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Nachtschatten - Unantastbar

von Juliane Seidel (Autor:in)
294 Seiten
Reihe: Nachtschatten, Band 1

Zusammenfassung

Menschen, Vampire und Werwesen haben etwas gemeinsam: Sie alle besitzen einen Schutzengel. Lily - eine der wenigen Auserwählten, die den ihren sehen kann - wird zu einer Jägerin ausgebildet, um gewöhnliche Menschen vor übernatürlichen Wesen zu schützen. Als sie sich in Silas verliebt, der Mitglied einer geheimnisvollen Magiergilde ist, hat plötzlich jeder Geheimnisse vor ihr: Der hohe Rat, ihre Lehrmeisterin, Silas, sogar ihr eigener Schutzengel Adrian. Die seltsamen Vorfälle, die sich um sie herum ereignen, lassen sie und Silas schließlich auf ein Komplott aus Intrigen stoßen, das seinen Ursprung in Lilys Vergangenheit hat. Der erste Band der Urban Fantasy Trilogie "Nachtschatten". Nachtschatten-Reihe Band 1: Unantastbar Band 2: Ungebrochen Band 2.5: Fuchsgeister (Spin-Off) Band 3: Unbezwingbar Band 4: Kurzgeschichten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1 - Vampirjagd 

 

„Was für ein Auflauf!“, murmelte Lily und zwängte sich an einem knutschenden Pärchen vorbei, das im Gang vor den Damentoiletten stand. Der Junge schob gerade seine Hand unter das hautenge Oberteil seiner Freundin, als wären sie in einem der nahegelegenen Hotels. Mit einem Seufzen schloss sie die Tür hinter sich und sperrte das fummelnde Paar, einen Teil der Musik und die schwere, stickige Luft aus, die wie eine Glocke über der Tanzfläche schwebte. Stattdessen stieg ihr unangenehm süßer Parfumduft in die Nase, gepaart mit Schweiß und Haarspray. Lily schluckte den ersten Anflug von Ekel hinunter, atmete so flach, wie es ihr möglich war, und durchquerte den Raum. Ein halbes Dutzend Mädchen drängelte sich um die großen Spiegel. Sie kontrollierten ihr Make-Up und diskutierten kichernd über Jungs.

Als die kleine Kabinentür hinter ihr ins Schloss fiel, atmete sie auf und lehnte sich gegen die Trennwand. Es war zwar Freitagabend und die Sommerferien hatten gerade erst begonnen, doch jeder Jugendliche schien sein Zeugnis in der größten Wiesbadener Diskothek zu feiern. Wenigstens hatte der Türsteher beide Augen zugedrückt und sie eingelassen, obwohl sie erst in ein paar Stunden volljährig wurde. Zum Glück war sie den Mädels ihrer Clique nicht über den Weg gelaufen; es stand Wichtigeres auf dem Programm als Tanzen und Party. Sie musste Logan finden, ihn in das nahe Waldstück locken und dort ihren Auftrag erfüllen.

Leichter gesagt als getan. Der Euro Palace war riesig, bot nicht nur mehrere Tanzflächen, sondern auch verschiedene Bars, kleinere Restaurants und VIP-Bereiche. Lily wusste nicht einmal, wo sie nach ihm suchen sollte. Hoffentlich fand Adrian ihn und lotste sie zu ihm. So sehr ihr seine bisherige Unterstützung an diesem Abend missfiel, so sehr war sie nun auf seine Hilfe angewiesen. Schlimmer als das Outfit, das er ihr aufgequatscht hatte, konnte es nicht werden. Skeptisch sah sie an sich herab. Es war einfach nur peinlich! Auf dem T-Shirt prangte der Schriftzug „Ej äm Stjupit“, der Minirock schien ständig ihren Hintern freizulegen und mit diesen dämlichen Stilettos würde sie sich den Hals brechen, sollte es zu einem Kampf kommen.

Ich habe ihn gefunden, hörte sie eine wohlbekannte Stimme in ihren Gedanken.

Lily atmete tief durch und sah zu der schimmernden Gestalt, die direkt vor der Kabinentür an der Wand lehnte. Langes, glattes Haar umrahmte Adrians schmales, makelloses Gesicht. Wie ein Mantel floss es über seine Schultern und umgab seine schlanke Lichtgestalt. Ein Lächeln umspielte seine Lippen und in seinen farblosen Augen blitzte Amüsement und Schalk auf. Er stemmte die Hände in die Hüften und breitete seine leuchtenden Flügel aus. Obwohl dieses Bild Ehrfurcht und Bewunderung in Lily weckte, zwang sie sich, den Blick ihres Schutzengels zu erwidern. Er mochte optisch perfekt sein, doch sein Charakter stimmte selten mit seiner äußeren Erscheinung überein.

Ich habe unseren Mann vorhin an der Theke im Tanzcafé gesehen. Er scheint sich noch kein Opfer ausgesucht zu haben. Adrian machte eine einladende Handbewegung, ihm zu folgen.

„Toll.“ Der sarkastische Unterton ihrer Stimme ließ Adrian innehalten. „Wie soll ich denn mit diesen Dingern kämpfen? Ich kann ja nicht mal richtig laufen“, beschwerte sich Lily. Sie biss sich auf die Unterlippe und lauschte, ob jemand etwas von ihrem Disput mitbekommen hatte. Leise Gespräche und Gekicher erfüllten den Raum, untermalt von den dumpfen Schlägen des Basses. Glücklicherweise hörte niemand ihre Selbstgespräche. „Warum trage ich das nochmal?“

Weil Logan laut Alina auf diesen Typ Frau steht und er dir garantiert binnen weniger Minuten aus der Hand frisst. 

Lily verkniff sich eine Antwort. Sie fühlte sich wie ein Stück Fleisch, das man einem Wolf auf dem Silbertablett servierte. Missmutig erinnerte sie sich an die Akte, die ihr Alina vor einer knappen Woche in die Hand gedrückt hatte. Sie enthielt Informationen über den Unruhe stiftenden Vampir Logan, den sie im Rahmen ihrer Abschlussprüfung zur Strecke bringen sollte.

Wir beide wollen diese Lizenz. Deswegen wirst du deinen Hintern nach draußen schwingen und dich an ihn ranschmeißen. Sobald er mit dir die Disko verlässt, übernehme ich den Rest. 

Lily nickte. Wenn sie Logans blutigem Treiben ein Ende bereitete, würde sie als richtige Jägerin in das Team um Alina aufgenommen werden. Entschlossen verdrängte sie die leisen Zweifel, die sie zu den Toiletten getrieben hatten. Sie würde ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. Alina hatte ihr genug beigebracht, um sich gegen einen drittklassigen Vampir zu behaupten.

Mit neuer Zuversicht verließ Lily die kleine Kabine und folgte Adrian, der sie am Rand der großen Tanzfläche vorbei in einen anderen Teil des verschachtelten Gebäudes führte. Fast verlor sie ihn aus dem Blick, doch glücklicherweise war sein leuchtender Körper gut sichtbar. Er lotste sie aus der Haupthalle, weg von der tanzenden Masse, die sich zum dröhnenden Bass der Musik bewegte, in einen ruhigeren Teil des Euro Palace.

Er sitzt an der Bar. 

Lily spähte zu den Theken hinüber, die die ausgefallene Tanzfläche halbkreisförmig umgaben. Etliche Gestalten hockten auf den Barhockern und unterhielten sich. Lediglich ein Mann saß ein wenig abseits, ein nicht angerührtes Bier vor sich stehend. Er beobachtete die Tanzenden, seine Augen funkelten unnatürlich, doch in dem schummrigen Licht schien das niemandem aufzufallen. Lily konzentrierte sich auf den Mann. Sie hatte Logan gefunden, mitsamt seinem Schutzengel, dessen blasse Gestalt hinter ihm sichtbar wurde.

 

Es dauerte bis weit nach Mitternacht, bis Lily die Disco in Logans Begleitung verlassen konnte. Nachdem sie sich zu ihm gesellt hatte, sprachen sie miteinander, amüsierten sich und tanzten. Die Zeit verging wie im Flug. Trotz seiner harten Gesichtszüge und seiner herrischen Art war der Vampir durchaus charismatisch. Im Laufe des Abends steuerten etliche überschminkte Mädchen auf Logan zu, doch dieser wies sie ab. Scheinbar hatte er sich sein Opfer für diese Nacht bereits ausgesucht - Lily. Allerdings kostete es sie viel Mühe, die Rolle des naiven Mädchens überzeugend zu spielen. Innerlich verabscheute sie diesen Typ Frau zutiefst.

Glücklicherweise war Logan zu sehr von sich überzeugt, als auf seinen weiblichen Schutzengel zu hören, die den Vampir vor Lily warnen wollte. Er ignorierte ihre Hinweise, warf dem zierlichen Lichtwesen lediglich giftige Blicke zu, wenn er glaubte, Lily würde die tanzende Menge beobachten. Dass das typische Leuchten des Schutzgeistes fast erloschen war und er schwach und erschöpft wirkte, schien den Vampir nicht zu interessieren.

Auf der einen Seite regte sich Mitleid für Logans Begleiterin in ihr, auf der anderen war sie froh, dass der Vampir mit seinem Schutzengel keine Einheit bildete.

Als sie die Diskothek verließ und die kühle Nachtluft einatmete, war sie sicher, den bevorstehenden Kampf für sich entscheiden zu können. Logan folgte ihr wie ein Hund über den Parkplatz in den nahen Wald hinein, in den sich im Sommer immer wieder Pärchen zurückzogen.

„Ich bringe dich nach Hause“, bot Logan an. Seine braunen Haare fielen ihm ins Gesicht und ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Ich komm’ schon heim“, murmelte Lily mit belegter Stimme. Sie torkelte absichtlich ein wenig, vertrat sich fast das Fußgelenk. ‚Diese dämlichen Schuhe.’ Einen Wimpernschlag später war Logan an ihrer Seite und stützte sie.

