unangenehmer Schlag fuhr durch ihre Glieder.

Ich hasse es, wenn du das machst! 

„Ich bin eine Jägerin. Da ist Gefahr in gewisser Weise immer ein Begleiter“, sagte Lily, ohne auf Adrians Kommentar einzugehen.

Das ist etwas anderes. Da haben wir Alina und die anderen als Rückendeckung in der Nähe. Dieses Mal sind wir ganz allein und ich habe mich gerade erst wieder gefangen. 

„Vielleicht ist es ja Alina“, erwiderte Lily trotzig und schob sich weiter durch das Unterholz. Sie bemühte sich, noch leiser zu gehen, achtete auf die kleinen Unebenheiten des Bodens und umging trockene Äste und Blätter.

Sie ist es nicht. Ich kenne Hektors Aura, ebenso die von Florica, Sorcha und Charon. Die Schutzengel, die sich da vorne befinden, sind mir vollkommen unbekannt. Adrian schwebte neben ihr her, seine Flügel flatterten nervös. Wenn wir weiter gehen, werden die Begleiter der beiden Männer garantiert auf meine Aura aufmerksam. 

„Dann warte eben hier.“ Lily wusste, dass dieser Vorschlag auf wenig Gegenliebe stoßen würde, doch sie war fest entschlossen, nicht mit leeren Händen zurückzufahren. Wenn sie sich schon eine Standpauke von Alina einfing, wollte sie wenigstens etwas Wichtiges in Erfahrung bringen oder mehr über die momentanen Ereignisse herausfinden.

Bist du verrückt? Das würde ich nie tun! 

„Dann versteck’ eben deine Aura.“

Denkst du, das funktioniert wie eine Taschenlampe?, gab Adrian entrüstet zurück.

„Ich weiß. Aber vielleicht sind die beiden ja wie Logan und hören nicht auf ihre Schutzengel.“

Adrian schnaubte. Statt einer Antwort flog er höher und entfernte sich ein wenig von ihr. Scheinbar hatte er begriffen, dass er sie nicht zur Umkehr überreden konnte, und wollte nun die Umgebung erneut nach Gefahren absuchen. Lily folgte ihm auf leisen Sohlen. Wie eine Katze huschte sie an den Bäumen vorbei und duckte sich unter niedrig hängenden Ästen durch. Allmählich näherte sie sich den beiden Unbekannten. Erste Sätze wehten zu ihr herüber, doch das mochte auch daran liegen, dass die Diskussion hitziger wurde und sie sich nicht mehr um Heimlichkeit kümmerten.

„Ich teile deine Ansichten nicht!“ Die tiefe, männliche Stimme sandte Lily einen Schauder über den Rücken. „Wir müssen handeln, bevor …“

„Nicht so laut!“, unterbrach ihn ein zweiter Mann zischend. Seine Worte gingen in einem leisen Murmeln unter.

„Hier ist doch niemand.“

„Bist du dir da sicher? Wieso hast du überhaupt diesen Ort für ein Treffen ausgewählt? Wir sind zu nah an Aldwyns Villa. Du bringst mich noch in Teufels Küche, Marek.“

Diese Leute kannten Aldwyn? Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Sie schluckte trocken. Unterdessen musste sie nur noch wenige Meter von den Männern entfernt sein. Entschlossen blieb sie stehen und ging in die Knie, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Sie lauschte konzentriert, worüber sich die Männer unterhielten.

„Keine Sorge. Die Jägergruppe ist in einem anderen Teil des Waldes unterwegs“, antwortete der Mann, der Marek hieß. „Ich habe sie im Blick gehabt.“

„Dir sollte klar sein, dass du diesen glücklichen Umstand mir zu verdanken hast.“ Die kühle Stimme nahm an Schärfe zu, als er hinzufügte: „Ich habe Alina einen falschen Tipp gegeben, damit wir bei unserem Gespräch nicht unterbrochen werden. Noch mal werde ich das nicht machen.“

„Wo ist also das Problem, Silas?“

Lily legte die Hände auf die Lippen, um einen erschrockenen Aufschrei zu unterdrücken. Silas war hier? Er traf sich mitten in der Nacht mit einem Fremden im Wald. Wahrscheinlich handelte es sich bei seinem Gesprächspartner um den Magier, der sie angegriffen hatte. Aber das bedeutete, dass Radu und Adrian recht hatten. Atemlos wartete sie auf Silas’ Antwort.

„Als du mich treffen wolltest, habe ich gedacht, dass du wenigstens so clever bist, einen Ort zu wählen, der weiter vom Hauptsitz des Rats entfernt ist. Ich weiß nie, ob man mich nicht doch überwacht.“

„Ich finde das sehr clever. Wir sind direkt vor ihrer Nase, da finden sie uns bestimmt nicht.“

„Lassen wir das. Ich rate dir, unterzutauchen und deine seltsamen Anschläge zu unterlassen. Ich decke dich noch heute Nacht, weil wir Vertraute sind. Wenn du bis morgen nicht verschwunden bist, kann ich nichts mehr für dich tun“, sagte Silas eindringlich. „Warum um alles in der Welt bist du so sehr darauf aus, Lily zu töten?“

Marek zischte etwas, das Lily nicht verstand. Erst nach einer Weile wurden seine Worte wieder klarer. „… einen Fehler. Verstehst du denn nicht, dass wir sie ausschalten müssen, bevor …“

„Ich bin kein Mörder, verdammt“, unterbrach ihn Silas hitzig. „Du willst ein unschuldiges Mädchen umbringen! Wie soll ich das bitte verstehen, wenn du mir einen Großteil deines Wissens vorenthältst! Du sagst mir weder, warum du Lily jagst noch was es mit deinem Rauswurf aus dem Orden auf sich hat. Ich habe einem Treffen zugestimmt, weil ich auf Erklärungen hoffte. Eigentlich ist es mir verboten, dich zu treffen …“

„Es würde zu lange dauern, dir das begreiflich zu machen! Du musst mir in der Sache vertrauen!“ Mareks Stimme überschlug sich. Ein dumpfes Geräusch ertönte, als hätte er mit der Faust gegen einen Baum geschlagen. „Bitte, Silas. Sobald sie tot …“

„Spinnst du, Marek? Wir reden hier von einem Menschenleben! Solang du mir keinen triftigen Grund nennst, werde ich dich weder unterstützen noch decken. Vertraute hin oder her. Du bist derjenige, der mir nicht die Wahrheit sagt.“

„Silas, du verstehst …“

„Still!“, unterbrach ihn Silas und für einen Moment war nur das Heulen des Windes zu hören.

Lilys Herz schlug ihr bis zum Hals. Hatten die beiden sie oder Adrian bemerkt? Erst jetzt fiel ihr auf, dass Adrian noch immer nicht zurückgekehrt war. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie wusste nicht, was sie mehr entsetzte: Dass sie ihre Gegenwart mit hoher Wahrscheinlichkeit bemerkt hatten oder dass sie über sie gesprochen hatten. Nur mit Mühe schob sie die Worte der Männer von sich und atmete tief durch. Zunächst musste sie unbemerkt von hier verschwinden. Sobald sie daheim war, konnte sie sich über Silas’ und Mareks Schlagabtausch den Kopf zerbrechen.

Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit. Auch die beiden Männer schienen sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Sie gaben keinen Laut mehr von sich und Lily war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch da waren.

Wir müssen hier weg. Adrian tauchte aus dem Nichts auf. Sein Blick verriet ihr, wie ernst die Lage war. Ich bin mir sicher, dass sie uns bemerkt haben. 

Lily biss sich auf die Unterlippe. Sie wagte nicht zu antworten, aus Angst, ihre Position zu verraten.

Ihre Schutzengel suchen nach uns. Glücklicherweise haben sie sie in eine andere Richtung geschickt, also bleibt uns ein wenig Zeit, um von hier zu verschwinden. 

Leises Gemurmel drang an Lilys Ohr.

„Bist du dir sicher?“, wisperte Marek. „Teena hat die Umgebung genau sondiert, als wir hier ankamen. Hier war niemand.“

„Es ist besser, wenn wir uns trennen.“ Silas verstummte einen Moment und fügte hinzu: „Felina ist zurück. Alinas Truppe bewegt sich auf uns zu.“

„Verdammt! Ich dachte, du hast …“

„Ich kann keine Wunder bewirken. Wahrscheinlich liegt das an dem Vampir der Gruppe. Radu kann Magier fünfhundert Kilometer gegen den Wind wittern.“ Das Rascheln von Kleidung und schnelle Schritte waren zu hören. Silas schien sich seinen Weg durch das Unterholz zu bahnen, ohne darauf zu achten, leise zu sein. Zu allem Überfluss kam er direkt in Lilys Richtung. „Ich verschwinde und das solltest du ebenfalls tun. Ab jetzt bist du auf dich gestellt, Marek.“

„Silas!“, hörte Lily Marek noch fluchen, dann überschwemmte sie Panik. Sie musste hier weg, bevor Silas sie entdeckte. Wer konnte schon sagen, was er unternehmen würde, wenn er sie sah.

Ungeschickt kam sie auf die Beine. Ihre Oberschenkel waren eingeschlafen und kribbelten unangenehm. Sie versuchte sich an einigen Schritten, doch sie sackte unweigerlich in die Knie. Es fühlte sich an, als bestünden ihre Muskeln aus Pudding. „Verdammt!“

Lily, er kommt! 

Noch bevor sie Adrian antworten konnte, schoss eine Gestalt um den Baum. Lily blieb keine Zeit, um auszuweichen oder den Mann zu warnen. Ungebremst stieß er mit ihr zusammen und riss sie zu Boden. Sein schwerer Körper landete auf ihr und presste ihr alle Luft aus den Lungen, sodass ihr Aufschrei auf ihren Lippen erstarb. Tränen schossen ihr unwillkürlich in die Augen. Die Wurzel eines Baumes drückte gegen ihren Rücken.

Lily brauchte einen Atemzug, um sich zu sammeln und Silas direkt in die Augen zu sehen. Der Magier starrte sie mit einer Mischung auch Verblüffung, Wut und Sorge an. In seinem Haar hingen Blätter, ein schmutziger Streifen Erde zog sich über seine eingefallene Wange. In diesem Moment wirkte er weder unnahbar noch so seltsam distanziert wie bei ihrer Vorstellung vor dem Rat. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, zum einen, weil er sie entdeckt hatte und sie nicht wusste, was er nun mit ihr machen würde, zum anderen … Lily schob die unliebsamen Gefühle von sich, die ihr ein Kribbeln im Magen bescherten. Jetzt war nicht die Zeit für verrücktspielende Hormone.

„Was machst du hier?“, zischte er und rollte sich von ihr herunter. Er rappelte sich auf und strich sich die Blätter aus den Haarsträhnen.

„Ich …“

„Still!“ Irgendwo ganz in der Nähe splitterte Holz und eine Reihe dumpfer Schläge dröhnte durch den Wald. Etwas kam, bahnte sich tosend einen Weg durch das Unterholz. Keuchender Atem und die bekannten Geräusche eines erbitterten Gefechts mischten sich darunter. Nur wenige Meter von ihnen entfernt begann ein Kampf auf Leben und Tod. Silas ballte die Hände zu Fäusten, als ein leiser Schmerzensschrei erklang. Lily konnte nicht sagen, ob er von einem Mann oder einer Frau stammte.

Silas, sie greifen Marek an. 

Lilys Blick fiel auf einen ihr vollkommen unbekannten Schutzengel. Sie war größer als Adrian, der neben ihr kniete und Silas feindlich anfunkelte. Ihre hagere, schlanke Gestalt, gepaart mit dem ausgezehrten und seltsam unförmigen Gesicht, erschreckte Lily bis ins Mark. Nie zuvor hatte sie einen Schutzengel gesehen, auf den die Wörter wunderschön und ebenmäßig nicht zutrafen. Und doch war Silas’ Schutzgeist weder hübsch, noch strahlte sie die perfekte Erhabenheit aus, die sie kannte. Ihr schulterlanges Haar wirkte struppig und ihren Augen fehlte der friedliche Glanz. Am schlimmsten waren jedoch die Flügel, die aus ihrem Rücken wuchsen. Während die rechte Schwinge zwar zerzaust, jedoch von normalem Wuchs war, fehlte ihr linker Flügel. Lediglich ein kümmerlicher Stumpf ragte aus ihren Schulterblättern, als hätte man ihr die Schwinge mit einem Schlag abgetrennt.

„ … nicht im Stich lassen, Felina. Flieg zurück, ich komme gleich nach.“

Lily verstand kaum, was der Magier sagte. Sie konnte ihren Blick nicht von der missgestalteten Felina wenden. Erst als sie zwischen den Bäumen verschwand und sich Silas vor sie kniete, sah sie zu ihm. „Was?“, fragte sie heiser.

„Du bleibst hier und rührst dich nicht vom Fleck. Mach’ es bitte nicht noch schlimmer.“ Ein stilles Flehen lag in seinen Augen.

Plötzlich schoss Adrian hoch. Sein ganzer Körper drückte Anspannung und höchste Alarmbereitschaft aus. Hektor! Ich spüre seine Aura, aber irgendwas stimmt nicht. 

„Wie meinst du …?“

Ein lauter Schrei unterbrach Lily, bohrte sich wie eine glühende Klinge in ihr Herz und lähmte sie. Sie erkannte die verzerrte Stimme sofort, hörte den Schmerz und die Todesangst, die ihr das Blut in den Adern gefror.

„Alina!“

Pures Adrenalin schoss durch ihren Körper und half ihr, auf die Beine zu kommen. Weder Silas, der sie mit beiden Händen zurückhalten wollte, noch Adrian, der ihr eine panische Warnung zurief, konnten sie aufhalten. Mit einem Satz sprang sie über die niedrigen Büsche und rannte an einer dicht stehenden Baumgruppe vorbei. Sie huschte über weitverzweigte Wurzeln und wich wuchernden Farnen aus. Die Sorge um Alina verlieh ihr Flügel.

Lily, bleib’ stehen. Was du versuchst, ist Wahnsinn. Adrian flog direkt über ihr. Er machte sich nicht die Mühe, den Bäumen auszuweichen, sondern glitt direkt durch die Äste und Stämme hindurch, ein Umstand, der bewies, wie tief seine Sorge reichte.

Lily blieb ihm eine Antwort schuldig. Sie hetzte um einen Baum und blieb abrupt stehen, als sie die Gestalt eines Mannes sah, flankiert von einem Schutzengel, der in seiner Art Felina ähnelte. Auch ihm fehlte ein Flügel, doch seine Statur war kräftiger und sehniger. Als sie auf Lily deutete, fuhr der Fremde zu ihr herum und offenbarte ein blutverschmiertes Hemd, das ihm vollkommen zerfetzt von den Schultern hing. In seinen Augen glomm Hass auf, als er Lily erkannte.

„Wie praktisch. Das erspart mir die Suche nach dir.“ Seine Stimme glich einem schrillen Kreischen und Lily brauchte einen Moment, um darin Marek wiederzuerkennen, den sie noch vor zehn Minuten belauscht hatte. Dunkles Haar wehte ihm ins Gesicht und überdeckte die Platzwunde an seinem Kopf.

Wenn er zaubert, haben wir keine Chance, sagte Adrian. Wir müssen hier weg. 

Lily achtete kaum auf ihn. Ihr Blick heftete sich auf einen leblosen Körper, der zwischen den Büschen lag und den sie kaum erkennen konnte. Rotes Haar schimmerte im Lichtschein von Mareks Schutzengel und für eine Sekunde flackerte Hektors Gestalt auf. Nie zuvor hatte sie den stolzen Schutzengel so hilflos gesehen. Seine Flügel waren verschwunden, ebenso sein inneres Leuchten. Er kniete neben der Person, die reglos zu Mareks Füßen lag, fuhr mit zitternden Händen über die Brust seines Schützlings, als suchte er nach ihrer Seele.

In Lily zerbrach etwas. Sie ahnte, wen Marek im Kampf besiegt hatte, doch sie verdrängte jeden Gedanken daran, um nicht vollkommen die Kontrolle zu verlieren. Alina hatte ihr einst gesagt, dass sie in einem Kampf auf Leben und Tod nicht in Trauer verfallen durfte, selbst wenn ihre Freunde direkt neben ihr fielen. Dafür blieb Zeit, wenn man den Sieg davon getragen hatte. Wie ihre Meisterin es ihr einst gezeigt hatte, atmete sie tief durch und hob den Blick zu Marek, der sie keine Sekunde aus den Augen ließ.

„Nimm es mir nicht übel, Mädchen, aber du bedeutest zu viel Gefahr. Ich beende es schnell und schmerzlos, wie bei dieser Frau.“ Der Magier hob die Hand und flüsterte Worte, die Lily nicht verstehen konnte. Ein helles Symbol glomm auf seiner Stirn auf.

Im nächsten Moment schrie Adrian auf und sackte in sich zusammen. Er schlang die Hände um seinen Körper, als wollte er das dünne Rinnsal Licht aufhalten, das wie Nebel aus seiner Brust aufstieg. Es waberte über den Boden, direkt auf Marek zu. Nie zuvor hatte Lily etwas Derartiges gesehen. Es schien, als zapfe Marek die Seelenenergie ihres Schutzengels ab. Der Lichtstrom sammelte sich in der Hand des Magiers zu einer leuchtenden Kugel. Sie tauchte die Büsche und Bäume in gleißend helles Licht, malte harte schwarze Schatten auf den hügeligen Boden.

„Tauschen wir!“, rief Lily ihrem Schutzengel zu. „Wenn du in meinem Körper bist, kannst du …“

Auf keinen Fall, presste Adrian zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Schweiß stand auf seiner Stirn und ein Zittern wanderte durch seinen Körper. Sobald ich mit dir tausche, kann er dich mit diesem Zauber direkt angreifen und töten. Was glaubst du wohl, wird passieren, wenn wir tauschen? Dein Körper wird sterben, ebenso wie Alina. Ich bin mir sicher, dass sie mit Hektor getauscht hat, um Marek zu besiegen und deswegen … 

Lilys Gedanken überschlugen sich. Wenn sie nicht auf Adrians Hilfe zählen konnte, blieb ihr nur eine Möglichkeit. Zu allem entschlossen, ballte sie die Fäuste und stürzte los. Sie hatte nicht nur den gemeinsamen Kampf mit Adrian gelernt, sondern auch ihren eigenen Körper trainiert. Alina hatte sie in verschiedenen Kampftechniken unterrichtet, Radu und Hannah ihre Geschicklichkeit und Angriffskraft verbessert.

Mit einem Aufschrei erreichte sie Marek und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Das leuchtende Band flackerte. Einen Moment lang wunderte Lily sich, dass es ihr so leichtgefallen war, den Magier zu erreichen, doch der Gedanke verwehte, als Marek zum Gegenschlag ausholte. Sie wich dem ungezielten Tritt mit Leichtigkeit aus und brachte ein wenig Abstand zwischen sich und den Magier. Der Mann wirkte verwirrt, doch er fing sich schnell. Offensichtlich hatte er nicht mit einer direkten Attacke gerechnet, doch diesen Fehler würde er gewiss nicht wiederholen.

„Ich hätte es dir gerne einfach gemacht.“ Blut strömte aus Mareks Nase und unter seinem Auge bildete sich ein dunkler Fleck. „Warum hast du dich nicht einfach mit deinem Schutzengel verbunden, so wie sie es tat?“

„Lass Alina aus dem Spiel!“ Lily spie ihm die Worte entgegen. Hass und Abscheu rangen in ihr. Am liebsten wollte sie sich auf ihn stürzen, das Gesicht zerkratzen und ihm jeden Knochen im Leib zerbrechen. Einzig ein Blick zu Adrian, der mit verbissenem Gesichtsausdruck den Kopf schüttelte, hielt sie zurück.

Noch immer existierte das leuchtende Band zwischen ihrem Schutzengel und Marek, noch immer labte sich der Magier an seiner Kraft. Die Energiekugel war nach Lilys Attacke zwar verschwunden, doch das Leben floss weiterhin aus Adrian heraus wie aus einer zerbrochenen Karaffe. Wie lange würde ihr Schutzengel diese Prozedur durchhalten? Er war noch immer von ihrem letzten Kampf geschwächt.

„Du hast keine Chance gegen mich“, grollte Marek. Das Zeichen auf seiner Stirn schlug Funken. „Die Energie deines Schutzengels fließt in meine Hände und nichts kann diesen Zauber beenden, es sei denn, ich lasse ihn freiwillig fallen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis seine Seelenenergie aufgebraucht ist, und dann bist du mir schutzlos ausgeliefert. Ich rate dir aufzugeben, bevor er verschwindet.“ Seine Züge nahmen einen eindringlichen Ausdruck an, als er mit ernster Stimme hinzufügte. „Du hast keine Ahnung, was geschieht, wenn ein Mensch stirbt und sein Schutzengel nicht da ist, um die Seele auf den Weg zu bringen.“

Lily knirschte mit den Zähnen. Eine innere Stimme wisperte ihr zu, dass ihre Chancen sanken. Adrian konnte ihr nicht helfen, sein inneres Leuchten verblasste von Minute zu Minute. In einem direkten Kampf konnte sie Marek nicht bezwingen. Seine schnelle Reaktion und der Tritt in Richtung ihrer ungeschützten Seite waren Beweis genug, dass Marek kämpfen konnte. Zudem wusste sie nicht, welche magischen Fähigkeiten in ihm schlummerten.

Er kann Wesen unter seine Kontrolle zwingen, aber keine Menschen. Adrians Stimme glich einem heiseren Flüstern. So wie die Werwölfe, die dich angegriffen haben. Deswegen hat es auch nur Alina bis hierher geschafft. Die anderen müssen unter seinem Bann stehen, und die Energie, die er mir gerade entzieht, verstärkt vermutlich seinen Zauber. Der einzige Vorteil ist, dass er keine Magie gegen dich wirken kann, weil ihm dafür die Macht fehlt. 

‚Deswegen greift er mich nicht mit seiner Zauberkunst an’, schoss es Lily durch den Kopf. Sie ersparte sich die Frage, woher Adrian diese Informationen hatte. Vielleicht von Hektor, der noch immer neben Alinas totem Körper kniete, einen rot leuchtenden Schmetterling zwischen seinen Fingern. War das Alinas Seele?

„Du steckst in einer Zwickmühle, wie mir scheint“, höhnte Marek und bewegte spielerisch seine Finger um das leuchtende Band. „Was wirst du nun machen? Deine Freunde können dir nicht helfen, dein Schutzengel wird in wenigen Minuten nicht mehr sein und wenn du glaubst, mich im direkten Kampf schlagen zu können …“ Er ließ den Satz absichtlich offen und ging in Verteidigungsposition. Schlagartig wurde Lily bewusst, dass ihr erfolgreicher Angriff ein purer Glückstreffer gewesen war.

Dennoch blieben ihr keine Alternativen. Sie konnte nicht einfach herumstehen und auf das Unvermeidliche warten. Dann war es besser, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen! Mit einem wütenden Aufschrei stürzte sie sich auf Marek. Ihr Gegner wich ihrem ersten Schlag geschickt aus, blockte einen weiteren Hieb ab und wich ein Stück weit zurück. Lily setzte augenblicklich nach, zielte mit einem niedrigen Schlag auf seinen Magen, doch sie streifte ihn lediglich. Ihr Tritt in die Knie wehrte Marek mit einer leichten Drehung ab und ging schließlich zum Gegenangriff über.

Ein wildes Handgemenge entbrannte. Marek kämpfte nicht nur geschickt und ausdauernd, er war auch ein guter Taktiker, der jeden ihrer Angriffe durchschaute. Während er sie hart an der Schulter traf oder ihre Beine wegkickte, landete sie nur leichte Treffer.

Ein kurzer Hieb gegen ihre Schläfe ließ sie rückwärts gegen einen Baum taumeln. Unterdessen tat ihr alles weh. Wenn sie diesen Kampf überlebte, würde ihr Körper von einem blaugrünen Flickenteppich übersät sein. Von dem blutigen Kratzer an der Stirn einmal abgesehen. Halbherzig blockte sie einen geraden Faustschlag, der auf ihr Gesicht zielte, und erntete dafür einen Tritt in den Magen. Mit einem Keuchen wich Lily alle Luft aus den Lungen. Ihre Augen brannten und Tränen liefen ihr über die Wangen.

Sie sank zu Boden. Verschwommen sah sie Marek über sich, der einen weiteren Zauberspruch intonierte. Wie es ihm gelang, sich auf zwei Zauber zu konzentrieren, war ihr ein Rätsel. Ob Adrian sich irrte? Eine knisternde Energiekugel flackerte auf, schwebte unheilvoll über seiner rechten Hand. Es sah aus, als hätte er einen Blitz eingefangen, um diesen nun wie eine Waffe gegen sie zu verwenden. Ihr fehlte die Kraft für einen weiteren Angriff. Ihre Lungen pfiffen, ihr Herz raste und in ihren Gliedern machte sich eine taube Müdigkeit breit.

Lily! Nie zuvor hatte sich Adrians Stimme panischer angehört. Steh auf und lauf weg. 

Was für ein idiotischer Vorschlag! Als ob sie ohne ihren Schutzengel von hier fliehen konnte. Selbst wenn, ihre Beine fühlten sich wie Gummi an. Sie zweifelte, auch nur einen Schritt gehen zu können, von Rennen ganz zu schweigen.

Wag es ja nicht aufzugeben! Hör mir zu und sprich mir nach: Pericu… 

Adrians Worte gingen in einem plötzlichen Knall unter. Grelles Licht flammte direkt vor Lilys Augen auf. In ihren Ohren klingelte es und für wenige Sekunden glaubte sie, erblindet zu sein. Schwarze Unendlichkeit erfüllte ihr Blickfeld, dann gewöhnte sie sich wieder an die nächtliche Umgebung. Büsche, Bäume und Mareks Silhouette schälten sie langsam aus der diffusen Dunkelheit. Aus irgendeinem Grund wirkte der Magier entsetzt, hatte seine Aufmerksamkeit von ihr abgewandt.

Noch bevor sie erkennen konnte, was ihren Gegner so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig: Marek verschwand aus ihrem Blickfeld, ein Ruck lief durch ihren Körper, als sie jemand auf die Beine zerrte und in Adrians Richtung stieß. Leider kam sie nicht weit. Bereits nach wenigen Metern stürzte sie zu Boden und vergrub ihre Finger keuchend ins taunasse Moos. Ihr Herz raste, vor ihren Augen drehte sich alles.

Lily, ist alles in Ordnung? 

Woher war Adrian so plötzlich gekommen? Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass ihr Schutzengel neben ihr kniete, doch jetzt spürte sie den angenehm kühlen Lufthauch, der über ihre Wange glitt. Verwirrt sah sie zu ihm. Er wirkte erschöpft, rang sich aber zu einem Lächeln durch. Das helle Band, das sich aus seiner Brust gewunden hatte, war verschwunden. ‚Wie um alles in der Welt …?’

Schau nicht mich an … Adrian deutete auf einen Punkt hinter Lily. Er hat dir das Leben gerettet. 

Sie fuhr herum und fixierte die zusammengesunkene Gestalt, die neben einem reglosen Körper kniete. Im ersten Moment glaubte Lily Radu zu sehen, der sich über Alinas Leichnam beugte, dann erkannte sie in der Silhouette Silas. Er hatte die Hände auf Mareks Brust gelegt, seine Lippen bewegten sich stumm. Es dauerte eine Weile, bis ein schwarzer Schmetterling träge zwischen Silas Händen empor flatterte und zu Mareks Schutzengel flog.

„Es tut mir leid, Teena. Bring ihn sicher nach Hause.“

Das Gesicht des Schutzengels glättete sich und mit einem kurzen Nicken wandte sie sich ab. Ihr Körper verblasste, als Teena sich vom Boden abstieß und zwischen den Ästen der Bäume entlang gen Himmel strebte, eine leuchtende Spur hinter sich herziehend.

Silas, sie kommen. Felinas Stimme zerriss die unnatürliche Stille wie ein Donnerschlag. Wenn der Vampir uns hier neben der Leiche der Anführerin sieht … 

„Ich weiß.“ Mit einem Fluch auf den Lippen sah Silas zu Lily. Falten gruben sich in seine Stirn und seine Augen blitzten verärgert auf. Er zögerte nur einen Wimpernschlag, dann trat er zu Lily und riss sie grob hoch. Ohne sich um ihren momentanen Zustand zu kümmern, drängte er sie vor sich her. „Beweg dich! Ich muss hier weg, bevor dein Herzblatt auftaucht und …“

Trotz und Gegenwehr erwachten in Lily und sie versuchte, sich aus seinem stahlharten Griff zu winden. „Lass mich gefälligst los! Und wen meinst du mit Herzblatt?“

„Na, diesen Vampir.“

Nicht nur Lilys Gedanken stolperten bei diesem Kommentar. Woher um alles in der Welt wusste er von Radus Gefühlen für sie? Sie taumelte vor Erschöpfung, doch noch bevor sie erneute Bekanntschaft mit dem Boden machte, schlang Silas seine Arme um sie. Mit rasendem Herzen erwiderte sie seinen forschenden Blick, stemmte sich jedoch abwehrbereit gegen seine breite Brust. Plötzlich regte sich eine Erinnerung in ihr, zerrte an ihrem Bewusstsein und verwehte, noch bevor sie die Hand danach ausstrecken konnte.

Im nächsten Moment erklangen laute Schreie, das Bersten von Holz und wütendes Knurren. Ein dunkler Schatten schoss wenige Meter von ihnen entfernt aus dem Unterholz, gefolgt von einem riesigen Wolf. Eine tiefe Spur hinterlassend, bremste Radu seinen Lauf und sah sich mit glühenden Augen um. Erschreckend schnell erfasste er die Situation, als er Alinas toten Körper entdeckte, und Lily, die sich in Silas Armen wand. Ein Grollen entrang sich seiner Kehle, vermischte sich mit dem wütenden Knurren Hannahs, die sich an Radus Seite aufbaute. Sie fletschte die Zähne, schob sich angespannt näher.

„Ich wusste, dass man einem Magier nicht trauen darf!“, zischte Radu. Seine Fangzähne sorgten für ein leichtes Lispeln, das nicht über die gefährliche Aura, die er verströmte, hinwegtäuschen konnte. „Lass Lily auf der Stelle frei und ich verspreche dir einen schnellen Tod.“

Silas fluchte leise und riss Lily herum, um sie wie ein Schutzschild vor seinen Körper zu halten. „Dieses Angebot muss ich leider ablehnen, Radu. Stattdessen werde ich Lily mitnehmen, damit ihr mich gehen lasst.“ Von einem Fingerschnippen begleitet, bildete sich eine kleine blau schimmernde Lichtkugel direkt unter Lilys Kehle. Eisige Kälte schlug ihr entgegen und automatisch legte sie den Kopf in den Nacken, um mehr Abstand zwischen sich und Silas’ Zauber zu bringen.

Dieser Mistkerl!, zischte Adrian. Sein Gesicht glich einer grotesken Maske und seine Augen funkelten hasserfüllt Felina an, die unter Silas Zauber zusammensackte.

„Du verdammter …“, zischte Radu.

„Überleg’ dir, was du sagst. Du weißt genau, was das hier ist.“ Egal wie ruhig Silas nach außen hin wirkte, Lily spürte, wie ein Zittern durch seinen Körper lief und wie sein sich Herzschlag beschleunigte. „Lasst mich einfach gehen und ihr wird nichts geschehen.“

„Damit du sie auch noch umbringen kannst?“ Cionaodh tauchte zwischen zwei Bäumen auf, Sorcha an seiner Seite.

„Glaub mir, wenn ich das vorgehabt hätte, hätte ich sie schon längst getötet. Sobald ich unbehelligt den Rand des Waldes erreicht habe, lasse ich sie gehen und ihr seht mich nicht wieder.“

Nicht einmal Lily nahm ihm diesen Vorschlag ab. Er würde wohl kaum seinen Trumpf aus der Hand geben.

„Du hast Alina getötet!“ Radus Stimme überschlug sich. Er trat einen Schritt vor und ballte die Hände kampfbereit zu Fäusten.

