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Nachtschatten - Kurzgeschichten

von Juliane Seidel (Autor:in)
110 Seiten
Reihe: Nachtschatten, Band 5

Zusammenfassung

Für alle Fans der “Nachtschatten”-Reihe gibt es endlich sämtliche Bonusgeschichten der Taschenbücher, sowie die finale Kurzgeschichte über Adrian und Radu in einem eBook-Sammelband. Folgende Geschichten sind enthalten: Blonder Engel (Kurzgeschichte – die Originalgeschichte des Reihe aus Sicht des Vampirs Logan) Neue Wege (Kurzgeschichte über die Vergangenheit der Werwölfin Hannah) Damians Geständnis (Kurzgeschichte über Lilys Mentor und Paten Damian) Grenzenlose Liebe (die finale Kurzgeschichte über Adrian und Radu)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 Vorwort 

 

Liebe Leser,

ich freue mich, dass ihr euch die Kurzgeschichten-Sammlung der „Nachtschatten“-Reihe geholt habt – damit liegen endlich auch die (ursprünglich in den Taschenbüchern erschienenen) Zusatzgeschichten im eBook-Format vor. Ich hatte schon lange geplant, den Fans elektronischer Bücher eine Möglichkeit zu geben, diese Geschichten zu lesen – mit „Grenzenlose Liebe“, der in „Unbezwingbar“ angekündigten Kurzgeschichte von Adrian und Radu, habe ich einen guten Grund gefunden, dieses Mini-Projekt endlich umzusetzen.

 

Dieses eBook enthält folgende Geschichten:

„Blonder Engel“ – die allererste Geschichte, in der Lily und Adrian auftauchten, sprich die Urversion der „Nachtschatten“-Romane. Inhaltlich handelt es sich bei „Blonder Engel“ um das erste Kapitel von „Nachtschatten – Unantastbar“, erzählt aus Logans Sicht.

„Neue Wege“ – eine Kurzgeschichte über die Werwölfin Hannah, die zeitlich vor den Ereignissen der „Nachtschatten“-Reihe spielt und einen Einblick in ihr Leben gibt, bevor sie nach Wiesbaden gekommen ist. Für diese Kurzgeschichte sind keine Vorkenntnisse erforderlich.

„Damians Geständnis“ – diese Geschichte ist zeitlich weit vor „Nachtschatten“ 1-3 angesiedelt und offenbart mehr von Damian und seiner Liebe zu Lilys Eltern. Sie kann unabhängig der Haupthandlung gelesen werden.

„Grenzenlose Liebe“ – die Kurzgeschichte von Adrian und Radu spielt nach den Ereignissen der „Nachtschatten“-Bücher und beleuchtet die Beziehung von Lilys Schutzengel und dem Vampir.

 

 Bevor ihr in diese Geschichte eintaucht, solltet ihr unbedingt die „Nachtschatten“-Reihe gelesen haben, denn bei „Grenzenlose Liebe“ handelt es sich um einen längeren Epilog, den man nur versteht, wenn man die Rahmenhandlung der Bücher und die Figuren kennt. Bitte lest „Grenzenlose Liebe“ daher erst ganz am Ende, wenn ihr bereits alle anderen Geschichten aus dem „Nachtschatten“-Universum kennt, ansonsten werdet ihr der Handlung nicht folgen können und spoilert euch ganz massiv, was das Ende der Geschichte betrifft.

Ich wünsche euch viel Vergnügen bei den letzten Abenteuern meiner Schutzengel und hoffe sehr, dass ihr mir auch bei zukünftigen Projekten die Treue haltet.

Juliane Seidel, März 2018

 

Blonder Engel

 

Ei äm stjupit

Es war mit Abstand das geschmackloseste Shirt, das Logan seit langem gesehen hatte. Daran konnten weder der wohlgeformte Busen, noch die leicht gelockten blonden Haare etwas ändern, die der jungen Frau über die Schultern fielen. Lediglich die scheinbar endlos langen Beine, die von hochhackigen Stiefeln betont wurden, ließen ihn den Spruch vergessen und die Frau genauer in Augenschein nehmen. Sie mochte kaum älter als zwanzig sein. Ihr schmales Gesicht wurde von riesigen blauen Augen dominiert, die sie mit schwarzem Kajal betont hatte. Die Lippen ihres leicht geöffneten Mundes glänzten feucht in der schwachen Beleuchtung der Diskothek und immer wieder fuhr sie sich mit der Zunge verführerisch darüber. Der enge Minirock verdiente den Begriff Gürtel und es glich einem Wunder, dass er während des Tanzes nicht gänzlich nach oben rutschte.

Logan war seit Monaten nicht mehr in dieser Diskothek gewesen, obwohl sie ein ideales Jagdgebiet darstellte. Sie lag abseits der Innenstadt im Gewerbegebiet. Nachts fuhr nur alle zwei Stunden ein kleiner Bus und es gab im Umkreis mehrerer Kilometer kein Wohngebiet. Der angrenzende Wald bot zusätzlichen Schutz und war perfekt um seine Opfer auszusaugen und anschließend verschwinden zu lassen. Nur im Sommer trieb sich in den Büschen am Waldrand das ein oder andere Pärchen herum, doch jetzt, wo es kühler wurde, gehörte die Abgeschiedenheit der Bäume wieder ihm und seiner Beute.

Sein Blick fiel wieder auf die Blondine. Logan hatte sie noch nie hier gesehen, doch das mochte nicht viel bedeuten. Wahrscheinlich hatte er sich zu lange in der Nachbarstadt herumgetrieben.

Er musste den Impuls unterdrücken mit der Zunge über seine Lippen und seine verlängerten Eckzähne zu fahren. Wie gerne würde er sie jetzt in einen wohlduftenden Hals versenken und das erfrischende Blut schmecken.