„Das kommt gar nicht in Frage.“ Logan musterte sie mit brennendem Blick und sah zum Wald hinüber, der sich wie ein bedrohlicher Riese vom sternenübersäten Himmel abhob. „Ich bringe dich nach Hause.“

Unwillkürlich glommen Zweifel in ihr auf. Ein Kloß bildete sich in Lilys Hals. Was würde geschehen, wenn Adrian nicht stark genug war? Wenn sie Logan unterschätzte?

Keine Angst. Ich werde nicht zulassen, dass er dir etwas antut. 

Lily atmete tief durch und taumelte neben dem Vampir her. Ihre Trunkenheit war nur noch teilweise gespielt, so weich fühlten sich ihre Knie an. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie Angst hatte, es verriete Logan ihre Nervosität. Vor ihren Augen spielten sich schreckliche Szenerien ab, in denen er sie überwältigte und ein Blutbad im Wald anrichtete. Sie hatte bereits bei einer Hetzjagd mit Alinas Team ein derartiges Gemetzel gesehen, als ein Werwolf eine Gruppe Mädchen niedermähte. Mehrere Wochen plagten sie im Anschluss Albträume.

Du machst es dir nicht einfacher, wenn du über solche Dinge nachdenkst. Adrian schüttelte seufzend den Kopf. Sie vermied es, in seine Richtung zu sehen. Der Vampir konnte Adrian zwar nicht wahrnehmen, da ihm die Gabe des Erkennens fehlte, aber sie musste Logan auch nicht unbedingt auf die Anwesenheit ihres Schutzengels aufmerksam machen. Logan ist kein Werwolf – so blutrünstig ist er nicht, auch wenn er seit einer Weile nichts getrunken hat. Das erklärt, warum die Verbindung zu seinem Schutzengel so schlecht ist, wobei sie scheinbar auch sonst nicht sonderlich viel zusammenarbeiten. 

Lily schauderte. Ein Vampir, der eine Weile kein Blut zu sich genommen hatte, war unberechenbar. Wenn er in einen Rausch verfiel, würde es ihnen schwer fallen, Logan zu besiegen. Zudem war ihr mentales Band zu Adrian zwar vorhanden, aber noch relativ schwach. Ihre Kommunikation klappte nicht immer und die Tatsache, dass Adrian das ein oder andere Geheimnis vor Lily hatte, machte es nicht besser.

Egal wie, wenn es eng werden sollte, werden Alina und die anderen schon eingreifen. Du erinnerst dich doch daran, dass sie in der Nähe bleiben wollten. 

Lily schluckte ihre Bemerkung hinunter und ärgerte sich, dass sie mental nicht mit Adrian kommunizieren konnte. Er nahm zwar teilweise ihre Gedanken und Gefühle wahr, doch ein wirkliches Gespräch war nicht möglich. Dazu hätte sie reden müssen.

Sie starrte auf Logans Rücken, der sich nun vor ihr durch das Unterholz schob. Unterdessen waren die Bässe der Musik und die Gespräche der rauchenden Jugendlichen vor dem Euro Palace nicht mehr zu hören. Stattdessen rauschten die Blätter der Laubbäume im Wind und der Schrei einer Eule drang durch die Stille des Waldes.

Plötzlich blieb Logan stehen. Lily war so überrascht, dass sie über eine kleine Wurzel stolperte. Nur mit Mühe fand sie ihr Gleichgewicht wieder und starrte zu dem Vampir, der sie mit hungrigem Blick musterte. Sie sah gerade noch, wie die leuchtende Gestalt seines Schutzengels mit ihm verschmolz, ihm die typischen Kräfte eines Vampirs verlieh. Sofort phosphoreszierten seine Augen wie die einer Katze und verliehen dem Mann die Ausstrahlung eines Raubtiers, das zum Sprung ansetzte.

„Hab keine Angst.“ In Logans Stimme schlich sich ein besänftigender Unterton. Er bleckte die Zähne. Im fahlen Licht des Mondes leuchteten seine verlängerten Eckzähne weiß auf, verliehen seinem Gesicht eine gefährliche Attraktivität, die Lily sowohl ängstigte als auch faszinierte. „Schließ die Augen. Es wird schnell vorbei sein.“ Gemächlich schlenderte er auf Lily zu.

Ich übernehme jetzt! 

Adrian hatte nicht einmal zu Ende gesprochen, da spürte Lily bereits, wie ihr Schutzengel sie aus ihrem Körper verdrängte. Sekunden später schwebte sie über der Szenerie. Im Gegensatz zu einem Vampir oder Werwolf war ein Mensch nicht in der Lage, sich mit seinem Schutzgeist zu verbinden. Sie konnten lediglich die Plätze tauschen. Dunkel erinnerte sie sich an ihren ersten Versuch. Damals hielt der Körpertausch nur für wenige Sekunden, jetzt, nach Jahren harter Übung, konnten sie knapp fünf Minuten durchhalten. Es blieb wenig Zeit, Logan zu besiegen, doch sie musste genügen.

Adrian zögerte keine Sekunde und stürzte sich auf den überraschten Vampir. Sein erster Schlag zielte auf Logans Magen, dann visierte er sein Gesicht an. Adrian traf in beiden Fällen, zwang seinen Gegner ein gutes Stück zurück und drängte ihn gegen den Stamm einer Eiche. Noch bevor Adrian nachsetzen konnte, erwachte Logan aus seiner Verwirrung. Er wich einer weiteren Attacke aus und brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit.

„Was zum Teufel …?“ Logan strich sich über die Brust. Er schien mitbekommen zu haben, dass Adrians letzter Angriff auf sein Herz gezielt hatte. Wut zeichnete sich in seinem Gesicht ab, als er leise zischte: „Ich verstehe.“

Wieso hast du ihn nicht gleich getötet?, fragte Lily entsetzt. Sie hatten das Überraschungsmoment verspielt, Logan hatte sie durchschaut.

Im nächsten Moment stürzte sich der Vampir auf Adrian. Ein erbitterter Kampf entbrannte. Logans Hände glichen gefährlichen Klauen, die tiefe Wunden in die umstehenden Baumstämme und den trockenen Erdboden schlugen. Glücklicherweise verfehlte er Adrian immer wieder, der sich zunehmend aufs Ausweichen und Abblocken beschränken musste. Sie schienen einander ebenbürtig zu sein, obwohl Vampire aufgrund ihrer Schnelligkeit und extremen Ausdauer nahezu unbesiegbare Gegner waren. Logan hatte wahrscheinlich seit einiger Zeit nichts getrunken, da die Verbindung mit seinem Schutzengel sehr schwach war. Zudem ermüdete der tobende Vampir nach einer Weile. Seine Bewegungen erlahmten. Endlich gab Adrian seine passive Taktik auf und konterte.

Dennoch mussten sie sich beeilen. Lilys Seele zog es in ihren Körper zurück. Der unsichtbare Drang wurde immer stärker.

Beeil dich, Adrian! 

Mit einer geschickten Seitwärtsbewegung versuchte Adrian sich in eine günstige Position zu manövrieren und setzte zu einem Fußtritt in Logans Magen an. Der Vampir durchschaute die Finte, fing das Bein noch in der Luft und stieß Adrian mit aller Gewalt von sich. Blitzschnell schoss er hinterher, die Klauenhand zum finalen Schlag erhoben. In diesem Moment geriet Lilys Schutzengel ins Stolpern, was ihn vor Schlimmerem bewahrte. Logans Schlag zischte um Haaresbreite an Adrians Kopf vorbei, zerfetzte lediglich einen tiefhängenden Ast. Blätter segelten herab, umgaben die Kämpfenden wie wirbelnde grüne Schneeflocken. Logans Verwirrung währte nur kurz. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf Adrian, der wie angewurzelt stehenblieb, anstatt auszuweichen.

‚Verflucht!’

Adrian, was machst du? Lilys Panik wuchs, als Logan drei tiefe Kratzer in ihrer Schulter hinterließ. Der Schmerz erreichte sie nicht, noch nicht.

‚Diese dämlichen Schuhe!’ Überraschenderweise erreichten Adrians Gedanken Lily, doch ihr blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern.

„Das reicht“, zischte Logan und drängte Adrian gegen einen der Baumstämme zurück. Eine Hand schloss sich um den Hals des Schutzengels, die andere fing Adrians rechte Hand ab und presste sie über seinen Kopf. „Ich habe keine Lust mehr, gegen einen zweitklassigen Schutzengel zu kämpfen.“

„Zweitklassig?“, schnaubte Adrian mit Lilys Stimme. Sie klang seltsam dumpf, passte überhaupt nicht zu ihr. Lily hasste es, wenn er redete, während er ihren Körper besetzte. Doch es war nicht der richtige Zeitpunkt, um Adrian Vorhaltungen zu machen. Sie sollte …

Im nächsten Moment tat Adrian etwas, womit weder Lily noch Logan gerechnet hatten. Der Schutzengel stemmte sich mit aller Kraft vom Baum ab, näherte sich dem Vampir und presste seine Lippen auf Logans. Die Verblüffung seines Gegners ausnutzend, intensivierte Adrian den Kuss und ließ seine Zunge zwischen die Lippen des Vampirs gleiten. Mit der freien Hand strich er über Logans Schulter, tastete über die Muskeln seiner Oberarme.

Bist du verrückt?, schrie Lily entsetzt. Ekel stieg in ihr auf, als sie daran dachte, dass es ihr Körper war, der den Vampir küsste und in eindeutiger Manier über dessen Haut strich. Als Logan auf Adrians Verführung einstieg und den Kuss hungrig erwiderte, nahm sie sich vor, ihren Schutzengel mindestens einen Monat lang mit Nichtachtung zu strafen. Ihr war klar, welches Ziel Adrian verfolgte, doch das ging einfach zu weit. Nur ein Idiot fällt auf so einen plumpen Trick herein! 