Silas schwieg. Wieso klärte der Magier dieses Missverständnis nicht auf? Er hatte Alina weder getötet noch angegriffen. Im Gegenteil.

„Und diesen Menschen hier.“ Cionaodh neigte sich über Mareks toten Körper, der mehrere Meter abseits des Geschehens im Gebüsch lag. „Ein nächtlicher Wanderer, der dir in die Quere kam?“

Lily verengte die Augen zu Schlitzen. Sahen sie nicht, dass der Tote einst ein Magier gewesen war? Begriffen sie nicht, dass Silas für Alinas Tod nicht verantwortlich war?

Gerade als sie eingreifen und die Umstände richtigstellen wollte, wandte sich Silas’ Schutzengel an sie: Bitte nicht. Ich flehe dich an, sag nichts. Ansonsten bringst du ihn in größere Schwierigkeiten, als du denkst. 

Lily starrte sie an. Eine Vielzahl Fragen türmten sich in ihr auf, doch keine von ihnen erreichte Felina, da Lily es nicht wagte, sie auszusprechen. Wieso riskierte Silas sein Leben für sie? Weshalb gab er sich vor ihren Freunden als Entführer aus, anstatt die Wahrheit zu sagen? Weil Radu ihm keinen Glauben schenken würde? Oder steckte hinter Silas’ Aktionen mehr? Folgte er einem kruden Plan, den Lily nicht durchschauen konnte?

Sie schielte zu ihm hinauf, versuchte, in dem markanten Gesicht zu lesen. Es glich einer Maske, die sie weder mit ihren Blicken durchdringen noch mit Worten herunterreißen konnte. Lediglich das Funken schlagende Zeichen auf seiner Stirn war in Bewegung. Es vertiefte die Schatten, die sein Gesicht fast unheimlich wirken ließen. Warum tat er das? Ungewollt fixierte sie das Symbol auf seiner Stirn. Auf absurde Art kam es ihr bekannt vor. Für eine Sekunde verschwamm der nächtliche Wald um sie herum und ein düsteres Gewölbe flackerte vor ihrem geistigen Auge auf. Hohe Säulen strebten anstelle der Bäume nach oben und das feuchte Moos verwandelte sich in feinen Staub und Dreck. Roter Lichtschein gab dem Ort eine unheimliche Atmosphäre. Ein undefinierbarer Schrei zerriss die Stille und brachte sie in die Realität zurück.

Schweiß perlte über ihre Stirn, als sie sich umsah. Die Szenerie hatte sich nicht verändert. Ihre Freunde umringten Alinas und Mareks Leichname, Silas’ Zauber war noch immer auf ihre Kehle gerichtet. Sie diskutierten aufgebracht, doch ihre Worte erreichten Lily nicht. Es fühlte sich an, als sei sie taub geworden.

Lily … Adrians Stimme schob sich in ihr Bewusstsein. Was hast du? 

Lily reagierte nicht. Der kurze Flashback saß ihr in den Knochen, hatte sie vollkommen verwirrt. Nie zuvor hatte sie eine solch heftige Rückerinnerung erlebt. Hatte sie einen Blick in ihre Vergangenheit geworfen? Etwas Ähnliches hatte sie einst in einem ihrer Alpträume gesehen.

Sie fixierte Silas, dem Unsicherheit und Angst ins Gesicht geschrieben standen. War seine Gegenwart dafür verantwortlich, dass sich ihre Erinnerungen an die Oberfläche drängten? Ein vollkommen irrationaler Gedanke kam ihr in den Sinn: Kannte sie ihn womöglich von früher? Das würde Adrians Unmut ihm gegenüber erklären, wenngleich er sich mit den Worten Inkarnation und Schweigepflicht herausgeredet hatte, als sie sich über Silas unterhalten hatten. Ob Adrian sie angelogen hatte? Egal wie unsinnig dieser Gedankengang war, Lily konnte ihn nicht mehr abschütteln. Vielleicht durften Schutzengel doch lügen, wenn es dafür einen triftigen Grund gab. Einen Grund, der in Lilys Vergangenheit zu suchen war.

Sie musste mehr erfahren. Hier bot sich ihr unvermittelt die Möglichkeit, all die Antworten zu finden, die Adrian und Alina ihr vorenthalten hatten.

„Ich begleite ihn.“ Obwohl sie nicht laut sprach, schien jeder ihre Worte gehört zu haben. Radu schnappte hörbar nach Luft, Hannah entwich ein überraschtes Jaulen und Cionaodh keuchte auf. Sogar Silas wirkte verwirrt, als er mit zusammengezogenen Brauen zu ihr sah.

Bist du wahnsinnig? Adrian hatte sich als Erster gefangen. Panik flackerte in seinem Blick auf. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie sich mein Schützling in die Hände eines solchen Monsters begibt! 

„Lily, das kann unmöglich dein Ernst sein“, schaltete sich Radu ein. „Dieser Kerl ist gefährlich.“

Lily suchte fieberhaft nach eine plausiblen Erklärung. Sie konnte ihnen unmöglich ihre wirklichen Beweggründe offenbaren. Ihre Freunde würden sie für verrückt erklären und wer wusste schon, ob Silas freiwillig mitmachen würde, wenn er erkannte, dass sie ihn für ihre Nachforschungen missbrauchte. „Genau deswegen will ich es nicht darauf anlegen. Im Gegensatz zu dir weiß ich nicht, was dieser Zauber bewirkt, und ich habe nicht vor, es auf direktem Weg herauszufinden. Sehen wir der Wahrheit ins Gesicht. Weitere Gespräche bringen uns nicht weiter, deswegen sollten wir uns Silas’ Willen beugen. Ich bin mir sicher, dass er sein Wort hält und mich am Waldrand freilässt.“

„Dieser Vorschlag ist inakzeptabel.“ Cionaodhs Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. Sein Seelentier peitschte knurrend mit dem Schwanz, die Ohren angelegt und zum Angriff bereit. „Alina hätte dies nie zugelassen. Wer kann schon sagen, dass er sein Wort hält?“

„Ich verspreche es“, sagte Silas. „Ich lasse sie gehen, sobald wir den Waldrand erreichen.“

Stille zog auf. Sie befanden sich in einer Sackgasse, kamen weder vor noch zurück. Radu war anzusehen, dass er Silas’ Angebot nie annehmen würde, Cion schien ebenfalls dagegen zu sein und Hannah wirkte zwar ruhiger, doch Lily ahnte, dass auch sie sie nicht gehen lassen würde. Dazu war die Situation zu extrem, die Stimmung zu sehr aufgeladen.

„Ich bin dennoch dagegen!“, knurrte Radu.

„Hast du einen besseren Vorschlag?“, fragte Lily.

„Den habe ich!“ Cionaodh wandte sich direkt an Silas. „Du lässt Lily gehen und wir versprechen dir, dich nicht zu verfolgen.“

Der Magier schüttelte bereits den Kopf, als der Feenmann zum Sprechen ansetze. „Das hatten wir bereits. Ich vertraue euren Zusicherungen nicht.“

„Aber von uns verlangst du es?“, fauchte Radu und fletschte die Zähne.

Die Situation war wirklich festgefahren. Lily biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Sie musste alles auf eine Karte setzen, wenn sie aus dieser Situation herauskommen und Silas begleiten wollte. „Dann vertraut meiner Entscheidung!“, forderte sie mit fester Stimme. „Momentan geht es um mich, also liegt es an mir, die Richtung zu bestimmen.“

Cionaodh runzelte die Stirn und fuhr sich nachdenklich über das Kinn. In seinem Gesicht spiegelten sich unterschiedliche Emotionen wieder, doch Lily war nicht in der Lage, in Cions Mimik zu lesen. Auch Sorcha, die normalerweise der Spiegel seiner Seele war, offenbarte nichts. Sie hockte sich vor ihn und senkte den Kopf, als würde sie ebenfalls grübeln. Auch Radu und Hannah dachten über ihre Worte nach.

Schließlich nickte Cionaodh widerwillig. „Meinetwegen. Aber wenn Lily nicht bis morgen früh wohlbehalten bei uns ist, jagen wir dich bis ans Ende der Welt.“

„Gott, klingt das melodramatisch“, rutschte es Silas so leise heraus, dass es nur Lily hören konnte.

„Bist du wahnsinnig?“, schnaubte Radu und trat wütend einige Schritte auf Cionaodh zu.

„Hast du eine bessere Idee? Lily ist noch immer eine Jägerin. Sie kann sich zur Wehr setzen, wenn es sein muss.“

„Aber …“

„Würdest du endlich meine Entscheidung akzeptieren?“, fiel ihm Lily ins Wort. Mit herrischer Stimme fügte sie hinzu: „Ich vertraue Silas. Er wird mir weder etwas antun, noch wird er sein Wort brechen. Also lasst uns endlich gehen!“

Kapitel 8 – Geheimnisse und Erklärungen

 

„Du vertraust mir also?”

Silas Stimme wirkte in der Stille, die seit einer halben Stunde zwischen ihnen hing, wie ein Donnerschlag. Dennoch sagte Lily kein Wort und stapfte in Gedanken versunken neben ihm her. Seitdem sie Lilys Freunden den Rücken zugewandt hatten und zwischen den Bäumen verschwunden waren, herrschte eisige Stille. Glücklicherweise folgten sie ihnen nicht. Entweder hatten Lilys Worte Eindruck hinterlassen, oder Cionaodh und Hannah hielten Radu in Schach, damit er nicht hinter ihnen herjagte. Zumal sie sich auch noch um Alinas Leichnam kümmern mussten.

Lily schluckte verbissen die aufsteigenden Tränen hinunter. Ihr Herz wurde schwer, als sie an ihre Meisterin, Patentante und Freundin dachte. Erst jetzt, wo die nächtliche Lautlosigkeit des Waldes ihr die Luft abzuschnüren drohte, wurde sie sich des wahren Ausmaßes dieser Tragödie bewusst. Alina war fort. Nie wieder würden sie gemeinsam herumalbern, frühstücken und gegeneinander kämpfen. Ihr fröhliches Lachen war verstummt und mit ihr auch Hektors bissige Bemerkungen und seine unnachahmlich stoffelige Art. Schon beim ersten Treffen im Krankenhaus hatte Lily Alina ins Herz geschlossen. Sie war ihre Familie geworden. Sieben Jahre lang gingen sie durch dick und dünn.

Das Gefühl des Verlustes lastete wie ein Bleigewicht auf Lilys Schultern und drückte sie zu Boden. Ihre Beine fühlten sich schwer und ungelenk an, als wollten sie unter der unsichtbaren Last einbrechen. Was sollte aus ihr werden? Alina war die Einzige, die ihr geblieben war.

Ich bin doch noch da, Lily. Adrian legte einen Arm um ihre Schulter und auch wenn sie seine Berührung nicht spüren konnte, munterte sie die kleine Geste auf. Sie war froh, dass ihr Schutzengel an ihrer Seite war. Sie rechnete ihm hoch an, dass er sich mit Kommentaren bezüglich ihrer Entscheidung, Silas zu begleiten, zurückhielt. Sie hätte einen Eid darauf schwören können, dass er ihr die Leviten lesen würde, sobald sie Radu, Hannah und Cionaodh verlassen hatten. Doch Adrian schwieg, als ahnte er, was in ihr vorging. Wahrscheinlich tat er das sogar, auch wenn ihr geistiges Band nur schwach ausgeprägt war.

Das mit Alina tut mir sehr leid. Ich wünschte, ich hätte ihr helfen können. 

Obwohl die Worte eher beiläufig klangen, spürte Lily, wie ernst es Adrian war. Er teilte ihren Verlust. Auf eine vollkommen irrationale Art vermisste er scheinbar sogar Hektor.

„Ist schon gut“, murmelte sie und wischte sich verstohlen über die Augen.

„Dein Schutzengel hängt wirklich an dir“, startete Silas einen neuen Versuch, ein Gespräch zu beginnen. Auf Lilys fragenden Blick hin, deutete er auf Felina. „Sie hat mir erzählt, wie er sich dir gegenüber verhält. Außerdem höre ich, was du sagst. Kannst du dich nicht im Stillen mit ihm unterhalten?“

Dieses Mal sammelte Lily sich und schob die Gedanken an Alina beiseite. Sie würde später noch Zeit finden, über ihre Freundin nachzudenken und zu trauern. Hoffentlich konnte sie der Beisetzung beiwohnen. Sie hatte nie gefragt, was aus Jägern wurde, die im Kampf fielen. Kümmerte sich der Rat um sie? Oder überließ man das den Familien? Vielleicht kümmerte sich Alinas Tante um die Beerdigung. Lily musste die alte Dame unbedingt anrufen, auch wenn diese sie nicht leiden konnte. Sie schien nie verstanden zu haben, warum Alina ein elfjähriges, fremdes Mädchen bei sich aufgenommen hatte.

„Adrian ist immer an meiner Seite“, erwiderte Lily reichlich verspätet. „Und er mag dich nicht.“

Über Silas Gesicht huschte nur ein erleichtertes Lächeln. „Das hat mir Felina bereits gesagt. Adrian scheint sie ebenfalls nicht sonderlich zu mögen. Er hat wohl Angst vor ihr, weil sie nicht perfekt ist.“ Die letzten Worte spukte er aus wie ein giftiges Insekt.

„Das glaube ich weniger.“ Sie schielte zu Adrian, der überhaupt nicht auf Silas reagierte.

„Naja, die wenigsten Jäger mögen Magier. Du kannst dir ja denken, warum.“

„Mir ist egal, was die anderen reden.“

„Ich weiß. Du vertraust mir schließlich.“

Peinlich berührt starrte sie auf den unebenen Waldboden, als erforderte das wild wuchernde Wurzelwerk ihre gesamte Aufmerksamkeit. Hatte sie das wirklich gesagt? Vertraute sie ihm? Für einen Moment flackerte die kurze Vision vor ihrem geistigen Auge auf, die sie beim Anblick des Symbols auf seiner Stirn übermannt hatte. Konnte es sein …? Sie gab sich einen Ruck und stellte die Frage, die ihr am meisten unter den Nägeln brannte: „Kennen wir uns, Silas?“ Nach kurzen Zögern fügte sie hinzu: „Sind wir uns schon einmal begegnet?“

Verdutzt blieb er stehen und starrte sie mit einer Mischung aus Überraschung, Spott und Nervosität an. „War das eine Anmache? Wenn ja, war sie sehr flach.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen.

Lilys Mund klappte auf. Sie holte erschrocken Luft und konnte nicht verhindern, dass ihr die Röte noch heftiger in die Wangen schoss. Hatte sie diese Frage so falsch formuliert oder wollte er sie einfach nur falsch verstehen? „Blödsinn! Ich hab’ das ernst gemeint!“

„Also, war es wirklich eine An…?“

„Nein!“, fauchte sie entrüstet. „Ich wollte wissen, ob wir uns schon mal begegnet sind.“

Er überlegte einige Minuten, die sich für Lily wie eine Ewigkeit anfühlten, und schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste.“

Lily sackte in sich zusammen. Enttäuschung machte sich in ihr breit und sorgte dafür, dass Alinas Verlust noch stärker schmerzte. Es fühlte sich an, als hätte sie erneut etwas Wichtiges verloren. Dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte, schien ihre Gefühlswelt zu ignorieren.

„Lass den Kopf nicht hängen, Lily.“ Silas legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. Im Gegensatz zu Adrians Berührung fühlte diese sich warm und freundlich an. „Ich bin mir sicher, dass sich für alles eine Lösung findet. Sobald wir den Waldrand erreichen, kannst du …“ Er verstummte und legte nachdenklich die Stirn in Falten, als er ihr spitzbübisches Grinsen sah.

„Wenn du denkst, dass du mich am Waldrand loswirst, hast du dich geschnitten.“ Lily stemmte die Hände in die Hüften und funkelte Silas an. „Ich begleite dich!“

Schweigen schlug ihr entgegen. Silas war zu verdutzt, um auf ihre Worte zu reagieren, Adrian zu entsetzt. Schließlich fing sich ihr Schutzengel und polterte los: Bist du verrückt? Er ist ein Magier. Du hast gesehen, was mir sein Freund angetan hat. Er tigerte aufgebracht zwischen zwei Bäumen hin und her und warf die Hände in die Luft. Und dennoch willst du ihn begleiten? Freiwillig? Das lasse ich nicht zu. 

„Beruhige dich, Adrian!“, unterbrach sie seinen Redeschwall. „Ich will wissen, was hier vor sich geht; was dieser Marek gegen mich hatte und warum mich Silas beschützt hat! Ich will wissen, warum Alina sterben musste und was dieses nächtliche Gespräch zwischen Silas und seinem Freund zu bedeuten hat.“ Keuchend brach Lily ab. Sie schenkte Silas einen flammenden Blick in der Hoffnung, dass er ihr die letzte Frage bereits jetzt beantwortete, doch der Magier schwieg. ‚Egal, ich finde schon noch heraus, was du weißt. Und mit etwas Glück erfahre ich mehr über meine Vergangenheit und es kommen weitere Erinnerungen zurück, wenn ich in seiner Nähe bin’, dachte sie im Stillen.

„Eine sehr beeindruckende Ansprache“, sagte Silas nach einer Weile.

Schlagartig wurde Lily bewusst, dass der Magier alles mit angehört hatte. Wieso nur konnte sie sich noch immer nicht auf gedanklichem Weg mit Adrian unterhalten? Sie hasste es, dass sie ihre Worte laut aussprechen musste, um sich mit ihrem Schutzengel zu unterhalten.

„Ich gehe nicht davon aus, dass ich dich davon überzeugen kann, dass wir uns am Waldrand trennen?“

Lily schüttelte den Kopf.

Silas seufzte und rieb sich das Kinn. „Ich denke, das klären wir später. Zunächst möchte ich möglichst viele Kilometer zwischen deinen Freund und mich bringen.“

„Das hast du vorhin schon gesagt. Wen meinst du?“

„Den Vampir natürlich …“

„Radu ist nicht mein Freund!“

Silas zuckte mit den Schultern. „In Ordnung, mein Fehler. Trotzdem will ich nicht unnötig lange hier bleiben. Freund oder nicht, er wird uns garantiert irgendwann folgen.“ Mit einer Hand deutete er zu einigen Bäumen hinüber. „Wir sind gleich da. Mein Auto steht direkt am Waldrand.“

 

Der Morgen graute bereits, als sie durch die kleinen Seitenstraßen des Rheingauviertels fuhren und nach einem Parkplatz Ausschau hielten. Silas Auto, das tatsächlich unweit des Waldrandes stand, hatte sich als Jeep entpuppt. Lily hatte nicht damit gerechnet, dass ein Mann wie Silas ausgerechnet einen Jeep besaß, doch er schien den Wagen zu lieben. Er mochte technisch nicht auf dem neusten Stand sein und hatte mit Sicherheit seine zehn Jahre auf dem Buckel, aber er war gepflegt und sauber. Kein Müll, der sich im Fußraum des Beifahrers sammelte, wie Lily es von ihren Exfreunden kannte. Sie hasste es, mit einem Schuh auf einem leeren Coca-Cola-Becher zu stehen und mit dem anderen eine CD-Hülle zu zerbrechen. Von Essensresten, alten Zahnbürsten und, im schlimmsten Fall, benutzten Taschentüchern einmal abgesehen.

Silas lenkte den Jeep routiniert und ersparte sich irgendwelche angeberischen Worte. Die Stille, die nun zwischen ihnen stand, war nicht unangenehm oder befremdlich, sondern wirkte auf eine paradoxe Art beruhigend. Es gelang ihr sogar, für einen Moment die Augen zu schließen und wegzudämmern, bis Silas sie vorsichtig anstieß und bat, ebenfalls nach einem Parkplatz zu suchen. Erst als sich ein morgendlicher Pendler auf den Weg zur Arbeit machte, fanden sie eine Lücke.

„Du wohnst gar nicht so weit weg von …“ Lily brach ab und seufzte, als sie an Alinas leere Wohnung dachte.

„Ich mag alte Häuser und hier ist es halbwegs ruhig. Zudem bin ich schnell in der Innenstadt.“ Silas deutete auf ein fünfstöckiges, weiß getünchtes Haus im Klassizismusstil. Große, wuchtige Balkone bestimmten das Wohnhaus ebenso wie wilder Wein, der sich am Mauerwerk nach oben rankte. Der kleine, verwilderte Vorgarten war von einem schmiedeeisernen, kunstvoll verarbeiteten Zaun umgeben und in die große, hölzerne Eingangstür waren farbige Scheiben eingelassen, die ein faszinierendes Gesamtbild ergaben. Hinter den meisten Fenstern war es dunkel, nur in einer Wohnung waren die Menschen schon auf den Beinen.

Lily wusste nicht, was sie sagen sollte. Schweigend wartete sie, dass Silas aus dem Jeep kletterte und den Eingang ansteuerte. Er würde doch keinen Rückzieher machen? Sie wollte Antworten und war fest entschlossen, diese zu bekommen.

Als Silas sich immer noch nicht rührte, räusperte sie sich vernehmlich.

Er zögerte einen Moment und stieg schließlich aus. Felina schwebte sofort an seine Seite und begleitete ihn Schritt für Schritt durch den kleinen Garten.

Lily verdrehte die Augen und folgte ihm in die angenehm laue Morgenluft. Geräuschvoll warf sie die Tür ins Schloss und flüsterte Adrian zu: „Der stellt sich vielleicht an. Als würde er ein jungfräuliches Mädchen vor den Augen seiner Eltern mit in sein Zimmer nehmen.“

Du musst zugeben, dass dieser Verdacht naheliegt. 

„Blödsinn. Erstens bin ich nicht hierhergekommen, um mit Silas in die Kiste zu steigen, zweitens bin ich keine Jungfrau mehr und drittens glaube ich nicht, dass Silas mit seinen Eltern zusammenwohnt.“ Sie zögerte und fügte sehr leise hinzu. „Irgendwie wirkt er nicht mal so, als hätte er welche.“

Jetzt machst du dich lächerlich. Der ist wohl kaum aus einem Ei geschlüpft. Adrians Stimme triefte vor Spott.

„Das weiß ich selbst. Es war nur das Gefühl, das ich hatte.“ Sie fuhr herum und sah ihm ins Gesicht. „Aber schön, dass du wieder mit mir redest. Ich hätte gedacht, dass du mindestens drei Tage kein Wort mit mir wechselst, weil ich mit ihm gegangen bin.“

Der Engel wiegte den Kopf und schloss die Augen. Das würde mir auch nichts bringen. Meine Sympathien Magiern gegenüber halten sich stark in Grenzen. Sie benutzen immerhin die Seelenenergie ihrer und fremder Schutzengel, um zu zaubern und … Er schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr: Ich könnte sagen, was ich will. Sobald du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, bist du nicht mehr davon abzubringen. Also denke ich mir lieber meinen Teil und versuche, dich so gut es geht zu beschützen. 

„Ich frage mich, ob du mir auch wirklich alles sagst. Du hasst Magier wirklich, aber ich weiß nicht, warum. Radu hat mir erklärt, woher seine Abneigung kommt, aber du …“ Sie beobachtete aufmerksam seine Miene, doch Adrian zuckte nicht einmal mit der Wimper.

Du weißt doch, dass ich dir nichts sagen darf. 

Lily schwieg, beschränkte sich nur darauf, ihn anzustarren, als könnte sie ihm damit alle Geheimnisse entreißen.

Er wartet, sagte Adrian und wich ihrem Blick aus.

Lily sah zu Silas hinüber, der mit einer Zigarette zwischen den Lippen an der Hauswand lehnte und in ihre Richtung blickte. Aus irgendeinem Grund erschien es ihr seltsam, den jungen Mann mit einem Glimmstängel zu sehen.

„Entschuldige“, sagte sie. Rasch schloss sie zu ihm auf und ignorierte den beißenden Qualm seiner Zigarette.

„Macht nichts. Ich dachte, ich lass dir Zeit, um deinen Entschluss zu überdenken.“ Er drückte die halb aufgerauchte Zigarette an der Hauswand aus und warf sie zu Boden. „Immerhin kommen ab jetzt eine Menge Schwierigkeiten auf uns zu. Sobald klar ist, dass ich dich nicht freigelassen habe, bin ich meinen Platz im Rat los und werde unter Garantie auf die schwarze Liste gesetzt. In spätestens drei Tagen werden alle Jäger aus dem Rhein-Main-Gebiet hinter uns her sein.“ Er hustete leise. „Und von da ist es nicht mehr weit, bis sie begreifen, dass du freiwillig bei mir bist. Dann kannst du weder nach Hause noch deine Freunde kontaktieren, wenn du sie nicht in Gefahr bringen willst.“

„Denkst du nicht, dass du ein wenig überdramatisierst?“

Silas schüttelte den Kopf.

„Woher sollen sie denn wissen …?“

Werwesen werden das am Geruch mitbekommen, wenn sie den Vorfall untersuchen. Von den Feenwesen und ihrem Hang zur Natur ganz zu schweigen, schaltete sich Felina ein. Selbst wenn deine Freunde dich decken sollten, werden sie diese Lüge nicht ewig aufrechterhalten können. Im schlimmsten Fall werden sie als Verräter festgesetzt. 

Lily schluckte. Sie hatten recht. Der Rat würde ihm etliche Teams auf den Hals hetzen und irgendwann würden sie ihnen auf die Schliche kommen. In Silas‘ Wohnung wären sie nicht lange sicher. Sie mussten schnellstmöglich untertauchen und im Geheimen weiter agieren. Im nächsten Moment fiel ihr die seltsame Wortwahl des Magiers auf, die sie unbewusst in ihre Gedanken übernommen hatte. „Uns?“

„Natürlich, immerhin arbeiten wir jetzt zusammen. Oder kann ich dich noch abwimmeln?“

„Nein!“

„Dann habe ich dich in den Augen deiner Freunde entführt und der Rat wird diese Version von ihnen zu hören bekommen. Auch wenn es nicht unbedingt mein Plan gewesen ist, dich zu entführen. Allerdings fiel mir nichts Besseres ein, um erstmal mit heiler Haut davonzukommen, als Radu und die anderen auftauchten. Dass ich vorhatte, mein Versprechen gegenüber deinen Freunden zu halten und dich gehen zu lassen, ist irrelevant, da du unbedingt bei mir bleiben willst. Ich kann deine Beweggründe verstehen und da auch ich nach Antworten suche und eine Jägerin im Kampf gegen andere Jäger garantiert nicht verkehrt ist, können wir uns genauso gut zusammentun.“

„Geht es um das, was Marek wusste?“, wagte Lily einen Schuss ins Blaue.

Silas musterte sie aus dem Augenwinkel. „Unter anderem. Er war mein bester Freund, verstehst du? Zwischen ihm und mir stand nichts Unausgesprochenes, und dennoch …“ Er verstummte und schüttelte den Kopf.

„… hatte er Geheimnisse?“

„Ja.“

„In denen es um mich ging?“ Lilys Herz schlug vor Aufregung schneller. Sie fuhr sich durch das Haar und wickelte sich eine Strähne um die Finger.

Silas’ Hand zitterte, als er die Türklinke herunterdrückte. „Scheinbar. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie das alles zusammenhängt. Wieso hat er nur …“ Er schüttelte den Kopf und betrat den kühlen Hausflur. Ohne darauf zu achten, ob Lily ihm folgte, strebte er der Treppe entgegen.

Die Sache mit Marek hat ihn tief getroffen. Felina schenkte Lily ein scheues Lächeln. Immerhin waren sie … 

„Felina!“, ertönte Silas’ schneidende Stimme.

„Was waren sie …?“, fragte Lily leise.

Ich darf nicht … Du musst dich noch etwas gedulden und ihm ein wenig Zeit geben. Irgendwann wird er es dir erzählen. Felina wandte sich ab und strebte ihrem Schützling zu.

Lilys Blick folgte dem zierlichen Schutzengel. Eine Gänsehaut breitete sich trotz der morgendlichen Schwüle auf ihren Unterarmen aus. Für eine Sekunde warf sie einen kurzen Blick über die Schulter die Straße entlang, überlegte, ob sie Silas und Felina nicht doch den Rücken kehren sollte. Wenn sie jetzt davonlief, würde sie keinen Schritt weiterkommen, egal wie verlockend die Aussicht war, mit halbwegs heiler Haut davonzukommen. Entschlossen betrat sie das Wohnhaus. Es gab kein Zurück mehr. Mit etwas Glück brachte Silas sie der Wahrheit näher, egal ob durch gemeinsame Nachforschungen oder durch weitere Visionen.

Na, das scheint ja wirklich interessant zu werden, meldete sich Adrian zu Wort. Du hast dich dieses Mal definitiv in den Falschen verguckt. Silas scheint mir eher auf Männer zu stehen. 

„Wie bitte?“

Das heißt, Silas ist schwul. 

„Wie um alles in der Welt kommst du denn auf diesen Blödsinn?“

Ich lese zwischen den Zeilen. Allein seine Worte – es stand nichts Unausgesprochenes zwischen ihnen. Von Felinas Andeutung ganz zu schweigen. 

„Blödsinn.“

Sie waren Vertraute. Unter Magiern findet man ein solches Bündnis zumeist unter Verliebten und Pärchen. 

Lily hatte das Gefühl zu fallen, als hätte Adrian ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, als zwei Fragen in ihr Bewusstsein drängten: War sie in Silas verliebt? Und war der Magier wirklich eher an Männern interessiert? Die Worte waren tatsächlich verflucht doppeldeutig und Silas’ von Trauer gezeichnetes Gesicht sprach Bände. Wieso hatte er sie dann überhaupt gerettet? Aus welchem Grund hatte er seinen … Liebhaber getötet? Das ergab alles keinen Sinn.

Noch da? Adrian wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum. Haben dich meine Worte so geschockt? 

„Nein.“ Sie schob sich brüsk an ihrem Schutzengel vorbei. „Und ich bin nicht in ihn verliebt!“

Erzähl das jemand anderem! Ich kenne dich, Lily. 

Lily ließ ihn einfach stehen. Mit schnellen Schritten holte sie Silas ein, der bereits im dritten Stock vor einer weißen Tür stand und mit einem Schlüsselbund hantierte. Er schloss auf, trat beiseite und ließ Lily zuerst eintreten. Vor ihr erstreckte sich ein schmaler, heller Flur, von dem aus vier Türen abgingen. Es war ein wenig stickig in der Wohnung, doch angenehm kühl, was an den hohen Decken lag.

„Willkommen“, sagte Silas übertrieben feierlich, schob sich an ihr vorbei und streifte sich die Stiefel von den Füßen. „Fühl’ dich wie zu Hause. Kaffee? Tee?“

„Kaffee, danke.“ Lily schob den Anflug von Unsicherheit von sich und schlüpfte rasch aus ihren Schuhen. Obwohl ihre Neugier sie zu den geschlossenen Türen treiben wollte, um die Wohnung zu inspizieren, folgte sie Silas in eine kleine, aber gemütliche Küche. Die Sonne fiel durch das Fenster und malte sanfte Schatten auf die gelben Wände. Die Einrichtung war dank der weißen Einbauschränke zwar ein wenig steril, doch Lily störte dies nicht. Sie nahm auf einem der Klappstühle Platz, die überhaupt nicht zu dem auf alt getrimmten Holztisch passten. Adrian stellte sich wie immer neben sie und behielt Silas und Felina im Auge. Glücklicherweise schwieg er sich hinsichtlich seiner Vermutungen zu Lilys Gefühlen und Silas’ Homosexualität aus, sodass sie schnell zu einer inneren Ruhe und einer gewissen Neutralität fand.

Auch Silas blieb stumm, während er die Kaffeemaschine befüllte und startete. Seine Schultern wirkten angespannt, seine Bewegungen fahrig, wenngleich er sich große Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Dennoch konnte er Lily nicht täuschen. Sie dachte über die Worte seines Schutzengels nach. Wenn Marek und Silas wirklich ein Paar gewesen waren, ahnte sie, womit sich ihr Retter gedanklich herumschlug. Immerhin hatte er sich für sie entschieden, ein Mädchen, das zur falschen Zeit am falschen Ort war. Er war seinem Freund in den Rücken gefallen.

„Danke“, flüsterte sie und atmete tief durch.