Das Gefühl beobachtet zu werden, riss ihn aus seinen Vorstellungen. Die junge Frau hatte ihn entdeckt. Er spürte ihre musternden Blicke. Logan liebte diesen Moment, in dem sich seine Opfer von ihm verführen ließen. Es war ein Kinderspiel sie in seinen Bann zu ziehen – ein Lächeln oder ein tiefer Blick genügte, um sich ihrer gänzlich sicher zu sein. Er lehnte sich lässig gegen die Bar, die er den ganzen Abend hindurch nicht verlassen hatte und starrte sie unverhohlen an. Schon bewegte sie sich durch die tanzenden Menschen direkt auf ihn zu. Geschickt wie eine Katze wich sie einem sich küssenden Pärchen aus, dann setzte sie sich unaufgefordert auf den freien Barhocker neben Logan.

„Hallo, ich bin Lily“, stellte sie sich vor. Ihre Augen glänzten leicht fiebrig. Sie wirkte angetrunken, was Logan nur recht war. Es würde kein Problem sein, sie für sich zu gewinnen.

„Logan“, erwiderte er einsilbig und wandte sich mit gespieltem Desinteresse ab. Aus dem Augenwinkel registrierte er zufrieden, wie die Frau die Lippen verzog. Sie schlug die Beine übereinander und stützte eine Hand auf den Tresen.

„Also Logan“, versuchte sie erneut ihr Glück. Ihre Stimme klang trotz der lauten Musik kindlich und unschuldig. Sie passte kaum zu ihrem erotischen Gesamtbild, wohl aber zum allgemein bekannten Klischee der Blondine. Logan grinste in sich hinein und sah dann auffordernd zu ihr. „Bist du ganz allein hier?“

„Ja, heute Abend schon.“

„Das trifft sich gut. Ich bin auch ganz alleine hier“, sagte sie. „Kannst du das glauben. Niemand wollte mich begleiten, dabei haben wir Freitagnacht. Wer will da schon daheim hocken und lernen.“ Ein entrüsteter Ausdruck legte sich bei diesen Worten auf ihr Gesicht.

Sein Blick fiel wieder auf ihr Shirt und er schüttelte leicht den Kopf. Im Grunde mochte Logan diesen Typ Frau nicht, doch sie waren leichte Beute. Sie wirkte so naiv, dass er nicht wusste, ob er sich glücklich schätzen oder bemitleiden sollte. „Das verstehe ich! Freitagnacht daheim, da kann man sich gleich einsargen lassen“, erwiderte Logan und versuchte sich ihrer Sprache anzupassen.

Sie nickte energisch. „Finde ich auch!“ Sie gluckste leise und schenkte ihm dann einen anzüglichen Blick. „Aber so können wir uns ungestört unterhalten.“

„Und kennenlernen“, stieg Logan auf ihre platte Annäherung ein. Mit einer eleganten Handbewegung strich er sich die schulterlangen schwarzen Locken aus dem Gesicht. Lily folgte jeder seiner Gesten. Logan wusste ob der Wirkung, die er auf das weibliche Geschlecht hatte und kostete jeden Abend die Vorzüge seines wohlgestalteten Körpers aus. Sein markantes Gesicht mit der langen, geraden Nase und die grauen Augen ließen jedes Frauenherz höher schlagen. Er konnte ihren Herzschlag hören, wenn er sich darauf konzentrierte. Wäre er selbst eine Frau gewesen, er hätte sich nicht abblitzen lassen. Und die ewige Jugend, die ihm sein Meister geschenkt hatte, würde diese Schönheit nie zerstören. Logan war einer der wenigen Vampire, die ihr Dasein vollkommen genossen. Er verstand nicht, wie einige seiner literarischen Verwandten solch selbstzerstörerische Gedanken hegen konnten.

„Du bist neu hier, oder?“, riss ihn Lily aus ihren Gedanken. Sie legte den Kopf leicht schräg. „Ich habe dich hier noch nie gesehen.“

Er schüttelte den Kopf. „Scheinbar haben wir uns immer verpasst. Wie schön, dass wir uns jetzt kennenlernen.“

Mit einem leichten Kopfnicken riss sie sich von seinen Augen los und bestellte sich beim Barkeeper einen Cocktail. „Du lädst mich auf den Drink ein, oder?“, fragte sie mit honigsüßer Stimme.

„Aber sicher“, erwiderte er. Du bezahlst später, fügte er in Gedanken hinzu und lächelte.

 

„Wohin gehen wir denn?“, fragte Lily und stolperte hinter Logan her. Seitdem sie die Disco verlassen hatten, waren ihre Anmut und ihre Eleganz verschwunden. Es schien fast so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und all ihre Fähigkeiten auf den hohen Absätzen zu laufen, wären deaktiviert. Ob das am Alkohol lag? Sie taumelte unkoordiniert neben ihm her und klammerte sie sich schließlich Halt suchend an seinen Arm.

„Ich will dich nur nach Hause bringen“, erklärte er genervt und hoffte, dass sie seinen Unmut nicht mitbekam. Er ärgerte sich zunehmend kein anderes Opfer auserkoren zu haben, doch es gab kein zurück mehr. Die Sonne würde in wenigen Stunden aufgehen und er brauchte dringend frisches Blut.

„Ich wohne aber nicht im Wald“, lallte sie und kicherte leise vor sich hin.

„Das ist eine Abkürzung. Mein Wagen parkt auf der anderen Seite“, gab er eine mehr als fadenscheinige Erklärung ab. Glücklicherweise war Lily nicht mehr in der Lage zu erkennen, wie unsinnig Logans Worte waren.

Endlich erreichten sie den Schutz der Bäume. Logan witterte kurz. Keine Menschenseele trieb sich im Unterholz herum.

Sein Blick heftete sich auf die junge Frau, die wie eine Klette an seinem Arm hing. Sie schwieg und stakste wie ein Storch neben ihm her. Sie war ziemlich betrunken, doch bei den vielen Drinks wunderte er sich nicht darüber. Wäre sie nur ein wenig zurückhaltender gewesen, würde er sie vielleicht sogar mögen. Rein optisch war Lily genau sein Typ – groß, schlank, wohlgeformt und mit wunderschönen Augen gesegnet. Seufzend schüttelte er den Kopf. Es wurde Zeit, dass er sich eine Gefährtin erschuf, aber Lily war definitiv nicht die Art Begleiterin, die er sich für die Ewigkeit vorstellte. Rasch zog er sie hinter sich her, tiefer in den Wald hinein.