Scheinbar war Logan wirklich ein Idiot. Oder er war dermaßen ausgehungert, dass er jegliche Vorsicht in den Wind schoss. Er lockerte den Griff um Adrians Hand, ließ ihn schließlich los, um über Lilys Körper zu streichen.

Darauf hatte Adrian nur gewartet. Er holte zum Schlag aus und stieß mit aller Kraft in die Brust seines Gegners. Von einem lauten Aufschrei begleitet, durchbrach der Schutzengel die Rippen des Vampirs. Seine Finger bohrten sich tief in den Körper seines Gegners. Glücklicherweise spritzte nur wenig Blut, dennoch wandte sich Lily ab. Sie wollte nicht sehen, wie Adrian ihm das Herz herausriss.

Als Logan endgültig verstummte, war von dem Vampir nicht mehr als ein Häufchen Asche übrig. Lediglich das Herz lag als grauer, erdiger Klumpen in Adrians Hand.

Als hätte ihre Seele nur auf diesen Augenblick gewartet, zog es Lily beinah schmerzhaft zurück. Einen Herzschlag später war sie wieder Herr ihres Körpers. Ein unangenehmes Gefühl der Enge und Schwere ergriff sie. Es fühlte sich an, als legte sich eine unsichtbare Hand um ihr Herz. Am liebsten hätte sie erneut mit Adrian getauscht, um diese unendliche Freiheit zurückzuerlangen. Jede Rückkehr war eine Qual, doch das war der Preis, den sie für den Tausch mit ihrem Schutzengel zahlen musste.

Alles in Ordnung? 

Lily rang nach Atem. Ihre Muskeln schmerzten, insbesondere ihre rechte Schulter brannte. Drei lange Kratzer verunzierten die blasse Haut, der mittlere blutete leicht. Nach einer Weile gewöhnte sie sich an ihren Körper, der Druck auf ihrer Brust schwand und sie holte tief Luft. „Ich hasse den Effekt der Rückkehr.“

Wir brauchen nur mehr Übung – dann ist der Tausch kein Problem mehr. 

„Ich habe vorhin für eine Sekunde deine Gedanken gehört.“ Lily biss die Zähne zusammen, als sie über ihre Verletzung strich.

Wirklich? Adrian strahlte übers ganze Gesicht. Wir machen Fortschritte. 

Lily verkniff sich eine Antwort. Als die Schmerzen abebbten, sank sie auf eine Wurzel und betrachtete die Überreste des Herzens in ihrer Hand. Mit einem entrüsteten Schnauben warf sie den Lehmklumpen weg und wischte die Finger im Moos ab. Gerade als sie ihre Schulterwunde untersuchen wollte, kam ihr Adrians Einzelaktion in den Sinn. Schlagartig wurde ihr schlecht.

„Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht?“, fauchte sie und ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, doch dies war nicht möglich. Also begnügte sie sich damit, ihn finster anzustarren.

Sei nicht böse, Lily. Mir ist in dem Moment nichts Besseres eingefallen. 

„Nichts Besseres?“ Lilys Stimme nahm einen hysterischen Unterton an. „Du hättest ihm die Beine wegtreten oder ihm mit der linken Hand einen Kinnhaken verpassen können.“

Das war mir zu riskant. Ich brauchte die rechte Hand, um nach seinem Herzen zu greifen. Adrian stand direkt vor ihr, die hellen Lichtschwingen eng an den Leib gezogen. Er schien zu schrumpfen und in seinem Gesicht zeichneten sich Scham und Unsicherheit ab.

„Das ist noch lange kein Grund, ihn zu …“ Lily biss sich auf die Unterlippe, um die Worte zurückzuhalten, die ihre Übelkeit steigerten.

Es tut mir leid. 

Lily seufzte. Sie brachte es nicht über sich, Adrian weitere Vorwürfe zu machen. Dennoch wollte sie die Sache nicht vollkommen auf sich beruhen lassen. „Wenn du meinen Körper noch einmal auf diese Art ausnutzt, werde ich dir das nicht verzeihen, Adrian! Ab sofort sprichst du derartige Sachen mit mir ab oder du wirst zukünftig nur noch Hektor als Gesprächspartner haben.“

Ein Schauder schien Adrian zu erfassen, doch er nickte. Ich … 

„Schon gut, lassen wir das Thema. Je eher ich diese Sache vergesse, umso besser.“ Sie hob die Schultern und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz ihren Arm hinabwanderte. Ihr Blick fiel auf die Kratzer.

Geht es? Adrian hockte sich neben sie und untersuchte ihre Verletzung. Es tut mir leid. Ich hab nicht gut genug auf deinen Körper aufgepasst. 

„Du hast zu lange gebraucht, um ihn zur Strecke zu bringen.“

Ich habe ihn unterschätzt. Sein Schutzengel gab ihm mehr Kraft, als ich vermutet hatte. Das größte Problem waren deine Schuhe. Beim Kampf bin ich mit dem Absatz in einer Wurzel hängengeblieben. 

Lily rollte mit den Augen. „Ach wirklich? Wer hatte noch mal diese tolle Idee?“

Adrian legte den Kopf schief und rang seine Hände. Ich gebe zu, dass meine Idee nicht die beste war, aber immerhin ist er auf dich angesprungen. Ohne diese Aufmachung hätte er sich womöglich jemand anderen gesucht. 

Lily ersparte sich einen Kommentar und rappelte sich auf. Ihre Beine fühlten sich wie Gummi an und eine unsägliche Müdigkeit kroch ihr in die Glieder. Sie wollte nur noch nach Hause, diese elenden Klamotten loswerden, duschen und schlafen. Für einen Moment überlegte sie, ihr Handy zu zücken und Alina anzurufen, aber wahrscheinlich wartete diese mit den anderen auf dem Parkplatz der Diskothek. Ob das gesamte Team Adrians unmöglichen Alleingang gesehen hatte? Suchend sah sie sich um, entdeckte jedoch weder Hannah noch Radu zwischen den Bäumen. Trotzdem konnte sie ihre Nervosität nicht mehr abschütteln, als ihr ein weiterer Gedanke durch den Kopf schoss: ‚Habe ich die Aufnahmeprüfung nun bestanden oder nicht?’

Kapitel 2 – Bestanden

 

*~*

 

Der beißende Geruch nach Desinfektionsmitteln stieg Lily in die Nase. Ein regelmäßiges Piepen durchbrach die Stille und dröhnte wie ein sich wiederholender Donnerschlag in ihrem Kopf. Ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei und ein beständiger Schmerz in der Brust erschwerte das Atmen. Alles fühlte sich seltsam verdreht an. Als wären ihre Gliedmaßen zu lang und ihr pochender Schädel zu klein.

Sie krümmte sich und stöhnte gepeinigt auf.

„Ist alles in Ordnung?“ Eine samtene Bassstimme riss sie aus ihrer Verwirrung. Verzweifelt wollte sie die Augen öffnen, doch sie schienen verklebt zu sein, als hätte jemand Honig über den Lidern verteilt. „Lass dir Zeit, Lily.“

Lily … Dieses Wort brachte etwas Unangenehmes in ihr zum Klingen, doch sie konnte nicht genau einordnen, was es war. „Wo bin ich?“, krächzte sie. Ihre Kehle fühlte sich rau und trocken an.

„Im Krankenhaus. Du hattest einen furchtbaren Unfall. Es gleicht einem Wunder, dass du noch lebst.“

Lily versuchte das Gesagte zu erfassen, doch die Worte entglitten ihrem Geist. Erst nach einer Weile sickerten Fetzen des Satzes in ihr Bewusstsein.

Hatte sie wirklich einen Unfall gehabt? Wie ging es ihrer Familie? Hatten sie die Flucht nicht überlebt? Lily stockte und folgte dem neuen Anhaltspunkt: Flucht. Wovor? Weitere Erinnerungen tauchten auf: eine düstere, alte Burgruine, in der sich ein halbes Dutzend vermummte Gestalten um sie versammelt hatte. Sie hatten etwas vor sich hingemurmelt, das in einem unglaublichen Schmerz in ihrer Brust gegipfelt hatte. Der fremdartige Schrei, der selbst jetzt noch in ihren Ohren gellte, kam ihr bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht einordnen.

Rose!

War sie ebenfalls im Krankenhaus? Hatte sie den Autounfall überlebt? Was war mit ihren Eltern? Die Erinnerung an die Worte einer fremden Person wallte in ihr auf. Sie wusste nicht mehr, wer zu ihr gesprochen hatte, doch jede Silbe glich einem Versprechen.

Ich lasse dich nicht sterben! Noch einmal verliere ich meinen Schützling nicht und Rose hätte das nicht gewollt. Du wirst leben! 

Die Stimme verblasste.

Stattdessen erfasste sie reißende Panik. Lily versuchte, sich aufzurichten und aus dem Bett zu springen, doch sie konnte nicht einmal die Arme heben. Was für ein kranker Alptraum war das? War sie wach oder schlief sie?

„Sie hyperventiliert gleich“, erklang die flüsternde Stimme einer Frau.

Lily schnappte nach Luft. Wie viele Leute standen um ihr Bett herum? „Wer ist das?“, kam über ihre bebenden Lippen.

„Hab keine Angst, Lily.“ Die melodische Stimme des Mannes beruhigte ihr wild schlagendes Herz. In diesem Moment sehnte sie sich nach einer kühlen Hand auf ihrer Stirn, doch der Fremde berührte sie nicht. Angestrengt lauschte sie auf den leisen Atem ihres Besuchers, doch dieser war dank des beständigen Piepens der Maschinen und ihres dröhnenden Herzschlages kaum zu hören.