Silas sah sie überrascht an. „Wofür? Der Kaffee ist doch noch gar nicht fertig.“

„Idiot – ich bedanke mich für deine Rettung vorhin. Du hast diesen Marek angegriffen, um mich zu beschützen und ich habe mich noch nicht bei dir bedankt. Deswegen …“ Die Gedanken entglitten ihr, als er sich zu ihr umdrehte. In seinen grünen Augen glomm ein warmes Licht, das sich sofort auf sie übertrug und in ihr ausbreitete.

„Gern geschehen.“ Ein Lächeln huschte über seine Züge. „Magst du vielleicht frühstücken?“ Er öffnete den Kühlschrank, der jedoch außer einer alten Margarinepackung und zwei Gläsern Marmelade nichts enthielt.

Lily unterdrückte mühsam ein Kichern und schüttelte den Kopf. „Du scheinst nicht auf Besuch eingerichtet zu sein.“

„Ich esse zumeist außerhalb oder im Ratsgebäude. Deswegen …“ Er zuckte mit den Schultern.

„Eine Dusche wäre toll“, gestand Lily. Sie fühlte sich schmutzig in ihrer leichten Hose und dem weiten Shirt. Was täte sie nicht alles für frische Kleidung, vorzugsweise ihre eigene. Sie hatte nichts bei sich außer der kleinen Tasche, die Geldbörse, Papiere und Handy enthielt.

„Das ist kein Problem. Ich kann dir etwas von mir zum Anziehen geben, wenn das okay ist.“

Lily nickte automatisch. „Gerne.“

Wenige Minuten später stand sie unter dem warmen Wasserstrahl und genoss das wohlige Gefühl. Schweiß und Dreck wurden fort gewaschen und augenblicklich fühlte sie sich besser. Die Nacht steckte ihr noch immer in den Knochen, die vielen Begebenheiten und Alinas Tod. Bisher blieben Schmerz und Trauer aus, doch Lily wusste, dass sie irgendwann mit voller Wucht auf sie zukommen würden. Sobald sie zur Ruhe kam und ihr Verstand die Tragweite der Ereignisse erfasste, würde sie sich nicht mehr so teilnahmslos und stark geben können. Sie fürchtete sich vor dem Moment. Weder wollte sie schwach erscheinen, noch jemandem zur Last werden.

Wirst du wirklich hier bleiben? Adrian kauerte auf dem Boden in der hintersten Ecke des schmalen Raumes. Sie spürte seinen Blick, obwohl er durch die beschlagenen Scheiben der Duschkabine kaum etwas sehen dürfte.

„Ja“, erwiderte sie mit fester Stimme. Sie schloss die Augen, als sie sich das Shampoo aus den Haaren wusch. „Ich will Antworten. Alina hat mir nie welche gegeben, du darfst oder willst mir nichts sagen und …“

Silas kann dir doch ebenso wenig helfen, warf Adrian ein. Was wollt ihr machen, wenn die Jäger hier auftauchen? Du denkst nicht weit genug, siehst alles viel zu kurzfristig. Deine Lizenz kannst du vergessen, wenn du dich mit einem Verräter einlässt, der für den Tod deiner Meisterin verantwortlich ist. 

„Ist er nicht“, brauste Lily auf und fluchte kurz darauf, als ihr Seifenlauge in die Augen lief. „Er hat …“

Und wer kann das bezeugen? Als Radu und die anderen kamen, waren Marek und Alina tot und er nahm dich als Geisel. 

„Ich bin freiwillig mitgegangen.“

Glaubst du wirklich, das werden die anderen in ihrem Bericht erwähnen? In dem Punkt hat Felina recht: die anderen werden dich decken. Adrian erhob sich und blieb direkt vor der Duschkabine stehen. Sein Gesicht wirkte seltsam verschwommen, Wassertropfen rannen ihm optisch über die Wangen, als würde er weinen. Sie sind deine Freunde. Sie werden dich schützen, also wird Silas in ihrem Bericht der Schuldige sein. Alina hat ihn und Marek bei einem konspirativen Treffen erwischt, bringt Marek zur Strecke und wird dafür von Silas getötet. Oder es heißt, dass er einen verirrten Wanderer angegriffen und niedergestreckt hat und Alina ihn daraufhin stellen wollte. Er bringt sie um, nimmt dich anschließend gefangen, um fliehen zu können und bricht sein Versprechen, weil er dich nicht gehen lässt … 

„Aber …“ Lily drehte das Wasser ab und schob die Falttür auf. Entgeistert sah sie zu ihrem Schutzengel.

Alinas Team steht hinter dir. Sie werden dich nicht in die Misere reiten und einige Dinge in ihrer Berichterstattung verschweigen. Allerdings klappt das nur, solange du nicht aktiv mit Silas zusammenarbeitest. Sobald für den Rat ersichtlich wird, dass du freiwillig bei ihm bist, werden ihre Aussagen in Frage gezogen. Spätestens dann haben Radu und die anderen ein Problem. 

Lily seufzte. Sie angelte nach einem Handtuch und wickelte es sich um den Körper. Adrian weckte ihr schlechtes Gewissen. Sie wollte ihre Freunde nicht in Gefahr bringen. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als den Weg fortzusetzen, den sie eingeschlagen hatte, zumal es für Silas definitiv kein Zurück mehr gab. Sobald sie ihm den Rücken kehrte, wäre er den Jägern vollkommen schutzlos ausgeliefert. Für den Moment war sie als Geisel sein wichtigster Trumpf.

So schweigsam kenne ich dich gar nicht, Lily. 

„Ich brauche Zeit, Addy.“

So hast du mich schon eine Weile nicht mehr genannt. Es klang beinah bitter, doch noch bevor Lily auf die seltsame Tonlage ihres Schutzengels reagieren konnte, rappelte ihr Handy. Rasch wickelte sie sich ein Handtuch um das nasse Haar und nahm den Anruf entgegen.

„LILY!“ Radus Stimme überschlug sich fast und klingelte schmerzhaft in ihren Ohren. „Wo bist du? Ist alles okay? Hat er dir etwas angetan?“

„Ich …“

Ein lautes Scheppern und wildes Gemurmel erklangen, als plötzlich Hannah und Cionaodh dazwischenredeten.

„Geht es Lily gut?“ Das war Hannahs aufgeregte Stimme.

„Dieser Mistkerl hat sie natürlich nicht freigelassen. Ich mach’ diesen Magier einen Kopf kürzer, wenn ich den in die Finger bekomme!“, zischte Cionaodh. Lily sah sein zornesrotes Gesicht bildlich vor sich.

„Ruhe jetzt!“ Radu schien sich das Mobiltelefon zurückerobert zu haben. „Bist du noch dran, Lily?“

„Ja“, murmelte sie.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich rangehst. Wir haben es auf gut Glück versucht, aber scheinbar ist der Kerl eine Niete als Entführer.“ Radus Versuch, das Gespräch aufzulockern, scheiterte an dem wütenden Knurren. „Hält er dich gefangen?“

„Nein.“ Lily zögerte. Was sollte sie ihren Freunden erzählen? Die Wahrheit? Würden sie ihren Erklärungen Glauben schenken? Insbesondere Radu, der aus seinem Hass keinen Hehl machte. Dennoch musste sie es versuchen. Immerhin waren sie Freunde. „Kannst du mir bitte Hannah geben?“

„Was? Wieso?“, schnaubte Radu, doch schon im nächsten Moment knackte es in der Leitung und Hannah war am Apparat. Wie gut, dass sie so gute Ohren hatte.

„Was ist los, Lily? Irgendetwas läuft hier ganz gewaltig schief. Hat dich Silas jetzt entführt oder nicht?“

„Hat er nicht, Hannah. Ich bin freiwillig mit ihm gegangen“, sprudelte es aus ihr heraus.

„Warum um alles in der Welt …?“

„Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Um es kurz zu fassen: Irgendetwas geht hier vor sich und ich spiele bei der Sache eine entscheidende Rolle.“

Ein Weile herrschte Stille, dann flüsterte Hannah: „Wie kommst du darauf?“

„Die Werwölfe, die mich vor einigen Tagen angegriffen haben. Irgendetwas ist im Busch und ich will wissen, was genau hier vonstatten geht. Immerhin wird mein Leben bedroht.“ Sie zögerte. Sollte sie ihr von Marek erzählen? Die anderen schienen nichts von ihm zu wissen. Felinas Bitte kam ihr in den Sinn. Wieso durfte sie nicht verraten, was wirklich geschehen war? „Silas kann mir Antworten geben“, fügte sich hinzu.

„Und um die zu bekommen, gehst du so weit, dich mit Alinas Mörder zusammenzutun?“, fauchte Hannah aufgebracht. Dumpfe Schritte erklangen, die zeigten, dass die Werwölfin auf und ab ging. „Das ergibt keinen Sinn. Zwingt er dich dazu, uns das zu sagen?“

„Nein, aber ihr irrt euch. Er hat Alina nicht getötet.“ Lily ließ sich auf den Toilettendeckel sinken.

„Wie bitte? Wer dann?“

„Ihr habt doch die Leiche eines Mannes gefunden. Sein Name ist Marek und er war ebenfalls ein Zauberer.“ Das überraschte Keuchen am anderen Ende der Leitung ignorierte Lily geflissentlich. „Bitte erzähle das nicht dem Rat. Silas scheint große Schwierigkeiten zu bekommen, wenn das die Runde macht.“

„Würdest du mir bitte alles erzählen?“ Hannahs Stimme klang ungeduldig.

Lily schob Felinas Warnung von sich und berichtete, was wirklich vorgefallen war, mit Ausnahme der kurzen Vision, die sie heimgesucht hatte. In ihren Augen gab es keinen Grund, Silas’ Heldentat zu verschweigen, und sie musste ihre Freunde davon überzeugen, dass der Magier keine Gefahr bedeutete. Als sie ihren Bericht beendete, herrschte Stille in der Leitung. Lediglich leises Getuschel war zu hören, doch Lily verstand nicht genau, worum es ging.

Schließlich meldete sich Hannah zurück: „Ich habe kurz mit den anderen gesprochen. Dass Silas dich beschützt hat, beruhigt uns ein wenig, aber nichtsdestotrotz sind wir der Meinung, dass du dich von ihm fernhalten solltest. Weder kennst du ihn, noch kannst du sagen, was er in Wirklichkeit vorhat.“

„Aber Hannah …“

„Nein, du hörst mir jetzt zu“, unterbrach sie Lily sofort. „Wenn Silas wirklich seinen Freund getötet hat, um dich zu beschützen, wird er unter Umständen von mehreren Seiten verfolgt – nicht nur von Jägern, sondern auch von anderen Magiern. Egal ob dieser Marek ein Abtrünniger war oder nicht, Silas hat einen Magier getötet. Darauf stehen dieselben Strafen, wie wenn Radu Logan getötet hätte, verstehst du?“

Lily schauderte. Wahrscheinlich war das der Grund für Felinas eindringliche Bitte. „Und wenn ihr diesen Punkt dem Rat verschweigt?“, fragte Lily tonlos. Ihr wurde plötzlich kalt und fröstelnd zog sie das Handtuch enger um sich.

„Als ob das etwas bringen würde.“ Hannah schnaubte so heftig, dass es in der Leitung knackte. „Selbst wenn keine Magier hinzugezogen werden, der Rat ergreift bereits Maßnahmen, um dich zu befreien. Vergiss nicht, dass Silas in den Augen aller ein Entführer ist. Aus diesem Grund wäre es sowohl für ihn als auch für dich das Beste, wenn ihr euch trennt. Wenn du jetzt zurückkommst, können wir gemeinsam dafür sorgen, dass es nicht zu einer Blutjagd kommt, und er hätte die Chance, das Gebiet zu verlassen.“

„Wo seid ihr?“

Hannah atmete auf. „Endlich wirst du vernünftig. Wir sind in Alinas Wohnung und warten auf einen Befehl des Rates. Sobald eine Blutjagd ausgerufen wird, ist es zu spät. Also sieh zu, dass du so schnell wie möglich zu uns kommst. Oder sollen wir dich irgendwo abholen?“

Lily überdachte Hannahs Worte. Es war zu spät, um umzukehren. Selbst wenn sie jetzt beim Rat auftauchen würde, die Blutjagd konnte sie nicht abwenden. Und Silas im Stich zu lassen, war undenkbar, insbesondere da sie mit ihrer Entscheidung für den Ärger verantwortlich war. „Ich kann nicht.“

„Wie bitte?“ Die Stimme der Werwölfin überschlug sich. „Wie meinst du …“

„Ich kann und will Silas nicht im Stich lassen. Außerdem habe ich endlich die Chance zu erfahren, was hier vor sich geht und wer ich bin. Versteh’ doch, Hannah. Solch eine Möglichkeit bekomme ich nie wieder.“

„Aber Lily …!“

„Vertrau mir“, fiel sie ihrer Freundin mit fester Stimme ins Wort. „Bitte.“

Hannah schwieg eine ganze Weile, dann seufzte sie. Schritte waren zu hören, die deutlich machten, dass sie das Zimmer verließ, in dem sich Radu und Cionaodh aufhalten mussten. „In Ordnung“, flüsterte sie. „Mein Verstand stempelt mich zwar als verrückt ab und Radu wird mich höchstwahrscheinlich zum Teufel jagen, aber tu’, was du nicht lassen kannst. Wenn du meinst, dass Silas dir Antworten geben kann …“

„Danke, Hannah!“ Eine gewaltige Last fiel von ihr ab und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Denk’ ja nicht, dass ich das ohne Bedingungen mache! Erstens: Du meldest dich täglich bei mir und erstattest mir Bericht. Wenn das Ganze zu brenzlig wird oder sich dieser Magier als ernsthafte Bedrohung für dich entpuppt, verlange ich, dass du die Sache abbrichst. Ich sehe zu, dass ich Radu und Cionaodh von deinem tollen Plan überzeuge, auch wenn ich mir ihre Reaktion jetzt schon vorstellen kann. Aber das krieg‘ ich schon hin. Wegen Alina steht uns eine allgemeine Trauerzeit zu, die ich nach unserem Telefonat vor dem Rat beantragen werde. Eigentlich wollten wir darauf verzichten, aber ich denke, es ist besser, wenn wir vorerst nicht zur Blutjagd hinzugezogen werden.“

„Vielen Dank! Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann.“

„Du kannst exakt eine Woche auf mich zählen. Sobald wir nach der allgemeinen Trauerzeit einen neuen Anführer bekommen, werden wir ebenfalls auf Silas angesetzt, insofern kein anderes Team Erfolg hatte. Wenn das passiert, kann ich dich nicht mehr decken. Spätestens dann will ich, dass du ohne Diskussionen zu uns zurückkehrst, egal, ob du Erfolg hattest oder nicht. Das ist meine zweite Bedingung für deine idiotische und wahnwitzige Bitte.“

„Aber eine Woche ist …“

„… zu knapp?“, fragte Hannah scharf nach. „Mehr Zeit kann ich dir nicht verschaffen! Entweder du bist einverstanden oder wir lassen die Trauerzeit wegfallen und folgen Silas’ Spur, solang sie frisch ist.“

Lily zögerte nur eine Sekunde. Sie wusste, dass Hannah ihr nicht mehr Zeit verschaffen konnte und auch nicht zu weiteren Verhandlungen bereit war. Sie konnte froh sein, dass sich die Werwölfin überhaupt auf ihre Bitten einließ. „In Ordnung. Ich bin einverstanden.“

 

Der Geruch von Kaffee und frischen Brötchen empfing Lily, als sie das Badezimmer verließ. Nachdem sie sich von Hannah verabschiedet hatte, war sie in Silas’ Kleidung geschlüpft und hatte sich das Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Das Shirt war zu groß und auch die Jeans hielt nur dank eines Gürtels auf ihren Hüften. Dass sie die Hosenbeine umkrempeln musste wie ein kleines Kind, war ihr unangenehm, doch sie hatte keine andere Wahl. Vielleicht hätte sie Hannah nach Klamotten fragen sollen, doch sie wollte die Hilfsbereitschaft ihrer Freundin nicht überstrapazieren.

Dass du sie einfach so überzeugen konntest, murmelte Adrian einmal mehr und schüttelte den Kopf. Das Telefonat hatte ihn fassungslos und ungläubig zurückgelassen. Wie kann sie nur nachgeben? 

Lily wusste selbst nicht, wie sie Hannah überzeugt hatte, doch sie nahm sich vor, die Chance zu nutzen und Antworten zu finden. Ihr blieb eine Woche, um mit Silas mehr über Mareks Beweggründe und womöglich etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren.

„Na, geht`s dir besser?“, empfing Silas sie mit einem feinen Lächeln und deutete auf eine bunte Kaffeetasse. Der Tisch war gedeckt und zu dem spärlichen Inhalt des Kühlschranks hatten sich zwei Wurstpackungen, Käse und frische Brötchen gesellt. Der Magier war tatsächlich einkaufen gewesen, während sie grübelnd unter der Dusche stand. Angenehme Wärme breitete sich in Lily aus, als sie sich setzte und die Finger um die Tasse schloss. Der Kaffee war noch heiß und sie trank vorsichtig ein wenig. „Ja, vielen Dank.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln und bedachte auch Felina mit einem freundlichen Blick. Je mehr sie sich an das ungewöhnliche Aussehen des fremden Schutzengels gewöhnte, desto mehr mochte sie sie. Sie verströmte einen offenen, gelassenen Eindruck.

Als die Stille zwischen ihnen immer drückender wurde, angelte sich Lily ein Brötchen und drehte es in den Händen. Ihrer Vorsätze zum Trotz wusste sie nicht, wie sie nun vorgehen sollte. Sie wollte Antworten und Silas konnte ihr gewiss einiges erklären, doch seine in sich gekehrte Art erschwerte es ihr, die ersten Fragen zu stellen. Wo sollte sie überhaupt anfangen?

„Schieß schon los“, forderte Silas sie auf, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Du hast Fragen und ich bin bereit, dir Rede und Antwort zu stehen.“

Aber Silas … 

Nur eine Handbewegung genügte, um Felina zum Schweigen zu bringen. Sie verzog kurz das Gesicht, bevor ihre Augen einen Punkt hinter Lily fixierten. Erst nach einigen Sekunden erkannte Lily, dass sie wohl Adrian musterte.

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, stammelte Lily.

„Du könntest zunächst das Brötchen aufschneiden und belegen“, schlug Silas vor.

Röte stieg ihr in die Wangen. Sie betrachtete das Brötchen, das sie mit den Fingern neu geformt hätte, wenn es roh gewesen wäre. Rasch schnitt sie es auf und belegte es lieblos mit Käse. In den folgenden Minuten stillte sie ihren Hunger, der erwachte, als sie den ersten Bissen zu sich nahm. Sie störte sich nicht an Silas aufmerksamen Blicken, der lediglich Kaffee trank und das Essen nicht anrührte.

„Was ist im Wald passiert?“, fragte Lily, nachdem sie das Brötchen vernichtet und die Krümel auf dem Tisch zusammengeschoben hatte.

„Was genau meinst du?“

„Dein Treffen mit diesem Marek. Ich habe euer Gespräch belauscht und verstehe überhaupt nicht, was ihr besprochen habt.“

„Ich kann dir dazu leider noch nicht allzu viel sagen.“ Silas legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke hinauf. „Teilweise tappe ich selbst im Dunkeln, teilweise kann ich dir nicht einfach alles verraten.“

„Weil du mir nicht vertraust?“, hakte Lily nach und bereute ihre vorschnelle Frage. Wie sollte sie reagieren, wenn Silas mit nein antwortete?

„Wie lange kennen wir uns schon, Lily?“ Er setzte die Kaffeetasse ab und beantwortete sich selbst die Frage. „Eine Woche, oder? Und selbst das kann man nicht unter dem Wort kennen zusammenfassen. Im Grunde reden wir jetzt zum ersten Mal richtig miteinander, also verzeih’, wenn ich dir noch nicht mein Herz ausschütte.“ Ein zynischer Unterton mischte sich in seine Stimme.

Lily beschloss, ihn zu ignorieren. „Das verlange ich auch nicht!“

„Dann ist gut. Zunächst müssen wir uns richtig kennenlernen, dann kann ich dich vielleicht auch in sensiblere Themen wie meinen Orden, den Rat und deine Vergangenheit einweihen. Ich bin …“

Mit einem Satz war Lily auf den Beinen. Ihr Stuhl fiel polternd zu Boden. Mit beiden Händen stützte sie sich auf dem Tisch ab und neigte sich zu ihm herüber. „Ich wusste es! Von wegen ‚nicht dass ich wüsste’!“, ahmte sie seine Stimme nach. „Was weißt du über mich und meine Vergangenheit?“

Silas biss sich verärgert auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Scheinbar hatte er mehr gesagt, als er beabsichtigt hatte, doch Lily war es egal. Ihr Herz raste und in ihren Fingerspitzen kribbelte es. Die Wahrheit lag direkt vor ihr – sie musste lediglich diesen störrischen Esel zum Reden bringen.

„Ich habe eine Vermutung, aber solang die nicht bestätigt ist, werde ich erstmal nichts sagen“, entgegnete Silas mit entwaffnend ruhiger Stimme. „Wilde Spekulationen helfen uns nicht weiter. Sie machen dich nur unvorsichtig und das können wir jetzt nicht gebrauchen.“

Lily glaubte sich verhört zu haben. Wut brodelte in ihr und überschwemmte all die warmen Gefühle, die sich in ihr ausgebreitet hatten, als sie die Küche betreten hatte. Sie mochte Silas, seine mysteriöse Art, das Geheimnisvolle, das ihn wie eine Wolke umgab. Jetzt, in diesem Moment, hasste sie seine Geheimniskrämerei und die Art und Weise, wie er sie abfertigte. Was war sie? Ein kleines Kind? Selbst wenn es nur eine Vermutung war, es wäre ein Anfang.

„Ich glaube, ihr spinnt!“ Ihre Stimme überschlug sich, nahm einen hysterischen Unterton an.

„Ihr?“

„Du und Adrian!“ Sie fuchtelte mit der Hand in Richtung ihres Schutzengels. „Er verschweigt mir ebenfalls die Wahrheit, nur hat er wenigstens einen guten Grund dafür!“ Mit brennendem Blick fixierte sie Silas, der sichtlich blasser wurde. „Ob nun reine Mutmaßung oder nicht - ich habe ein Recht darauf, von deinem Verdacht zu erfahren. Es geht schließlich um meine Vergangenheit.“

Lily, bitte beruhige dich. 

„Halt den Mund, Adrian. Wer weiß schon, ob du mir überhaupt die Wahrheit sagst. Vielleicht belügst du mich ja.“ Sie setzte zu einer weiteren Tirade Flüche an, doch Adrians Gesicht ließ sie schlagartig verstummen. In seinen Augen lag eine solch tiefe Trauer, dass es ihr die Sprache verschlug. Eine Träne löste sich und perlte über sein perfektes Gesicht. Dieses Mal war es keine optische Täuschung, hervorgerufen durch eine Duschkabine. Adrian weinte und Lily erkannte mit Schrecken, dass sie niemals zuvor einen Schutzengel hatte weinen sehen. Verwirrt fuhr sie herum und sah gerade noch, wie Felina ihrem Schützling etwas zuflüsterte und dieser ihr zunickte.

Komm mit mir, Adrian. Felina schwebte zu ihm und führte ihn nach draußen.

Lily war zu bestürzt, um etwas zu unternehmen. Ihr Kontingent an Fragen wuchs weiter, doch sie war nicht in der Lage, auch nur eine zu formulieren.

„Setz dich bitte wieder.“ Silas weiche Stimme wirkte wie ein Bann. Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder und betrachtete die Krümel auf ihrem Teller. In ihrer ungezügelten Wut hatte sie Adrian mit ihrem Misstrauen verletzt. Panik breitete sich in ihr aus. Ihr Schutzengel könnte sich von ihr abwenden oder ihre geistige Verbindung kappen. Sofort überprüfte sie das mentale Band. Es war noch da, allerdings schwächer als vor einigen Tagen. Dabei waren sie aus dem Kampf gegen die Werwölfe gestärkt hervorgegangen.

„Mach dir keine Sorgen. Adrian wird dich nicht im Stich lassen.“ Er trat zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Woher …?“ Lilys Augen brannten und sie blinzelte sich die aufsteigenden Tränen weg.

„Ich sehe dir deine Ängste an.“ Für einen Moment zögerte er, dann fügte er hinzu: „Glaub’ mir, ich kenne sie gut genug. Ich teilte einst deine Ängste. Es gab eine Zeit, in der mich Felina ebenso angesehen hat wie Adrian dich.“

„Du kannst ihn sehen?“

„Nein, aber Felina hat ihn mir beschrieben. Sie redet mit ihm und ich kann dir schon jetzt sagen, dass er dich nicht im Stich lassen wird. Niemals.“

Lily fasste sich allmählich und blickte zu Silas auf. Sein friedlicher Ausdruck beruhigte sie allmählich. „Felina hat ebenfalls …?“

„Sie ist der Schutzengel eines Magiers. Wie, glaubst du, wirken wir unsere ersten Zauber?“

Lily ahnte, worauf er hinauswollte, schwieg jedoch.

„Noch bevor wir die Fähigkeiten erlangen, die Seelenenergie anderer Wesen anzuzapfen, lernen wir, mit der Macht unserer Schutzgeister zu zaubern. Damit schwächen wir natürlich unsere Begleiter und es gibt kaum Schutzengel, die einem Magier freiwillig beiseite stehen. Lediglich ihr Eid, uns in jeder Reinkarnation zu beschützen, hält sie bei uns. Sie erdulden alles im Stillen und trotz der Schmerzen, die wir ihnen zufügen, sind sie dazu verpflichtet, uns zu beschützen.“

„Wie grausam“, rutschte es Lily heraus.

Silas nickte. „Ja, es ist grausam. Als ich sechzehn wurde und meine zweite Prüfung abgelegt hatte, ist mir das erstmals richtig bewusst geworden. Anstatt mich über den dritten Grad der Zauberei zu freuen, sah ich in Felinas Augen den Schmerz, den ich ihr zufügte. Zum ersten Mal erkannte ich, was ich ihr wirklich antat.“

„Hast du das davor nie mitbekommen?“

„Schon, aber ich habe es ignoriert. Mein Vater lehrte mich früh, dass Schutzengel nicht mehr sind als Energiequellen und keinerlei Schmerzen empfinden könnten. Eine Lüge! Felina weinte an diesem Tag und mir ging es ebenso wie dir. Damals entschied ich mich, den sanften Weg der Magie zu beschreiten, obwohl ich damit die Hoffnungen meines Vaters zerstörte. Er sah mich schon als Ordensmeister, doch ich wollte mich nicht mehr an Felinas Seelenenergie bedienen. Selbst die Option, die Energie fremder Schutzengel zu nutzen, stimmte mich nicht um. Seitdem lebe ich mit Felina in Koexistenz. Wir reden miteinander und ich zaubere nur, wenn es wirklich notwendig ist.“ Silas atmete heftig, als er seine knappe Erzählung beendete, und Lily konnte unterdrückte Wut in seinem Blick erkennen. Auf den Orden? Oder doch auf seinen Vater?

Sie schwieg, wusste nicht, wie sie auf diese Eröffnung reagieren sollte.

„Lange Rede, kurzer Sinn: Rede mit Adrian.“ Silas zog die Augenbrauen zusammen, bis sich eine steile Falte auf seiner Stirn bildete. Er schien etwas abzuwägen und Lily ließ ihm die Zeit, bis er fortfuhr: „Wenn meine Vermutung stimmt, sollte er in der Lage sein, deine wichtigsten Fragen zu beantworten.“

„Aber er darf mir doch nichts erzählen. Laut seiner Aussage muss er sich an Regeln halten, die ihm absolutes Schweigen abverlangen. Warum erzählst du mir nicht, was du vermutest, Silas?“

Der Magier runzelte die Stirn. „Das halte ich für keine gute Idee. Ich würde dich nur verwirren, da du meine Ansätze nicht einmal nachvollziehen könntest.“

„Aber wieso?“ Verärgert biss sie sich auf die Unterlippe. Das Gespräch zwischen den beiden Magiern, das sie vor einigen Stunden im Wald belauscht hatte, kam ihr in den Sinn. Silas musste doch wissen, wie sie sich fühlte. Marek hatte seinen Partner ebenfalls im Dunkeln tappen lassen. Ein weiterer Gedanken schoss ihr durch den Kopf. Verhielt sich so ein Freund, Vertrauter, Liebhaber?

Lily hatte Mühe, ihren Zorn zu unterdrücken und Vernunft walten zu lassen. Ihre Ungeduld und Neugierde machten es ihr beinah unmöglich, sich zu beruhigen und Silas’ Worte zu überdenken. Welche Vermutung regte sich in ihm? In seiner Art erinnerte er sie an Alina, die dem Thema auch immer wieder ausgewichen war. Wieso hatte sie bisher nur die Puzzlestücke erhalten, die zwar in den Rahmen passten, aber nie Teil des Hauptbildes waren? Sie hatte das Gefühl, sich von außen nach innen zu arbeiten, was es ihr unmöglich machte, das große Ganze zu erfassen. Welch‘ schreckliche Geheimnisse verbargen sich vor ihr? Sie brauchte dringend Stift und Papier. Sobald sie alle Hinweise und Informationen aufschrieb, konnte sie womöglich Querverbindungen erkennen und so der Lösung auf die Spur kommen.

„In Ordnung. Aber beantworte mir bitte noch eine Frage.“ Mit einem tiefen Atemzug sammelte sich Lily und fragte: „Wenn deine Vermutung stimmt, wie schlimm ist das, was in meiner Vergangenheit vorgefallen ist?“

Der Magier wiegte den Kopf und befeuchtete sich die Lippen. „Ich will zumindest auf diese Frage ehrlich antworten. Wenn ich recht habe, könnte dich die Wahrheit bis in die Grundfesten erschüttern. Aber egal was passiert, du musst deinen Freunden und vor allem Adrian vertrauen. Ich verstehe zwar nicht, warum er sein Wissen nicht mit dir teilen darf, aber ich kenne auch nicht alle Hintergründe. Ich bin nicht allwissend und bin mir sicher, dass Felina auch das ein oder andere Geheimnis vor mir verbirgt. Dennoch ist es wichtig, dass du mit ihm redest und ihr euer Vertrauen wiederherstellt.“

Lily nickte. „Ich versuche es.“ Sie würde sich bei Adrian entschuldigen und sich mit ihm aussprechen. Vielleicht gab es doch noch Möglichkeiten, um mehr über ihre Vergangenheit in Erfahrung zu bringen, ohne dass ihr Schutzengel irgendwelche Gesetze brach.

Doch zunächst musste sie Silas Redseligkeit ausnutzen. Er hatte ihr einiges über sich und den Orden erzählt, das Thema magische Ausbildung angeschnitten und die Hintergründe zu Felina offenbart. Ob es mehr zu entdecken gab? „Erzählst du mir mehr von dir?“, fragte sie ihn direkt.

Silas wich ihrem forschenden Blick aus und grübelte. Schließlich nickte er. Ausführlich und geduldig erzählte er von Magiern und seinem Orden. Die meisten Dinge hatte Lily bereits von Radu oder Alina erfahren oder sich selbst herleiten können. Magier lebten zumeist unter ihresgleichen, zusammengeschlossen in Ordenshäusern, die es überall in der Welt gab. Dies waren nur selten versteckte Burgen oder verlassenen Klöster, wenngleich diese aufgrund ihrer Abgeschiedenheit und ihres Aufbaus gern von Magiern bezogen wurden. Zumeist lebten Zauberkundige in kleinen Dorfgemeinschaften zusammen oder erwarben einen größeren Wohnkomplex in einer Stadt. Dort war zwar das Risiko der Entdeckung größer, doch die Anzahl der Energiequellen für magische Experimente wesentlich zahlreicher.