Nach wenigen Minuten erreichten sie Logans bevorzugte Baumgruppe. Sie war weit genug von der Disko und den angrenzenden Straßen entfernt, um jeglichen Laut seiner Beute ungehört verklingen zu lassen. Logan lauschte, hob kurz den Blick gen Nachthimmel; dann sah er wieder zu seinem Opfer.

Lily lehnte mit geschlossenen Augen an dem feuchten Baumstamm und kuschelte sich tiefer in ihre Plüschjacke. Sie schien froh darüber zu sein, nicht mehr über die Wurzeln und durch das rutschige Moos stolpern zu müssen.

„Geht es dir gut?“, fragte er mit samtweicher Stimme. Es wurde Zeit den Drink von ihr zurückzufordern. Da ihm nicht der Sinn nach einer längeren Verfolgungsjagd stand, würde er noch einmal all seine Verführungskünste aufbringen müssen. Sie sollte sich ihm vollkommen freiwillig hingeben.

„Ich muss mich nur ein wenig ausruhen.“ Sie lächelte. „Vor meinen Augen dreht sich alles. Und diese Schuhe sind die Hölle!“ Ein leises Grummeln mischte sich in ihre Stimme, als sie zu den Stiefeln deutete und für einen Moment glaubte Logan einen genervten Gesichtsausdruck zu sehen. Doch sofort wandte sie ihr Gesicht ab und barg es in den Händen.

„Dass es dir schlecht geht, sehe ich.“ Er schlüpfte aus seinem Mantel und breitete ihn auf der kalten Erde aus. „Setz dich einen Moment.“

„Wie lieb von dir. Du bist ein wahrer Gentleman“, säuselte sie und schenkte ihm einen dankbaren Blick. Ihre Augen funkelten und für einen Moment kroch Logan ein Schauer über den Rücken. Er hatte das Gefühl beobachtet zu werden. Noch bevor er diesen Gedankengang weiter verfolgen konnte, zog sie ihn zu sich hinab. „Aber jetzt muss dir doch kalt sein, so ohne Mantel. Komm ich wärme dich.“

Sie umfing ihn mit ihren Armen und zog Logan neben sich auf die Knie. Fest schmiegte sie sich an ihn und er spürte ihren festen Busen und ihr rasendes Herz. Warmer Atem kribbelte auf seiner Haut, als sie ihm einen Kuss auf den Hals hauchte. Ein wenig verärgert schob Logan sie ein wenig zurück. Er war der Verführer, nicht umgekehrt! Gekonnt strich er unter ihre kurze Jacke und tastete über ihren Rücken. Mit federleichten Berührungen wanderte er zu ihrem Hals hinauf und fuhr durch die feinen Härchen ihres Nackens. Sie stellten sich ein wenig auf und zufrieden registrierte er, wie Lily unter seinen Berührungen erschauderte. Mit geschlossenen Augen genoss sie die Zärtlichkeiten, reckte sich zu ihm und küsste ihn. Logan erwiderte den Kuss bereitwillig, doch noch bevor sie ihn vertiefen konnte, löste er sich und strich mit seinen Lippen über Lilys hitzige Wange. Während er sich über sie schob und ihre Schultern mit beiden Händen fest umklammerte, fuhr seine Zunge ihr Kinn nach und tastete sich zu ihrem Hals hinab. Zielsicher suchte er ihren Puls, leckte über die Haut und sog tief ihren erregenden Duft ein, der sich mit ihrem fruchtigen Parfüm vermischte.

Gleich würde er ihr süßes Blut kosten dürfen - ein bekanntes Glücksgefühl stieg in ihm auf. Für Logan war dieser Moment, direkt vor dem Biss, ekstatischer und erfüllender als das eigentliche Bluttrinken. Im Normalfall kostete er ihn voll und ganz aus, doch eine warnende Stimme schlich sich in sein Bewusstsein und ließ ihn zögern. Seine Zähne kratzten bereits über ihre Haut, als ein Rascheln ganz in ihrer Nähe ihn ablenkte. Jemand war hier, schoss es ihm durch den Kopf.

Im nächsten Moment stieß sie ihn von sich und kam auf die Beine. Woher sie die plötzliche Kraft nahm, war Logan ein Rätsel. Bevor er sie festhalten konnte, lief Lily davon. Mit ihrer ursprünglichen Eleganz, sprang sie über einen umgefallenen Baum und jagte wie von Furien gehetzt tiefer in den Wald hinein. Im ersten Moment war Logan zu überrascht, um etwas zu tun, dann schnellte er hoch. Fluchend nahm er die Verfolgung auf. Dieses Rascheln musste Lily erschreckt haben und nun drohte ihm seine Beute zu entkommen. Glücklicherweise lief sie nicht Richtung Diskothek zurück, was ihre Rettung gewesen wäre.

Wie ein Pfeil schoss er durch das Unterholz. Er berührte kaum den Boden, ließ gefährliche Wurzeln, rutschige Grasteppiche und aufgeweichten Schlamm hinter sich. Mit unheimlicher Schnelligkeit holte er auf und war froh nicht nur ein unwiderstehlicher Verführer, sondern auch ein lautloser Jäger zu sein. Wie ein dunkles Raubtier näherte er sich Lily und bekam sie schließlich am Unterarm zu fassen. Grob riss er sie herum und brachte sie zu Fall. Holz splitterte, als er sie ungewollt heftig gegen einen Baumstamm drückte. Lily keuchte schmerzerfüllt und Tränen schossen aus ihren Augen. Der Kajal verschwamm und schwarze Bahnen zeichneten sich in ihrem schweißnassen Gesicht ab. Ihre blauen Augen waren schreckgeweitet und ihr Mund klaffte ein wenig auseinander. Schwer atmend starrte sie Logan an.

„Soviel Angst, meine Hübsche?“, spottete Logan und versuchte seine Fassung und sein sicheres Auftreten zurück zu erlangen. „Hättest du dich gehen gelassen, es einfach zugelassen, wäre es für dich viel angenehmer gewesen.“

Lily erwiderte seine Worte mit einem Zittern. Ängstlich presste sie sich gegen die feuchte Rinde. Logan ersparte es sich ihre Hände festzuhalten. Lily würde sich weder wehren, noch einen weiteren Fluchtversuch starten, da war er sich sicher. Er konnte ihr ansehen, dass sie unter Schock stand.