„Sie weiß zu viel. Es wird sie in den Wahnsinn treiben, wenn sie sich an alles erinnert …“ Die Frau nannte ihren Begleiter beim Namen, doch Lily konnte ihn nicht verstehen. Er ging in einem merkwürdigen Rauschen unter, das sie noch nie gehört hatte.

Sie spürte Müdigkeit in sich aufsteigen, doch sie hatte Angst vor den schrecklichen Bildern, die in der Dunkelheit lauerten …

Konzentriert lauschte sie auf die leise Diskussion, die sich zwischen dem Mann und der Frau entspann, doch sie schnappte nur einige zusammenhangslose Begriffe auf: erster Versuch, Versprechen, Sicherheit; und einen Namen: Adrian. Hieß der Fremde Adrian? Lily konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Sie wusste nur eins: wer auch immer dieser Mann war – Freund oder Feind – er hatte Antworten parat.

Schließlich siegte die Erschöpfung. Bevor sie wegdämmerte, spürte sie endlich die Hand des Mannes auf ihrer fiebrigen Haut, doch er strich ihr nicht beruhigend über die Wangen oder fühlte ihre Stirn. Stattdessen legte er ihr einen Finger über die Lippen und hauchte ihr nur ein einziges Wort ins Ohr. „Vergiss.“

 

*~*

 

Happy Birthday! 

Mit einem leisen Aufschrei fuhr Lily aus ihren Träumen auf. In ihren Ohren klang noch die Stimme, die sie vor so vielen Jahren im Krankenhaus gehört hatte und die allmählich im morgendlichen Lärm des Wohnhauses verblasste – dem hektischen Geplapper eines Radiomoderators, dem Geschirrklappern aus der Küche und dem Geschrei der Kinder auf der Straße. Wider besseres Wissen sah sich Lily nach dem Mann aus ihren Träumen um, doch lediglich Adrian stand am Kopfende ihres Bettes und lächelte breit.

Lily setzte sich wortlos auf und strich ihre blonden Locken aus dem Gesicht. Seit Monaten hatte sie nicht mehr von ihrem ersten wachen Moment nach dem Autounfall geträumt, doch als sie jünger war, ereilte sie diese Vision in fast jeder Nacht. Dabei wusste sie nur zu genau, dass diese Begegnung nie stattgefunden hatte. Egal wie realistisch ihre Erinnerungen an das Timbre in der Stimme des Mannes, die angenehme Wärme seiner Finger und das Rascheln seiner Kleidung waren, er existierte nicht. Weder die Ärzte noch die Schwestern hatten den mysteriösen Besucher gesehen. Auch Adrian bestätigte die eindeutigen Aussagen des Krankenhauspersonals. Niemand hatte sie in ihrem Zimmer besucht. Dennoch glaubte sie, manchmal dieses letzte Wort zu hören, wenn sie aus einem düsteren Alptraum schreckte.

Vielleicht haftete ihrem Traum dennoch ein Funken Wahrheit an, da Lily kaum etwas über ihre Vergangenheit wusste. Als hätte der Mann aus ihren Träumen einen Gedächtnisverlust heraufbeschworen, blieben ihre Erinnerungen an die Ursachen des Unfalls im Dunkeln, ebenso wusste sie nichts mehr von ihrer Familie. Nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatte, hatte sie mehrfach versucht herauszufinden, wer ihre Eltern waren oder ob sie Geschwister hatte - vergebens. Ebenso wenig erinnerte sie sich an ihr Leben vor dem schrecklichen Tag vor sieben Jahren. Wie kam es zu dem Autounfall? Waren ihre Eltern wirklich auf der Flucht gewesen oder spielten ihre Träume und Visionen ihr einen Streich?

Als ihre Patentante Alina die Bildfläche betrat, erhoffte sich Lily Antworten, doch die sportliche junge Frau wusste nur wenig über ihre verstorbenen Eltern. Auch ihr Schutzengel Adrian schwieg, wenn sie nach ihrer Familie fragte, oder wich dem Thema aus. Dabei begleitete er sie von Geburt an, musste also von ihrer Vergangenheit wissen. Doch zumeist zog er sich mit den Worten, dass der Gedächtnisverlust auch ihn betreffe, aus der Affäre. Stimmte das? Konnte die Amnesie eines Menschen auch auf dessen Schutzengel übergehen?

Herzlichen Glückwunsch zum achtzehnten Geburtstag, Lily!, riss Adrians fröhliche Stimme sie aus ihren düsteren Gedanken. Er schwebte vor dem Bett und musterte sie eindringlich. Alles in Ordnung? Du siehst so blass aus. Schlecht geträumt? 

„Ja …“ Lily schenkte ihm einen kurzen Blick. Verheimlichte er ihr wirklich etwas oder hatte auch er seine Erinnerungen verloren? Seit Jahren grübelte sie über eine Antwort.

Du hast schon eine Weile nicht mehr davon geträumt. Adrian setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Die Matratze gab keinen Millimeter nach und als er behutsam über Lilys Wange strich, nahm sie die Berührung nicht wahr. Lediglich ein leichter Windhauch wehte über ihre Haut.

Dennoch spendete diese Geste Trost und sie schüttelte die letzten Fetzen des Traumes ab. Sie blinzelte Adrian an und lächelte.

„Geht schon. Vielleicht träume ich wegen der gestrigen Sache davon.“ Lily erhob sich und streckte sich wie eine Katze. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie an den Kampf gegen den Vampir dachte. „Ich sehe nach Alina. Vielleicht hat sie bereits eine Nachricht vom Rat bekommen.“

Ein breites Grinsen stahl sich in Adrians Gesicht, doch er schwieg. Er schien bereits zu wissen, wie sie abgeschnitten hatten, doch Lily wollte das Ergebnis von Alina erfahren.

Mit rasendem Herzen schob sie sich an ihm vorbei und öffnete die Türen des Kleiderschrankes. Direkt vor ihr hingen das widerliche T-Shirt und der Minirock zum Auslüften. Sie schob energisch beide Kleidungsstücke beiseite und wühlte sich durch ihre weiten Shirts.

Adrian warf einen Blick in das wohlgeordnete Chaos des Schrankes und deutete auf ein hautenges, mit Pailletten besetztes Top, von dem Lily nicht einmal wusste, wie es in ihren Schrank gekommen war.

Sie schüttelte den Kopf und zog ein einfaches Shirt und eine dunkle Cargohose hervor. Sie musste nicht einmal Adrians Gesicht sehen, um zu wissen, dass ihn diese Kleiderwahl entsetzte.

Das willst du anziehen?, fragte er entrüstet und drängelte sich zwischen sie und den Kleiderschrank. Heute ist ein wichtiger Tag! Der wohl wichtigste Tag in deinem jungen Leben und du willst deinen üblichen Schlabberlook anziehen? 

„Es geht ja wohl nicht darum, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.“ Sie wandte sich ab und knallte die Schranktüren zu, ohne darauf zu achten, ob sie Adrian traf oder nicht.

Gestern sahst du wirklich gut aus, weißt du das? Ich fände es toll, wenn du mal etwas aus dir machen würdest, lamentierte Adrian weiter.

„Immer dieselbe Leier. Ich bin ich und kann dieses typische Dummchen-Schema nicht ausstehen. Noch einmal überlasse ich dir die Wahl meines Outfits nicht.“

Aber es hat ihn überhaupt erst angelockt und … 

„… und uns beide im Kampf so sehr behindert, dass er mich fast ausgesaugt hätte!“, vollendete Lily seinen Satz. Sie schlüpfte in ihre Hose und zog sich ihr Schlafshirt über den Kopf. Ihr Haar nahm ihr für einen Moment die Sicht, dann sah sie Adrian in die Augen. Es störte Lily nicht, dass sie halbnackt vor ihm stand. Er hatte sie oft genug unbekleidet und in ganz anderen Situationen gesehen. Das waren die Momente, in denen sie sich keinen Schutzengel an ihrer Seite wünschte oder wenigstens jemanden, der taktvoll genug war, das Zimmer zu verlassen.

Adrian stemmte die Hände in die Hüften. Wenn du auf mich hören würdest, könntest du dir aus knapp einem Dutzend Männern den Hübschesten aussuchen! 

Lily rollte mit den Augen. Diese Diskussionen waren sinnlos. Wenn ein Mann mit ihrer natürlichen Art nichts anfangen konnte, dann war er es auch nicht wert, dass sie sich mit ihm beschäftigte. Sie würde weder sich selbst noch anderen etwas vorspielen.

Sie ignorierte Adrians Litanei und trat vor den Spiegel, der an der Zimmertür hing und zur Hälfte von einem langen Mantel verborgen war. Die Anstrengungen der letzten Tage und die schlechten Träume hatten sichtbare Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Dunkle Ringe lagen unter ihren blauen Augen und ihr katzenhaftes Gesicht wirkte müde und erschöpft. Ihr Haar glich einem Vogelnest. Mit gespreizten Fingern fuhr sie sich durch die Mähne und knotete sie zu einem einfachen Zopf zusammen.

Du hörst mir gar nicht mehr zu! 

„Den Rest können wir uns doch sparen, oder? Ich habe keine Lust, meinen Geburtstag mit Streiten zu verbringen“, murmelte Lily und betrachtete ihre Figur im Spiegel. Das lange Shirt verdeckte den Großteil ihrer weiblichen Rundungen. Nach den gierigen Blicken in der Disco war ihr dies nur recht. Ihr Bedarf an männlicher Aufmerksamkeit war für die kommenden Wochen gedeckt.

Sie angelte sich ihr Handy und überflog die What’s App-Nachrichten und SMS ihrer Freunde und Klassenkameraden. Etliche hatten ihr zur Volljährigkeit gratuliert und der ein oder andere fragte nach einem abendlichen Treffen im Euro Palace, um Lilys Geburtstag gebührend zu feiern.

Es klopfte.