In diesem Zusammenhang erfuhr Lily auch, was Silas mit dem sanften Weg gemeint hatte. Laut ihm gab es zwei unterschiedliche Pfade der Magie, die ein Zauberer beschreiten konnte, wobei der sanfte Weg erst vor einigen Jahren gegründet worden war. Während Anhänger dieses Pfades friedfertig waren und nur im Notfall Magie wirkten, praktizierten andere offen, mitunter rücksichtslos, und experimentierten mit der Seelenenergie. Sie entwickelten neue Formeln und Sprüche, suchten nach mächtigen Zaubern, die Krankheiten heilen und sogar den Tod überwinden sollten. Die meisten Mitglieder in Silas’ Orden folgten dem alten Pfad und strebten nach Macht.

Zwar wurden Zauberer wie Silas akzeptiert, doch es fiel ihnen schwer, sich innerhalb eines Ordens zu behaupten, der sich vorwiegend dem harten Weg der Magie verschrieben hatte und auf der Suche nach Unsterblichkeit war.

„Deswegen werden solche wie ich geprüft“, beendete Silas seine Erklärung. „Man testet unsere Loyalität.“

„Das klingt danach, als wäre dein Platz im Rat ein Test?“ Die Frage sprudelte aus ihr heraus, bevor sie sich zurückhalten konnte. Sie biss sich auf die Unterlippe, um ihren zweiten Gedanken zurückzuhalten: Spionierte Silas den Rat womöglich sogar aus?

Silas schmunzelte und erhob sich, um den Tisch abzuräumen. „Du liegst richtig. Mein Platz im Rat ist in gewisser Weise eine Prüfung. Im Grunde sind Magier nie Teil dieser Zusammenschlüsse. Der Grund dafür ist offensichtlich – Zauberer bergen zu viele Gefahren. Dennoch wollten der Rat unter Aldwyns Herrschaft und der Orden Tenebrae den Versuch starten, zusammenzuarbeiten. Um das Risiko zu minimieren und die Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, nicht überzustrapazieren, ließ man Aldwyn den Magier auswählen. Natürlich entschied er sich für jemanden, der sich der sanften Magie verschrieben hat. Für meinen Ordensmeister war das der perfekte Anlass, um meine Loyalität zu prüfen, sprich er schlug zwei Fliegen mit einer Klappe.“

„Klingt irgendwie …“

„Du denkst, ich spioniere den Rat aus?“ Er lachte kurz, doch es klang bitter. „In dem Punkt beweist du erneut den richtigen Riecher. Allerdings ist es nicht so, dass sich Aldwyn und die anderen Ratsmitglieder zurückgehalten haben. Sie haben mich etliche Male über den Orden ausgefragt, insbesondere als Marek auftauchte …“ Er schüttelte den Kopf und wandte sich dem schmutzigen Geschirr zu, das er in die Spüle stellte. Es war offensichtlich, dass er nicht weiter ins Detail gehen wollte.

„Das klingt, als wärst du ein Doppelagent.“

Silas seufzte. „Stimmt irgendwie, auch wenn ich mich jetzt weder beim Rat noch bei meinem Ordensmeister Rasmus blicken lassen darf. Nach den Ereignissen der letzten Nacht habe ich mir meine Chancen auf einen Platz im Orden wohl verbaut. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ende ich wie Marek …“ Ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht, den Lily als Trauer auslegte.

Nachdenklich beobachtete sie Silas beim Aufwaschen. Er hatte ihr viele Fragen beantwortet, doch je öfter sie von Marek hörte, desto mehr wollte sie über die Beziehung zwischen ihm und Silas wissen. Allerdings konnte sie ihn unmöglich direkt darauf ansprechen. So rüpelhaft drang nicht einmal sie in die Privatsphäre eines anderen Menschen ein, insbesondere jetzt, wo Silas sichtlich trauerte. Sie musste anders an die Sache herangehen …

„Warum durfte ich die Sache im Wald nicht richtigstellen?“ Lily schnappte sich ein Geschirrhandtuch und trocknete einen der Teller ab.

Silas warf ihr einen irritierten Blick zu. „Was meinst du?“

„Als Radu und die anderen kamen, hast du nichts zu ihren Vorwürfen gesagt. Sie beschuldigten dich des Mordes, dabei hast du mich vor Marek beschützt. Warum?“ Hannah hatte ihr diese Frage zwar schon beantwortet, doch sie brauchte Gewissheit.

Silas antwortete nicht sofort. Zunächst beendete er seine Arbeit, ließ das Wasser ab und trocknete sich die Hände. „Du weißt um die Gesetze des Rates?“

„Ja, natürlich.“ Sie zählte die wichtigsten Grundregeln, an die sich sowohl Kreaturen wie Vampire, Werwölfe und Feen als auch Menschen wie sie zu halten hatten, an einem Finger ab. „Normale Menschen nicht in die Geheimnisse einweihen, sprich sich bedeckt halten. Anderen keinen Schaden zufügen, indem die Kämpfe nicht in den Städten oder in der Nähe von Siedlungen ausgefochten werden. Und die anderen Wesen achten und ihre Natur akzeptieren.“

„Du vergisst die Regeln der Jäger“, half ihr Silas auf die Sprünge. „Die wichtigste: Kein Wesen darf seine eigene Art angreifen und töten.“

Lily blinzelte verwirrt. War es nicht egal, welchen Mord man ihm vorwarf? Marek und Alina waren doch beide Menschen gewesen. Wieso nahm er eine Blutjagd in Kauf, anstatt zu offenbaren, dass Marek Alina umgebracht und er Lilys Leben gerettet hatte, als sein Vertrauter sie angriff. Es war eine Notsituation gewesen – sie konnte das bezeugen.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Ich habe einen Abtrünnigen des Ordens Tenebrae getötet, anstatt ihn gefangen zu nehmen. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Strafen bei uns im Orden auf dieses Verbrechen stehen.“ Er ballte die Hand zur Faust. Trauer zeichnete sich in seinem Gesicht ab, als erkannte er erst in diesem Moment, was er getan hatte. „Da werde ich doch lieber als Alinas Mörder abgestempelt, als für Mareks Tod verantwortlich gemacht zu werden …“ Er brach ab.

Lily schluckte trocken. Hinter ihren Schläfen baute sich ein unangenehmer Druck auf, der wahrscheinlich in Kopfschmerzen endete. Welche Strafen wohl auf Silas zukamen, wenn der Orden erfuhr, was er getan hatte? Sorge und Mitleid erwachten in ihr, gekoppelt mit dem Wunsch, Silas zu beschützen.

„Gott, ich habe meinen Vertrauten getötet!“, keuchte Silas plötzlich und wandte sich von ihr ab. „Ich hätte einen anderen Weg wählen müssen, aber mir fiel nichts Besseres ein. Dein Schutzengel drohte zu zerbrechen und Marek hatte sich Argumenten gegenüber vollkommen verschlossen. Felina konnte nicht einmal Teena erreichen.“

Vertrauter, schoss es Lily durch den Kopf, doch sie wagte nicht, nochmals nachzuhaken. Silas wirkte zu verwirrt und erschrocken. In seinem Gesicht arbeitete es. Trauer, Wut und Verzweiflung spiegelten sich in seinen Augen wider. Er sprach einfach weiter, suchte nach Entschuldigungen für Mareks Tod, als wollte er sich selbst davon überzeugen, das Richtige getan zu haben. Lily wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Sie erkannte, wie sehr ihn der Tod seines Freundes belastete, die schreckliche Wahrheit, dass er einen Zauber gegen Marek gewirkt hatte. Es erinnerte sie an ihren eigenen Schmerz, der plötzlich wie eine Welle über sie schwappte. Der Anblick von Alinas totem Körper drängte sich mit aller Gewalt in ihre Erinnerung. Bittere Magensäure kroch in ihren Rachen und sorgte dafür, dass ihr schlecht wurde. Wie gut sie Silas verstehen konnte. Sie hatten beide jemanden verloren – einen Freund, Vertrauten und in Silas’ Fall Geliebten. Es fühlte sich an, als hätte man ihr gewaltsam ein Stück der Seele entrissen, und wenn sie sich bereits so schrecklich einsam fühlte, wollte sie nicht wissen, wie es Silas erging. Tränen sammelten sich in ihren Augen und dieses Mal ließ sie sie zu. Es gab keinen Grund, die Trauer um Alina weiterhin zu verstecken. Sie waren vorerst in Sicherheit und es würde ihr besser gehen, wenn sie diesen Schmerz herausließ.

Lily warf einen kurzen Blick auf Silas und als sie ebenfalls ein verräterisches Funkeln in seinen Augen sah, umarmte sie ihn heftig und fing haltlos an zu weinen. Heftige Schluchzer schüttelten ihren Körper und nur beiläufig bemerkte sie, dass Silas ihre Umarmung erwiderte und ebenfalls weinte. Stiller zwar, kaum wahrnehmbar, aber ganz gewiss ebenso kummervoll und erlösend.

 

Lily wusste nicht mehr, wie lange sie Arm in Arm in der Küche standen oder wann sie in Silas Schlafzimmer stolperten und gemeinsam ins Bett krochen. Sie fühlte sich zerschlagen und leer. Ihre Augen brannten ebenso wie ihre geröteten Wangen, als die Tränen endlich versiegten. Ihr Kopf hämmerte ohne Unterlass, doch Lily fühlte sich dennoch befreit. Es hatte gut getan. Wie selbstverständlich schmiegte sie sich an Silas, sog seinen angenehmen Duft ein, der ihr Geborgenheit und Sicherheit versprach.

Auch der Magier an ihrer Seite hatte sich beruhigt. Seine Augen waren stark gerötet, doch er machte nicht solch einen derangierten Eindruck wie sie. Lily konnte sich denken, wie sie aussah – die blonden Locken wild auf dem Kopfkissen verteilt, ihr Gesicht so rot wie ein gekochter Hummer. Doch es störte sie nicht. Sie vertraute Silas, mehr noch als im Wald. Er würde weder ihren momentanen Zustand kommentieren noch in irgendeiner Art Hand an sie legen. Sie las es in seinen Augen, dem sanften, wenngleich müden Blick.

„Schlaf ruhig, Lily“, murmelte er mit belegter Stimme. „Du warst die ganze Nacht auf den Beinen.“

Lily nickte und schloss dankbar die Augen. Die Müdigkeit, die sich in den letzten Stunden hinter dem Adrenalin, der Neugier und Anspannung verborgen hatte, fiel über sie her wie ein hungriges Tier. Im ersten Moment wollte sich Lily dagegen wehren, um Silas’ Nähe länger auszukosten, doch sie fiel fast zeitgleich in einen tiefen Schlaf.

Kapitel 9 – Annäherungen

 

Die Sonne stand hoch am Himmel und schien ihr direkt ins Gesicht, als Lily erwachte. Mit geschlossenen Augen spürte sie den letzten Erinnerungsfetzen ihres Traumes nach: ihr erstes Treffen mit Alina. Mit ihrer unverblümt offenen Art hatte sie damals urplötzlich in Lilys Krankenzimmer gestanden und sich als ihre Patentante vorgestellt. Obwohl ihre erste Begegnung Skepsis und Unsicherheit in Lily hervorgerufen hatte, fasste sie schnell Vertrauen, als sie erfuhr, dass Alina ebenfalls in der Lage war, ihren Schutzengel zu sehen. Sie stellte ihr Hektor vor, verriet ihr mehr über ihr Leben als Jägerin und weihte sie in Geheimnisse ein, die kaum ein Mensch kannte. Als Lily entlassen wurde, begleitete sie Alina mit Freude nach Wiesbaden. Dort begann ein neues Leben, mit der Aussicht, irgendwann zur Jägerin ausgebildet zu werden. Obwohl es Lily schwer fiel, lebte sie sich ein und fand neue Freunde, als sie wieder zur Schule ging. Nach einem halben Jahr war sogar die Psychologin davon überzeugt, dass Lily vollkommen gesund war, wenngleich sie noch immer unter Amnesie litt. Der Unfall und die Zeit im Krankenhaus verblassten immer mehr zu einer düsteren Erinnerung und verschwanden gänzlich, als Alina mit Lilys Ausbildung zur Jägerin begann. Damals war sie 13 gewesen …

Plötzlich zuckte die Erinnerung an Alinas Tod durch ihre Gedanken. Vor knapp zwölf Stunden war sie … Hatte sie deswegen von ihrer ersten Begegnung geträumt? Lily schluckte die aufkeimenden Tränen hinunter. Sie hatte am frühen Morgen genug geweint. Es wurde Zeit, sich auf andere Dinge zu konzentrieren.

Blinzelnd versuchte sie die schlafende Gestalt an ihrer Seite zu erkennen, doch sie verschwamm immer wieder vor ihren Augen. Schließlich erkannte sie Silas. Er lag nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, einen Arm besitzergreifend um ihre Hüfte geschlungen. Augenblicklich drängten sich andere Gedanken in ihren Kopf und ihr Traum und die Trauer um Alina rückten in den Hintergrund.

Röte stieg ihr ins Gesicht und sie musste an sich halten, um nicht zurückzuweichen und panisch aus dem Bett zu springen. Die morgendliche Unterhaltung kam ihr in den Sinn, das gegenseitige Trösten und die plötzliche Nähe. Sie hatten beide geweint, Lily um Alina, Silas um Marek. Es war befreiend gewesen, sich an dem Magier festzuhalten und ohne Ängste auf die freundschaftliche Nähe des Mannes einzugehen. Auch der tiefe Schlaf hatte ihr gut getan. Es ging ihr besser, wenngleich noch immer leichter Kopfschmerz hinter ihren Schläfen saß.

Nachdenklich musterte sie Silas’ Gesicht. Sein braunes Haar fiel ihm in die Stirn und wirkte, als hätte er in eine Steckdose gefasst. Sein markantes Gesicht sah weicher und jugendlicher aus und die schmalen Lippen zogen sie beinah magisch an. Adrian hatte recht – sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Zunächst war sie lediglich von seinen Äußerlichkeiten fasziniert gewesen, den stechend grünen Augen und der undurchdringlichen Maske, die er trug. Unterdessen war aus dieser Schwärmerei mehr geworden. Die letzten Stunden hatten sie enger zusammengebracht. Silas hatte ihr einen Blick in seine Vergangenheit gewährt, ihr mehr von sich erzählt und schließlich alle Schutzmaßnahmen fallen lassen. Seine Tränen hatten sie tief berührt, pulsierten warm in ihrem Inneren. Es fühlte sich wahrhaftiger und realistischer an als das, was sie für ihre bisherigen Partner empfunden hatte. Im Vergleich zu ihren jetzigen Gefühlen waren die bisherigen Beziehungen lediglich mädchenhafte Schwärmereien gewesen.

Schlagartig wurde sie sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst. Silas schien wirklich nur an Männern interessiert zu sein. Er selbst hatte erst vor wenigen Stunden gesagt, dass Marek sein Vertrauter gewesen war. Die Annahme ihres Schutzengels schien zuzutreffen. Egal wie nah sie Silas im Moment war, es trennten sie Welten. Dann konnte sie ebenso …

Noch bevor sich ihr Verstand einschalten und sie von dieser törichten Idee abbringen konnte, rückte Lily näher und schloss die Augen. Sein angenehmer Duft umfing sie, hüllte sie ein und ließ die kleine Stimme in ihrem Hinterkopf endgültig verstummen. Ihre Lippen legten sich sanft auf Silas’. Sie fühlten sich weich an und sofort stieg in Lily ein warmes Kribbeln auf. Pures Glück explodierte in ihrem Magen und strahlte von dort bis in ihre Fingerspitzen. Ihr Herz raste so laut, dass sie Angst hatte, er würde allein davon erwachen.

Gerade als sie sich zurückziehen wollte, spürte sie zu ihrer Überraschung, dass Silas den Kuss erwiderte. Er zog sie enger an sich und vergrub seine Finger in ihrem langen Haar. Warmer Atem vermischte sich mit ihrem, als er seine Lippen einen Spalt weit öffnete und …

Lily riss die Augen auf, als sie das leichte Stupsen seiner Zungenspitze an ihren Lippen registrierte. Silas’ jadegrüne Augen fixierten sie, ein ihr unbekanntes Feuer loderte in seinem Blick. Mit einem Aufkeuchen fuhr sie zurück und brachte Abstand zwischen sich und Silas. Sie zog die Decke an sich, als bildete diese einen zuverlässigen Schutzwall vor dem Magier.

„Was um alles in der Welt machst du da?“ Die Worte purzelten aus ihrem Mund, ohne vorher den Weg über ihr Gehirn genommen zu haben.

„Das fragst du mich?“ Silas richtete sich auf und bedachte sie mit einem kritischen Blick. „Wer von uns ist denn über einen Schlafenden hergefallen?“ In seiner Stimme schwang Belustigung mit und in seinen Augen blitzte der Schalk.

„Das …“ Hitze stieg Lily in die Wangen. Sie hatte kein Recht, ihm Vorwürfe zu machen! Tiefe Scham über die peinliche Aktion und unerklärliche Glücksgefühle, weil Silas den Kuss erwidert hatte, rangen in ihr um die Vorherrschaft. Oder hatte der Magier sie nur bloßstellen wollen? Hatte er sie für Marek gehalten?

„Na, auf die Erklärung bin ich gespannt.“ Silas Grinsen wurde noch breiter, auch wenn Lily das nicht für möglich gehalten hatte.

Trotz erwachte in ihr. „Warum bist du auf meinen Kuss eingestiegen? Du hättest wenigstens den Anstand haben können, so zu tun, als ob du schläfst.“

Silas runzelte die Stirn. „Na, das ist ja die Krönung. Jetzt bin ich schuld? Du hast mich doch mit deinem Überfall aus dem Schlaf gerissen.“

„Trotzdem – du bist doch schwul, oder? Sonst wäre ich unter keinen Umständen mit in dein Bett gestiegen.“ Lily machte den Ansatz, aus den Laken zu springen, doch Silas umfasste blitzschnell ihr Handgelenk. Mit einer Kraft, die sie ihm nicht zugetraut hatte, zog er sie zurück.

„Was heißt hier schwul?“ Silas rollte sich halb über sie. Er übte nur wenig Druck auf sie aus, doch Lily hatte ihre Verteidigung bereits aufgegeben. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte sie zu ihm auf. „Du denkst, dass ich schwul bin?“

Als sie nickte, schwebte ein leises Lachen durch den Raum, das schnell lauter wurde, bis sich Silas von ihr zurückzog und sein Gesicht in die Kissen vergrub. Lily beobachtete den kichernden Magier mit hochgezogenen Augenbrauen. Machte sich dieser Mistkerl jetzt auch noch über sie lustig?

„Wie kommst du nur auf solche Ideen?“, fragte er nach einigen Minuten, Lachtränen in den Augen. „Ich bin weder schwul noch in irgendeiner Form an Männern interessiert.“ Er streckte die Finger nach ihrem Gesicht aus. „Das heißt nicht, dass ich mit Homosexualität ein Problem habe, aber für mich ist das nichts.“

Zum zweiten Mal schoss Lily die Röte ins Gesicht. Jetzt war die Situation um ein Vielfaches unangenehmer. Sie wollte am liebsten im Boden versinken. Da ihr diese Option nicht blieb, zog sie sich stöhnend die Decke über den Kopf und wünschte sich an einen anderen Ort.

„Jetzt mal ehrlich. Wie kommst du darauf?“

„Na, dein Gerede von Marek, dass zwischen euch nichts Unausgesprochenes steht und die Andeutung von Felina, dass er dein Geliebter sei.“ So direkt hatte es Silas’ Schutzengel zwar nicht gesagt, aber in diesem Zusammenhang hatte es stark danach geklungen.

„Ich bezweifle, dass Felina das gesagt hat. Ich gehe eher davon aus, dass sie ihn als meinen Vertrauten bezeichnet hat und das ist er ja auch gewesen. Und jetzt nimm die Decke weg und sieh mich an.“

Lily ließ die dünne Schutzbarriere sinken und versank sofort in Silas’ Blick.

„Mit Marek verband mich eine tiefe Freundschaft, die bis in unsere Kindheit zurückreicht. Der Begriff Vertrauter hat nichts mit Liebe oder Romantik zu tun. Unter uns Magiern ist es nicht unüblich, sich mit Gleichgesinnten oder sehr engen Freunden zu verbrüdern. Marek war mein Vertrauter und ich seiner, weil ich nur wenige Tage älter war als er und wir bis zu seinem Ausschluss aus dem Orden jeden Tag miteinander verbracht hatten. Wir lernten gemeinsam, waren Partner in allen Lebenslagen und hielten sogar zusammen, als ich mich für den einen Weg der Magie entschied und er sich für den anderen. Er war immer an Macht und neuartigen Zaubern interessiert, doch er akzeptierte meine Entscheidung, ihm in diesem Punkt nicht zu folgen. Unser Band wurde erst schwächer, als er aus dem Orden verbannt wurde, mir aber weder die Gründe dafür verriet, noch seine Sorgen mit mir teilen wollte. Er schloss mich aus, was einem Vertrauensbruch gleichkam.“

Lily hing gebannt an seinen Lippen, während Silas‘ Finger ein reges Eigenleben entwickelten. Gedankenverloren spielte er mit ihren Haarsträhnen.

„Damals hat mich dies schwer getroffen. Er ging ohne ein Wort, ließ mich vollkommen im Unklaren zurück. Ich hörte erst wieder von ihm, als er die Werwölfe unter seine Kontrolle zwang und auf dich hetzte. Für mich war das meine einzige Chance, Antworten zu bekommen. Ich musste wissen, was in ihm vorging …“

„Deswegen hast du dieses Treffen arrangiert und Alina auf eine falsche Fährte gelockt.“ Lily mustere Silas aufmerksam. Allmählich machte das krude Gespräch, das sie belauscht hatte, Sinn.

Silas nickte. „Das Ergebnis kennst du. Er hat sich vollkommen von mir losgesagt. All meine Bemühungen nutzten nichts.“ Er barg sein Gesicht in seinen Händen. „Dennoch … ihn zu töten …“ Er verstummte.

„Es tut mir leid.“ Lily rutschte näher zu ihm und strich ihm behutsam über den Unterarm. „Wenn ich euch nicht belauscht hätte …“

„Nein, es wäre dennoch dazu gekommen. Marek war keinen Argumenten zugänglich. Er hat sich vollkommen verändert und ich bezweifle, dass ich ihm hätte helfen können.“ Silas ließ die Arme sinken und schenkte ihr ein Lächeln. „Und ich bereue meinen Entschluss nicht. Ich wollte dich retten.“

Lilys Mund wurde trocken. Einmal mehr breitete sich ein angenehmes Kribbeln in ihr aus, begleitet von einem Gefühl, das in kitschigen Romanen als Schmetterlinge im Bauch bezeichnet wurde. Seit wann verhielt sie sich so mädchenhaft? Normalerweise lagen ihr diese schmalzigen Liebesgeschichten und Herz-Schmerz-Bücher überhaupt nicht. Dennoch fühlte sie sich urplötzlich wie die Hauptfigur eines Jane-Austen-Romans, die sich in den gutaussehenden Helden verguckt hat. Und am liebsten wäre sie jetzt über Silas hergefallen, wenn diesen nicht gerade die Trauer um seinen Freund beherrscht hätte.

Entweder standen ihr ihre Gefühle ins Gesicht geschrieben oder Silas war in der Lage, Gedanken zu lesen. Ein breites Lächeln umspielte seinen Mund, als er sich näher schob und ihr tief in die Augen blickte. Von seiner Traurigkeit war nichts mehr zu erkennen. Er trug erneut seine Maske, doch dieses Mal fühlte sich Lily von ihm nicht ausgeschlossen. Er schien lediglich die Sache mit Marek in seinem Innersten zu verschließen. „Schwul, wie?“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich beweise dir gerne das Gegenteil.“

Mit einem Ruck zog Lily ihn an sich und küsste ihn wild. Ihre Finger gruben sich in sein Haar, zerzausten es noch mehr. Ihr Atem vermischte sich und ein Seufzen entkam ihr, als sich seine Zunge in ihren Mund schob. Silas schlang seine Arme um sie und drängte sich fester an sie. Von einer Sekunde zur anderen glaubte sie in Flammen zu stehen. Sie spürte seinen Herzschlag, das hektische Heben und Senken seiner Brust. Seine Küsse sprachen eine ganz eigene Sprache und Lily wurde bewusst, dass ihre Gefühle Erwiderung fanden. Oder bildete sie sich das in ihrem liebestrunkenen Zustand nur ein? Nur mit Mühe löste sie sich von ihm und brachte ein wenig Abstand zwischen sich und Silas. Dessen Atem ging schneller und seine Wangen waren leicht gerötet, ebenso seine Lippen, die im Licht der Sonne feucht schimmerten. Spielerisch streichelte er ihre Hüfte.

Der verklärte Ausdruck in seinem Gesicht wich, je länger sie sich musterten. „Überzeugt?“, fragte er mit rauer Stimme, die einen Schauder über ihren Rücken sandte.

„Hast du mich nur deswegen geküsst?“

Silas wirkte im ersten Moment irritiert, dann schüttelte er lächelnd den Kopf. „Denkst du ernsthaft, es ginge mir nur darum, dich von meiner Heterosexualität zu überzeugen?“

Lily atmete erleichtert auf. Also hatte ihr Bauchgefühl sie nicht im Stich gelassen. „Dann ist ja gut.“

„Ich mag dich sehr gerne, Lily. Und ich möchte dich auf jeden Fall besser kennenlernen. Ich denke, in den nächsten Tagen haben wir dafür genug Zeit und wer weiß …“ Er zwinkerte ihr zu und schob sich unter ihr hervor. Mit leichtem Bedauern in der Stimme fügte er hinzu: „Allerdings bin ich dafür, dass wir unser eigentliches Ziel nicht aus den Augen verlieren.“

„Unser Ziel?“

„Natürlich. Wir beide wollen die Wahrheit wissen. Ich bin mir sicher, dass sich dann auch Mareks Verhalten klärt und wir herausfinden, was das alles mit dir zu tun hat. Es geht um mehr als Spionage, da bin ich mir sicher.“ Er stand auf, streckte sich und warf einen kurzen Blick über die Schulter. „Einverstanden, wenn wir das zusammen angehen?“

„Einverstanden“, stimmte Lily sofort zu und stand auf. Silas’ Worte hatten Wunder gewirkt. Sie fühlte sich voller Energie und Tatendrang, begierig darauf, die Wahrheit zu ergründen. Gemeinsam würden sie die Hintergründe aufdecken und sich näher kommen. Zwar sprach er nicht von Liebe, schloss aber eine Beziehung zumindest nicht aus. Allein diese Tatsache spornte Lily an, ihr Bestes zu geben. „Wir haben eine Woche Zeit.“

Silas hob eine Augenbraue. „Eine Woche?“

„Stimmt, das kannst du gar nicht wissen. Ich hatte gestern noch ein Telefonat mit Hannah.“ Mit knappen Worten fasste sie das Gespräch mit der Werwölfin zusammen. Silas lauschte ihrer Erklärung aufmerksam, während er sich anzog.

„Leider können wir uns darauf nicht verlassen. Es ist nett, dass sie deine Freunde davon abhalten will, uns nachzujagen, und auf die Trauerzeit pocht, aber darauf würde ich nicht bauen. Der Rat kann sie dennoch losschicken, immerhin bist du offiziell meine Geisel. Darüber hinaus werden andere Teams in Wiesbaden auftauchen und nach uns suchen. Wir müssen uns überlegen, wie wir vorgehen. Zunächst brauche ich ein anderes Auto, mein Jeep ist zu auffällig. Dann sollten wir uns in einem der Vororte eine Ferienwohnung suchen und von dort aus agieren. Hier in der Innenstadt ist das Risiko zu hoch, entdeckt zu werden.“

„In Ordnung, allerdings muss ich bei mir vorbei. Ich brauche einige Sachen.“

„Bist du verrückt? Wir können unmöglich zu dir nach Hause. Wahrscheinlich wird die Wohnung rund um die Uhr bewacht.“ Er schüttelte energisch den Kopf und trat zu ihr. „Ich kann dir Kleidung leihen, notfalls kaufen wir neue.“

„Das ist ja schön und gut, aber es gibt mehr aus der Wohnung zu holen als Kleidung und Kosmetika. Ich bin mir sicher, dass es in Alinas Büro einiges zu entdecken gibt, unter anderem Akten über mich und all die Aufträge. Es würde uns helfen, wenn wir zumindest einen Teil davon mitnehmen könnten.“ Mit beiden Händen fuhr sie sich durch ihre störrischen Locken. Was gäbe sie jetzt für ein Haarband.

„Schön und gut, aber der Nutzen wiegt nicht die Risiken auf. Es wäre sträflicher Leichtsinn.“

„Ich kann Hannah kontaktieren. Vielleicht hat sie eine Idee, wie wir an die Sachen herankommen.“

„Verlangst du nicht ein bisschen viel von ihr? Werwölfe sind denjenigen gegenüber loyal, denen sie ihre Treue geschworen haben. Sie eignen sich nicht so gut als Doppelagenten“, entgegnete Silas mit gerunzelter Stirn.

„Ich weiß, aber eine andere Option haben wir nicht. Wer weiß, ob der Rat nicht in den kommenden Tagen jemanden schicken wird, um das Büro zu räumen. Dann wären alle Informationen außerhalb unserer Reichweite. Mit etwas Pech ist es vielleicht jetzt schon zu spät.“ Sie funkelte ihn an. „Außerdem rechnen sie bestimmt nicht damit, dass du mit deiner Geisel dort auftauchst.“

Silas schloss nachdenklich die Augen, dann nickte er langsam. „In Ordnung, wir probieren es. Du rufst Hannah an. Wenn sie zustimmt, will ich außerdem, dass einer unserer Schutzengel im Vorfeld die Lage sondiert.“

„Adrian!“, sagte Lily sofort. „Er kennt die Wohnung, weiß wie es im Büro aussieht und ist nicht so auffällig wie Felina. Andere Schutzengel würden sie allein durch ihre fehlende Schwinge sofort als deinen erkennen.“

„Das stimmt. Dann bleibt uns jetzt nur noch, Hannah und Adrian von deinem Plan zu überzeugen.“

 

Während sich Silas um einen Leihwagen und eine abgelegene Ferienwohnung kümmerte, oblag es Lily, Hannah anzurufen und sich mit Adrian auszusprechen. Da das Gespräch mit ihrem Schutzengel wesentlich länger dauern würde, entschied sie sich zunächst für das klärende Telefonat mit Hannah. Die Werwölfin war von Lilys Plan nicht sonderlich angetan, was allerdings nicht anders zu erwarten war. Sie zeigte sich noch immer skeptisch und traute Silas nicht über den Weg, egal wie sehr Lily sie zu überzeugen versuchte.

„Du kannst dich auf den Kopf stellen, ich traue ihm nicht“, sagte Hannah und knurrte leise. Es knackte in der Leitung. Im Hintergrund waren gedämpfte Stimmen und eine Lautsprecheransage zu hören. „Du verrennst dich da in eine Sache und unterdessen bereue ich es, dir meine Hilfe angeboten zu haben. Ich hätte dich gestern suchen und zurückholen sollen, anstatt dich bei diesem Unsinn zu unterstützen.“

„Aber du hast noch nie dein Wort gebrochen“, rief Lily alarmiert.

„Eben, deswegen helfe ich euch, auch wenn deine Pläne alle für die Tonne sind! Die Wohnung wird überwacht und im Laufe der nächsten Tage soll sie geräumt werden. Dort aufzutauchen ist, als würdet ihr blutüberströmt vor einem Rudel hungriger Wölfe tanzen.“

„Aber wir brauchen die Akten!“

„Ich weiß, aber dennoch ist es reiner Selbstmord.“ Hannah atmete tief durch, bevor sie mit leiser Stimme fortfuhr: „Deswegen werde ich euch die Sachen besorgen.“

„Du?“

„Ja. Wenn ich dort auftauche, wird es keine seltsamen Fragen geben. Ich schaue mir die Akten an und deponiere die Wichtigsten zusammen mit deinen Sachen an einem neutralen Ort. Dort könnt ihr alles abholen.“

Lily zögerte. Im Grunde klang Hannahs Vorschlag gut, doch konnte sie wirklich erkennen, was wichtig war und was nicht? Was wenn sie wichtige Informationen übersah und ihnen die falschen Akten zukommen ließ? Von dem hohen Risiko, das sie einging, einmal abgesehen, wäre Silas sicherlich nicht begeistert, wenn er von Hannahs Mitarbeit erfuhr. Vielleicht legte sich ihre Freundin auf die Lauer, wenn sie die Sachen ablieferte, und schlug zu, sobald sie mit Silas auftauchte. Immerhin machte Hannah keinen Hehl daraus, dass sie Lilys Pläne nicht guthieß.