„Es wird Zeit das zu beenden“, fügte Logan hinzu und neigte sich zu ihrem Hals. Sie atmete heftig und ihr Herz schlug so schnell, dass er ihren rasenden Puls mit bloßem Auge erkennen konnte.

Doch noch bevor er seine Zähne in ihr zartes Fleisch versenken konnte, schoss eine Hand hervor und umklammerte seinen Hals. Erschrocken wollte er herumfahren, den unsichtbaren Feind angreifen, da registrierte er, dass es Lilys Hand war, die sich in seine Kehle krallte. Ihre langen Fingernägel gruben sich in seinen Hals und obwohl Logan keine Luft benötigte, keuchte er erschrocken auf.

„Du hast Recht“, fauchte Lily, doch ihre Stimme klang anders, als würde sie sich mit der eines Mannes überdecken. „Es wird wirklich Zeit das zu beenden!“ Sie hob Logan in die Luft, als sei er leichter als eine Feder. Mit einem Fauchen sah er zu der jungen Frau und erstarrte. Ihre Augen hatten sich vollkommen verändert. Ein abgeklärtes, altes Wissen lag in ihnen. Lilys Lippen hatten sich zu einem hämischen Lächeln verzogen und auf Logan wirkte sie mit einem Schlag fast wie ein Mann, was bei diesem Körper absolut unmöglich war.

Panik keimte in ihm auf und er krallte beide Hände in ihre Oberarme. Obwohl er seine Klauen in ihre Haut schlug, hielt sie ihn weiterhin fest. War sie ebenfalls ein Geschöpf der Nacht? Logan überprüfte augenblicklich seinen Verdacht. Doch obwohl ihre Kräfte die einer gewöhnlichen Frau bei weitem überstiegen, war sie nicht mehr als ein Mensch. Er schüttelte seine Verwunderung ab, als sie ihren Griff verstärkte. Egal was sie war, wenn er nicht sterben wollte, musste er sich befreien und kämpfen. Oder fliehen, wie ihm seine innere Stimme zuraunte.

Er bäumte sich auf und schlug mit seinen Klauen nach ihrem Gesicht. Er verfehlte sie zwar, doch von einem Moment zum anderen war er frei. Mit einem tollkühnen Sprung brachte er sich in Sicherheit, zögerte jedoch zu fliehen. Für einen Moment stritt sich sein Überlebenswille mit seinem Ego und schließlich siegte sein Stolz. Ein Vampir floh nicht vor einem Menschen, schon gar nicht vor einer Frau, die ein solch geschmackloses Shirt trug. Ein Grollen schlich sich aus seiner Kehle. Sein Blick irrte umher, doch um sie herum war nichts als Dunkelheit und Stille. Sie waren tief in den Wald eingedrungen, tief genug, als das selbst ein Kampf unbemerkt bleiben würde. Mit einem gewaltigen Sprung stürzte er sich auf sie. Flink wie ein Wiesel wich Lily aus und war bereits mehrere Meter entfernt, als seine Klauen in den Stamm des Baumes schlugen. Noch mehr Holz splitterte, Späne regneten auf ihn herab und vier Risse verunzierten die dunkle Rinde. Er fuhr herum und fletschte die Zähne. Er wusste wie erschreckend und angsteinflößend seine verlängerten Eckzähne waren, doch Lily schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Ihr Blick verfinsterte sich lediglich, dann griff sie an.

Trotz seiner Überraschung war es leicht ihrem beherzten Angriff auszuweichen. Ihr erster Schlag verfehlte Logan, ihren zweiten konnte er mühelos abwehren. Dann blieb sie plötzlich mit ihren Absätzen zwischen zwei Wurzeln hängen und taumelte. Das war seine Chance! Während sie um ihr Gleichgewicht kämpfte, schlug er erneut nach ihr und erwischte sie an der linken Schulter. Die Wucht seines Schlages trieb sie zurück. Mit schmerzverzerrtem Gesicht knallte sie gegen einen Baum, hielt sich aber auf den Beinen.

„Was machst du denn?“, schrie sie auf und presste ihre Hand auf die Wunde. Ihre zerfetzte Jacke tränkte sich im Nu mit Blut. Brüllender Hunger erwachte in Logan.

„Dich töten!“, erwiderte er und leckte sich über die Lippen. Sein Hunger siegte über seine innere Stimme. Beim nächsten Angriff würde er ihr die Kehle herausreißen! Egal was sie war – er würde als Sieger hervorgehen.

Sie funkelte ihn zornig an und startete eine weitere Attacke. Logan fixierte ihren schlanken Körper. Er würde sein Opfer keine Sekunde mehr aus den Augen lassen.

Dann geschah das Unfassbare: Lily verschwand. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie für ihn nicht mehr zu sehen, dann tauchte sie neben Logan wieder auf. Er war viel zu überrascht, um ihren Tritt rechtzeitig abzuwehren. Unerwartet heftig bohrte sich ihr Absatz in seine Seite. Zischend verlor er das Gleichgewicht. Hart stürzte er zu Boden.

Das war doch unmöglich! Wie konnte eine Frau so schnell und dazu noch so kräftig sein? Er war Vampir!

Im nächsten Moment hockte sie mit gespreizten Beinen auf seiner Brust. Logan ballte die Hände zu Fäusten, doch noch bevor er nach ihr schlagen konnte, ergriff sie seine Klauen. Ein böses Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, das erneut markanter und männlicher wirkte. Seine innere Stimme schrie in Panik auf und der brennende Durst machte blanker Todesangst Platz. Logan wurde mit einem Schlag bewusst, dass er diesem Wesen nicht gewachsen war, sie ihn sogar töten konnte.

Ihre zierlichen Finger umfassten Logans Hände und ohne jegliche sichtbare Kraftanstrengung brach sie ihm die Finger. Der Schmerz, der durch Logans Körper schoss, ließ ihn sich aufbäumen. Er schrie und wand sich unter ihr, doch er konnte Lily nicht abschütteln. Mit unglaublicher Kraft drückte sie seine Schultern zu Boden.