„Na, seid ihr wieder am Streiten?“ Alinas leicht zynische Stimme klang gedämpft durch die Tür. Noch bevor Lily etwas erwidern konnte, steckte ihre Meisterin neugierig den Kopf hinein. Ihre kurzen feuerroten Haare glänzten feucht und standen in alle Richtungen ab. Mit funkelnden grünen Augen musterte sie Lily und huschte in das Zimmer. Ein leichtes Sommerkleid betonte ihren schlanken Körper, stand ihr allerdings nur bedingt. Zum Einen zierten verschlungene Tätowierungen Alinas Rücken und ihre Oberarme, zum Anderen war sie zu hager und groß für derartige Kleidung. Zu ihrem sportlichen Typ passten eher Hosen und enge Tops, doch seit Neustem schien sie sich weiblicher kleiden zu wollen. Zum wiederholten Mal fragte sich Lily, ob Alina Adrian nicht doch sehen und hören konnte.

Dabei war es Lily, die mit der Fähigkeit des Erkennens gesegnet war und seit dem Unfall die Schutzengel aller Wesen wahrnehmen und mit ihnen sprechen konnte. Außenstehenden vermittelte es jedoch den Eindruck, als würde sie mit der leeren Luft reden.

„Ihr wärt ein tolles Team, wenn ihr endlich das Kriegsbeil begraben würdet“, fügte Alina hinzu.

„Ach, du kennst ihn ja. Immer dasselbe Theater!“ Lily antwortete flink einigen ihrer Freunde, sagte einen Discobesuch ab und sah schließlich wieder zu Alina.

Ihre Patentante wartete geduldig, bis Lily ihr Handy in die Hosentasche schob, umarmte sie dann und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Alles Gute zum Geburtstag, meine Kleine. Jetzt bist du also bereits volljährig. Die Zeit vergeht wie im Flug.“ Sie schob Lily auf Armeslänge von sich und musterte sie. „Aber zur Feier des Tages hättest du dir ruhig etwas anderes anziehen können …“

„Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Ich habe diese Diskussionen wirklich satt.“ Sie warf Adrian einen giftigen Blick zu, der bereits zu einem Spruch ansetzte. „Das gilt auch für dich. Du brauchst gar nicht zu versuchen …“

„Ihr seid wirklich goldig. Ich wünschte, ich könnte Adrian sehen.“

„Glaube mir, so toll ist diese Gabe nicht.“

„Aber sie hat durchaus ihre Vorteile.“ Alina musterte sie voller Neugierde. Wahrscheinlich wartete sie darauf, dass Lily nach den Ergebnissen der Prüfung fragte.

Just in diesem Moment bemerkte Lily, dass Alinas Schutzengel nicht an seinem angestammten Platz hinter ihrer Meisterin schwebte. „Wo ist Hektor?“

„Bitte?“ Alina sah aus, als hätte man ihr kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Dennoch antwortete sie: „Der ist in meinem Zimmer und sichtet die neuen Aufträge, die gestern Morgen angekommen sind. Gibt es nichts anderes, was du wissen willst?“

„Natürlich will ich das!“ Lilys Hände wurden vor Nervosität feucht, wenngleich sie ahnte, dass sie bestanden hatte. Adrians Grinsen war dahingehend recht eindeutig gewesen. „Wie habe ich abgeschnitten?“

Alinas Gesicht erhellte sich und ein spitzbübisches Lächeln stahl sich auf ihre schmalen Lippen. Es war offensichtlich, dass sie es genoss, Lily auf die Folter zu spannen. „Komm mit.“

Sie betraten die schmale Küche und zu Lilys Überraschung war der Frühstückstisch gedeckt. Frische Lilien standen in einer schlanken Vase zwischen einer Käseplatte, Antipasti, gekochten Eiern und einem Teller Räucherlachs. Der intensive, süße Duft der schneeweißen Blüten überdeckte den von frischem Kaffee und knusprigen Brötchen.

Lilys Magen knurrte vernehmlich. „Du bist ein Engel.“ Mit einem Lächeln griff sie nach der Tasse Kaffee und ließ ihren Blick über den Tisch schweifen. „Wer soll das nur alles essen?“

Alina ließ sich auf den weiß lackierten Holzstuhl sinken und angelte sich eine Traube. „Das kriegen wir schon klein. Heute haben wir immerhin zwei Ereignisse zu feiern. Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung. Ich bin so stolz auf dich, Lily. Ich wusste, dass in dir eine Jägerin schlummert.“ Sie zog eine hölzerne Schatulle hervor.

Lily verschluckte sich beinah an ihrem Kaffee und stellte rasch die Tasse ab. Obwohl die Jagd vorbei war und das Ergebnis feststand, übermannten sie Aufregung und Nervosität. Ihre Hände waren schweißnass, als sie das unscheinbare Kästchen entgegennahm.

Auch von mir alles Gute. Adrian schwebte mit einem seligen Lächeln neben ihrem Stuhl und beobachtete die Szenerie.

„Danke“, krächzte sie und klappte mit zitternden Fingern den Deckel auf. Ein schlichter, silberner Ring lag in dem dunklen Futteral. Der Rubin funkelte im warmen Sonnenlicht, das durch die geöffneten Fenster fiel. Zum ersten Mal erreichten sie Adrians und Alinas Glückwünsche, erfasste sie die Bedeutung ihrer Worte. Ab sofort war sie eine vollwertige Jägerin! Vergessen war der morgendliche Streit, die Diskussionen über Kleidung und die Strapazen des gestrigen Abends. Dieser Ring war Entschädigung genug.

Plötzlich überkam sie das seltsame Gefühl, dass etwas fehlte. Trauer schlich sich in ihr Herz, als sie an ihre Eltern dachte. Wie würden sie jetzt reagieren? Die Übergabe des Rings der Jäger war der bisher wichtigste Moment in ihrem Leben. Wären sie stolz? Würden sie sich mit Glückwünschen überschlagen oder das Ereignis mit einem Schulterzucken abtun?

Lily wusste es nicht, konnte weder ihren Vater noch ihre Mutter einschätzen. Sie erinnerte sich kaum an sie, wusste nicht einmal, wie sie aussahen.

Mit einem wehmütigen Gefühl dachte sie an den wiederkehrenden Traum, der mehr über ihre Vergangenheit offenbarte, als Alina und Adrian es jemals getan hatten. Ihre Patentante wechselte geschickt das Thema, wenn sie auf ihre Familie zu sprechen kam, Adrian wusste angeblich nichts mehr. Lily ahnte, dass sie ihr die Wahrheit absichtlich vorenthielten, doch es fehlten ihr die passenden Ansatzmöglichkeiten, um Antworten zu bekommen.

Wenn ihre Träume sie wenigstens weiterbringen würden. Doch leider verblassten die Bilder bereits beim Aufwachen und hinterließen nichts als ein dumpfes Verlustgefühl und das Wissen, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Das Einzige, woran sie sich erinnerte, waren Dinge, die sie bereits wusste: dass ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Dabei gab es so viele offene Enden, die geklärt werden mussten.

Seufzend schüttelte sie die kreisenden Gedanken ab. Jetzt war der falsche Zeitpunkt für Melancholie. Sie strich über den unscheinbaren Ring und streifte ihn über den kleinen Finger ihrer rechten Hand. Er passte perfekt.

Der Wunsch, mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren, war plötzlich übermächtig. War es nicht an der Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen? Sie war kein Kind mehr, das man schützen musste, sondern eine vollwertige Jägerin. Sie hatte ein Anrecht auf …

„Damit bist du eine richtige Jägerin und Teil meines Teams“, riss Alina sie aus ihren Gedanken. Stolz schwang in ihrer Stimme mit. „Nach dem Frühstück brechen wir zum Rat auf und holen deine Lizenz ab.“

Lilys Herz schlug schneller. Sie schob die Gedanken an ihre Eltern und ihre Vergangenheit in den Hintergrund – vorerst. Jetzt war der falsche Zeitpunkt, um Alina auf den Zahn zu fühlen. Stattdessen spürte sie dem wohligen Kribbeln nach, das sich in ihrem Magen breitmachte. Endlich würde sie die einzelnen Ratsmitglieder zu Gesicht bekommen. Bisher hatte man ihr den Zutritt zum versteckt liegenden Ratsgebäude nicht gestattet, doch der charismatische Radu, ein knapp zweihundert Jahre alter Vampir und einer von Alinas Jägern, erzählte ihr oft von den verschiedenen Mitgliedern.

„Am späten Nachmittag kommen die anderen, um deinen Geburtstag zu feiern. Ach, und im Übrigen wissen sie nicht, wie du abgeschnitten hast.“ Alina lächelte verschwörerisch.

„Du hast es ihnen noch nicht gesagt?“ Lily überlegte, ob sie Hannah anrufen sollte. Die Werwölfin wollte noch vor Radu über das Ergebnis ihrer Prüfung informiert werden. „Das solltest du nachholen – du weißt doch, wie neugierig sie sind.“

„Wenn ich ehrlich bin, wussten sie noch nicht einmal etwas von deiner Prüfung.“

Lily fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Ihr Herz sank eine Etage tiefer und kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie hatte gestern Nacht nur deswegen so viel riskiert, weil sie darauf gebaut hatte, im Notfall von den anderen unterstützt zu werden. „Sie waren nicht da? Aber als ich zum Parkplatz zurückkam, sagtest du, sie seien schon nach Hause gegangen …“ Im Nachhinein erkannte Lily, wie unsinnig Alinas Erklärung war. Als hätte Radu sich so einfach abschieben lassen! Es erklärte jedoch auch, warum der Vampir während des Kampfes nicht aufgetaucht war, als Adrian Logan geküsst hatte.