„Keine gute Idee“, machte sie ihren Gedanken Luft. „Ich muss die Akten selbst durchsehen. Dinge, die du für unwichtig erachtest, könnten die wichtigsten Informationen bergen. Außerdem würde es auffallen, wenn auf einmal Dokumente fehlen und du mit einem Stapel Ordner die Wohnung verlässt. Das ist viel zu riskant.“

„Dein Plan ist auch nicht besser.“ Das laute Kreischen der Bremse eines Zuges überlagerte für einen Moment ihre Worte. „… unmöglich die ganzen Beobachter ablenken, die sich in der Nähe der Wohnung herumtreiben.“

„Und die anderen?“

„Lily, glaubst du ernsthaft, ich habe Radu und Cion in die Sache eingeweiht? Es war heute früh schon schwierig genug, die beiden davon abzuhalten, euch nachzujagen. Sie haben mich fast zwei Stunden gelöchert, damit ich ihnen verrate, was wir besprochen haben. Aber keine Sorge – ich habe dicht gehalten. Radu kocht natürlich vor Wut. Ich traue ihm sogar zu, dass er sich allein auf die Suche macht. Cion hört wenigstens auf Aldwyns Anweisungen und akzeptiert die Jagdsperre, die ich vor einigen Stunden erwirkt habe, aber Radu … Der geht soweit, die Gesetze des Rats in den Wind zu schießen und zum Verräter zu werden.“

Lily spürte, wie Hannahs Worte ihr den Hals zuschnürten und unangenehm auf ihre Kehle drückten. Wollte Radu sich wirklich gegen den Rat stellen? Aber das wäre reiner Wahnsinn. „Was hat er gemacht?“

„Nachdem heute Mittag die Trauerzeit und die damit verbundene Jagdsperre festgelegt wurden und wir für eine Woche aus dem Rennen sind, ist er wutentbrannt zum Ratssitz aufgebrochen. Er will unbedingt mit Estera sprechen und sie davon überzeugen, die Sperre aufzuheben.“

„Das klingt nicht gut.“ Lily biss sich auf die Unterlippe und grübelte. Am liebsten hätte sie Radu und Cionaodh eingeweiht und mit ihnen gemeinsam nach einer Lösung gesucht, doch der Hass der beiden auf Silas war zu groß. Radu würde niemals mit ihm zusammenarbeiten.

„In der Tat, Lily! Ich hoffe, du honorierst, was du von uns verlangst. Ich stehe zwischen den Stühlen, Radu ist krank vor Sorge und bereit, alles für dich aufzugeben, und Cion lässt sich zwar nichts anmerken, aber ich sehe, wie Sorcha sich verhält.“

„Es tut mir leid.“ Das schlechte Gewissen nagte an ihr. Die Werwölfin hatte recht - sie verlangte zu viel von ihren Freunden. Allerdings wollte sie Silas nicht im Stich lassen und die Chancen ignorieren, die sich ihr boten. Das betraf sowohl die optionale Enthüllung ihrer Vergangenheit als auch die mögliche Beziehung mit Silas. Bei diesem Gedanken wurden ihre Hände feucht und ihr Herz schlug schneller.

„Ändern können wir es jetzt nicht mehr“, sagte Hannah. „Also machen wir das Beste daraus und versuchen, diesen Drahtseilakt zu überstehen, ohne zu stürzen. Dir bleiben sechs Tage, um Informationen zu sammeln. Währenddessen versuche ich, Radu und Cion von irgendwelchem Blödsinn abzuhalten. Sollten meine Bemühungen fehlschlagen …“

„… dann weihe ich sie ein“, fiel ihr Lily ins Wort.

„Bist du sicher, dass das eine kluge Entscheidung wäre?“

„Wahrscheinlich nicht, aber ich verlange schon zu viel von dir. Ich habe sowieso das Gefühl, dich gegen Radu und Cion auszuspielen, also werde ich in den sauren Apfel beißen und mich ihnen stellen. Vielleicht kann ich sie davon überzeugen, uns zu helfen.“

Ein heiseres Lachen erklang am anderen Ende der Leitung. „Das will ich sehen. Ich kann mir Radus Miene schon jetzt bildlich vorstellen, wenn du ihm erzählst, dass er mit einem Magier zusammenarbeiten soll.“

„Ich mir auch.“ Es klang beinahe so, als sei die Werwölfin in Radus Vergangenheit eingeweiht. Oder irrte sie sich?

„Um auf unser ursprüngliches Thema zurückzukommen. Du hast es dir mit den Akten nicht anders überlegt?“, unterbrach Hannah ihre Grübeleien.

„Nein, ich muss mir alles selbst ansehen.“

„In Ordnung. Mal schauen, was ich machen kann. Kommt heute nach Mitternacht ins Westend. Ich sehe zu, dass ich für ein wenig Ablenkung sorge und euch eine Stunde Zeit verschaffe. Halte Ausschau nach Charon. Ich schick ihn los, wenn die Luft rein ist. Er wird in eurer Nähe bleiben und euch Bescheid geben, wenn ihr aufbrechen müsst.“

„Danke, Hannah!“ Erleichtert atmete Lily auf. Eine Stunde mochte zwar sehr knapp bemessen sein, aber es musste ausreichen, um herauszufinden, was Alina wusste. Sie musste irgendwo Unterlagen haben, die ein wenig mehr über Lily enthielten. Ihre Patentante hatte sich bei Fragen bezüglich ihrer Eltern immer sehr bedeckt gehalten oder das Gespräch abgebogen. Ob sie etwas verbarg oder einfach zu wenig über ihre Eltern wusste, konnte Lily nicht sagen. Apropos Alina – eine wichtige Frage kam Lily in den Sinn. „Weißt du, wann Alinas Beerdigung stattfindet?“

Die Werwölfin schwieg eine Weile, bevor sie mit trauriger Stimme zu einer Antwort ansetzte: „Kommenden Montag auf dem Nordfriedhof. Die Trauerfeier markiert auch das Ende der Jagdsperre. Ich gehe davon aus, dass wir an diesem Tag auch unseren neuen Anführer kennenlernen.“

„Danke.“

„Wirst du da sein?“

„Natürlich!“, erwiderte Lily aufgebracht. Sie würde Alina unter allen Umständen die letzte Ehre erweisen.

„Dachte ich mir. Ich hoffe, bis dahin klärt sich das meiste. Ansonsten musst du sehr vorsichtig sein.“

„Ich weiß, aber ich habe nicht vor, dem Ganzen fernzubleiben.“

Eine weitere Ansage ertönte. „Ich muss langsam Schluss machen. Mein Zug fährt bald ab und für heute Abend habe ich einiges vorzubereiten. Wenn es Probleme gibt, melde ich mich bei dir, ansonsten bleibt es dabei. Schau dich nach Charon um, okay?“

„Mach ich. Vielen Dank, Hannah.“

 

Adrian kauerte auf dem Fußboden des Wohnzimmers neben dem schwarzen Ledersofa. Er hatte die Flügel um sich gelegt, sein langes Haar verbarg sein Gesicht. Sein inneres Leuchten war schwächer, als Lily es von ihm gewöhnt war, und es versetzte ihr einen Stich, als er sich halb von ihr abwandte, als sie den Raum betrat. Sie hatte geahnt, dass ihr ein schwieriges Gespräch bevorstand, doch solange er sich vor ihr versteckte und seine Gefühle verbarg, würden sie nicht weiterkommen.

„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte sie und durchquerte den Raum. Jeder ihrer Schritte wurde vom Knarren der Dielen begleitet. „Du weißt, dass wir reden müssen.“

Adrian nickte. Noch immer hielt er den Blick gesenkt, rückte jedoch ein Stück zur Seite.

Obwohl Lily keine Lust verspürte, die nächsten Stunden auf dem unbequemen Holzboden zuzubringen, ließ sie sich neben ihm nieder. Sie umfing ihre Beine mit den Armen und betrachtete die Wohnzimmereinrichtung. Die dunkle Sofagarnitur wirkte so teuer und exquisit wie ein Designerstück und passte gut zu den beiden hellen Teppichen, die nur einen Teil der Dielen bedeckten. Eine helle Anbauwand, die mit einem modernen Flachbildfernseher, einigen Büchern und DVDs bestückt war, nahm die linke Seite des Zimmers ein und bot einen leichten Kontrast zu den Sitzmöglichkeiten, war jedoch mit Sicherheit mindestens genauso teuer gewesen. Eine kleine Essgruppe in schlichtem Stil rundete die Einrichtung ab und passte gut zum modernen Ambiente. Alles war aufeinander abgestimmt und der Raum wirkte auf Lily ein wenig wie das Farbprospekt eines Möbelhauses – unpersönlich, steril und ungemütlich. Keine Bilder an den Wänden, keine Fotoaufsteller oder die üblichen Dekorartikel, die für eine persönliche Note sorgten. Es schien, als sei dieser Raum lediglich eingerichtet, aber nie genutzt worden.

Sie sah zu Adrian, der noch immer auf einen unsichtbaren Punkt vor seinen Füßen starrte.

„Wir sollten aufhören, uns anzuschweigen, Addy. Das bringt uns nicht weiter.“ Sie wartete einen Moment auf eine Antwort und fuhr schließlich resigniert fort: „Was ich gestern gesagt habe, tut mir leid. Die kommenden Tage werden anstrengend genug werden und wir müssen endlich aufeinander zugehen. Also sollten wir uns aussprechen.“

Du gehst mit ihm ins Bett? 

Verdutzt hielt Lily inne. „Das macht dir zu schaffen? Meine Freundschaft zu Silas?“

Ein Magier ist nicht gut für dich. 

„Hör zu, Adrian. Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen. Es ist mein Leben und wen ich an meine Seite wähle, ist meine Entscheidung. Natürlich wäre ich glücklicher, wenn du meine Wahl billigen würdest, aber ich werde mich jetzt nicht von Silas abwenden, nur weil du der Meinung bist, dass Radu …“

Es geht doch nicht nur um Radu, fiel ihr Adrian ins Wort. Im Grunde könnte ich mit jedem leben, sogar mit Hannah, aber nicht mit einem Magier! 

„Deine Vorurteile machen mich echt … Moment, wie kommst du jetzt so plötzlich auf Hannah?“

Adrian schien zu bemerken, dass er übers Ziel hinaus geschossen war. Er knetete die Hände und schüttelte schließlich den Kopf. Ist nicht so wichtig. Ich bin dein Schutzengel und Magier sind nun einmal eine Gefahr für dich. 

„Silas aber nicht.“

Woher willst du das wissen? Er könnte dich ausnutzen und betrügen. Wer weiß schon, was er plant. Immerhin erzählt er dir auch nicht alles, da bin ich mir sicher. 

„Selbst wenn es so wäre, wäre er in dieser Beziehung nicht der Einzige. Du bist auch nicht gerade ein Ausbund an Offenheit.“ Lily schnaubte und rückte herum, um Adrian direkt ins Gesicht sehen zu können. „Momentan ziehst du dich von mir zurück. Ich akzeptiere, dass du mir nicht alles sagen kannst und bin bereit, selbst nach Antworten zu suchen, aber seien wir ehrlich: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Ich spüre, dass unser mentales Band immer schwächer wird. Wir entfernen uns voneinander, obwohl wir eigentlich …“ Sie brach ab und seufzte. „Ich will, dass wir wieder als Team agieren. Die nächsten Tage werden hart und ich muss mich auf dich verlassen können.“

Das kannst du, Lily. 

„Ich hoffe es.“

Aber weißt du, ich bin nicht der Einzige, der für unsere schwache geistige Verbindung verantwortlich ist. Du blockst mich ebenfalls ab, ob willkürlich oder nicht, kann ich nicht sagen. 

Lily seufzte. Sie ahnte, woran das lag und musste Adrian notgedrungen recht geben. Sie funktionierten als Team einfach nicht mehr. Zwischen ihnen hatte sich zu viel Misstrauen gebildet, genährt durch Adrians Ausflüchte und sein Verstecken hinter den Gesetzen der Schutzengel. Unterdessen war sich Lily sicher, dass es nicht das Verbot allein war, das ihn schweigen ließ. Adrian verheimlichte ihr absichtlich etwas, doch sie wagte nicht, ihre Vermutung zu äußern. Täte sie das, würde ihr Band endgültig zerreißen und genau das durfte sie momentan nicht riskieren. Sie brauchte Adrian, gerade für den bevorstehenden Einbruch, der in einem Kampf enden konnte, wenn sie Pech hatten.

Viel Zeit bleibt uns beiden nicht mehr. 

Adrians Worte versetzten Lily einen Stich. Eine unbestimmte Angst erfasste sie. Allein der Gedanke, Adrian wirklich zu verlieren, entfachte Panik in ihr. Sie durfte nicht zulassen, dass sie so endeten. Nicht nach all der Zeit und den vielen Problemen, die sie gemeinsam überstanden hatten. „Ich werde nicht aufgeben! Denkst du wirklich, dass ich nach so vielen Jahren, die wir zusammen sind, zusehe, wie unsere Verbindung reißt?“

Dein Eifer in allen Ehren, aber unser Band zerfasert immer mehr. Ich spüre es viel stärker als du. 

„Dann unternehmen wir etwas dagegen!“ Lily kam auf die Beine und stemmte die Hände in die Hüften. Vielleicht war das, was sie vorhatte ein Fehler, aber sie würde alles in eine Waagschale werfen, um Adrian nicht zu verlieren. „Sprechen wir uns aus – in allen Punkten. Es bringt nichts, mit allem hinter dem Berg zu halten, aus Angst, einander zu verletzen.“ Sie zögerte, überlegte einen Moment, ob ihr Vorgehen klug war, dann schoss sie alle Zweifel und Ängste in den Wind. Sie musste mit offenen Karten spielen, Adrian all ihre Gedanken, Sorgen und Probleme mitteilen, wenn es ein Wir geben sollte. Selbst wenn ein Teil ihrer Vermutungen den Schutzengel verletzen würde. „Um ehrlich zu sein, bin ich mir unterdessen nicht mehr sicher, ob du mir wirklich die Wahrheit sagst, was die Gesetze der Schutzengel betrifft. Vielmehr glaube ich, dass du dich hinter einer selbstgewählten Lüge versteckst und dir einredest, dass du mir nichts erzählen darfst. Sei ehrlich, Addy. Bist du wirklich an ein Gesetz gebunden, das dich zum Schweigen zwingt?“ Sie holte tief Luft und sah ihm direkt in die Augen in der Hoffnung, die Antwort in seinem Gesicht abzulesen. „Oder willst du mir meine Vergangenheit aus anderen Gründen nicht offenbaren?“

Adrian wich ihrem fragenden Blick aus. Ich kann nicht, Lily, presste er kaum hörbar hervor.

Lilys Herz schlug schneller. Zwischen nicht dürfen und nicht können, lag ein immenser Unterschied. „Aber wieso …?“

Wenn du die Wahrheit erfährst, wirst du … Er schüttelte den Kopf. Spätestens dann wird sich unser Band vollkommen auflösen. Er hob den Blick. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme und ihre Nackenhärchen stellten sich auf, als sie erkannte, wie ernst Adrian es meinte. Glaub mir, ich halte dich nicht absichtlich im Unklaren. Aber ich habe Angst vor dem, was du sagen wirst, wenn du die Wahrheit herausfindest. 

„Warum lässt du es nicht auf einen Versuch ankommen? Ich denke nicht, dass du mich so sehr schocken wirst, dass ich mich von dir abwende.“ Lily befeuchtete sich die Lippen. Nie zuvor war sie so dicht davor gewesen, die Wahrheit zu erfahren. Zum ersten Mal gestattete Adrian ihr einen Blick hinter seine Fassade. Und obwohl sie von ihm enttäuscht sein müsste, war sie es seltsamerweise nicht.

Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. Ich wünschte, es wäre so. Aber ich kenne dich, Lily. Ich weiß, wie du reagieren wirst, wenn ich dich einweihe. 

„Das kannst du gar nicht wissen. Aber wenn du es absichtlich vor mir geheim hältst, machst du es nicht gerade besser. Wie soll ich dir vertrauen, wenn ich genau weiß, dass du mir etwas verheimlichst.“ Ein weiterer Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Adrian sollte nicht in der Lage sein zu lügen. Wie kam es, dass er ihr trotzdem die Wahrheit vorenthielt? Sie hatte ihn direkt gefragt, also dürfte er gar nicht in der Lage sein, sie zu täuschen.

Ist die Wahrheit wirklich so wichtig für dich? 

„Was für eine Frage! Natürlich ist sie das“, sagte Lily. „Seit Jahren versuche ich herauszufinden, was in meiner Vergangenheit passiert ist, wie meine Eltern waren und ob sie wirklich Opfer eines Verkehrsunfalls wurden.“

Wie kommst du darauf, dass es etwas anderes war? Adrians Stimme zitterte hörbar.

„Das ist nur ein Bauchgefühl.“ Lily begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, um ihre überschäumenden Gedanken im Zaum zu halten. Sie wollten alle auf einmal aus ihr hervorbrechen, was für ein heilloses Chaos in ihrem Kopf sorgte. „In den letzten Tagen wurde ich von einem Magier gejagt und Alina hat ihr Leben verloren. Wenn das alles mit mir und meiner Vergangenheit zu tun hat, will ich wenigstens wissen, was vor sich geht.“

Adrian schluckte. Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen ihnen aus, bis Lilys Schutzengel schließlich nickte. In Ordnung. Ich werde dir davon erzählen, allerdings bitte ich dich um ein paar Tage Geduld. 

„Wieso?“

Zum einen muss ich meine Gedanken ordnen. Er ignorierte ihr protestierendes Schnauben und stand auf. Zum anderen ist momentan ein denkbar schlechter Moment, um dich mit deiner Vergangenheit zu konfrontieren. Du wirst all deine Energie brauchen, um gegen die Jägertruppen zu bestehen, die auf euch angesetzt sind. Außerdem willst du in deine Wohnung einsteigen. 

„Komm schon, Adrian. Ich habe lange genug gewartet“, erwiderte Lily und ballte die Hände zu Fäusten.

Dann ist es nicht so schlimm, wenn es noch ein wenig länger dauert. Vertraue mir wenigstens in der Beziehung und verlasse dich auf mein Urteilsvermögen. Ich bin dein Schutzengel und was ich tue, ist stets zu deinem Besten. 

Es fiel Lily schwer, nicht aufzubrausen und Adrian zu zwingen, endlich die Wahrheit zu sagen. War ihre Vergangenheit wirklich so schlimm gewesen, dass es sie vollkommen aus der Bahn zu werfen vermochte? Welche dunklen Geheimnisse mochten sich im Nebel des Vergessens verbergen, der sie seit nunmehr sieben Jahren begleitete. Sie sah zu Adrian, der ihrem Blick mit ernstem Gesicht standhielt. Es gab kein Zweifel daran, dass er sich wirklich um sie sorgte. Vielleicht sollte sie auf sein Urteil vertrauen, auch wenn es ihr einiges abverlangte.

Ich verspreche dir, dass ich dir alles sage, sobald wir die momentanen Probleme überstanden haben. Dann erzähle ich dir alles und stelle mich anschließend deinem Urteil, egal wie es ausfallen wird. 

„In Ordnung.“ Ein Teil von Lily konnte nicht begreifen, dass sie wirklich auf den Vorschlag ihres Schutzengels eingegangen war. „Ich warte, bis sich alles beruhigt hat und wir die Probleme überwunden haben, aber spätestens danach will ich alles wissen.“

Adrians Schultern spannten sich an und er nickte knapp. Ich verspreche es dir, Lily. Ich werde dir die volle Wahrheit sagen. 

Lily atmete auf. Der gewaltige Felsbrocken, der seit einigen Minuten auf ihrer Seele lastete, fiel von ihr ab und sorgte dafür, dass sie befreit durchatmen konnte. Auch spürte sie Adrians Gegenwart stärker, als hätte sich ihr mentales Band wieder enger zusammengeflochten. Vielleicht war genau das passiert. „Ich vertraue dir, Adrian, daher will ich dir ebenfalls etwas versprechen.“

Mir? 

„Wenn ich die Wahrheit kenne, werde ich nicht über dich urteilen und richten, bis ich weiß, wie deine Sicht der Dinge ist. Ich werde mein Vertrauen in dich setzen und ich möchte, dass du dasselbe tust. Glaub‘ an mich, in Ordnung? Egal wie schrecklich die Wahrheit sein könnte, es gäbe nichts, was mich vollkommen von dir forttreiben könnte. Dazu mag ich dich viel zu sehr.“

Endlich huschte ein ehrliches Lächeln über Adrians Züge, das seine Augen zum Funkeln brachte. Auch sein inneres Leuchten nahm zu, als er antwortete: Ich hoffe es, Lily. Ich hoffe es sehr. Er strich ihr über die Wange und der kühle Luftzug ließ Lily angenehm schaudern. Aber diesen Magier kann ich immer noch nicht leiden. 

„Wann habe ich in Liebesangelegenheiten jemals auf dich gehört?“, antwortete Lily, die erkannte, dass Adrians Worte nicht ernst gemeint waren, sondern lediglich die drückende Stimmung vertreiben sollten. „Dein Geschmack hinsichtlich Männern ist definitiv nicht meiner und Radu werde ich niemals an mich heranlassen.“

Schade, flachste Adrian und zwinkerte. Du könntest mir wenigstens für ein paar Stunden deinen Körper überlassen, damit ich … 

„Vergiss es!“ Lily grinste breit und schüttelte den Kopf. „Erstens hält der Körpertausch nicht so lang, zweitens will ich nicht, dass Radu auf falsche Gedanken kommt und drittens habe ich mich nun mal in Silas verliebt.“

Adrian musterte sie ernst, doch der seltsame Gesichtsausdruck machte einem breiten Lächeln Platz. Wusst‘ ich’s doch! Mir kannst du eben nichts vormachen! 

Lilys Wangen brannten. Es war das erste Mal, dass sie ihre Gefühle laut ausgesprochen hatte. Es fühlte sich unwirklich und wundervoll zugleich an.

Vergiss aber nicht, dass du mir versprochen hast, mein Problem mit Radu irgendwann anzupacken. 

Lily schrak aus ihren Gedanken. Diese Zusicherung hatte sie komplett vergessen, doch sie nahm sich vor, die Sache zu klären, wenn sich die Umstände normalisierten und es ruhiger wurde. „Ich habe es nicht vergessen. So wie es aussieht, wird das wohl meine Gegenleistung für die Wahrheit werden, die du mir versprochen hast. Du berichtest von meiner Vergangenheit, ich kläre Radu hinsichtlich deiner Gefühle auf.“

Adrian wiegte den Kopf und trat an ihr vorbei. Weißt du, unterdessen bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich das überhaupt noch will. Radu hat einen Körper, ich bin nur ein Schutzengel. Es wird nur unangenehmes Schweigen und peinliche Situationen herbeiführen, wenn er die Wahrheit kennt. 

„Seit Monaten liegst du mir in den Ohren und jetzt machst du plötzlich einen Rückzieher?“, fragte Lily fassungslos. „All die Zeit …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich versteh’ dich nicht.“

Adrian zuckte die Schultern und genoss den Windhauch, der sich in seinen langen Locken verfing. Weil ich spüre, dass es dir mit Silas ernst ist. So sehr ich deinen Entschluss missbillige, ich erkenne, dass du dabei bist, dich vollkommen an ihn zu binden. Bei deinen bisherigen Freunden war dies nicht der Fall, daher habe ich immer versucht, dich auf Radu zu bringen. Ich dachte, wenn du ihm von meinen Gefühlen erzählst, musst du dich mit ihm auseinandersetzen und lernst ihn besser kennen. 

„Du hast ernsthaft geglaubt, dass ich mich auf diesem Weg in Radu verliebe?“

Nenn mich töricht, aber ja. Er musterte sie über die Schulter und hob die Achseln. Eine dumme Idee, ich weiß. Unterdessen bin ich schlauer und auch wenn es mir schwer fällt, ich gebe mir alle Mühe, Silas zu akzeptieren. Du musst mir nur ein wenig Zeit geben, damit ich mich mit ihm arrangiere, okay? 

„Danke, Adrian.“ Lily lachte kurz auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das klingt fast wie ein Segen für unsere Hochzeit.“

Soweit würde ich nicht gehen, gab Adrian mit einem frechen Grinsen zu. Aber ich werde ihn genau unter die Lupe nehmen und wenn ich mitbekomme, dass er dir schadet, werde ich ihn mir zur Brust nehmen … genauer gesagt seinen Schutzengel. 

Lily kam der frühe Morgen in den Sinn. „Was hat Felina vorhin eigentlich mit dir besprochen?“

Das bleibt mein Geheimnis. 

„Noch eins? Du machst es mir wirklich nicht leicht.“

Keine Sorge, mehr kommen nicht dazu. Sie hat mich lediglich gebeten, Silas kennenzulernen. 

„Also ist sie zumindest teilweise für dein Umdenken verantwortlich? Ich sollte mich bei ihr bedanken.“

Damit würde ich warten, bis ich hinsichtlich des Magiers mein endgültiges Urteil fälle. 

„Du wirst schon sehen – Silas ist kein schlechter Mensch. Und als Magier hat er den sanften Weg gewählt.“ Sie setzte zu einer Erklärung an, doch Adrians wissender Gesichtsausdruck hinderte sie daran. Konnte es sein? Wusste er, wovon sie sprach? Hatte Felina ihm davon erzählt oder hatte er ihr Gespräch mit Silas belauscht? Eine leise Stimme wisperte ihr zu, dass beide Möglichkeiten ausschieden, doch Lily schob sie weit von sich. Sie hatten sich gerade zusammengerauft – sie würde dieses schwache Bündnis nicht durch unbedachte Worte gefährden. Sobald alles vorüber war, blieb genügend Zeit, um Adrian auf den Zahn zu fühlen.

Na, dann hoffe ich mal das Beste. 

Um Adrian nicht doch noch mit unschönen Fragen zu bedrängen, wechselte sie das Thema. Ihr kam etwas in den Sinn, das sie schon seit einer Weile beschäftigte und das das Gespräch in eine vollkommen andere Richtung lenken würde. „Warum bist du eigentlich in Radu verliebt?“

Wie jetzt? 

„Na ja, Hektor hat mir mal erzählt, dass Schutzengel nicht in der Lage seien, sich zu verlieben. Wie kommt es also, dass du dich in Radu verliebt hast?“

Adrian schlang die Flügel schützend um sich, ein Zeichen dafür, dass er verunsichert war. Keine Ahnung. Es ist, wie es ist, entgegnete er ausweichend.

Das Klappern eines Schlüssels und das Quietschen der Wohnungstür verhinderten, dass Lily nachhaken konnte, obwohl sie spürte, dass da mehr war. Möglicherweise war es besser so. Sie war froh, dass sie sich einander wieder näherten und sich ihr mentales Band festigte. Momentan glich es einer vertrockneten Pflanze, die gehegt werden musste, um irgendwann zu erblühen.

Kapitel 10 – Mitternachtsdiebstahl

 

Schwerer Regen trommelte unablässig auf die Straße, bildete eine einschläfernde Geräuschkulisse, die Lily immer müder machte. Schon seit Stunden schüttete es wie aus Eimern, als wollte sich Petrus für die heißen, sonnigen Wochen rächen. Wenigstens war das Gewitter abgeflaut und der Donner drang nur noch gedämpft an ihre Ohren.

Seit kurz nach Mitternacht standen Silas und sie unter dem schmalen Vordach des Eingangsbereiches einer Schneiderei. Er gewährte kaum Schutz vor dem Regen. Das kalte Wasser rann ihr in den Nacken. Bibbernd schlang sie die Arme um ihren Körper und spähte in das unwirkliche Licht der Straßenlaternen, das sich auf dem nassen Boden spiegelte und einen seltsam gelben Nebel aus Regentropfen hervorbrachte. Ihre Suche nach Charon blieb bisher erfolglos. Hannahs Schutzengel ließ sie weiter warten und ihr Versuch, die Büllowstraße richtig zu sondieren, scheiterte an den Büschen und kleinen Bäumen, die im Vorgarten des einhundert Jahre alten Hauses gepflanzt waren.

„Meinst du, er kommt noch?“, fragte Silas und warf einen Blick auf seine Uhr. Seine Stimme zitterte leicht, als er hinzufügte: „Halb zwei. Wenn wir uns zu lange hier aufhalten, fallen wir auf.“

„Aber Hannah hat es mir versprochen.“ Lily schüttelte den Gedanken ab, dass sie sie im Stich gelassen hatte.

„Möglicherweise ist sie aufgeflogen.“

Ich stimme ihm ungern zu, aber ich denke, er hat recht, schaltete sich zu allem Überfluss Adrian ein. Wenn ihr nicht entdeckt werdet, holt ihr euch eine Erkältung und dann kannst du deine Recherchen vergessen. 

Lily schluckte eine Erwiderung hinunter, als sie ein sanftes Schimmern auf der anderen Straßenseite zwischen den Bäumen nahe der portugiesischen Kirche sah. Charon – endlich. Der bärtige Mann überquerte mit einer Schnelligkeit die Straße, die man ihm aufgrund seiner kräftigen Statur nicht zugetraut hätte. Er wirkte gehetzt, das grau-schwarze Haar fiel ihm unordentlich ins Gesicht. Er gab Lily ein Zeichen, ihm zu folgen und war schon auf halbem Weg die Büllowstraße hinunter, ehe sie reagierte.

„Da ist er. Schnell.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, huschte sie in den Regen hinaus und folgte Charon. Sie holte ihn erst vor der Haustür des großen gelben Jugendstilhauses ein. Rasch schloss sie auf und schlüpfte in den dunklen Hausflur. Silas folgte ihr wie ein Schatten.

Mit klopfendem Herzen lauschten sie in die Stille des schlafenden Gebäudes, nachdem die Eingangstür ins Schloss gefallen war. Nichts war zu hören – kein verräterisches Schnaufen, keine unruhigen Schritte.

Tut mir leid, dass es so lang gedauert hat. Hannah musste sich etwas einfallen lassen, um für Ablenkung zu sorgen. Ich hoffe, du honorierst ihre Bemühungen. 

„Was habt ihr euch ausgedacht?“

Da vorwiegend Werwesen die Nachtschichten übernehmen, hat sie sie auf ihre Art weggelockt. Charons tiefe Stimme dröhnte in ihrem Schädel. Eine leichte Anklage schwang mit. Beeilen wir uns, bevor sie zurückkommen. 

Schlechtes Gewissen stieg in Lily auf. Sie ahnte, dass Hannah ihre weiblichen Reize zum Einsatz gebracht hatte, um die Wachposten hier wegzulotsen und es gefiel ihr nicht. Sie würde Hannah später anrufen und sich bei ihr entschuldigen.

„Gehen wir.“ Silas drängte sie Richtung Treppe. „Sonst wäre Hannahs Opfer umsonst. Wir können uns später Gedanken um sie machen.“

In Windeseile erklommen sie die Stufen bis zum Dachgeschoss. Sie vermieden, das Flurlicht anzuschalten. Es war ein Jammer, dass das Leuchten der beiden Schutzengel die Dunkelheit nicht durchdringen konnte. Silas stolperte mehrfach auf den ausgetreten Holzstufen und geriet bei der üppigen Dekoration vor der Wohnung im dritten Stock ins Straucheln, doch niemand bemerkte ihre Anwesenheit. Dennoch raste Lilys Herz, als sie vor ihrer Wohnung stand und mit zitternden Fingern die Tür aufschloss. Sie fühlte sich wie die Heldin ihrer Lieblingsbücher – eine Agentin auf geheimer Mission oder eine wahnwitzige Einbrecherin.