Das Blatt hatte sich gewendet.

Logan fühlte sich auf einmal wie die Beute, nicht wie der Jäger. Er fauchte laut und schnappte in einem Anflug aus Angst und Panik nach ihrem Unterarm. Doch sie war schneller als er und brachte ihn vor seinen scharfen Zähnen in Sicherheit. Dann traf ihn ihre Faust mitten ins Gesicht. Logan spürte wie seine Nase brach. Blut lief ihm über die Wangen und tropfte zu Boden. Er hatte keine Chance, dabei war es nicht einmal zu einem richtigen Kampf gekommen.

„Wer bist du?“, brachte er unter Schmerzen hervor.

„Dein schlimmster Alptraum, mein Freund“, erwiderte eine unerwartet tiefe Stimme. Logan blinzelte überrascht und starrte in ihr Gesicht. Für einen Moment glaubte er hinter der Frau eine helle Lichtgestalt zu sehen, die jedoch sofort wieder verschwunden war. Stattdessen ging von Lily ein seltsames Leuchten aus.

In Todesangst biss er sich auf die Lippen und versuchte sich erneut unter ihr hervor zu winden. „Töte mich nicht.“

Lily blieb ihm eine Antwort schuldig. Das nächste, was Logan spürte, war ein scharfer Schmerz in seiner Brust, als durchstoße jemand Haut und Rippen und zerre sein Herz heraus. Dann wurde alles dunkel und der letzte wache Gedanke, der seinen Geist durchzuckte, war, dass genau das geschehen war. Lily hatte ihm das Herz herausgerissen …

 

„Musst du immer eine solche Show abziehen? ‚Dein schlimmster Alptraum’? Was für ein flacher Satz war das denn?“ Lily erhob sich von dem Leichnam, der bereits zu altern begann. Die eben noch makellose Haut schlug Falten und färbte sich grau. Langsam fielen die Wangen in sich zusammen, während Arme und Beine dürrer und unansehnlicher wurden und Altersflecken seine dünnen Hände bedeckten. Das blutige Herz in ihrer Hand zerbröselte wie ein trockener Klumpen Lehm. Der Vampir verwandelte sich in einen Haufen Asche, den der Wind allmählich hinfort trug. „Und wieso muss das immer so blutig enden?“

Anders lässt sich ein Vampir nun mal nicht töten. Hm… älter als sechzig war der nicht. Dabei dachte ich, wir haben endlich mal ein mächtigeres Exemplar erwischt.

„Mir ist es egal, wie alt er war.“ Sie wandte sich verärgert ab und tastete über ihre Schulter. „Und überhaupt – musste das sein? Hättest du nicht ausweichen können?“

Dein Schuhwerk hat sich in einer der Wurzeln verkantet.

„Als wäre dieser Aufzug meine Idee gewesen!“, rief sie entrüstet und sah zu den Überresten des Vampirs zurück. Neben diesen hockte eine leuchtende Gestalt mit langen, glatten Haaren und studierte die Asche mit wissenschaftlicher Neugier. Seine Flügel waren dicht an den Körper gezogen und durchsichtig genug, um seine schlanke Statur erkennen zu können. Schließlich wandte er sein hübsches Gesicht zu ihr und lächelte breit.

Aber es hat geklappt. Wer würde schon einer typischen Blondine zutrauen, dass sie es mit einem Vampir aufnehmen kann?

Lily schnaubte und hätte am liebsten gegen den Baum getreten. Stattdessen zog sie ein zerknittertes Tuch aus ihrer Jackentasche und wischte sich das Blut von den Fingern. „Dennoch wünschte ich, du würdest ein wenig besser auf meinen Körper achtgeben, wenn du ihn schon für die Kämpfe gegen die Nachtschatten benutzt!“

Das war notwendig. Ich hab gespürt, dass er kurz davor stand die Flucht zu ergreifen und dann wäre er uns womöglich entkommen. Er brauchte einen Anreiz, in Form des Blutgeruches, um hierzubleiben.

„Na vielen Dank. Das nächste Mal erledigst du ihn gleich, bevor das passieren kann!“

Ach komm schon Lily – wir haben einen Vampir getötet, der im Übrigen ein äußerst arroganter und überheblicher Zeitgenosse war. Deine Verkleidung, insbesondere dieses Shirt, hat wunderbar funktioniert und ich habe meine Arbeit als dein Schutzengel mal wieder ausgezeichnet erfüllt. Bis auf den kleinen Kratzer ist ja alles in Ordnung.

Lily biss sich auf die Lippen und schluckte eine giftige Antwort hinunter. Logan war nicht der einzige überhebliche Zeitgenosse heute Abend; ihr Schutzengel stand dem Vampir in nichts nach. Kopfschüttelnd richtete sie ihre Kleidung, überprüfte ihre Kratzer, die glücklicherweise aufgehört hatten zu bluten und machte sich auf den Rückweg zur Diskothek. Mit etwas Glück würde sie den ersten Bus Richtung Innenstadt erwischen. Je schneller sie dieses grässliche Shirt loswurde, umso besser.

Neue Wege

 

‚Was für eine Farce!‘ Noch bevor Zane sein endgültiges Urteil aussprach, wusste Hannah, dass der Beta des Rudels zugunsten ihres Bruders Till entscheiden würde.

Was hast du erwartet? Dass hier wirklich der Bessere gewinnt?, fragte ihr Schutzengel Charon und legte seine breiten Hände auf ihre Schultern.

Hannah schüttelte den Kopf. Im Grunde stand der Nachfolger schon fest, als ihr Vater vor vier Wochen gestorben war. Zane hatte schon immer eine Schwäche für Till gehabt, während er sie zumeist herablassend behandelte. ‚Er hätte uns dieses Theater ersparen und mich einfach des Rudels verweisen können‘, dachte sie verbittert. ‚Oder meine Verfehlung öffentlich …‘

Dann hätte er ebenfalls das Gesicht verloren. Du bist schließlich nicht allein dafür verantwortlich, sondern auch … Charon unterbrach sich sofort. Wahrscheinlich hatte er den Stich in ihrer Brust mitbekommen, den seine Bemerkung hervorgerufen hatte. Er neigte sich zu ihr und flüsterte ihr zu: Außerdem hätte er gegen den letzten Willen deines Vaters gehandelt und so viel Ehre hat Zane dann doch im Leib, um den Wunsch seines alten Alphas zu achten. 