„Tut mir leid, dass ich dich angelogen habe, Lily.“ Alina fuhr sich nervös durch ihr kurzes Haar und griff nach ihrer Tasse. Bevor sie an dem starken Kaffee nippte, nuschelte sie: „Du solltest kämpfen können, ohne dass dir Radu in die Quere kommt. Du weißt doch, wie vernarrt er in dich ist.“

„Und wenn mir etwas passiert wäre?“

„Ich war die ganze Zeit in deiner Nähe und hatte ein Auge auf dich.“ Sie hob belustigt eine Augenbraue. Lily ahnte, was ihrer Meisterin durch den Kopf ging, doch bevor sie Alina zurechtweisen konnte, fuhr diese fort: „Ich wusste, dass du es ohne unsere Hilfe schaffst. Radu und Hannah hätten dich im Vorfeld unter Druck gesetzt und mit idiotischen Tipps bombardiert, wenn ich ihnen von deiner Prüfung erzählt hätte.“ Sie rollte mit den Augen und angelte sich ein Brötchen. „Als deine Meisterin habe ich entschieden, dass du ohne die anderen besser agieren kannst.“

Lily musste zugeben, dass Alina recht hatte. Hannah und Radu wären wirklich ein Klotz am Bein gewesen. Der Sturm in ihrem Kopf legte sich und die Angst, die sie bei Alinas Worten befallen hatte, fiel von ihr ab. Logan war tot, zerfallen zu Staub. Sie griff nach einer Olive und schob sie sich in den Mund. „Aber du hast recht. Allein Addy hat mir mehr Tipps gegeben, als ich überhaupt gebrauchen konnte. Allein diese Klamotten …“ Sie schielte über die Schulter zu ihrem Schutzengel, der beleidigt das Gesicht verzog und ohne Kommentar zurück in ihr Zimmer schwebte.

 

Es war fast Mittag, als Lily und Alina das Frühstück beendeten. Das Treffen mit dem Rat war für die späten Nachmittagsstunden anberaumt und Lily fieberte diesem Augenblick entgegen. Wie wohl die vier Mitglieder waren, die die unterschiedlichen Rassen oder Clans repräsentierten? Von Radu wusste sie, dass die Vampirin Estera wunderschön und unglaublich mächtig war, aber auch kalt und berechnend. Die Vampire folgten ihr blind und sie ließ keinerlei Verfehlungen zu. Auf Phileas, den wilden Anführer der Werwölfe, hatte Alina ein Auge geworfen, was dafür sorgte, dass Lily in den letzten Wochen mehr über den stattlichen Mann erfahren hatte, als ihr lieb war. Die beiden anderen Mitglieder waren eine Frau namens Adora, die für die Belange der Menschen eintrat und Lord Aldwyn, das Oberhaupt der hier ansässigen Feenwesen. Wie würden die Ratsmitglieder auf sie reagieren? Gab es eine richtige Zeremonie für neue Jäger? Alina gab ihr nicht einmal einen kleinen Hinweis auf das, was sie erwartete. Ob Adrian wusste, was auf sie zukam?

Ein leiser Anflug von Sorge wallte in ihr auf, als sie den Flur durchquerte und ihr Zimmer ansteuerte. Adrian war nicht mehr aufgetaucht, nachdem sie sich über seine Unterstützung beschwert hatte. Hatten ihre Worte ihn so sehr getroffen? Normalerweise fing er sich schnell wieder und setzte zu einem Widerspruch an. Dieses Mal …

Du bist eine Schande als Schutzengel! Hektors aufgebrachte Stimme drang an Lilys Ohren, noch bevor sie ihre Zimmertür erreichte. Alinas Schutzengel musste ihn abgefangen haben, nachdem er den Frühstückstisch verlassen hatte. Sie blieb stehen und lauschte, obwohl sie wusste, dass sich das nicht gehörte. Lily ist bei der Prüfung verletzt worden, weil du nicht aufgepasst hast! 

Das ist nicht wahr!, fuhr Adrian entrüstet dazwischen. Ihr Absatz blieb zwischen einer der Wurzeln stecken und … 

Und wenn schon, unterbrach Hektor ihn. So ein Fehler darf dir nicht widerfahren. Ein falscher Schritt und es könnte ihr letzter sein. Nur weil du ihren Körper übernimmst, heißt das nicht, dass sie nicht sterben kann. 

Ein wütendes Schnauben erklang. Lily konzentrierte sich auf Adrian, um mehr von der Gefühlswelt ihres Schutzengels zu erfahren. Wut und Unsicherheit strömten auf sie ein. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und obwohl er es gegenüber Hektor nie zugegeben hätte, gab er dem anderen Schutzgeist recht. Eine Welle von Schuldgefühlen erfasste Lily, doch sie konnte nicht sagen, ob sie von Adrian stammten oder ihrem eigenen Herzen entsprangen.

Und alles nur, weil du dir einredest, in Radu verliebt zu sein! Hektors Stimme vibrierte vor Abscheu. Lily wusste, wie sehr Alinas Schutzengel Adrians Gefühle für den Vampir missbilligte.

Wie bitte? Adrians Zorn überlagerte seine Unsicherheit und Selbstvorwürfe um ein Vielfaches. Ich rede mir gar nichts ein! 

Umso schlimmer. Warum auch immer du überhaupt Liebe empfinden kannst, es ist falsch! Ein Schutzengel hat an niemanden zu denken außer an seinen Schützling! Weil du dich für Radu interessierst, kannst du Lily nicht angemessen beschützen.

Aber … 

Hektors Stimme näherte sich der Tür. Spar dir deine Ausreden, ich kenne sie zu gut. In meinen Augen vernachlässigst du Lily und sie muss unter deinen halbherzigen Schutzversuchen leiden. Ihr kämpft zwar miteinander, aber noch immer hast du keine richtige Verbindung zu ihr aufgebaut. Und das ist für einen menschlichen Jäger das Wichtigste. 

Woher willst du das wissen?, fragte Adrian, doch seine Stimme war hörbar von Zweifeln durchzogen.

Weil sie vor der Zimmertür steht und du sie noch nicht einmal bemerkst! 

Lily fühlte sich gleich zweifach ertappt. Hektor wusste nicht nur, dass sie lauschte, er hatte auch erkannt, wie schwach ihre geistige Verbindung zu Adrian war. Einen Wimpernschlag später spürte sie deutlich Adrians schüchternes Anklopfen, ein leichtes Zupfen an ihrem Geist. Reflexartig blockierte sie Adrian, sperrte ihn aus ihren Gedanken und Gefühlen aus, wie er es tat, wenn sie in seinen Erinnerungen nach ihrer Vergangenheit suchte. In diesen Momenten zweifelte sie seine Amnesie an, war sich sicher, dass er etwas vor ihr verbarg. Sie versteckten sich voreinander, verheimlichten unschöne Wahrheiten und traten deswegen seit einer Weile auf der Stelle. Ihre geistige Verbindung bestand zwar und sie konnten auch den Körpertausch für einige Minuten aufrecht halten, doch ein eingespieltes Team waren sie noch immer nicht.

Sie konnte nur hoffen, dass sie bald einen Weg aus dieser Zwickmühle fanden. Seitdem Adrian ihr gestanden hatte, was er für Radu empfand, suchte sie Distanz. Im Grunde war es ihr egal, wem Adrian Gefühle entgegenbrachte, doch was geschah, wenn sich seine Empfindungen mit den ihren vermischten? Allein der Gedanke daran jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Sie wollte ihre eigenen Gefühle bewahren und nicht von Adrians starker Liebe zu Radu beeinflusst werden. Erschwerend kam hinzu, dass sich Radu in sie verliebt hatte. Lily mochte den Vampir durchaus, aber Liebe empfand sie nicht für ihn. Er war einfach nicht ihr Typ.

Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, schwebte Hektor durch die geschlossene Tür. Der hagere Schutzengel verharrte vor Lily und seine tiefliegenden Augen richteten sich auf sie. Für einen Moment huschte ein pflichtschuldiges Lächeln über sein schmales Gesicht. Es tut mir leid, dass du das alles mit angehören musstest. Es klang einstudiert und alles andere als ernst gemeint.

Lily ignorierte den Unterton in Hektors Stimme. „Könnt ihr euch nicht aus dem Weg gehen, wenn ihr euch nicht mögt? Ehrlich gesagt ist es mir egal, in wen er sich verliebt.“

Mir aber nicht. Schutzengel sollten nicht in der Lage sein, solche Gefühle zu entwickeln. Ihre einzige Liebe gilt ihren Schützlingen. Wie will er auf dich aufpassen, wenn ihr einem wirklich mächtigen Gegner entgegentretet? Um gegen einen solchen Feind zu bestehen, müsst ihr endlich eine richtige geistige Bindung aufbauen. Ich vermute, dass es nicht klappt, weil ihm Radu durch den Kopf spukt. 

„Er ist trotzdem ein guter Schutzengel“, sagte Lily und stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf.

Adrian hockte mit angelegten Flügeln auf dem Bett. Er wirkte geknickt, doch sein Gesicht erhellte sich, als er aufblickte. Er setzte ein Lächeln auf, um nicht zu zeigen, wie tief ihn Hektors Worte getroffen hatten.

„Alles in Ordnung, Addy?“, fragte sie und ließ sich neben ihm nieder.

Klar, aber ich kann Hektor einfach nicht ausstehen. Er atmete tief durch, doch es fiel ihm sichtlich schwer, seine Fassung zu bewahren. Seine vollen Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst und er ballte die Hände zu Fäusten. Er kämpfte mit sich, rang um Worte, doch letztendlich schwieg er.

Lily wusste, was ihm auf der Seele brannte. Sie las es in seinen hellen Augen, in denen Angst und Unsicherheit standen. Irgendwann mussten sie über ihre Verbindung reden, doch dies musste von Adrian ausgehen. Er war derjenige, der ihr etwas verheimlichte. Sobald Adrian sich ihr öffnete, würde sie ihre Besorgnis bezüglich Radu mit ihm teilen und gemeinsam nach einer Lösung suchen.