Abgestandene Luft schlug ihr entgegen, als sie in den dunklen Flur huschte und sich gerade noch davon abhalten konnte, das Licht anzuknipsen. Wie vertraut alles wirkte, obwohl sie nur verschwommene Schattenrisse um sich herum wahrnahm. Die Garderobe hatte fast eine menschliche Statur bekommen und die Kommode, auf der sich noch Briefe und Zeitungen stapelten, wirkte ungewohnt wuchtig.

Erinnerungen an den Morgen mit Alina nach ihrer Prüfung, das fröhliche Lachen und die ausgelassene Stimmung kamen ihr in den Sinn. Nun erschienen ihr die vergangenen Tage unendlich weit entfernt, als stammten sie aus einem anderen Leben. Von Trauer und Erinnerungen begleitet, durchquerte sie den Flur, erfasste Details, die ihr davor kaum ins Augen gesprungen waren: Alinas Schuhe, die sich unter der Garderobe stapelten, ihre Tasche, die an einem der Haken hing. Mit jedem Schritt gewöhnte sie sich an die Dunkelheit, die sie umgab.

„Wo ist das Büro?“, riss Silas sie aus ihren Gedanken. Er schob sich an ihr vorbei, öffnete wahllos eine der Türen. Der Zufall wollte es, dass er in ihr Zimmer stolperte.

„Falsch, aber da muss ich ebenfalls hin.“ Sie schob sich an ihm vorbei, bevor er eintreten konnte. „Ich packe einige Sachen zusammen, Adrian kann euch zum Büro bringen. Die zweite Tür links.“

Entweder spürten alle die bedrückende Stimmung, die Lily ergriffen hatte, oder sie wollten keine Zeit verlieren, doch weder Silas noch Adrian widersprachen. Lediglich Charon blieb zurück. Mit vor der Brust verschränkten Armen blieb er im Türrahmen stehen und beäugte sie skeptisch. Lily mied es, ihm in die Augen zu sehen, schnappte sich eine Reisetasche und riss die Türen ihres Kleiderschrankes auf. Wahllos stopfte sie Hosen, Shirts und Unterwäsche in die Tasche.

Dein Geruch hat sich verändert. 

Lily verharrte in der Bewegung. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Dennoch setzte sie eine lockere Miene auf, als sie sich ihm zuwandte. Lediglich die Straßenbeleuchtung schenkte dem Raum ein wenig Licht. Lange Schatten durchzogen Charons markantes Gesicht. Zum ersten Mal störte es sie, das die Schutzengel der Werwölfe so menschlich waren, dass von ihnen kein inneres Leuchten ausging. Auch die Flügel fehlten ihnen, dafür waren sie stofflich genug, um auf einem Sessel Platz zu nehmen oder sich gegen eine Wand zu lehnen.

„Kein wirkliches Kompliment.“

Hannah hatte recht mit ihrer Vermutung, fuhr er leise fort. Seine buschigen Brauen senkten sich, sodass seine Augen vollkommen in den Schatten verschwanden. Du hast dich in diesen Magier verliebt. 

Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. Sie hatte geahnt, dass das passieren würde. Obwohl sie notgedrungen Silas Deodorant benutzt hatte, um ihren verräterischen Körpergeruch zu überdecken, hatte Charon sie durchschaut. Verärgert presste sie die Lippen aufeinander. „Und wenn schon – meine Entscheidung.“

Denkst du, dass deine Wahl gut ist? 

„Das wird sich zeigen.“ Sie betrachtete die Jacke in ihrer Hand, die sie automatisch vom Bügel gezerrt hatte, und schlüpfte hinein. Ihre Haut war zwar klamm und die Kälte schien ihr unterdessen in den Knochen zu stecken, doch die Jacke half ihr vielleicht ein wenig. Sie duftete angenehm nach Sonne und allein das sorgte für eine wohlige Wärme. „Jetzt haben wir anderes zu tun.“

Charon grummelte etwas in seinen Bart, doch er sagte nichts weiter. Mit einem Ruck zog Lily den Reißverschluss zu, packte ein Paar Turnschuhe in die Außentasche und lief zu ihrem Schreibtisch. In der Dunkelheit erkannte sie nur wenig und es dauerte gefühlte Stunden, bis sie ihr Ladekabel fürs Handy, ihren Terminkalender, Zettel und Stifte gefunden und ihren Notgroschen aus der Spardose geholt hatte. All das fand Platz in einem ausgeleierten Rucksack, ebenso die Kosmetika aus dem Bad.

„Du kannst ihm sagen, dass ich seinen Hinweisen nur bedingt vertraue, Felina.“ Silas Stimme war gedämpft und ging im Rascheln von Papier beinah unter.

Wie kann er so etwas behaupten, schimpfte Adrian aufgebracht. Ich habe lediglich gesagt, wo Alina ihre Akten aufbewahrt. Will er mir etwa unterstellen, dass ich euch auf eine falsche Fährte locke? 

Mit einem Seufzen betrat Lily den Raum, gefolgt von Charon. Ein greller Lichtstrahl richtete sich auf ihr Gesicht. Sie kniff die Augen vor den aufkommenden Tränen zusammen und schirmte den Schein der Taschenlampe mit der Hand ab. „Geht’s noch?“, fauchte sie.

„Sorry.“ Silas leuchtete wieder in den Ordner, der vor ihm aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag. Er überflog einige Zeilen, schob ihn jedoch schnell von sich.

„Worüber streitet ihr?“

Er behauptet … 

„Felina ist der Meinung, Adrian lenkt uns von einigen Akten ab.“ Er deutete auf einen niedrigen Schrank, der neben dem Schreibtisch stand und zumeist abgeschlossen war. Nun war das Hängeregister herausgezogen und präsentierte eine Reihe Akten, die Lily bisher noch nie gesehen hatte. „Er wollte zumindest partout nicht, dass wir einen Blick in den Schrank werfen.“ Er deutete hinter sich, wo die normalen Aufträge des Rates, die Jagdausflüge und die Steckbriefe der Mitglieder des Teams abgeheftet waren.

Lily warf Adrian einen bösen Blick zu.

Der Schutzengel hob seufzend die Schultern. Jetzt schau’ mich nicht so an. Ich bin nun einmal nicht so begeistert darüber, dass er das Schloss knackt und sich durch Alinas Sachen wühlt. Mit dir habe ich keine Probleme, aber er … 

„Schon gut“, wiegelte Lily Adrians Schimpftirade ab und trat zu Silas. Er blätterte durch eine zerfledderte Akte, die Informationen zu Magiern und dem Ordenssystemen enthielt. Auf einem schwarz-weißen Foto erkannte Lily flüchtig eine alte Trutzburg, die eher einer Ruine glich.

„Uninteressant“, zischte Silas. Er zog die nächste Akte heraus und stockte, als er die Beschriftung entzifferte. „Das klingt doch schon besser.“

„Orden Tenebrae?“

„Mein Ordenshaus“, erklärte Silas. „Warum gibt es hier eine Akte über uns? Dass der Rat Aufzeichnungen über uns führt, wundert mich nicht, aber eine einfache Jägerin?“

Lily zuckte mit den Schultern, doch sie war begierig darauf, die Antwort zu erfahren. Allerdings legte Silas die Mappe beiseite, ohne sie aufzuschlagen, und widmete sich bereits den nächsten Registern. „Wieso …?“

„Die schauen wir uns in Ruhe an, wenn wir in der Ferienwohnung sind. Die hier ebenso.“ Er zog weitere Akten heraus und legte sie zu der anderen. Lily konnte nur den Titel der oberen Mappe lesen: Die zwei Wege der Magie. Silas richtete den Strahl der Taschenlampe ins Innere des Schranks und runzelte die Stirn.

Hat deine Meisterin eigentlich Tagebuch geführt?, fragte Felina und lenkte sie von Silas Treiben ab. Sie überlegte nur eine Sekunde und nickte.

„Hat sie. Die dürften in ihrem Schlafzimmer liegen.“ Sie wirbelte herum und stürzte an Charon vorbei aus dem Büro. Sie hatte nur einige Male Alinas Zimmer betreten, zumeist wenn sie krank war oder von Albträumen geplagt wurde. Gerade in den ersten Wochen nach ihrem Krankenhausaufenthalt hatte sie öfters in Alinas Bett geschlafen als in ihrem eigenen, doch je sie älter wurde, desto seltener flüchtete sie sich zu ihrer Patentante. Da die Tür tagsüber geschlossen war, hatte Lily das Zimmer seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.

Fast schon ehrfürchtig drückte sie die Klinke hinab und ging hinein. Es war kleiner, als sie es in Erinnerung hatte, und wesentlich unordentlicher. Das Bett präsentierte sich in einem chaotischen Zustand, Kissen und Decken zerwühlt. Kleider lagen verstreut um den offenen Schrank herum und ein Berg sauberer Wäsche bedeckte den Stuhl. Auf dem kleinen Nachttisch stapelten sich Bücher, dazwischen tummelten sich Ketten, Ringe und Bonbons.

Lily fühlte sich wie ein Eindringling, der Alinas persönliches Refugium entweihte. Was würde aus all den Sachen werden? Der Rat plante, die Akten und Aufzeichnungen über die Wesen der Nacht verschwinden zu lassen, was durchaus nicht unüblich war. Nicht auszudenken, wie normale Menschen reagierten, wenn sie bei einer Wohnungsauflösung auf die Geheimnisse stießen. Doch wer durfte hier über den Rest schalten und walten? Sie? Immerhin lebte sie seit sieben Jahren hier. Was sie zu der Frage zurückbrachte, was aus ihr werden würde, wenn sich das Chaos lichtete und sie in ihren Alltag zurückkehren würde. Alina war fort und mit ihr die einzige Chance auf ein normales Leben. Sie war zwar volljährig, aber außerstande, eine Wohnung zu bezahlen …

Lily schüttelte den Kopf. Sie durfte sich nicht ablenken lassen! Mit energischen Schritten trat sie zu dem Hängeregal und durchforstete die Bücher. Klassische und moderne Liebesromane reihten sich aneinander – Jane Austen, Cecelia Ahern, Nora Roberts. Lily wusste nicht einmal, dass Alina solche schnulzigen Bücher besaß. Die Krönung der unerwarteten Kollektion war die komplette „Biss“-Reihe von Stephanie Meyer.

Mit einem Schaudern wandte sie sich ab und überlegte. Wenn sie an Alinas Stelle wäre, wo würde sie ihre Tagebücher verstecken? Es gab außer dem Regal kaum Möglichkeiten, einen Stapel Bücher unterzubringen. Vielleicht im Kleiderschrank. Lily stürzte fast zu dem großen, wuchtigen Möbelstück und durchwühlte die einzelnen Fächer, tastete den Boden unter der Kleiderstange ab. Sie fand nichts außer einem Haufen Schuhe und einer ansehnlichen Taschensammlung.

Ihr müsst aufbrechen, Lily. Charon stand plötzlich mitten im Raum. Sie hatte ihn weder bemerkt, noch wusste sie, wie lang er ihre Suche schon beobachtete.

„Ich weiß, aber ich kann die Tagebücher nicht finden.“ Sie ging in die Knie und lugte unter das Bett, zog probeweise an dem stabilen Koffer, doch er war zu leicht.

Hannah kann die Bewacher nicht länger ablenken und wer weiß schon, ob es da draußen nicht noch mehr gibt. Vergiss nicht, dass der Rat den Magier zum Abschuss freigegeben hat. Die Jagd auf ihn ist eröffnet. 

Lily biss sich auf die Lippen. Er hatte recht. Jede Minute war gefährlich und sie gingen nicht mit leeren Händen. Ob die Informationen wirklich nützlich waren, würde sich später zeigen.

Sie wollte gerade aus dem Zimmer stürmen, als ihr Blick an dem Bücherregal hängenblieb. Sie stutzte und ging zurück. Ihre Finger fuhren über die Bücher und zogen so viele heraus, wie sie greifen konnte. Ihr Verdacht bestätigte sich. Hinter den sorgsam aufgestellten Romanen verbarg sich eine zweite Reihe. Wieso war sie nicht früher darauf gekommen, dass Alina ihre Tagebücher hinter der kruden Romansammlung verbarg?

„Lily, wo bleibst du?“ Silas hetzte in den Raum, etliche Mappen unter den Arm gepackt. „Wir müssen gehen, bevor es zu gefährlich wird.“

„Ich habe die Tagebücher gefunden.“

„Egal, schnapp dir meinetwegen ein paar und nichts wie weg. Wir parken nicht gerade vor dem Haus. Allein bis zum Elsässer Platz gibt es dutzende Möglichkeiten, uns anzugreifen.“ Silas wirbelte herum und verließ den Raum.

Lily ließ die Romane fallen, griff sich vier oder fünf Tagebücher, ohne darauf zu achten, welche Jahrgänge sie erwischte, und folgte Silas. Sie konnte nur hoffen, nicht die Jugendzeit von Alina ergattert zu haben.

Sie stopften die Akten in die Reisetasche und die Bücher in Lilys Rucksack, bevor sie die Wohnung verließen. So leise wie möglich liefen sie die Treppe hinunter. Es war fast unmöglich, die knarrenden Stufen zu umgehen, doch in der Eile war es ihnen egal. Charon bildete die Vorhut, Adrian blieb ein wenig zurück, um ihnen den Rücken freizuhalten. Am Fuße der Treppe hielten sie kurz an, während Hannahs Schutzengel die Lage sondierte.

Draußen ist alles ruhig, zu ruhig, wenn ihr mich fragt, sagte er, als er zurückkam. Werwesen sind es nicht, aber irgendwas ist da. Vielleicht Vampire oder Feenwesen. 

Silas knirschte mit den Zähnen. „Es bringt nichts zu warten. Sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich zum Wagen kommen.“

Vielleicht solltet ihr euch trennen. 

„Nein, Felina. Das halte ich für keine gute Idee.“

Aber sie jagen vorwiegend dich, Silas. Sie werden dir folgen und wenn das geschieht, besteht kaum Gefahr für Lily. 

„Kommt gar nicht in Frage!“, begehrte Lily auf.

Ich halte das für eine gute Idee. 

Es wunderte Lily nicht, dass Adrian diesem Vorschlag seine Zustimmung gab. Dennoch wollte sie Silas nicht allein gehen lassen. Sicherlich konnte dieser sich verteidigen, aber wenn da draußen wirklich mehrere vampirische Jäger lauerten, glich es Selbstmord, allein zu gehen. Sie konnte ihm wenigstens den Rücken freihalten. Immerhin hatte sie bereits einen Vampir erledigt.

„Trotzdem sollten wir zusammenbleiben. Ich bin in der Lage, Lily zu beschützen, wenn es notwendig ist“, entschied Silas grimmig.

Egal wie, ihr müsst los, drängte Charon. Ich muss ebenfalls zu Hannah zurück. Viel Glück. Ohne auf eine Antwort zu warten, trat er durch die geschlossene Tür und war verschwunden.

„Bleib dicht bei mir.“ Silas griff nach ihrer Hand. „Wenn etwas schief geht, läufst du zum Auto. Schade, dass du noch nicht fahren kannst.“

Ich schon. Adrian stemmte die Hände in die Hüften. Lilys vorherige Inkarnation hatte einen Führerschein und ihr Wissen ist meins. So sehr werden sich Autos schon nicht verändert haben. 

Nachdem Felina ihrem Schützling Adrians Worte übermittelt hatte, hob Silas eine Augenbraue und drückte Lily schließlich kommentarlos den Wagenschlüssel in die Hand. „Sehr gut. Im Notfall fährt er.“

„Aber …“

Lilys Protest ging unter, als sie von dem Magier aus dem Haus gezerrt wurde. Sie drohte zu stolpern, fing sich jedoch schnell und versuchte, mit Silas Schritt zu halten. Dieser hetzte die Straße ein Stück weit hinunter und bog in die idyllische Scharnhorststraße ein, die direkt zur Blücherschule führte. Glücklicherweise regnete es nicht mehr, doch sie wirbelten Wasser auf, als sie durch die Pfützen rannten. Sie kamen nicht einmal bis zum Westendcafé. Urplötzlich tauchte ein Schatten hinter einem der Autos auf und stellte sich ihnen in den Weg. Rote Katzenaugen phosphoreszierten in der Dunkelheit. Ein gefährliches Grollen mischte sich in die Stille der Nacht.

„Verdammt!“ Silas bremste so unvermittelt ab, dass Lily in ihn hineinlief. Er störte sich nicht daran, drückte ihr die Reisetasche in den Arm und richtete seine Aufmerksamkeit gerade noch rechtzeitig auf den Vampir, der mit gebleckten Zähnen auf sie zustürmte. Heftig stieß er Lily zur Seite, bevor er sich mit einem wagemutigen Sprung in Sicherheit brachte. Er murmelte etwas und ein bläulich schimmerndes Schild baute sich direkt vor seinem Körper auf, gerade rechtzeitig, um die wütende Attacke des Vampirs abzufangen.

Wir müssen hier weg! Adrians panische Stimme riss Lily aus dem Kampfgeschehen, das zwischen Silas und dem Vampir entbrannte, wobei Kampf übertrieben war. Silas befand sich in der Defensive, verschanzte sich hinter seinem Schutzschild. Felina war dicht hinter ihm, ein schimmernder Lichtfaden kräuselte sich aus ihrer Brust in Silas Zauber.

„Aber Silas …“ Allein bei dem Gedanken, Silas zurückzulassen, zog sich ihr Herz zusammen. Sie wollte an seiner Seite bleiben und kämpfen. Doch was konnte sie in ihrer Situation gegen einen Vampir ausrichten, der sich bereits mit seinem Schutzengel verbunden und somit stark genug war, einen Baum zu entwurzeln?

Der kommt schon klar. Erinnere dich an seine Worte! 

Nur mit Mühe nickte Lily und wandte sich ab. So schnell sie konnte, lief sie die Straße entlang. Sie zwang sich dazu nicht zurückzublicken und das wütende Knurren und die dumpfen Schläge auszublenden.

Dieser Vampir hat die Kontrolle verloren. Er macht noch die Menschen auf sich aufmerksam. 

Lily reagierte nicht auf ihn. Sie konzentrierte sich auf die Straßen, um auf dem nassen Pflaster nicht auszurutschen oder über eine Bordsteinkante zu stolpern. Ihr Atem ging heftig, als sie endlich die Bäckerei gegenüber der Schule erreichte und keuchend nach Luft schnappte. Sie hatte Seitenstechen und die Reisetasche kam ihr mit jedem Schritt schwerer vor. Ein Blick zurück verriet nichts. Sie war zu weit von Silas entfernt, um herauszufinden, wie er sich schlug.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Adrian sich umsah. Die Luft scheint rein zu sein. Ein letzter Spurt bis zum Wagen. 

Lily nickte. Sie sammelte ihre Kraftreserven und stürzte los. Sie flog förmlich an den parkenden Autos vorbei, ließ die Bushaltestelle und die Coffeebar Anderswo hinter sich und folgte der Hauptstraße um die Kurve. Endlich sah sie den Wagen, der neben der Einfahrt des Elsässer Platzes stand. Erleichterung durchströmte sie, als sich das Türschloss per Knopfdruck öffnete.

Vorsicht! 

Noch bevor Lily reagieren konnte, wurde sie von den Füßen gerissen. Ihr eigener Schrei klingelte noch in ihren Ohren, als Adrian sie aus ihrem Körper drängte. Sie war viel zu überrascht, um auf diesen plötzlichen Wechsel zu reagieren. Einen Wimpernschlag später schwebte sie über der Szenerie, losgelöst von den Schmerzen, die dank des heftigen Aufpralls mit Sicherheit durch ihren Körper wanderten. Doch die Schürfwunden waren Adrians geringstes Problem. Eine katzenhafte Gestalt presste ihn mit gefletschten Zähnen zu Boden. Ein undefinierbares Fauchen entrang sich der Kehle der Kreatur, die ihre klauenbewehrten Pfoten auf Adrians Brust setzte.

Lilys Gedanken drehten sich wie ein Karussell. Es war das erste Mal, dass sie einen Wertiger sah. Diese Kreaturen waren hier selten, kamen zumeist im indischen Raum vor und galten als stärker als die hier ansässigen Wölfe. Woher kam dieses Geschöpf? Zu welchem Team gehörte er?

„Runter von mir“, grollte Adrian, als sich sein Blick klärte. Er schien Probleme zu haben, sich in ihrem Körper zurechtzufinden. Ob das an ihrem schwachen Band lag?

Tu etwas!, rief Lily ihm zu. Sie fürchtete sich davor, dass der Wertiger zuschlagen und ihre Brust zerfetzen könnte. Mächtig genug war er und wer wusste schon, was in dieser Kreatur vor sich ging.

In dem Moment hallte ein lautes Heulen durch die Straßen. Adrian zögerte keine Sekunde, ballte die Fäuste und schlug dem Wesen so heftig gegen die Schläfe, das es ins Taumeln geriet. Ein weiterer Schlag genügte dem Schutzengel, um auf die Beine zu kommen und ein wenig Abstand zwischen sich und den Wertiger zu bringen. Doch anstatt zu fliehen, ging Adrian in Angriffsposition.

Was soll das? Lauf weg! 

„Bist du verrückt? Was glaubst du wohl, wer schneller ist?“ Adrian schielte zum Wagen hinüber, der nur zehn Meter von ihm entfernt war. „Vielleicht erreiche ich den Kombi, aber die Tür kriege ich nicht rechtzeitig auf.“

Aber du kannst unmöglich kämpfen! Ein Tiger ist kein Werwolf und mit dem hattest du schon Schwierigkeiten. 

Adrian presste die Lippen zusammen und fixierte seinen Gegner. Das Wesen musterte ihn mit funkelnden Augen, die Lily einen Schauder bescheren würden, wenn sie in ihrem Körper wäre. Es fletschte die Zähne, wagte jedoch keinen direkten Angriff. Stattdessen sträubte es sein Nackenfell und stieß ein unheilvolles Fauchen aus. Ein paar Worte mischten sich darunter. „Es ist nicht meine Aufgabe, euch zu bekämpfen. Henri kümmert sich um deinen Entführer, also hab keine Angst, Lily.“

„Sagt derjenige, der uns eben hinterrücks angegriffen hat“, konterte Adrian.

„Das liegt daran, dass ich nicht an die Sache mit der Geiselnahme glaube. Für mich sieht es ganz danach aus, als würdet ihr diesen Abtrünnigen freiwillig begleiten. Aber ihr könnt mir gerne das Gegenteil beweisen.“ Er zog eine Grimasse, was ihn noch gefährlicher erscheinen ließ. Sein Schwanz peitschte ungeduldig hin und her und die kräftigen Muskeln, die sich unter seinem makellosen Fell verbargen, waren angespannt.

„Von welcher Jagdgruppe stammst du? Ich habe noch nie von einem Wertiger im Rhein-Main-Gebiet gehört.“ Adrian schien Zeit zu schinden. Hoffte er, dass Silas bald auftauchen würde oder anderweitig Hilfe kam? Oder bereitete er einen Schutzschild vor wie gegen die Werwölfe vor einigen Tagen? Lilys Gedanken stolperten. ‚Wie Silas!’, kam ihr in den Sinn. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie abwegig Adrians Tat eigentlich war. Sie war keine Magierin! Dennoch hatte ihr Schutzengel damals etwas getan, was absolut unmöglich war. Er hatte einen Zauber gewirkt.

Sie kam nicht dazu, diesen Gedankengang weiterzuverfolgen. Das Geschehen unter ihr forderte ihre Aufmerksamkeit ein, als ein riesiger Wolf mit gefletschten Zähnen hinter einem der Autos hervor schoss und sich auf den Wertiger stürzte. Mit einem lauten Fauchen und Grollen gingen die beiden Bestien zu Boden. Geifernd versuchten sie, ihre Zähne ins Fleisch ihres Gegners zu treiben, schnappten nach der Kehle ihres Feindes und setzten ihre Klauen ein. Fellfetzen flogen auf und blutige Striemen und Bisse zeichneten sich auf ihren Körper ab, wo Angriffe erfolgreich waren.

Hannah! Lily wusste nicht, ob sie Dankbarkeit oder Entsetzen verspüren sollte. Ihre Freundin kämpfte wie eine Furie, drang trotz ihres kleineren Körperbaus mit allen Kräften auf den Wertiger ein. Sie hielt sich sogar leidlich gut, wenn man den Größenunterschied bedachte und die Kraft, die in dem Wertiger schlummerte. Dennoch war es nur eine Frage der Zeit, bis sie unterliegen würde. Adrian, du musst ihr … 

Doch Lilys Schutzengel hatte sich bereits mit der Reisetasche in das Auto gerettet. Sofort schwebte sie tiefer, tauchte durch das Dach und fand sich auf dem Rücksitz wieder. Was machst du hier? Du musst … 

„Ruhe, ich weiß, was ich mache!“, fauchte er und drehte den Schlüssel. Der Wagen heulte auf, als Adrian den Gang einlegte, die Handbremse löste und das Gaspedal durchtrat. Mit einem Satz sprang das Auto nach vorne, rammte beinah die Müllcontainer. Sofort trat er auf die Bremse und würgte den Wagen ab.

Ich dachte, du kannst Auto fahren! 

„Das ist für mich Jahrzehnte her, okay?“ Fluchend startete er den Wagen erneut, schaltete in den Rückwärtsgang und setzte zurück. „Ich muss mich erst daran gewöhnen.“ Wesentlich behutsamer steuerte er den Wagen rückwärts in die Einfahrt, um problemfrei auf die Gneisenaustraße biegen zu können.

Wir müssen Hannah mitnehmen! Gegen das Vieh hat sie keine Chance! Lily spähte aus den Rückfenstern, doch die beiden kämpfenden Werwesen waren verschwunden. Lediglich die dumpfen Schläge, durchbrochen von wildem Knurren und Fauchen waren über den laufenden Motor hinweg zu hören. Sorge erfasste Lilys Herz. Wenn Hannah etwas zustieß, würde sie sich das nie verzeihen.

„Das weiß ich auch.“ Er neigte sich über die Beifahrerseite zur Tür und stieß sie auf. „Hannah! Hierher!“

Bange Sekunden lang geschah gar nichts, dann hetzte ein Wolf zu ihnen und sprang mit einem Satz ins Auto. Adrian machte sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Mit quietschenden Reifen fuhr er los und brauste um die Kurve, sodass die Tür automatisch ins Schloss fiel. Der Wagen röhrte, bevor er hochschaltete und Abstand zwischen sich und den Wertiger brachte. Ein Blick über die Schulter verriet Lily, dass das Wesen ihnen nicht folgte. Es blieb am Platz zurück, während Adrian das Auto beschleunigte und um die Kurve schlitterte.

Wir müssen noch Silas einsammeln! 

Adrian nickte nur, konzentrierte sich aber auf die Straße.

Lily nahm sich Zeit, Hannah zu mustern. Sie hechelte und bot ein Bild des Jammers. An etlichen Stellen ihres Körpers zogen sich tiefe Kratzer durch ihr Fell. Blut quoll aus einer Bisswunde an ihrem Hinterbein, eines der Augen kniff sie zusammen. Lily hatte sie selten so schwer verletzt gesehen, doch die Wunden heilten bereits. Zum ersten Mal sah Lily mit eigenen Augen, wie stark die Selbstheilungskräfte der Werwesen ausgeprägt waren. Je stärker das Bündnis zwischen Schutzengel und Werwesen, desto schneller schritt eine Heilung voran. Dass Hannah wahrscheinlich binnen einer Stunde wieder die Alte sein würde, bewies, wie sehr Charon und sie zusammenarbeiteten.

„Seit wann kannst du Autofahren, Lily?“, fragte Hannah plötzlich und rollte sich umständlich auf dem Sitz zusammen. Sie leckte sich ihre Pfote und spitzte die Ohren.

„Ich bin’s.“

„Adrian?“

„Frag bitte nicht.“

Hannah tat ihm den Gefallen und schwieg, während Adrian einen weiten Bogen um das Einbahnstraßengewirr des Westends fuhr, um in die Straße zu gelangen, in der sich Lily und Silas getrennt hatten. Seither mochten zwanzig Minuten vergangen sein, im schlimmsten Fall zu viel, um Silas zu retten. Lilys Herz krampfte sich bei diesem Gedanken zusammen. Zeitgleich spürte sie, dass ihre Seele in ihren Körper zurück wollte.

Beeil dich! 

Adrians Zustimmung hallte in ihrem Inneren wider. „Haltet nach ihm Ausschau.“

Lily zögerte nur einen Moment, dann schwebte sie aus dem fahrenden Auto und sah sich um. Allzu weit durfte sie sich nicht von ihrem Körper entfernen, aber sie hatte einen besseren Überblick, wenn sie die Umgebung von oben absuchte. Die Scharnhorststraße präsentierte sich einsam und verlassen. Nichts deutete auf den Kampf hin, der noch vor wenigen Minuten hier getobt hatte. Oder irrte sie sich und Silas hatte den Vampir besiegt? Sie schwebte notgedrungen hinter dem Auto her, das sich nun langsam durch die Straße schob.

Es war ein Schimmern aus dem Augenwinkel, das Lily in Richtung Spielplatz blicken ließ. Felina stand in der Nähe der Schaukeln und winkte ihr zu. Sie wirkte noch zerzauster und unansehnlicher als zuvor, doch dass sie da war, bewies, dass Silas lebte.

Dort drüben, Adrian. 

„Hol ihn. Ich warte auf der Straße.“

Lily nickte und schwebte direkt auf Felina zu. Es war ein eigenartiges Gefühl, ihr auf derselben Ebene zu begegnen, ihre Hand zu ergreifen und sie festzuhalten. So fühlte sich also Adrian, wenn er mit den anderen Schutzengeln zusammen war.

Wo ist er? Wie geht es ihm?

Keine Sorge, Lily. Wir haben es gut überstanden. Felina umklammerte ihre Hand und ein warmes Lächeln huschte über ihre Züge. Sie zeigte hinter sich auf eine hölzerne Kletterburg. Silas kauerte im Sand, halb von den Schatten versteckt. Der Ärmel seiner Jacke hing in Fetzen herab und Blut quoll au einer bösen Verletzung. Ansonsten schien er glimpflich davongekommen zu sein. Lily stürzte zu ihm, wollte sein Gesicht umfassen, um in seine hellen Augen zu blicken, doch sie glitt durch ihn hindurch, als wäre sie ein Geist.

Er sieht dich nicht. Felina stand neben ihr, eine Hand auf ihrer Schulter.

„Wen meinst du?“, fragte Silas und hob den Blick. Er ging durch Lily hindurch, was ihr einen weiteren Stich versetzte. So erging es Adrian also, wenn er Radu gegenüberstand und dieser ihn wortwörtlich wie Luft behandelte. Eine extrem unangenehme Erfahrung.

Lily ist hier. Sie hat den Platz mit Adrian getauscht. 

„Wirklich? Geht es ihr gut?“

Ich denke schon. Felina warf ihr einen fragenden Blick zu. Wir müssen hier weg, Silas. Diesen Vampir hast du vielleicht mit einem Trick in die Flucht geschlagen, doch wer weiß, was hier in der Gegend noch lauert. 

„Wo ist der Wagen?“

Dort drüben irgendwo, antwortete Lily und deutete über die Schulter zur Straße zurück. Vielleicht sollte sie Adrian zu sich rufen, doch der wartete mit laufendem Motor auf ihre Rückkehr. Allein der Gedanke an ihren Schutzengel genügte, um den starken Sog ihres Körpers wahrzunehmen. Sie musste so schnell wie möglich zurück. Silas muss fahren. 

Felina gab die Botschaft weiter, während sich der Magier aufrappelte. Mit zusammengepressten Zähnen rang er nach Atem und nickte schwach. „Geht schon irgendwie.“

Langsam und vorsichtig verließen sie den Spielplatz und steuerten den Wagen an. Am liebsten hätte Lily ihren Freund gestützt, doch eine Berührung war unmöglich. Als sie das Auto erreichten, saß Adrian bereits auf dem Beifahrersitz, Hannah war verschwunden.