Hannah biss sich auf die Unterlippe, als sie an den Tod ihres Vaters dachte. Sie hasste die elende Krankheit, die ihn so früh aus dem Leben gerissen hatte - Speiseröhrenkrebs. Was für ein unwürdiges Ende für solch einen mächtigen Werwolf, doch sie waren nicht unsterblich und resistent gegen solche Krankheiten. Wenigstens war es ihm vergönnt gewesen, zu Hause im Kreis seiner Familie und Freunde einzuschlafen, anstatt in einem Krankenhaus dahin zu siechen. Auf dem Sterbebett hatte er verfügt, dass das Stärkste seiner Kinder seine Nachfolge antreten sollte, infolgedessen Zane ihnen diese idiotischen Prüfungen auferlegt hatte.

Sie schielte zu Till, der nervös vor dem steinernen Findling stand. Ihr Bruder war in vielen Dingen vollkommen ahnungslos, fast schon naiv. Das war kein schlechter Charakterzug an ihm, im Gegenteil – es machte ihn sympathisch. Normalerweise teilten sie alles, vertrauten einander blind, doch ihre Probleme mit Zane waren zu heikel, die Hintergründe zu intim, als dass sie sich Till hätte offenbaren können – Zwilling hin oder her.

Nun war es zu spät, ihm von dem unseligen Morgen vor sechs Wochen zu erzählen, an dem Zane ohne zu klopfen in ihr Zimmer gestolpert war. Selbst jetzt sah sie das Gesicht des Wolfes vor sich: Die Überraschung, die sich erst in Schreck dann in atemlosen Zorn gewandelt hatte. Sie waren zu unvorsichtig gewesen …

Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, sagte Charon, der ihren Gedankengängen folgte. Er hätte niemals eine Frau als Alpha der Werwölfe akzeptiert, selbst wenn er euch nicht erwischt hätte. Zane ist ein Traditionalist. Für ihn haben Männer ein Rudel anzuführen. 

Hannah musste ihm leider zustimmen. Zane hielt an den alten Riten und Gebräuchen fest, ebenso ein Großteil der älteren Rudelmitglieder. Deswegen musste der Verlierer der Prüfungen das Rudel bis zum Morgengrauen verlassen.

„Ich hasse ihn“, nuschelte Till und umfasste ihre Hand. Ein Knurren entrang sich seiner Kehle, das er mit einem leisen Hüsteln tarnte. „Jeder weiß, wie er entscheidet und dennoch hat er uns durch diese unsinnigen Prüfungen gehetzt. Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Dieses alte Gesetz kann ich aufheben, wenn ich der Anführer bin. Du musst uns nicht verlassen …“

„Still!“, zischte Hannah ihm zu und schüttelte seine Finger ab. Die Tatsache, dass Till den alten Werwolf ebenso verabscheute wie sie, machte es nicht besser. Hätte er nicht arrogant und hinterhältig sein können? Höhnende Worte hätten es ihr einfacher gemacht ihren Zwillingsbruder zu hassen und dem Rudel den Rücken zuzukehren. Stattdessen schmerzte allein der Gedanke, Till zu verlassen. An Nuana wollte sie gar nicht erst denken. Die Trennung von ihr würde Hannah ein Loch in die Seele brennen. Sie schüttelte den schmerzhaften Gedanken ab.

„Hört das Urteil des Mondes, meine Brüder und Schwestern. Vor einem Monat ist unser Anführer von uns gegangen. Seine Kinder stellten in verschiedenen Prüfungen ihre Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit unter Beweis. Die silberne Göttin hat Tills und Hannahs Mut geprüft und mir ihre Entscheidung offenbart. Es ist an der Zeit, den Namen unseres neuen Leitwolfs zu verkünden.“ Zane machte eine gewichtige Pause und genoss die gespannte Stille, die sich unter den zwei Dutzend Werwölfen ausgebreitet hatte. Wie ein Befehlshaber stand er auf dem mannshohen Findling, der das Zentrum der grasbewachsenen Lichtung einnahm und seit jeher als Versammlungsplatz ihres Rudels fungierte. Seine eindrucksvolle Gestalt hob sich vom blassblauen Mond ab. Trotz seines hohen Alters konnte er es körperlich mit den meisten Werwölfen des Rudels aufnehmen. Zwar mangelte es ihm inzwischen an Ausdauer, doch seine Kraft und sein Biss waren nicht zu unterschätzen. Erst gestern hatte er einem Reh binnen weniger Herzschläge das Genick gebrochen. Damit hatte er entscheidend zu Hannahs Misserfolg bei der letzten Prüfung beigetragen, denn das Tier wäre ihre Beute gewesen.

Ich kann seine selbstgefällige Art nicht ausstehen … Charon wandte sich mit einem Kopfschütteln ab und gesellte sich zu Tills Schutzengel. Sie konnte Layla zwar nicht sehen, doch sie wusste dank Charon, dass sie unterschiedlich wie Tag und Nacht waren – während ihr Begleiter hünenhaft, stark und wild war, wirkte Tills Schutzengel zierlich und scheu. Sie hatte riesige Augen und ein offenes, fröhliches Gemüt, Charon war wesentlich introvertierter und rauer. Wenn Hannah es nicht besser gewusst hätte, so würde sie in Till und Layla keinen adäquaten Gegner sehen. Doch sobald sich ihr Bruder mit seinem Schutzengel verband waren sie gefährlich – die Wolfsform ihres Bruders war beeindruckend, kraftvoll und wunderschön. Der geborene Führer, ganz gleich wie er selbst darüber dachte.

‚Es gefällt ihm an der Spitze zu stehen. Hoffentlich wählt Till schnell einen neuen Beta, damit Zane nicht noch mehr Gift verbreiten kann.‘

Till hat sich schon entschieden, Hannah. Er will dich an seiner Seite haben.