„Manchmal kann er ein echtes Ekel sein“, fügte Lily mit einem zurückhaltenden Lächeln hinzu, um ein versöhnendes Gespräch einzuleiten.

Er liebt es einfach, Salz in meine Wunden zu streuen. Adrian richtete sich auf und fuhr sich mit einer Hand durch sein langes, schimmerndes Haar. Seine Flügel waren dank der Sonne kaum zu sehen, doch ein feines Rauschen zeigte Lily, dass er sie ausbreitete. Ich weiß, wie unmöglich meine Gefühle für Radu sind. Ich bin ja nicht dumm! Aber ich kann sie leider nicht ignorieren und einfach verschwinden lassen … 

„Nimm dir Hektors Worte nicht zu sehr zu Herzen, Addy. Du weißt doch, wie er ist.“

Er kann mich nun mal nicht ausstehen, weil ich nicht wie andere Schutzengel bin. Adrian wandte sich an Lily. Ist das wirklich solch ein Verbrechen? Die Verletzungen, die du dir gestern Abend zugezogen hast, sind für ihn Beweis genug, dass ich dich in Gefahr bringe. 

„Jetzt beruhige dich“, versuchte Lily ihren Schutzengel zu beschwichtigen. Die Worte, ‚Hektor hat es nicht so gemeint!’, lagen ihr auf der Zunge, doch sie wusste, dass sie einer Lüge gleichkamen. Stattdessen griff sie den Hauptgrund für Hektors Ablehnung auf: „Warum musste es ausgerechnet Radu sein?“

Als hätte ich mir das ausgesucht. Wenigstens weiß Radu selbst nichts davon. 

„Und Florica?“, hakte Lily nach. Sie dachte an den zierlichen Schutzengel des Vampirs, der sich meistens im Hintergrund hielt.

Sie ist wie Hektor. Sie missbilligt meine Gefühle noch mehr, aber wenigstens verrät sie Radu von sich aus nichts. Wobei das im Grunde auch egal ist. Er kann mich ja gar nicht sehen … Er sank bedrückt in sich zusammen.

„Sei froh, dass sie es ihm verschweigt, obwohl sie ihm eigentlich die Wahrheit offenbaren müsste. Immerhin dürfen Schutzengel nicht lügen.“

Schweigen ist nicht automatisch Lügen. Wenn er sie direkt fragen würde, könnte sie ihm all das auch nicht mehr verheimlichen. 

Lily zog die Augenbrauen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. In ihr glomm erneut die Frage auf, ob sich Adrian hinter der Lüge des Erinnerungsverlustes versteckte, wenn es um ihre Vergangenheit ging. Doch als Schutzgeist durfte er nicht lügen, oder? Stellte sie womöglich die falschen Fragen?

Sie verdrängte das ungute Gefühl in ihrem Inneren und konzentrierte sich wieder auf ihren Schutzengel, der nervös im Zimmer auf und ab tigerte und aufgebracht mit beiden Händen gestikulierte.

Wenn ich wenigstens einen eigenen Körper hätte, könnte ich es ihm sagen und damit abschließen, … aber so. Er verharrte mitten in der Bewegung und wirbelte zu Lily herum. Könnte ich mir nicht einmal deinen Körper ausleihen? Nur für eine Stunde oder so? 

Lily schnappte erschrocken nach Luft. „Bist du noch zu retten? Natürlich darfst du nicht! Damit stachelst du ihn nur noch weiter an und er beginnt, mich ernsthaft zu umwerben. Nein danke!“

Was hast du nur gegen ihn? Ich finde ihn süß. 

Lilys Nackenhaare stellten sich auf, als sie an das charmante Lächeln des Vampirs dachte, der trotz seines hohen Alters wie Mitte zwanzig aussah. Allein die Vorstellung, dass Radu sich von Adrians Liebesgeständnis ermutigt fühlen würde, sorgte für ein flaues Gefühl im Magen. „Lass gut sein. Wir finden eine andere Lösung für dein Problem.“

Ach ja? Und was schwebt dir vor? 

„Ich weiß es nicht.“ Das Treffen mit dem Rat schob sich in Lilys Gedanken. Es wurde Zeit, sich fertig zu machen, damit sie nicht zu spät kamen. „Können wir das Thema auf später verschieben? Der Rat will mich heute Nachmittag sehen. Dann bekommen wir die Lizenz und werden ein fester Bestandteil von Alinas Team.“ Sie deutete lächelnd auf ihren Kleiderschrank. „Hilfst du mir, etwas Passendes zum Anziehen zu finden?“

Sicher … In Adrians Stimme schwang Enttäuschung mit.

„Keine Sorge. Ich vergesse deine Probleme nicht. Sobald sich alles beruhigt hat, lassen wir uns etwas einfallen. Versprochen.“

Kapitel 3 – Der Rat

 

Es war früher Nachmittag, als Lily in Alinas aufgewärmten Ford Fiesta stieg. Die Sonne brannte und die Luft flirrte. Lily verabscheute die schwüle Hitze, die wie eine riesige Glocke über Wiesbaden lag, das Atmen erschwerte und jede Bewegung in eine Qual verwandelte. Die ganze Stadt schien dank der Hitze stiller zu sein. Dabei mochte Lily das hektische Treiben in den vertrauten Straßen des Westends, die spielenden Kinder und die unterschiedlichen Kulturen, die hier aufeinandertrafen … Jetzt wirkten die Straßen ausgestorben, als hätte die Hitze alle Menschen in die umliegenden Freibäder vertrieben.

Seit fast sieben Jahren lebte Lily bei Alina und teilte sich mit ihr die Dachgeschosswohnung in einem sanierten Jugendstilgebäude. Es war eine gewaltige Umstellung gewesen, sich an ein Leben in der Innenstadt zu gewöhnen, doch Lily blieb keine Wahl. Als Patentante oblag es Alina, sich nach dem Tod ihrer Familie um sie zu kümmern. Alina schlug die Fahrertür zu und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. „Benehmen sich die beiden?“

Lily wandte sich um und bejahte. Adrian hockte hinter ihr und starrte wie ein beleidigtes Kind aus dem Fenster. Hektor, der unerschrocken Alinas Blick erwiderte, saß gelassen auf der anderen Seite der Rückbank. Das schulterlange Haar trug er in einem strengen Zopf und sein kantiges Gesicht wirkte angespannt, fast schon verhärmt. Er ignorierte Adrian vollkommen.

Ich gratuliere zu deinem Erfolg und deinem Geburtstag, Lily. Hektor setzte ein pflichtschuldiges Lächeln auf, doch es erreichte seine Augen nicht. Erst jetzt schien ihm in den Sinn zu kommen, dass er Lily noch gar nicht gratuliert hatte.

„Du benimmst dich wie ein kleines Kind, Hektor. Ich habe keine Ahnung, was Adrian gemacht hat, aber reiß’ dich bitte zusammen. Heute ist Lilys Geburtstag und ich möchte nicht, dass du uns die gute Laune verdirbst.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, startete Alina den Wagen und manövrierte ihn aus der Parklücke.

„Lass gut sein, Alina. Am besten setzen wir uns in den nächsten Tagen zusammen und diskutieren das Ganze in Ruhe.“ Ein Blick über die Schulter genügte. Weder Hektor noch Adrian schienen von ihrem Vorschlag begeistert zu sein. ‚Und da wir dann in der passenden Stimmung für Konflikte sind, können wir uns auch gleich über meine Eltern unterhalten‘, fügte sie stumm hinzu. ‚Es wird Zeit für Antworten.‘

 

Lily achtete nicht darauf, wohin Alina fuhr. Sie war damit beschäftigt, die beiden Engel im Blick zu behalten, die so viel Platz wie möglich zwischen sich wahrten, um einen weiteren Streit zu vermeiden. Dass sie ebenso wenig mit Hektor klarkam, ignorierte sie geflissentlich. Alinas Schutzengel war streng und überkorrekt, duldete keinen Widerspruch und verabscheute alles, was in irgendeiner Weise gegen die Norm verstieß. Sogar die Tatsache, dass Lily ihre Ausbildung mit der gestrigen Mission erfolgreich abgeschlossen hatte, missfiel ihm. Er sprach es nicht aus, aber sie las es in seiner Mimik.

Als sie die letzten Häuser der Stadt verließen, lenkte Alina den Wagen die steile Platter Straße hinauf, vorbei an grünen Laubbäumen, die sich soweit über die Straße neigten, dass sich ihre Kronen fast berührten. Lily hatte das Gefühl, durch eine Kirche zu fahren.

Ihre Nervosität wuchs. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. In wenigen Minuten würden sie den Hauptsitz des Rates erreichen, ein gewaltiges Anwesen, das Lord Aldwyn gehörte.

Als sie die Hügelkuppe überquerten, bog Alina scharf nach rechts ab und holperte einen schmalen, unebenen Feldweg entlang. Zum ersten Mal fragte sich Lily, wo dieses prächtige Anwesen überhaupt lag und warum es noch kein Mensch zufällig gefunden hatte. Ob ein Feenzauber darüber lag, der es vor fremden Blicken schützte? Im nächsten Moment entdeckte sie eine gut zwei Meter hohe Bruchsteinmauer, die parallel zur Straße verlief und immer wieder hinter Bäumen und Sträuchern verschwand.

„Wir sind gleich da. Dort vorne ist das Tor.“

Lily folgte ihrem Kopfnicken und entdeckte ein gewaltiges, schmiedeeisernes Tor, das offen stand. Alina drosselte die Geschwindigkeit, als sie den Eingang passierten, und fuhr im Schritttempo einen geschotterten Weg zum Haupthaus empor.