Noch bevor Lily ihren Schutzengel zur Rede stellen konnte, nahm der Drang überhand. Mit einem Seufzen glitt sie zurück in ihren Körper, verbannte Adrian neben Felina auf die Rückbank. Es dauerte einige Herzschläge, bis sich Lily an die Enge und die Schwere ihres Körpers gewöhnt hatte, dann wirbelte sie zu Adrian herum.

„Wo ist Hannah?“, herrschte sie ihn an.

„Sehen wir erst mal zu, dass wir hier wegkommen“, erwiderte Silas, der sich auf den Fahrersitz gleiten ließ und die Tür schloss. Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, als er losfuhr und nur unter großen Schmerzen die Gangschaltung betätigte.

Sie verließen schweigend das Westend. Erst als Silas auf die Autobahn fuhr, setzte Lily den Magier über die Ereignisse ins Bild und wiederholte ihre Frage an Adrian.

Sie ist rausgesprungen, als ich anhielt. Sie meinte, es wäre besser, wenn sie uns nicht begleitet, sondern dir aus der Ferne den Rücken stärkt. Sie will mit Radu und Cionaodh sprechen und sie einweihen. 

Lily setzte zu einem empörten Widerspruch an, schluckte ihn jedoch hinunter. Hannah hatte ihnen lange genug geholfen, sich sogar dazu herabgelassen, die wölfischen Bewacher zu verführen, um ihnen eine Chance zu geben, in Alinas Wohnung einzusteigen. Mehr konnte sie wirklich nicht verlangen. „Aber was wird aus ihr, wenn der Rat herausfindet, dass sie mir zur Flucht verholfen hat?“

Da kommt ihr meine panische Flucht zugute. Sie will erzählen, dass dich der Wertiger in Panik versetzt hat und du deswegen geflohen bist. 

„Aber das ändert nichts daran, dass sie einen Jäger angegriffen hat, der auf uns angesetzt war.“

Na ja, er hat dich angegriffen. Das hätte er nicht tun dürfen, immerhin lautete sein Auftrag mit Sicherheit, die Geisel zu retten, nicht sie zu verletzen. Damit hatte Hannah jedes Recht, einzugreifen und dich vor ihm zu beschützen. 

Lily atmete auf.

Ein leises Keuchen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Silas. Er steuerte den Wagen unterdessen mit einer Hand über die fast leere Fahrbahn. Sein rechter Arm hing nutzlos herab. Wenigstens hatte die Blutung aufgehört, was auch an Felina liegen konnte, die mit den Fingern über die Verletzung strich.

„Wie geht es dir, Silas?“

„Geht halbwegs. Felina kümmert sich bereits darum, wie du siehst.“ Er schielte kurz in ihre Richtung. „Dir geht’s aber gut, oder?“

„Ja, Adrian hat mich beschützt und konnte tatsächlich Auto fahren.“

Hab’ ich doch gesagt, murmelte Adrian und klang schon fast wie der Alte.

„Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist“, gestand Silas leise. „Und es tut mir leid!“ Er nagte an seiner Unterlippe. Seine Hand krampfte sich so sehr um das Lenkrad, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Da töne ich großspurig herum, dass ich dich beschütze und dann lass ich dich alleine gegen einen Wertiger kämpfen!“

Lily lächelte. Die klamme Feuchtigkeit auf ihrer Haut wurde von dem warmen Gefühl verdrängt, das sich in ihrem Bauch ausbreitete. „Es ist doch alles gutgegangen.“

„Trotzdem! Wenn dir etwas passiert wäre …“ Er beendete den Satz mit einem Schnauben. „Und dann rettet dich auch noch Hannah, während ich mir auf dem Spielplatz die Wunden lecke. Echt erbärmlich!“

„Jetzt sei nicht so streng mit dir. Du warst verletzt und der Kampf gegen Henri gewiss auch sehr anstrengend.“

„Henri?“

„Der Wertiger hat ihn so genannt. Ich glaube, sie gehören zum gleichen Team.“

„Stimmt, ich erinnere mich. Vor einigen Tagen siedelte ein neues Jägerteam in den Taunus. Als sie dem Rat vorstellig wurden, habe ich sie kennengelernt.“ Er schlug sich mit der gesunden Hand gegen die Stirn. „Sie blieben mir wegen ihres Werwesens in Erinnerung – ein junger Mann indischer Abstammung. Henri, der Vampir der Gruppe, stammt laut Akten aus der Zeit der französischen Revolution. Sie sind als Einheit ziemlich stark. Dieses Team als Gegner zu haben, ist …“

Konzentriere dich lieber auf die Straße, anstatt dich in Grübeleien zu verlieren, ermahnte ihn Felina leise. Mit einem Kopfschütteln setzte sie ihre Arbeit an seinem verletzten Arm fort.

„Kann sie dich wirklich berühren?“, wechselte Lily das Thema.

„Das nicht, aber ihre Gegenwart verspricht Heilung. Auch wenn es nicht danach aussieht, habe ich vorhin auf dem Spielplatz einen entsprechenden Zauber gewirkt. Er funktioniert, wenn sie in meiner Nähe ist. Allein ihr Licht reicht aus, um die Wunden zu schließen.“

„Wahnsinn!“, rutschte es Lily heraus.

„Es gibt auch Zauber, die schneller wirken, aber diese Form der Heilung greift die Seelenenergie des Schutzengels fast nicht an. Deswegen verwende ich ausschließlich diesen Spruch, auch wenn es länger dauert.“

„Verstehe.“ Lily wandte sich wieder der tristen Straße zu. Silas lenkte den Wagen sicher von der Autobahn und bog auf eine kleine Landstraße ab. Sie achtete nicht auf den Weg. Ihre Gedanken schweiften zu den Ereignissen der letzten Stunden. Sie hatten es geschafft und einige Akten und nicht zuletzt Alinas Tagebücher aus der Wohnung sichergestellt. Jetzt blieb zu hoffen, dass sie wirklich Antworten fanden und nicht alles umsonst gewesen war.

Sie musste morgen unbedingt mit Hannah sprechen, sich erkundigen, ob es ihr gut ging. Die Sorge um sie wurde lediglich von Adrians Schweigen und seltsamen Handlungen übertüncht. Seit Henris Angriff auf Silas erinnerte sie sich an eine Sache, die ihr bereits damals seltsam erschienen war: das blau schimmernde Schutzschild, das Adrian gegen die Werwölfe gewirkt hatte. Es hatte wie Silas’ Zauber ausgesehen. Oder bildete sie sich das ein und alle Schutzengel waren dazu in der Lage? Alina hatte ihr erklärt, dass es durchaus Schutzzauber gab, auf die ein Begleiter im Notfall zurückgreifen konnte, aber traf das auch auf diesen Schild zu?

Sie überlegte, ob sie Silas fragen sollte, doch seine zusammengezogenen Augenbrauen hielten sie davon ab. Auch ihre Neugier, mit welchem Trick er den Vampir Henri abgeschüttelt hatte, bekämpfte sie, indem sie Silas aus den Augenwinkeln beobachtete. Der Magier wirkte müde und abgespannt. Er musste all seine Aufmerksamkeit auf die regennasse Straße richten, damit sie sich nicht plötzlich im Graben wiederfanden. Sie würde sich gedulden, bis sie die Ferienwohnung erreichten, die er am Nachmittag organisiert hatte. Und selbst dann war es fraglich, ob Silas zu einem ausführlichen Gespräch in der Lage war.

Kapitel 11 – Adrians Geheimnis

 

Die Ferienwohnung lag in der Nähe von Eltville, im obersten Stockwerk des Haupthauses eines alten Weingutes. Inmitten der grünen Weinberge bot sich im Tageslicht ein guter Blick über das Martinsthal. Normalerweise war die Wohnung in den Sommermonaten komplett ausgebucht, doch eine Großfamilie hatte ihre Reise kurzfristig storniert. Dementsprechend riesig war die Unterkunft, auf die Silas durch Zufall gestoßen war. Fünf Zimmer, eine modern eingerichtete Küche und ein sehr schönes Bad entdeckte Lily bei ihrem Rundgang, nachdem sie die Taschen im Wohnraum abgestellt hatte, dessen orangefarbene Wände eine sommerliche Atmosphäre verströmten. Hier hätte das gesamte Team problemfrei Platz gefunden, wenn es notwendig gewesen wäre.

Lily überlegte, ob sie in eines der Doppelzimmer ziehen oder anstandshalber eines der beiden Einzelzimmer in Beschlag nehmen sollte. Noch während sie grübelte, schob Silas sie in Richtung des großen Doppelbettes, das den Raum dominierte, in dem sie sich gerade umsah.

„Wenn es für dich kein Problem ist, schlage ich vor, nur eines der Zimmer zu beziehen. Es gibt zwar genug Räume, aber ich habe uns als Pärchen ausgegeben, das hier ein paar Tage Urlaub machen will. Wäre seltsam, wenn wir dann in getrennten Betten schlafen.“ Er zwinkerte ihr zu.

Lily spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Rasch wandte sie sich ab und ging ins Wohnzimmer zurück, um sich frische Sachen aus der Reisetasche zu suchen. Eine warme Dusche wäre jetzt genau das Richtige. Sie konnte es kaum erwarten, aus den klammen Klamotten zu kommen, um sich anschließend die Akten und Tagebücher anzusehen.

Das Wasser fühlte sich herrlich an. Es taute sie nicht nur auf, es weckte auch ihre Lebensgeister. Sie blieb länger unter dem heißen Duschstrahl stehen, genoss das Wasser, das wie unsichtbare Hände über ihren Körper streichelte. Erst als ihr bewusst wurde, dass Silas ebenfalls frieren musste, trat sie aus der großen Kabine und griff sich eines der flauschigen Handtücher.

Was wollt ihr als nächstes machen?, rief sich ihr Adrian in Erinnerung. Er stand neben der Heizung, das lange Haar um seine Finger gewickelt. Er wirkte abgespannt und müde. Die Jagdtruppen sind los, Wiesbaden wird nur so vor ihnen wimmeln und ich glaube nicht, dass der Rat noch länger davon ausgeht, dass du eine Geisel bist. 

„Ich weiß.“ Lily musterte seufzend ihr Gesicht im Spiegel. Auch ihr sah man die Strapazen der letzten Tage an. Dunkle Ringe lagen unter ihren blauen Augen. Die nassen blonden Strähnen verstärkten den erschöpften Eindruck. „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, was als nächstes kommt. Das richtet sich danach, was wir in Alinas Unterlagen finden.“

Adrian schwieg. Er senkte den Blick und biss sich auf die Unterlippe. Er haderte mit sich. Lily sah ihm an, dass er ihr etwas sagen wollte, es jedoch nicht über sich brachte.

„Ein Schutzengel darf nicht lügen, oder?“ Ein Kopfschütteln folgte und Lily fuhr mit klopfendem Herzen fort. Sie wusste, dass sie versprochen hatte, sich zu gedulden, doch brauchte zumindest in einem Punkt Gewissheit, ansonsten würde sie wahnsinnig werden. Seit einigen Stunden drängte sich ihr ein abwegiger Gedankengang auf, den sie erst abschütteln konnte, wenn Adrian ihn ablehnte. Die Unruhe wuchs und nagte an ihr wie ein hungriges Tier. Was, wenn …? Sie schüttelte ihre innere Stimme ab und atmete tief durch. Sie brauchte Klarheit. „Bist du ein Magier?“

Wie? Adrian starrte sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Verblüffung an.

„Blödsinn, falsch formuliert. Bin ich eine Magierin?“ Lily fuhr herum und sah Adrian direkt in die aufgerissenen Augen. Panik flackerte in ihnen, gemischt mit Erkennen und Trotz. Sie konnte sich keinen Reim darauf bilden, doch ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

Wie kommst du denn darauf?, wich Adrian ihrer Frage und ihrem bohrenden Blick aus.

„Wie?“ Lily griff sich eine Bürste aus ihrer Kosmetiktasche und begann, sich das Haar auszukämmen. Sie brauchte etwas in den Fingern, musste sich beschäftigen, ansonsten würde sie sich nicht auf ihre Theorie konzentrieren können. Im Grunde wussten sie beide, dass Adrian auf Zeit spielte und Lily früher oder später auf einer Antwort beharren würde, aber für den Moment hielt sie sich zurück. „Dein Schutzschild, den du gegen die Werwölfe gewirkt hast. Er sah aus, wie Silas’ Zauber heute Abend. Das Symbol, das bei deinem Gemurmel auf meiner Stirn aufglühte.“ Sie neigte sich dichter an den Spiegel und versuchte, etwas auf ihrer Stirn zu erkennen. Nichts war zu sehen, keine hauchfeine Narbe einer zierlichen Tätowierung oder Verletzung. Ein weiterer Fakt kam ihr in den Sinn, als sie an Marek dachte. Adrian hatte ihr etwas zurufen wollen, was in Silas’ Zauber unterging. Sie wirbelte herum. „Was wolltest du mir sagen, bevor Silas Marek niederstreckte? Peri, Peru? Ach nein, das wohl eher nicht.“ Sie lachte gekünstelt auf und ihre Unsicherheit wuchs.

Pericula Coerce – der Spruch für einen Schutzschild. 

Lilys Gedanken überschlugen sich. Als sie Adrian ihre Beweise darlegte, hatte sie immer noch gehofft, dass er sie für verrückt erklären würde. Seine nüchterne Erklärung zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Vorsichtshalber sank sie auf die Fliesen und umschlang die Knie mit den Armen.

Lily, ist alles in Ordnung? Adrian kniete sich neben sie, sein Gesicht von Sorgenfalten durchzogen. Sein Blick wirkte unendlich traurig, tat ihr fast körperlich weh. War dies das große Geheimnis, das Adrian nicht hatte preisgeben wollen? Noch vor wenigen Stunden hatten sie darüber gesprochen. Vorhin hatte Lily nicht gedacht, so schnell Antworten zu erhalten. Bitte verzeih mir! 

„Wieso hast du es mir nicht gesagt?“ Ihre Stimme klang rau, als zwänge sie ihre Worte über ein Reibeisen.

Weil es dich doch komplett aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. So wie jetzt. Er wandte sich ab, doch seine Finger strichen über ihre Unterarme. Zum ersten Mal war ihr seine Nähe unangenehm, die Kühle, die er verströmte, beißend. Unwillkürlich rutschte sie von ihm weg. Siehst du, du weichst vor mir zurück. 

„Weil du mich über Jahre hinweg belogen hast. Dabei dachte ich, Schutzengel können nicht lügen.“

Können wir auch nicht, zumindest nicht direkt. Wenn ich dir etwas verschweige, ist das für mich nicht Lügen. Seine Stimme klang unsicher, wesentlich zittriger, als sie gewohnt war.

„Natürlich ist es das. Du legst es dir aus, wie es dir gerade passt!“, herrschte sie ihn an.

Adrian wiegte den Kopf. Stimmt schon – wie ich schon sagte: Für mich ist das keine Lüge gewesen. Ich weiß nicht wieso, aber ich hatte nie Probleme damit, dir solche Dinge zu verschweigen. Es war kein Zwang vorhanden, dir die Wahrheit zu sagen, wie es eigentlich sein sollte, sondern eher … Er geriet ins Stocken und hob mit einer verzweifelten Geste die Schulter. Als hätte ich eine Wahl, verstehst du – die Wahl zu reden oder zu schweigen. Erst jetzt, wo du mich direkt gefragt hast, wollte ich wahrheitsgemäß antworten. Aber nicht, weil ich es musste, sondern weil ich es wollte. 

Lily ließ sich seine Erklärungen durch den Kopf gehen. Es fiel ihr schwer, seinen Ausführungen zu folgen. „Aber warum, Adrian? Warum hast du es mir nicht gesagt? Es wäre so wichtig gewesen …“

Du warst so wild darauf, Jägerin zu werden. Hättest du damals erfahren, was du bist … Er stockte und verschränkte die Hände ineinander. Du hättest dein Ziel unmöglich erreichen können, wenn du geahnt hättest, was du bist. Das Band zwischen uns wäre zerbrochen, von dem Vertrauen deiner Freunde einmal abgesehen. Sieh dir Radu an – er hasst Magier bis aufs Blut. Er hätte dich alleingelassen und die anderen ebenso. Magier leben nicht umsonst fast ausschließlich unter ihresgleichen … 

Lily riss die Augen auf. Mehrere Puzzleteile fügten sich zu einem gewaltigen Bild zusammen, das Adrians Reaktionen und Kommentare erklärte. Zum ersten Mal gestattete er ihr einen Einblick in seine Welt. Dass diese vorwiegend aus Angst vor Ablehnung und Einsamkeit bestand, verschlug ihr den Atem. „Du hast dich vor Radus Ablehnung gefürchtet?“ Auf eine seltsam verquere Art ergab das sogar Sinn. Adrian liebte Radu, auch wenn diese Gefühle niemals erwidert oder gar zu einem Happy End führen würden. Ihr Schutzengel würde dem Vampir nur nahe sein können, wenn Lily und ihn weiterhin eine Freundschaft verband.

Nicht nur vor seiner … auch vor deiner. 

„Aber wieso? Denkst du ernsthaft, ich hätte dich …“ Sie stockte und überlegte. Worauf wollte Adrian hinaus? Es war nicht so, dass sie ihren Schutzengel dauerhaft ignorieren oder von sich weisen konnte. Adrian blieb ihr erhalten, bis sie alt und grau war.

Ich hätte deine Ablehnung nicht ertragen, gestand er und schlug die Hände vors Gesicht. Du hättest Magie gewirkt und dabei auf meine Seelenenergie zurückgegriffen – für mich kommt das einer Ablehnung gleich. 

„Blödsinn!“, fauchte Lily. In ihr erwachte der Wunsch, Adrian in den Arm zu nehmen und zu trösten und sie verfluchte den Umstand, dass sie ihn nicht berühren konnte. „Denkst du ernsthaft, ich hätte sofort losgelegt und gezaubert? Ich kenne nicht einmal einen einzigen Zauberspruch.“

Das mag sein, aber unsere Verbindung wäre dennoch schwächer geworden. 

„Warum?“

Magier können ihren Körper nicht mit ihren Schutzengel tauschen. Die Verbindung, die dafür notwendig ist, ist dieselbe, die Magier für ihre Zauber nutzen. Sobald sie ihre Macht dauerhaft einsetzen, bleibt ihnen nur noch der Weg, die Seelenenergie zum Zaubern zu nutzen. Ein Tausch wie bei uns beiden ist nicht möglich. Ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen. Verstehst du? Hättest du damit begonnen, wäre es dir unmöglich gewesen, die Ausbildung zur Jägerin fortzusetzen. Unsere Verbindung hätte sich verändert. Das habe ich mit Ablehnung gemeint. Für mich hätte es sich nämlich so angefühlt. 

„Aber ich hätte doch gar nicht zaubern können. Ohne Wissen und ohne Anleitung.“

Das mag sein, aber irgendwann hättest du vielleicht trotzdem versucht, Magie zu erlernen, einen der Orden aufgesucht, die es hier in der Gegend gibt, und dir einen Meister erwählt, der dich unterrichtet. 

„Vielleicht“, gab Lily zu und ließ den Kopf hängen. Sie wusste nicht, ob sie sich wirklich auf die Suche nach anderen Magiern begeben hätte. Es fiel ihr schwer, dies abzuschätzen. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Das war er also – ein Bruchteil ihrer Vergangenheit. Viel war es nicht, doch schon jetzt fühlte sie sich überfordert. Welche kleinen und großen Überraschungen würden noch auf sie warten, wenn sie weiter suchte? Mussten ihre Eltern nicht ebenfalls Magier sein? Sie schob die kreisenden Gedanken beiseite, um nicht selbst durcheinander zu kommen. Sie wollte geordnet vorgehen, um keine wichtige Frage zu vergessen.

„Das bedeutet also, wenn ich Magie erlerne, werden wir irgendwann nicht mehr tauschen können?“ Allein der Gedanke bereitete Lily Angst. In einem Kampf vertraute sie eher auf Adrians Fähigkeiten als ihren eigenen. Er war stark und hatte sogar sich selbst aufgegeben, um ihren Körper nach dem Werwolfangriff zu heilen. Ob er hier auf ihre magischen Befähigungen zurückgegriffen hatte? Es würde erklären, warum er mehrere Tage gebraucht hatte, um sich zu zeigen und danach leicht verändert wirkte.

Ich denke, dass es darauf hinauslaufen würde. 

„Dann zaubere ich einfach nicht“, entschied sie hitzig. „Ich bin bis jetzt ohne Magie klargekommen und so wird es bleiben. Alina hat mir beigebracht, mit meinem Schutzengel als Team zusammenzuarbeiten und zu kämpfen. Ich habe vor, diesen Weg weiterzugehen, allein schon, weil es Alinas Vermächtnis ist.“

Das würdest du tun? Plötzlich rannen Tränen über seine Wangen. Du würdest auf die Macht verzichten, die dir in die Wiege gelegt wurde? 

„Natürlich, Adrian!“ Lily erhob sich und schenkte Adrian ein entschiedenes Lächeln. „Wir sind ein Team und dabei bleibt es. Magie hin oder her – ich habe mich entschieden, eine ganz normale Jägerin zu sein. Und jetzt, wo ich endlich um dein Geheimnis weiß, werden wir uns wieder näher kommen. Es wird Zeit, dass wir einander zu einhundert Prozent vertrauen.“

Adrian nickte und wischte sich über die Wangen. Danke, Lily. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, dass du mir verzeihst. 

„Wirklich vergeben würde ich dir, wenn du komplett reinen Tisch machen würdest. Die Bombe ist bereits geplatzt, dann kannst du mir auch den Rest erzählen.“ Lilys Handflächen wurden feucht und vor lauter Aufregung wusste sie nicht, welche der unendlich vielen offenen Punkte sie zuerst beantwortet haben wollte: Wer waren ihre Eltern? Hatte sie Geschwister? War ihre Familie ebenfalls magisch veranlagt? Wie hieß der Orden, in dem sie aufgewachsen war? Wie kam es zu dem Autounfall vor sieben Jahren? Welche Zauber hatte sie als Kind erlernt? Wobei sie die letzte Frage besser nicht stellen sollte, wenn sie Adrian nicht erneut in Panik versetzen wollte.

Doch noch bevor sie auch nur einen einzigen ihrer kreisenden Gedanken ausformulieren konnte, klopfte es nachdrücklich an der Tür.

„Es wäre toll, wenn ich auch mal unter die Dusche dürfte“, sagte Silas. „Wenn du mit Adrian reinen Tisch machen willst, dann bitte im Wohnzimmer, aber nicht dort, wo ich mich aufwärmen kann.“

„Entschuldige“, rutschte es Lily heraus und sie kam auf die Beine. In Windeseile schlüpfte sie in ihre Klamotten und band sich das Haar zusammen. Sie wusste nicht, was ihr peinlicher war: Dass sie über eine Stunde das Bad blockierte oder dass der Magier sie belauscht hatte.

Hektisch öffnete sie die Tür und sah sich Silas gegenüber, der sie mit einem Grinsen auf den Lippen musterte. Wenigstens schien er nur die letzten Sätze mitbekommen zu haben und wusste nicht, dass Lily eine Magierin war. Ansonsten würde er sie jetzt gewiss mit Fragen löchern.

„Wenn ich gewusst hätte, dass du so lange brauchst, hätte ich vorgeschlagen gemeinsam zu duschen.“

Hitze breitete sich auf Lilys Wangen aus. Peinlich berührt sah sie zu Boden. „Das hättest du wohl gern.“

„Vielleicht …“ Silas hob die Achseln und schob sich an ihr vorbei in den feuchtwarmen Raum. Er war allein, Felina saß wahrscheinlich im Wohnzimmer. Lily überlegt für eine Sekunde, ob sie ihn darauf aufmerksam machen sollte, dass er das Bad ohne frische Kleidung betrat, doch sie biss sich auf die Lippen. Den Triumph, ihn nur mit einem Handtuch bedeckt ins Schlafzimmer kommen zu sehen, würde sie sich gönnen.

Du bist unmöglich. Da leiste ich lieber Felina Gesellschaft. Adrian schüttelte den Kopf und verschwand direkt durch die gegenüberliegende Wand, als hätte er geahnt, dass Lily mit ihrer Befragung noch nicht fertig war.

„Mist“, murmelte sie. Ob sie ihn zur Rede stellen sollte? Sie hatte ihm zwar versprochen nicht nachzubohren und die Zeit für sich arbeiten zu lassen, doch allmählich bereute sie ihre Entscheidung. Nachdenklich spielte sie mit einer feuchten Haarsträhne. Wenigstens hatte sie ihm einen Bruchteil der Wahrheit entlocken können.

Magie.

Allein das Wort fühlte sich seltsam an. Die Vorstellung, dass sie ebenfalls zu diesen gefürchteten Menschen gehörte, die mit der Energie eines Schutzengels Wunder wirkte, war fremd und irgendwie erschreckend. Was bedeutete das für sie? Adrian hatte Angst – verständlich wenn man bedachte, wie sich dies auf ihre Verbindung auswirken konnte.

Ob Alina davon wusste? Nervosität breitete sich in ihr aus. Natürlich hatte sie davon gewusst! Sie war ihre Patentante, hatte ihre Familie gekannt. Zumindest wusste Lily nun, warum sie geschwiegen hatte.

Die Akten kamen ihr in den Sinn. Vielleicht fand sie darin Antworten – über Magier, den Orden und mit etwas Glück über sich selbst.

Angespannt betrat sie das Wohnzimmer und zog sich eine der Akten hervor, die auf dem Esstisch ausgebreitet lagen. Silas schien sie durchgeblättert, teilweise gelesen zu haben. Neugierig überflog sie die aufgeschlagene Seite. Es ging um die magische Kontrolle über Werwölfe und Vampire und beschrieb ziemlich genau Mareks Fähigkeiten. Obwohl sie sich zum Lesen eigentlich ins Bett kuscheln wollte, ließ sie sich auf dem zurückgeschobenen Stuhl nieder und blätterte zurück.

‚Magische Spezialisierungen’

Vergessen waren Lilys Fragen und die Geheimniskrämerei ihres Schutzengels, ebenso ihr Wunsch mehr über Alina herauszufinden. Die Lektüre nahm sie gefangen und sie las in einem Rutsch fast zehn Seiten, bis sie einen sanften Schimmer in ihrem Augenwinkel bemerkte. Adrian.

Irgendwie waren mir deine erotischen Pläne für den Abend lieber, gestand er mit einem schiefen Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.

„Erotische Pläne?“, zischte sie mit sich überschlagender Stimme. Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, worauf er anspielte, dann fühlte sie sich in doppelter Hinsicht ertappt. Zum einen, weil er sie vorhin durchschaut und nun beim Lesen in den Akten erwischt hatte, zum anderen ... Moment, wieso sollte sie sich deswegen schämen? Sie hatte mit den Akten schließlich vorliebgenommen, weil er sich zurückgezogen hatte.

Na, vorhin hast du dich darauf gefreut, Silas halbnackt aus dem Bad kommen zu sehen. 

Röte stieg ihr ins Gesicht. „Arg, sprich das doch nicht noch aus!“

Adrian hob eine Augenbraue. Sein Blick sprach Bände. Glücklicherweise wechselte er das Thema, auch wenn Lily der Inhalt seiner Worte genauso wenig gefiel. Du hattest doch gesagt, dass du die Zauberei nicht erlernen willst. 

„Ich lese nur, welche verschiedenen Anwendungsbereiche es gibt. Das hat nichts damit zu tun, dass ich es erlernen will.“

Aber es macht dich neugierig. Das gefällt mir nicht. 

„Blödsinn.“ Sie deutete auf den ersten Abschnitt, der von der Kontrolle über Elemente handelte. „Ich will nur darüber informiert sein, was auf mich zukommen könnte. Wusstest du, dass es Magier gibt, die das Feuer kontrollieren oder übers Wasser laufen können? Das ist wie in den Fantasybüchern. Ein Fingerschnippen genügt und schon gehorcht dir das Meer oder du bezwingst den Gegner mit einem Erdstoß.“

Adrian verzog das Gesicht. Ich wusste es. Ich hätte es dir nicht erzählen sollen. 

„Es fasziniert mich schon“, gestand Lily und spürte das panische Echo in sich widerhallen, das von Adrian ausging. Ihr Schutzengel sank in sich zusammen und senkte den Blick. „Aber das heißt nicht, dass ich das beherrschen möchte. Hier steht nämlich auch, wie riskant das ist und wie viel Energie ein Magier einem Schutzengel entreißen muss, um ein solches Wunder zu wirken. Das würde ich weder dir noch einem anderen Schutzgeist antun.“ Ein eisiger Schauder rann über ihren Rücken. „Diese gequälten Blicke könnte ich gar nicht ertragen. Magier greifen garantiert auf fremde Seelenenergie zu, weil sie die schmerzverzerrten Gesichter ihrer Begleiter nicht sehen möchten. Sie können die anderen nicht wahrnehmen, ich schon.“

Ihre Worte schienen Adrian ein wenig zu beruhigen. Es waren keine hohlen Phrasen gewesen. Lily wollte wirklich nicht zaubern und dabei den ganzen Lichtgeschöpfen schaden, die sie umgaben. Egal, wie sehr es sie manchmal störte, die Schutzengel der Menschen und Wesen zu sehen, sie bewiesen auch, dass über jede lebende Kreatur gewacht wurde. Das war ein tröstlicher Gedanke.

„Du kannst mir ruhig glauben, Addy.“ Sie schlug die Akte zu und schob sie von sich. Sie würde später noch genügend Zeit haben, sich über die unterschiedlichen Arten von Magie zu informieren.

Tu ich, Lily. Deswegen solltest du auch über einen Zauber Bescheid wissen und ihn beherrschen. 

Lily hob eine Augenbraue. „Wie war das? Keine Magie für mich?“

Ein Notfallzauber, damit du dich verteidigen kannst. Pericula Coerce habe ich dir ja bereits verraten. Damit erschaffst du den blauen Schutzschild, um Angriffe abzuwehren. Er wird dir helfen, selbst wenn wir nicht tauschen können. 

„Macht Sinn. Pericula Coerce also. Und wie wirke ich den?“

Zu ihrer Überraschung zuckte Adrian die Achseln. Das muss dir Silas erklären. 

„Das ist ein Witz, oder? Du hast ihn doch angewandt, oder etwa nicht?“

Schon, aber ein Magier kann dir so etwas viel besser beibringen, als ich. Mit kaum wahrnehmbarer Stimme fügte er hinzu: Um ehrlich zu sein, habe ich nicht wirklich damit gerechnet, dass es funktioniert. 

Lily öffnete den Mund um etwas zu sagen, schwieg jedoch. Irgendwie machten Adrians Worte keinen Sinn. Sie hatte kein Problem damit, Silas zu fragen, nachdem sie ihm offenbart hatte, dass auch sie eine Magierin war. Die Aussicht auf sein verdutztes Gesicht sorgte für Anspannung und Nervosität in ihrem Magen. Wie er reagieren würde? Möglicherweise hatte er mit etwas Derartigem schon gerechnet. Immerhin hatte er vor einigen Tagen erwähnt, dass er sie kannte. Aus seinem Orden vielleicht? War dies der Teil ihrer Vergangenheit, den er insgeheim vermutet hatte?

Sie beobachtete Adrian, der nicht sonderlich glücklich mit der momentanen Situation war. Nach einer Weile dämmerte ihr, warum. „Du befindest dich in einer Zwickmühle. Du lässt zu, dass mich ein Magier in der Zauberkunst unterrichtet, obwohl du davor Angst hast.“

Ist das so schwer zu verstehen? 

„Ich denke, du kannst Silas vertrauen. Er würde …“

Ich weiß und ob du’s glaubst oder nicht, ich vertraue ihm sogar … irgendwie. Adrian wandte sich von ihr ab und trat zum Fenster. Ich habe gesehen, wie er Felina behandelt. Als er verletzt war, hat er sie zu nichts gezwungen und als er gegen den Vampir gekämpft hat, hat er ihn nur mit einer Illusion fortgelockt. 

„Illusion?“

Felina hat es mir erzählt. Silas hat mehrere Doppelgänger von sich erschaffen und während Henri versucht hat, den echten Silas zu finden und schließlich einem Trugbild nachjagte, hat er sich auf dem Spielplatz versteckt. 