‚Du weißt so gut wie ich, dass das nicht geht. Ich werde das Rudel verlassen, sobald Zane endlich fertig wird.‘ Hannah ließ den Blick über die vertrauten Gesichter der Werwölfe schweifen: ihre Tante Luna, die für Till und sie die Rolle der Mutter eingenommen hatte, nachdem diese an den Folgen der schweren Zwillingsgeburt starb; Nick, Annabelle und all ihre Freunde, mit denen sie die erste erfolgreiche Jagd absolviert hatte. Es würde schmerzhaft werden, sie zurückzulassen.

Ein Kloß setzte sich in ihrem Magen fest, als sie zu Nuana sah, die etwas abseits stand. Die elegante Wölfin lauschte der Verkündung. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Verachtung und Zorn schimmerten in den Augen. Es war offensichtlich, dass ihr Zanes Monolog, in dem er die einzelnen Prüfungen bewertete, missfiel. Wie gerne würde sich Hannah zu ihr gesellen, doch die Situation verbot es ihr, sich von Tills Seite zu lösen.

Endlich beendete Zane die Zusammenfassung ihrer Prüfungen und verkündete mit tiefer Stimme den neuen Anführer: „Die Wahl der silbernen Göttin fiel auf Till. Fortan wird er sich um das Rudel kümmern und unsere Geschicke lenken.“ Zane sprang von dem Findling hinunter, sank vor Till in die Knie und neigte sein Haupt. „Du bist unsere Zukunft.“

Ein Zittern lief durch Tills Körper. Er ballte die Fäuste und murmelte: „Was wird aus Hannah?“

„Den Traditionen entsprechend wird sie unser Rudel verlassen und nie mehr zurückkehren, denn in einem Rudel darf es keine zwei potentiellen Anführer geben.“ Zanes eisiger Blick traf sie. „Du hast bis zum Morgengrauen, um dich von deinen Freunden zu verabschieden, Hannah.“

„Aber …“ Noch bevor Till seinen Protest aussprechen konnte, schien sich Zanes Schutzengel mit dem alten Betawolf zu verbinden. Beinah unmerklich wandelte sich sein Körper: er wurde kleiner, während sich seine Gliedmaßen verlängerten und die Knochen knackend ihren Wuchs veränderten. Fell spross auf seinen nackten Oberarmen, seinem Rücken und den Beinen. Sein Gesicht verzog sich zu einer grässlichen Fratze. Die Wandlung dauerte nur wenige Sekunden, doch wie bei jedem Werwolf war sie nicht sonderlich schön anzusehen. Hannah wusste selbst, dass der Prozess bei jedem Werwolf schmerzfrei war, aber in diesem Moment hätte sie Zane Höllenqualen gewünscht.

Mit einem leisen Knurren befreite sich Zane von den Resten seiner Kleidung, legte den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Heulen aus. Mehrstimmig schlossen sich die gewandelten Wölfe an.

„Ich will das nicht …“, hauchte Till und wich unsicher einen Schritt zurück. Im nächsten Moment straffte er die Schultern. „Ich werde dich nicht fortschicken, Hannah. Mein Wunsch als neuer Alpha ist, dass du …“ Zanes Knurren ließ ihn verstummen. Mit gesträubtem Nackenfell und gelb glühenden Augen beobachtete er Hannah. Eine stumme Aufforderung lag in seinem Blick.

‚Ach Till …‘, lag es Hannah auf der Zunge, doch sie schluckte die Worte hinunter. Sie schmeckten bitter.

Du musst nicht gehen, Hannah. Warum willst du einer Tradition folgen, von der du nichts hältst? Till will, dass du bleibst. Er ist der neue Anführer, er trifft die Entscheidungen. Zane kann dich nicht fortschicken, wenn Till dagegen ist, setzte Charon erneut an, sie von ihrem Entschluss abzubringen. Dabei wusste er, dass sie keinen Zentimeter von ihrer Entscheidung abweichen würde.

‚Ich kann Till unmöglich in Schwierigkeiten bringen, kaum dass er das Rudel übernommen hat. Die meisten Wölfe folgen den alten Riten. Till hat keine Chance, wenn er jetzt mit den Traditionen bricht.‘

Das ist Blödsinn. Ihr beide könnt die Zweifler überzeugen und etwas Neues aufbauen. Er wartet nur auf einen entsprechenden Wink von dir. Charon nickte in Tills Richtung, der ihr einen flehenden Blick zuwarf. Seine Lippen formten stumme Worte. Vertrau mir. Außerdem wirst du Nuana so nicht in Zugzwang bringen, wenn du … 

Hannah schüttelte energisch den Kopf. ‚Lass sie aus dem Spiel, Charon. Jetzt geht es darum, dass Beste für Till zu entscheiden. Du weißt so gut wie ich, dass er momentan noch zu schwach ist, um sich Zane und den alten Werwölfen entgegen zu stellen.‘

Dann ist er ein schlechter Anführer!, knurrte Charon.

‚Er wird hineinwachsen.‘ Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. ‚Außerdem glaube ich an Nuana und ihre Gefühle für mich.‘

Ich hoffe, du irrst dich nicht.

‚Warum?‘

In diesem Moment griff Till nach ihren Händen und unterbrach das mentale Gespräch. Mit einem Ruck zog er sie in eine feste Umarmung. „Ich stehe hinter dir, wenn du bleiben willst. Es kommt mir falsch vor, wenn ich dich gehen lasse“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Gemeinsam könnten wir es schaffen, ganz gleich was Zane sagt.“

„Ich wünschte, du hättest recht …“, erwiderte Hannah und atmete den erdigen Geruch ihres Zwillingsbruders ein. Sie zögerte einen Moment, dann entschloss sie sich Till alles zu sagen, was zwischen ihr und dem alten Betawolf vorgefallen war. Dies war ihre letzte Chance, Till mit der Wahrheit zu konfrontierten, ihm den Grund zu nennen, weswegen Zane sie verabscheute. Mit einem unsicheren Lächeln drängte sie ihn fort von dem Rudel, das heulend ihren neuen Anführer feierte. Als sie genügend Abstand zwischen sich und Zane gebracht hatten, murmelte Hannah: „Er kennt mein Geheimnis und hasst mich dafür.“

„Wovon redest du?“

Hannah blieb stehen und umklammerte seine Hand. Sie atmete tief durch, um sich zu sammeln. „Nuana und ich … nein, sieh nicht zu ihr!“ Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sich ihr Bruder zu der Wölfin drehen wollte, die in ihrer Tierform ihrem Vater so verflucht ähnlich war – derselbe schlanke Körperbau, dieselben gelben Augen und das gleiche dunkelgraue Fell. Der einzige Unterschied waren ihre hellen Ohren. Zanes waren fast schwarz.