Lily riss die Augen auf. Das klang nicht wirklich ehrenhaft, aber scheinbar war es Silas gelungen, sich auf diesem Weg in Sicherheit zu bringen. „Und die Verletzung?

Hat er sich wohl vor seiner Aktion zugezogen. 

„Aber der Geruch nach Blut hätte den Vampir auf jeden Fall verraten, wer der Echte ist.“

Da hat er wohl mit einem passenden Zauber nachgeholfen. Eine Illusion muss nicht nur aus optischen Reizen bestehen, weißt du. Man kann auch Gerüche imitieren, ebenso wie man einige auslöschen kannst. 

„Wow“, rutschte es Lily heraus. Ein wirklicher Jäger hätte kurzen Prozess gemacht und sich nicht hinter Trugbildern versteckt, aber sie war dennoch beeindruckt.

Du sagst es. Adrian starrte noch immer hinaus in die Dunkelheit. Er hätte den Vampir anders bekämpfen, ihn mit einem einzigen Zauberspruch auslöschen können, doch was macht er? Wendet Magie an, die so harmlos ist, dass sie nicht einmal seinem Schutzengel wirklich schadet. 

„Das ist neu für dich, oder? Ein Magier, der seine Macht nicht auf Kosten der Schutzengel einsetzt.“ Adrians Nicken war kaum wahrnehmbar. Sie trat zu ihm und strich ihm sanft über den Rücken. „Er ist nicht schlecht oder böse. Auf seine Art versucht er, das Beste aus seiner Situation und seinem Erbe zu machen. Weißt du, ich möchte mit Silas zusammen sein, wenn wir dieses unschöne Abenteuer überstanden haben.“

Aber er ist ein Magier, begehrte ihr Schutzengel halbherzig auf.

„Das stimmt schon, aber du hast doch selbst gesagt, dass man ihm vertrauen kann, dass er seine Macht nicht ausnutzt, um andere zu quälen.“

Liebst du ihn wirklich so sehr? 

Diese Frage brachte Lily aus dem Konzept. Sie schloss die Augen und lauschte in sich. Das Kribbeln in ihrem Magen war ein deutliches Zeichen und ihr Herz schlug allein beim Gedanken an Silas Purzelbäume. Sie hatte sich bereits einige Male so gefühlt – bei Julian, der in die Parallelklasse ging und in den sie sich mit vierzehn verguckt hatte, bei Tom, mit dem sie zusammenkam, als sie Julian mit einem anderen Jungen knutschend hinter der Turnhalle erwischt hatte. Sie blieben nur ein halbes Jahr zusammen, da Lily sich nicht mit seiner groben Art anfreunden konnte und zudem ihr Training mit Alina und Adrian immer zwischen die Verabredungen funkte. Damals hatte ihre Patentante gesagt, dass es eine dumme Idee sei, sich jemanden als Partner zu suchen, der nichts von ihrer Arbeit als Jägerin wusste, und sie hatte recht. Letztendlich zerbrachen all ihre Beziehungen und kurzen Affären, in die sie sich stürzte.

Silas erfüllte diese Voraussetzung – er wusste um ihre Fähigkeiten und schien sie zu akzeptieren. Zudem erwiderte er ihre Gefühle, da war sie sich unterdessen sicher. Allein der Gedanke löste ein unbekanntes Verlangen in ihr aus und die Vorstellung die nächsten Nächte neben ihm zu liegen, möglicherweise sogar in seinen Armen, gab ihr eine Sicherheit und Ruhe, die sie bisher nie erfahren hatte.

In Ordnung, ich hab’s kapiert. Adrian hob die Schultern und begann, ruhelos im Raum auf und ab zu tigern. Glücklich bin ich zwar nicht, aber … 

„Was denn? Ich hab doch gar nichts gesagt!“

Dein Gesicht spricht Bände. Ich sehe dir deutlich an, wie sehr du in ihn verschossen bist. Und deine Gedanken erst … 

Röte stieg ihr ins Gesicht, obwohl es nichts gab, wofür sie sich schämen musste. „Du liest meine Gedanken, Addy?“

Jetzt stell dich nicht so an. Du wolltest doch, dass wir das mentale Band wieder festigen. 

Lily blies die Backen auf und entließ seufzend die Luft. „Na schön, aber wehe, du mischst dich noch einmal in die Sache zwischen Silas und mir ein. Ich habe mich wirklich in ihn verliebt.“

Das sagst du gerade dem Falschen. Ein breites Grinsen huschte über Adrians Lippen. Er deutete auf die Tür, der Lily den Rücken zugewandt hatte.

Augenblicklich sackte ihr das Herz in die Knie. Das Kribbeln in ihrem Magen wurde so heftig, dass ihr beinah schlecht wurde. Noch bevor sie sich umdrehte, hörte sie Silas‘ samtene Stimme: „Ich unterbreche euch nur ungern bei eurem, für mich etwas einseitigem Gespräch, aber darf ich mir Klamotten aus dem Wohnzimmer holen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, trat er ein und steuerte seine Reisetasche an, die neben dem Sofa stand. Er war tatsächlich nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet. Wasser perlte über seinen Körper und sein Haar wirkte dank der Feuchtigkeit schwarz. Eine leichte Röte lag auf seinen Wangen, doch Lily wusste nicht, ob sie vom Duschen stammte, oder ob er ihr Geständnis gehört hatte.

Peinlich berührt schlug sie die Hand vors Gesicht, als er Shorts und Jeans aus der Tasche zog, das Handtuch fallen ließ und hineinschlüpfte. Warum auch immer er sein Gepäck im Wohnzimmer deponiert hatte, es verschaffte ihr einen lohnenswerten Blick auf seinen Hintern.

Ihr Mund fühlte sich so trocken an, als hätte sie seit Tagen nichts getrunken, und es gelang ihr nicht, ihre Gedanken zu sortieren. „Seit wann stehst du schon im Flur?“ Kaum hatte sie die Frage gestellt, wurde ihr bewusst, wie unsinnig und dumm sie war.

„Lang genug.“ Silas entblößte eine Reihe weißer Zähne. „Sagen wir mal, dein letzter Satz war sehr aufschlussreich.“

„Oh Gott.“

„So ungefähr.“

Ich lass euch dann mal allein! Schneller als jemals zuvor schwebte Adrian aus dem Raum und nickte Silas zu, obwohl dieser ihn nicht sehen konnte.

‚Mistkerl!’, dachte Lily, doch sie schluckte ihren Ärger schnell hinunter. Erst brachte er sie in diese peinliche Situation, dann ließ er sie vollkommen im Stich. Unter gesenkten Lidern beobachtete sie Silas, der unschlüssig zu den Akten sah, die vergessen vor Lily lagen.

„Du hast dich auch schon in die Akten vertieft?“, wechselte er das Thema, als sei es ihm ebenso peinlich. Mit einer Hand strich er sich die feuchten Strähnen aus dem Gesicht, mit der anderen angelte er sich eine der Mappen. Es schien ihn nicht zu stören, dass er sich halbnackt vor ihr präsentierte, denn er hatte auf ein Shirt verzichtet. „Für dich dürfte das meiste neu sein, oder?“

‚Oh ja‘, dachte sie frivol. ‚Dein Körper ist in der Tat etwas Neues für mich.‘ Sie unterdrückte ein Grinsen und ließ sich ihm gegenüber auf einem Stuhl nieder. Silas umgab eine seltsam düstere Aura, die sie nicht richtig interpretieren konnte. Er wirkte verärgert und angespannt.

Mit einem Schnauben warf er die Akte zurück auf den Stapel und schüttelte den Kopf. Wassertropfen lösten sich von seinem Haar und trafen Lilys Gesicht. „Wenn ich mir vorstelle, dass wir das aus der Wohnung einer Jägerin haben!“

„Ist das so schlimm?“ Lily schob die erotischen Gedanken endgültig beiseite und konzentrierte sich auf die Dokumente.

„Natürlich ist es das. Allein die Vorstellung, dass dieses Wissen dem Rat in die Hände gefallen wäre, wenn wir nicht in die Wohnung eingebrochen wären. All die Informationen über Magie und ihre Anwendung, die einzelnen Orden und die beiden magischen Pfade, die man beschreiten kann.“

„Ist das so seltsam?“ Lily zwang ihren Blick zurück auf die Blätterstapel, um nicht länger auf seine breite Brust zu starren. Sie wünschte sich, dass Silas sich endlich etwas überziehen würde. Um sich abzulenken, fügte sie leise hinzu: „Sollten Jäger nicht über Magier informiert sein, um sich besser gegen sie zur Wehr setzen zu können?“

„Natürlich nicht! Eine normale Jägerin, selbst wenn sie Anführerin eines Teams ist, braucht dieses Wissen nicht. Nicht einmal ein Rat weiß um diese Dinge. Magierorden halten sich aus gutem Grund bedeckt.“ Er machte eine Handbewegung, die alle Akten einschloss, die auf dem Tisch verteilt waren, und zog eine braune, abgegriffene Akte heraus. „Wie ist sie an diese Akten herangekommen? Wer hat ihr all diese Dokumente ausgehändigt? Diese hier beschäftigt sich mit den letzten Jahrhunderten meines Ordens. Wenn ich Rasmus von der Existenz dieser Dokumente berichte …“ Er knirschte mit den Zähnen und ballte die Hände zu Fäusten. „Woher kommen diese Aufzeichnungen?“

„Ich weiß es nicht.“ Lily wich ein wenig zurück, als sich Silas’ funkelnde Augen auf sie richteten.

Energisch rammte er seine Hände auf die Tischplatte. Seine Stimme nahm einen schneidenden Ton an, als er fragte: „Du hast mit ihr zusammengelebt! Hast du nie bemerkt, was sie in ihrem Büro bunkert?“

„Nein, ich hatte keinen Zutritt zu ihrem Arbeitszimmer, weil ich bis vor zwei Wochen noch keine vollwertige Jägerin war. Adrian hat zwar ein paar Mal spioniert, aber da diese Akten nie offen herumlagen, konnte er sie nicht lesen. Er hat ja keinen Körper, um …“

„Ich weiß. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sich immer mehr Fragen auftürmen, je tiefer wir graben. Irgendetwas Wichtiges übersehen wir.“ Er schnaubte verärgert und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Muskeln seiner Unterarme traten sichtbar hervor. „Das gefällt mir nicht. Ich weiß zu wenig über das, was hier vor sich geht. Marek hat mir nichts verraten, weder über seine Verbannung, noch warum er dich mit all seinen Kräften angegriffen hat; der Rat hat mir auch einiges verheimlicht, und …“

„Der Rat hat dir etwas verheimlicht?“, hakte Lily überrascht nach.

Silas nickte mit einem Seufzen. „Ich weiß allerdings nicht, was. Vor einiger Zeit habe ich mitbekommen, das Aldwyn geheime Treffen einberufen hat, wenn ich nicht in seiner Villa war.“

„Du bist ein Magier. Ist doch logisch, dass sie bei einigen Gesprächen unter sich sein wollen.“ Lily erhob sich, um ihm ein T-Shirt zu holen. Es war niemandem geholfen, wenn er sich erkältete, und sie brauchte einen Moment, um ihre rasenden Gedanken zu ordnen. „Immerhin ist deine Aufnahme in den Rat ein Testlauf für alle Parteien. Es ist einleuchtend, dass sie einige Treffen ohne dich abhalten.“

„Das habe ich auch gedacht, aber ich kehrte vor einiger Zeit früher zurück und habe Felina losgeschickt, um …“ Er beobachtete, wie sie seine Reisetasche durchwühlte.

Lily waren die Blicke unangenehm, doch da Silas sie weder zur Seite schob, noch etwas gegen ihre Aktion sagte, suchte sie ein dunkles Shirt heraus. „… zu spionieren?“, vollendete Lily seinen Satz, um das Gespräch am Laufen zu halten.

Geistesabwesend nahm Silas ihr die Klamotten ab und zog sich an. „Viel habe ich nicht mitbekommen, aber Felina ist sicher, dass sich das Gespräch um dich drehte.“

Mit rasendem Herzen wirbelte sie herum. „Um mich?“ Sie überlegte, welche Gründe es für ein Gespräch des Rats geben könnte und fügte nachdenklich hinzu: „Wahrscheinlich haben sie nur über meine Prüfung gesprochen. Immerhin bin ich die jüngste ausgebildete Jägerin.“ Sie konnte nicht verhindern, dass sich Stolz in ihre Stimme schlich. Jahrelang hatte sie trainiert, warum sollte sie ihr Licht unter den Scheffel stellen? Trotz aller Querelen mit Adrian hatte sie eine Menge erreicht.

„Das hatten wir allerdings ein paar Tage zuvor ausführlich besprochen“, widersprach Silas. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass es dabei um deine Prüfung ging.“

„Um was dann?“

Silas hob die Achseln. „Wenn ich das wüsste. Irgendwie dreht sich alles um dich. Marek hat dich gesucht, weil er dich für eine große Gefahr hielt; der Rat bespricht sich im Geheimen über dich. Würde mich nicht wundern, wenn deine Meisterin all diese Informationen gesammelt hat, weil du …“ Er geriet ins Stocken und brach mitten im Satz ab.

„Weil ich eine Magierin bin“, legte Lily die Karten auf den Tisch. Angespannt erwiderte sie seinen Blick, während sie die Hand nach ihm ausstreckte und behutsam ihre Finger über die warme Haut wandern ließ.

„Das kann nicht …“ Silas‘ Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Seine Augen verengten sich, als er ihr Gesicht betrachtete, als suche er nach einem versteckten Hinweis. Noch bevor sie etwas sagen konnte, schien er fündig zu werden. Er sog scharf die Luft ein und keuchte: „Du bist eine Magierin! Wieso erkenne ich das erst jetzt? Dieses Zeichen auf deiner Stirn … wie …“

„Adrian hat es mir vorhin im Bad offenbart.“ Lily verschränkte automatisch ihre Finger mit seinen. „Scheinbar hast du nicht lange genug vor der Tür gestanden, um diesen Teil mitzubekommen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich habe nichts davon gewusst.“ Sie hoffte, dass er ihr leichtes Zittern nicht bemerkte. „Als ich elf Jahre alt war, hatte ich einen Autounfall, bei dem meine Familie starb. Seitdem leide ich unter Amnesie und erinnere mich an nichts mehr aus meiner Kindheit.“

„Amnesie?“, wiederholte Silas kurz angebunden. Er schaute sie aus großen Augen an, offensichtlich unfähig, sich von ihr loszureißen.

„Ja, und bevor du nach Adrian fragst: Er hat mir bisher meine Vergangenheit verschwiegen. Ich kann ihn sogar verstehen, jetzt wo ich seine Beweggründe kenne“, sinnierte sie und schloss die Augen, um das Gespräch mit ihrem Engel Revue passieren zu lassen. Silas ließ ihr Zeit, hing seinen eigenen Gedanken nach und bestürmte sie nicht mit Fragen, die sie wahrscheinlich nicht beantworten konnte. Noch immer fühlte sich all das unwirklich an. Wahrscheinlich brauchte sie einige Zeit, bis sie sich an den Gedanken gewöhnte, Magierin zu sein.

„Er hat dir gar nichts erzählt?“, riss Silas sie schließlich aus ihren Gedanken. „Über deine Vergangenheit, deine Familie und woher du stammst?“

„Nein, aber in den kommenden Tagen werde ich ihn ausfragen. Jetzt, wo er mir schon erzählt hat, dass ich eine Magierin bin, will ich mehr wissen“, gestand Lily und stutzte, als sie Silas‘ aufgebrachte Miene bemerkte. „Warum regst du dich so auf. Vor ein paar Tagen hast du noch ganz anders reagiert, als ich Adrian vorgeworfen habe, mich anzulügen.“

„Da dachte ich auch, dass du Vieles sagst, um ihn zu verletzten. Ich ahnte nicht, dass er dir die gesamte Wahrheit verschwiegen hat - wissentlich!“ Unglaube mischte sich in Silas weiche Stimme. „Wie ist das möglich? Ein Schutzengel darf vor seinem Schützling keine Geheimnisse haben. Sicherlich gibt es einige Dinge, die unangetastet bleiben müssen, aber das trifft nicht auf deine Amnesie zu. Er hätte dich über deine Vergangenheit aufklären müssen, denn das ist eine der Aufgaben eines Schutzengels. Bei Menschen, die ihren Begleiter nicht sehen können, muss dieser Hinweise ans Unterbewusstsein geben. Nur so kehren Erinnerungen zurück.“ Silas erhob sich und rief nach Felina. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann tauchte der zierliche Schutzgeist vor ihm auf. „Du hast mitbekommen, was Lily gesagt hat?“

Natürlich. 

„Wie kann es sein, dass Adrian seit Jahren die Wahrheit verschweigt? So etwas sollte doch unmöglich sein, oder?“

Schon, aber ihm scheint es zu gelingen, diese Barriere zu überwinden, als hätte er eine Wahl. 

„Du meinst, er kann lügen? Das ist unmöglich.“ Silas raufte sich das klamme Haar. „Kein Schutzengel sollte dazu in der Lage sein. Er ist seinem Schützling zur Rechenschaft und Offenheit verpflichtet, ansonsten kann es keine mentale Verbindung geben.“ Sein Gesicht erhellte sich plötzlich, als sei ihm die Antwort auf eine wichtige Frage eingefallen. „Ist das der Grund, weswegen du dich nicht gedanklich mit ihm unterhältst?“

„Was meinst du?“, fragte Lily unsicher.

„Normalerweise unterhält man sich mit seinem Schutzgeist in Gedanken, du sprichst die Worte jedoch für alle gut hörbar aus.“ Er rieb sich das Kinn und nickte. „Gut möglich, dass eure Verbindung zu schwach für einen reinen Gedankenaustausch ist.“

„Vielleicht, aber das wird sich ändern“, erwiderte Lily mit fester Stimme. Auch wenn Silas’ Worte ihre Unsicherheit anfachten, würde sie ihrem Schutzengel vertrauen. Nach einem klärenden Gespräch würde nichts mehr zwischen ihnen stehen und das mentale Band, das sich seit Adrians Geständnis wieder festigte, wäre endlich stark genug, um sich im Stillen miteinander zu unterhalten.

Ungeachtet ihres eigenen Entschlusses fuhr Silas fort: „Adrian verhält sich seltsam, als hätte er einen eigenen Willen. Ein Begleiter kann bis zu einem gewissen Grad selbstständig agieren, aber er sollte nicht in der Lage sein, gegen ausdrückliche Wünsche und Befehle zu handeln.“ Silas kam um den Tisch herum, blieb vor ihr stehen und legte die Hände auf ihre Schultern. Eindringlich fixierte er sie. „Du hast doch gewiss nach deiner Vergangenheit gefragt, oder?“

„Natürlich. Seit Jahren versuche ich, mehr herauszufinden, aber er schweigt sich aus oder sagt, dass er mir nichts verraten darf.“

„Das ist nicht dein Ernst!“ Entsetzen und Unglauben spiegelten sich in seinem Gesicht wider.

Kein Schutzengel darf … Selbst Felina brach entsetzt ab. Sie wirbelte herum, als Adrian mit ernstem Gesicht in den Raum schwebte. Sie wich sogar vor ihm zurück, kaum dass er sich ihr näherte. Lily sah diese Reaktion nicht zum ersten Mal. So hatte sich Hektor verhalten, wenn ihm Adrian zu nahe gekommen war.

„Wieso ist er in der Lage, so eigenmächtig zu handeln?“ Silas hatte Adrians Gegenwart noch nicht bemerkt. „Mir ist schon vorher aufgefallen, dass er sich nicht wie ein Schutzengel verhält. Er ist zu eigenständig, zu menschlich, und oftmals nicht deiner Meinung.“

„Aber so war er schon immer“, murmelte Lily lahm und ließ ihren Schutzengel nicht aus den Augen. Wieso sagte er nichts? Warum erklärte er Felina seine Beweggründe nicht? Die Unsicherheit, die durch Silas’ entsetzte Worte neue Nahrung bekommen hatte, überkam sie mit aller Macht. Hatte der Magier recht? Unterschied sich Adrian wirklich so sehr von anderen Schutzgeistern?

Plötzlich stand mehr zwischen ihr und Adrian als Lilys Vergangenheit, die er ihr all die Jahre verschwiegen hatte. Es stellte sich die Frage, wieso er in der Lage war, sich herauszureden? Weshalb konnte er lügen? Vorhin hatte Adrian gesagt, dass er selbst nicht wusste, warum er sich den Gesetzen der Schutzengel entziehen konnte. Aber sagte er in diesem Fall die Wahrheit? Wusste er es wirklich nicht, oder verbarg sich mehr hinter seiner Andersartigkeit? Frustriert stellte Lily fest, dass sie erneut an ihm zweifelte.

Vertrau mir, Lily. Adrians Worte versetzten ihr einen Stich. Er hatte recht! Sie sollte ihm vertrauen und nicht länger an ihm zweifeln.

Da Silas Adrians Worte nicht mitbekam, fuhr er ungerührt fort: „Kein Schutzengel ist so, Lily. Sie mögen in wichtigen Sachen einem höheren Gesetz folgen, aber ansonsten dienen sie ihrem Schützling. Sie teilen seine Gefühle, seine Ängste und seine Freude, immerhin sind sie das Spiegelbild deiner Seele. Adrian hingegen scheint eher dein Konterpart zu sein …“

Er ist hier, Silas. Felina schwebte unterdessen neben dem Magier und ihre Mimik gab nichts über ihre Gedanken preis. Sie wirkte stoisch, fast schon feindlich, als sie Adrian beobachtete.

Silas schwieg. Er verengte die Augen zu Schlitzen und fixierte einen Punkt an der Wand.

„Und was bedeutet das jetzt?“ Lilys Gedanken fuhren Achterbahn. Sie sah von Adrian zu Silas und wieder zurück, ohne in der düsteren Atmosphäre, die sich im Raum ausgebreitete hatte, eine Antwort zu finden. War Adrian wirklich so anders als die anderen Schutzengel? Alina hatte dies angedeutet, Hektor und die anderen Schutzengel es mehr oder weniger deutlich gezeigt, doch für sie war Adrian nie seltsam oder eigenartig gewesen. Adrian war Adrian und sie schätzte seine offene Art, selbst wenn sie gegensätzlicher Meinung waren. Sprach dies so sehr gegen die Natur eines Schutzengels? War Adrian überhaupt …

Sie verbot sich, den Gedankengang weiter zu verfolgen. Er würde in einer Katastrophe münden und sie hatte gerade erst mit Adrian Frieden geschlossen.

Hektor hat mich immer für eine Missgeburt gehalten. In Adrians Worten schwang eine solche Kälte mit, dass Lily ein Schauder über den Rücken kroch. Weil ich anders bin, menschlicher und mich sogar in jemanden verliebt habe, den mein Schützling nicht an ihrer Seite haben wollte. 

Silas konzentrierte sich auf Felina, die ihm Adrians Worte wahrscheinlich auf gedanklichem Weg mitteilte, da er mit einem Schlag blass wie die Wand wurde. „Er hat sich … verliebt?“

Unmöglich, wisperte Felina. Ein Schutzengel ist nicht in der Lage, sich zu verlieben. 

„Seid still!“, herrschte Lily sie an. Sie fixierte Adrian. Seit Jahren begleitete er sie, munterte sie auf und war ihr eine unersetzliche Stütze. Alles, was er vor ihr verborgen gehalten hatte, geschah zu ihrem Besten, ebenso wie das Geheimhalten der Hintergründe zu ihren magischen Fähigkeiten. Auf eine sehr verquere, schwer nachvollziehbare Art und Weise schützte er sie vor … wovor eigentlich? Vor sich selbst? Vor einem unsichtbaren Gegner, den sie nicht bezwingen konnte? Vor einer Wahrheit, die sie möglicherweise nicht verkraften konnte?

Ich habe vor vielen Jahren ein Versprechen gegeben, Lily. Aber bevor ich das Risiko eingehe und dein Vertrauen endgültig verliere, werde ich dir die komplette Wahrheit erzählen, auch wenn es mir nicht gefällt. Seine Augen waren selten klarer und ehrlicher gewesen als in diesem Moment. Er schien eine Entscheidung gefällt zu haben, die so weitreichend war, dass Lily nicht wusste, ob sie für sein Wissen bereit war. Eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um die volle Wahrheit zu verkraften. Es wäre niemandem geholfen, wenn sie unter der Last seiner Worte zusammenbrach und die kommenden Tage keine Hilfe war, wenn die Jägertruppen des Rates auftauchten. Aber hatte sie Silas nicht deswegen begleitet? Wollte sie nicht die Wahrheit über sich und ihre Vergangenheit herausfinden? Deswegen hatte sie ihren Freunden den Rücken gekehrt und war mit dem Magier gegangen.

Doch jetzt, wo sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihr Ziel zu erreichen, zögerte sie. Es fühlte sich falsch an, Adrian zu einer Aussage zu zwingen. All die Jahre, die sie ihn bedrängt hatte, schienen ihr mit einem Mal sinnlos. Sie wollte nicht mehr wissen, was er ihr verschwieg, sondern warum er sich so verhielt.

„Aus welchem Grund hast du mir meine Vergangenheit all die Jahre verschwiegen?“

Sie ist gefährlich und könnte dich aus der Bahn werfen. Er schwebte zu ihr, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Ich wollte auf den Tag warten, an dem deine Erinnerung von selbst zurückkommt. Dann wärst du nämlich stark genug, um die volle Wahrheit zu verkraften. 

„Ist sie so entsetzlich?“, fragte Silas leise, nachdem Felina ihm Adrians Worte übermittelt hatte.

Adrian sah zu ihm, wohlwissend, dass er ihn weder sehen noch hören konnte. Dennoch antwortete er: Ja, sie würde nicht nur Lilys Grundfesten erschüttern, sondern auch deine. 

Ihre Amnesie blockiert ihre Vergangenheit nicht zufällig. Es ist wie ein Schutzschild, den ihre Seele errichtet hat, und ich habe mich entschieden, dieses nicht mit unbedachten Worten und Erklärungen zu zerstören. Ist das nicht besser, als ihr die Tatsachen ungefiltert ins Gesicht zu knallen? 

„Du wartest auf den Tag, an dem ich meine Erinnerungen zurück erlange?“, fragte Lily verdutzt.

Ja. Es ist für deine Seele besser, wenn du diese Blockade aus eigener Kraft überwindest. Meine Worte könnten dir schaden, aber wie ich eben bereits sagte: Bevor ich dein Vertrauen gänzlich verliere, erzähle ich dir lieber, was sich in deiner Vergangenheit zugetragen hat. 

Lily schloss die Augen. Sie fühlte, dass sie vor einer Weggabelung stand, die sie einerseits zur Wahrheit, andererseits zu Adrians Vertrauen führen würde. In ihr tobte ein Sturm, der sie mal dazu antrieb, ihren Fragen freien Lauf zu lassen und die Wahrheit einzufordern, mal dazu, auf den passenden Zeitpunkt zu warten und sich damit Adrians Vertrauen zu sichern. Am liebsten wollte sie beides für sich beanspruchen: die Wahrheit und Adrians Vertrauen, doch sie wusste, dass sie das Eine verlieren würde, wenn sie das Andere einforderte.

‚Nein, ich verliere mein Recht auf Wahrheit nicht, wenn ich auf Adrians Urteil vertraue. Wenn ich uns Zeit gebe und meiner Erinnerung selbst auf die Spur gehe, anstatt sie von Adrian auf dem Präsentierteller dargeboten zu bekommen, wird sich unsere Verbindung mit Sicherheit festigen.’ Silas’ Worte kamen ihr in den Sinn. ‚Vielleicht kann ich mich irgendwann wortlos mit Adrian verständigen und wir werden ein solch starkes mentales Band aufgebaut haben, dass sich niemand mehr zwischen uns werfen kann. Kein Misstrauen mehr, keine Ängste und Sorgen. Wir wären eine Einheit, die nichts auseinander bringen könnte, so wie ich es mir immer gewünscht habe.’

Das wäre schön, hallten Adrians Worte in ihren Gedanken wider.

‚Du kannst mich hören?’, fragte Lily im Stillen nach. Ein befreiendes und zugleich federleichtes Gefühl ergriff von ihrem Herzen Besitz. Es fühlte sich an, als sei eine große Last von ihren Schultern gefallen.

Weil du dich für mich entschieden hast, obwohl ich dir die Wahrheit angeboten habe. Ich danke dir für dein Vertrauen, Lily, deswegen will ich dir etwas schenken, was ich dir viel zu lange vorenthalten habe. Ab sofort werde ich mich nicht mehr vor dir verstecken, sondern dir alles von mir offenbaren und dich an meinen Gedanken und Erinnerungen teilhaben lassen. Du kannst selbst nachforschen, wenn du die wahren Hintergründe wissen willst, aber ich glaube an dich und dein unausgesprochenes Versprechen. Du wirst auf den richtigen Tag warten und bis dahin steht dir mein Wesen vollkommen offen. Deswegen erreichen mich deine Gedanken und umgekehrt. 

‚Vielen Dank, Adrian’, versicherte Lily. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie das sanfte Gesicht ihres Schutzengels betrachtete. Kam es ihr nur so vor oder strahlte Adrian stärker als zuvor? Er schien regelrecht zu leuchten.

‚Ich vertraue dir und warte auf den Tag, an dem du mir die Wahrheit sagen wirst.’

Du wirst es nicht bereuen, Lily. 

‚Das weiß ich, Addy.’ Ein warmes Gefühl erfüllte ihre Brust. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, egal wie unsinnig und unlogisch sie auf Silas wirken mochte. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf die leuchtende Verbindung zwischen ihr und Adrian. Sie war stärker als jemals zuvor. ‚Wir sind ein Team und jetzt legen wir erst richtig los, in Ordnung?’

Das werden wir … 

Kapitel 12 – Hilferuf

 

*~*

 

Das Brennen in ihrem Körper ließ nur langsam nach. Auch der Elefant, der wahrscheinlich seit mehreren Minuten auf ihrer Brust hockte, erhob sich und trottete weiter. Der erste tiefe Atemzug kam Lily erlösend vor. Gierig sog sie die kalte Luft in ihre Lungen und dankte Gott im Stillen, dass sie nicht zusammengebrochen waren. Zumindest hatte es sich für einen Moment so angefühlt und Lily eine kalte Welle der Angst beschert, die ihr jetzt noch in den Knochen steckte.

Lily, ist alles in Ordnung? Adrians Stimme ging beinah in ihren hektischen Atemzügen unter. Das dumpfe Pochen in ihren Ohren sorgte dafür, dass nur die Hälfte seiner Worte bei ihr ankam. Mal hörte sie ihn klar und deutlich, mal war sie sich nicht einmal sicher, ob er etwas gesagt hatte.

Vorsichtig hob sie die Lider, doch der Schmerz, der in ihrer Stirn explodierte, ließ sie aufstöhnen. Was war überhaupt passiert? Sie lag auf dem Rücken und konnte sich kaum rühren. Mit geschlossenen Augen tastete sie über den Boden, fühlte den weichen Teppich des Wohnzimmers. Wann war sie eigentlich umgekippt?

„Das war für den ersten Versuch gar nicht schlecht.“ Alinas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Mit kühlen Fingern strich sie über Lilys Stirn und vertrieb die rasenden Kopfschmerzen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739442389
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
Jäger Urban Feenwesen Fantasy Sidhe Schutzengel Engel Werwesen Liebe Vampire Romance Liebesroman

Autor

  • Juliane Seidel (Autor:in)

Juliane Seidel wurde 1983 in Suhl/Thüringen geboren und lebt seit mehreren Jahren in Wiesbaden. Neben ihrer Arbeit als Teamassistentin steckt sie viel Zeit und Herzblut in verschiedene queere Projekte und schreibt seit knapp zehn Jahren fantastische Kinder- und Jugendbücher. Unterdessen hat sie, neben den ersten Bänden der Kinderbuchreihe „Assjah“ und der im Selfpublishing erschienenen Urban Fantasy-Reihe “Nachtschatten”, auch erste Veröffentlichungen im queeren Bereich vorzuweisen.
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Titel: Nachtschatten - Gesamtausgabe