Unwillkürlich warf sie einen Blick in Zanes Richtung. Der Wolf bleckte knurrend die Zähne, dann wandte er sich ab und gesellte sich zu seiner Tochter.

„Was ist zwischen euch vorgefallen, Hannah?“, fragte Till besorgt. „Sein Hass ist so offensichtlich … Ich verstehe das nicht.“

Wortlos zog sie ihren Bruder weiter vom Versammlungsort fort. Es war ihr egal, dass sie damit das traditionelle Ritual empfindlich störte, doch sie wollte ihm erzählen, was sie seit sechs Wochen bedrückte – ohne neugierige Zuhörer.

Hannah stoppte erst, als sie die Baumgrenze des nahen Waldes erreichten. Niemand folgte ihnen – scheinbar gingen sie davon aus, dass Hannah sich in Ruhe von ihrem Bruder verabschieden wollte.

„Hannah?“ Till warf einen irritierten Blick zu seinem Rudel zurück. „Du wirst dich doch jetzt nicht verabschieden, oder? Was ist mit den anderen? Sollten sie nicht …“

„Hör mir zu, Till“, unterbrach Hannah ihn. „Es gibt etwas, was du wissen solltest, bevor ich gehe. Ich habe seit drei Monaten einen Partner, den ich über alles liebe.“ Mühsam schluckte sie den Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle bildete.

Feigling. Du solltest dich nicht hinter solch absichtlich neutralen Bezeichnungen verstecken, tadelte Charon sie. Sei offen und ehrlich. 

„Einen Partner?“, fragte Till verdutzt. Es dauerte eine Weile, bis ihm das Ausmaß ihrer Worte bewusst wurde. Ein breites Lächeln erhellte sein Gesicht. „Aber das ist doch wunderbar! Wieso hast du mir das so lange verschwiegen? Und wieso willst du uns verlassen, wenn …“

„Weil es sich um Nuana handelt“, platzte es aus Hannah heraus. Verlegen senkte sie den Blick auf den überwucherten Waldboden und beobachtete eine Maus, die zwischen den Wurzeln entlanghuschte.

„Das ist … nicht dein Ernst.“

„Wir sind uns in den letzten Sommermonaten nähergekommen und ich habe mich in sie verliebt.“ Mit geröteten Wangen brach sie ab und ballte die Fäuste. „Sie wollte es nicht gleich an die große Glocke hängen, aber Zane hat uns erwischt, als er Vater besucht hat. Seitdem hasst er mich. In seinen Augen habe ich seine Tochter verführt und entweiht.“

Till taumelte gegen einen Baum. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich das Haar aus dem Gesicht. „Deswegen hasst er dich so und setzt alles daran, dich aus dem Rudel zu werfen. Diese Prüfungen waren nichts als …“

„… eine Farce“, beendete Hannah den Satz.

Ein freudloses Lachen entrang sich Tills Kehle. „Jetzt verstehe ich auch, warum er versucht, mir Nuana als Beta und Frau schmackhaft zu machen.“

„Er hat was?“

„Vor der letzten Prüfung hat er mir ihre Hand angeboten. Sie sei die perfekte Partnerin für mich, da sie mich auch bei der Führung des Rudels unterstützen könnte.“ Ein trauriges Lachen ertönte. „Logisch … auf diese Rolle hat er sie schließlich akribisch vorbereitet.“

Hannah knirschte mit den Zähnen. Heiße Wut toste durch ihren Körper. Nur mühsam konnte sie sich davon abhalten, den alten Wolf zum Duell zu fordern. „Dieser Mistkerl! Und Nuana weiß wahrscheinlich nicht einmal etwas davon.“

Till hob die Schultern. „Das kann ich nicht sagen. Ich hatte noch keine Gelegenheit mit ihr zu sprechen.“ Er stieß ein Seufzen aus. „Bei den Göttern, du hast dich in eine Frau verliebt und ich hab es nicht einmal mitbekommen.“

„Ich bin lesbisch, na und? Schockiert dich das so sehr?“, fragte Hannah brüsk.

Till schüttelte den Kopf. „Eher erschreckt es mich, dass ich nicht bemerkt habe, dass du einen Partner hast – ob Mann oder Frau ist doch egal. Wie weit haben wir uns nur auseinander gelebt, dass du denkst, ich hätte Vorurteile …“

„Ich weiß es nicht.“ Plötzlich hatte Hannah ein schlechtes Gewissen, weil sie ihrem Bruder so lange alles verschwiegen hatte. „Es tut mir Leid, Till.“

„Entschuldigst du dich gerade, weil du lesbisch bist?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739441771
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Urban Jäger Fantasy Sidhe Schutzengel Engel Werwesen Liebe Vampire Magier Romance Liebesroman

Autor

  • Juliane Seidel (Autor:in)

Juliane Seidel wurde 1983 in Suhl/Thüringen geboren und lebt seit mehreren Jahren in Wiesbaden. Neben ihrer Arbeit als Teamassistentin steckt sie viel Zeit und Herzblut in verschiedene queere Projekte und schreibt seit knapp zehn Jahren fantastische Kinder- und Jugendbücher. Unterdessen hat sie, neben den ersten Bänden der Kinderbuchreihe „Assjah“ und der im Selfpublishing erschienenen Urban Fantasy-Reihe “Nachtschatten”, auch erste Veröffentlichungen im queeren Bereich vorzuweisen.
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Titel: Nachtschatten - Kurzgeschichten