Es fühlte sich an, als würden sie quer durch die Zeit reisen und plötzlich ein anderes Jahrhundert betreten. Die Auffahrt führte in einem sanften Bogen einen kleinen Hügel empor. Rechts und links erstreckten sich gepflegte Blumenbeete, die symmetrisch im Park angeordnet waren und ein weitläufiger Garten mit gestutzten Hecken, die die Form verschiedener Tiere hatten, hauptsächlich Fische und Meereslebewesen. Hier und da plätscherte Wasser in kleinen Brunnen oder künstlich angelegten Bächen. Vögel trällerten in den Wipfeln der Bäume, Schmetterlinge flatterten zwischen den Blumen umher und Eichhörnchen und andere Tiere huschten über den Rasen. Fast glaubte Lily elegant gekleidete Damen mit ausgebreiteten Schirmchen zu sehen, die durch die schmalen Pfade flanierten und sich heimlich mit ihren Kavalieren trafen.

„Wie eine andere Welt, nicht wahr?“, riss Alina sie aus den Gedanken. „Aldwyn liebt es, dem vergangenen Jahrhundert Leben einzuhauchen und seine Besucher zu faszinieren.“

„Wieso?“

„Weil er diese Epoche geliebt hat und es noch immer tut. Ich finde diese kleine Macke sympathisch.“ Sie deutete auf das mehrstöckige Gebäude, das sich vor ihnen in den Sommerhimmel reckte. „Das ist das Haupthaus und der Sitz des hohen Rates.“

„Wieso wurde nie über diesen Ort berichtet? Die Presse müsste sich doch überschlagen, wenn …“

„Wenn sie es wüssten? Glaubst du ernsthaft, Aldwyn würde zulassen, dass hier eine Horde Journalisten durchtrampelt?“ Alina zwinkerte ihr zu. „Natürlich schützt er sein Domizil mit Zaubern. Nur diejenigen, die erwünscht sind oder über entsprechende Fähigkeiten verfügen, sind in der Lage, das Anwesen zu betreten. Alle anderen sehen hier nur Bäume und Sträucher. Manchmal laufen Wanderer geradewegs durch das Haus, ohne zu registrieren, wo sie sind. Aldwyn macht sich einen Spaß daraus, sie zu erschrecken, indem er ihnen Worte ins Ohr flüstert.“ Sie lachte und hielt in der Nähe einer großen Freitreppe, die zum Eingangsportal führte.

„Der mysteriöse Geisterwald?“, fragte Lily tonlos. In der Schule machten Geschichten über diesen Teil des Waldes die Runde und er war zu einem beliebten Element für Mutproben in den unteren Klassenstufen geworden.

„Richtig.“ Alina öffnete die Autotür und atmete auf, als eine frische Brise ins Auto wehte. „Du hast eine andere Welt betreten, als wir das Tor passierten.“

Lily nickte sprachlos. Warum hatte Radu nie von den Eigenheiten und der Magie dieses Ortes berichtet? All die Beschreibungen des Anwesens waren zweitrangig, wenn es sich um einen verzauberten Ort handelte.

Wahrscheinlich wollte Alina nicht, dass du danach suchst. Adrian legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Das hätte ich nicht“, flüsterte Lily.

Oh doch. Du bist viel zu neugierig, um eine solche Geschichte zu ignorieren. Ich wette, dass Alina den anderen verboten hat, dir mehr über Aldwyns Anwesen zu verraten, damit du nicht losstapfst und suchend durch den Wald streifst. 

Lily musste ihrem Schutzengel recht geben.

Sie schob die Gedanken beiseite und gesellte sich zu Alina, die vor der Treppe auf sie wartete. Das Hauptgebäude mochte fast zwanzig Meter lang sein und die verspielten Türmchen und Giebel verliehen ihm den Hauch eines Märchenschlosses. Der gelbe Putz wirkte makellos, als sei er frisch saniert worden. Fünf gewaltige Säulen trugen ein steinernes Vordach, das die gesamte Treppe überspannte und mit stilisierten Fischen, Krebsen und Seesternen geschmückt war. Efeu rankte sich an der Fassade bis zum Dach hinauf und fiel wie ein natürlicher Vorhang vor einige Fenster des Erdgeschosses. 

Als Wind den schweren Duft von Rosen zu Lily hinüberwehte, entdeckte sie üppige Rosenbüsche, die am Sockel des Hauses gepflanzt waren. Die Blüten strahlten in einem satten Rot und wirkten so prächtig, dass Lily sie beinah für Plastikblumen hielt, wenn nicht Bienen und Schmetterlinge zwischen den Rosen umhergeflogen wären. Ein beständiges Summen erfüllte die Luft, begleitet vom Rauschen des Windes und dem lauten Gezwitscher der Vögel. 

Lily schwindelte. Die Hitze setzte ihr zu, ebenso der betäubende Duft der Rosen. All diese Pracht war zu viel für ihre Sinne. Überall gab es etwas zu sehen, zu hören und zu riechen; und ihr Gehirn kam gar nicht mehr hinterher, all diese Eindrücke zu verarbeiten.

Mit geschlossenen Augen zählte Lily bis zehn und horchte in sich hinein. Aldwyns Magie musste die Schönheit des Anwesens hervorheben, um unvorsichtige Menschen zu verzaubern oder junge Jäger wie sie zu testen. Immerhin war er ein Feenwesen und diese waren für ihre Blendzauber bekannt. Sie durfte sich von diesem Ort nicht ablenken lassen, sondern musste sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag – die Zeremonie.

Als sie die Lider hob, wirkte die sommerliche Schönheit des Gartens mit einem Mal weniger einladend auf sie. Die Blumen schienen an Farbe verloren zu haben, das Licht wirkte gedämpfter und der Duft der Rosen weniger intensiv. Lily schüttelte die letzten Reste des Zaubers ab, der sie gefangen gehalten hatte.

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel zog ihren Blick zu einem der Fenster im ersten Stock. Die Silhouette eines schlanken Mannes zeichnete sich an einem geöffneten Fenster ab, doch er zog sich sofort zurück, als er bemerkte, dass Lily ihn entdeckt hatte.

„Ein schönes Haus, oder?“, riss Alina sie aus ihren Beobachtungen. Ihre Meisterin hatte das hölzerne Portal bereits erreicht, klopfte jedoch nicht. Hektor stand direkt hinter ihr, den Blick sichernd auf die Umgebung gerichtet. Die Pracht schien ihn überhaupt nicht zu tangieren.

„Ja …“ Lily behielt noch immer das Fenster im Blick, doch ihr unbekannter Beobachter zeigte sich nicht noch einmal. Stattdessen ließ sie den Blick durch den Garten schweifen, während sie ihren Weg fortsetzte. Sie entdeckte einige Atlanten in Form von Meerjungfrauen, die einen wuchtigen Balkon stützten. „Lord Aldwyn beherrscht das Wasser, oder?“

„Das ist offensichtlich, oder? Die kleinen Brunnen im Park sind alle mit Meereswesen verziert und bei den mit Blüten bepflanzen Amphoren bestehen alle Musterungen aus Muscheln und echten Perlen.“

Lily schloss zu ihr auf. Die Eingangstür stand unterdessen offen und ein zierliches Mädchen verneigte sich vor ihnen. „Mein Name ist Ciara. Ich bringe Sie zu meinem Herrn.“ Unter den braunen Locken blitzten rot bepelzte Ohren hervor, als sie aus Katzenaugen zu Lily schielte. Dicht neben ihr stand ein kleiner roter Fuchs, der aus großen goldenen Augen zu ihr aufsah.

Alina klopfte Lily zuversichtlich auf die Schulter.

Gemeinsam betraten sie das Haupthaus. Weiße Bodenfliesen und terracottafarbene Wände verliehen der Eingangshalle ein sonniges Flair. Verwachsene Bäume und bunte Blumen säumten die hohen Wände, wuchsen an einigen Stellen bis zur Decke und verzierten den Raum, wie es in anderen Häusern Gemälde und Teppiche taten. Ciara steuerte rasch eine Treppe an, die in den ersten Stock führte, und Alina zog sie am Arm hinter sich her. Dennoch hatte Lily Mühe, Schritt zu halten. Zu einnehmend waren all diese Wunder, die es in den Korridoren zu entdecken gab. Die Natur beherrschte die Räumlichkeiten und Flure, und je tiefer sie ins Innere der Villa kamen, desto mehr glich Aldwyns Anwesen einem Urwald. Schmetterlinge und Kolibris flatterten an ihr vorbei und setzten sich auf Leuchter, die wie riesige Blumenkelche aussahen. 

Du verlierst schon wieder den Blick fürs Wesentliche, Lily, mahnte Adrian sie. 

Lily nickte und heftete ihren Blick auf die gemusterten Bodenfliesen. Von diesen schien wenigstens kein Zauber auszugehen, der sie in den Bann schlagen konnte.

„Die Villa eines Feenwesens verzaubert jeden. Ich kann verstehen, dass dich all das fasziniert.“ Alina legte lächelnd eine Hand auf Lilys Schulter. „Deswegen sind sie gefährliche Gegner, die man nicht unterschätzen sollte. Ihre Magie macht sie unberechenbar und sie können sie überall wirken. Du kennst gewiss die Legenden, oder?“

Lily nickte. Es gab unzählige Sagen und Geschichten über das Feenreich, beginnend bei Shakespeares „Sommernachtstraum“, bis hin zu den unzähligen Wikipediaeinträgen über einzelne Kreaturen des Seelie und Unseelie Courts.

„Wir sind da.“ Ciara blieb vor einer großen, hölzernen Tür stehen, die Lily durch ihre strenge Schlichtheit sofort ins Auge fiel. Hinter dieser Tür saß gewiss der Rat und wartete auf sie. Ihre Hände wurden feucht. Mühsam straffte sie die Schultern. Sie durfte den Mitgliedern nicht als schwacher Mensch entgegentreten, sondern als vollwertige Jägerin.

Leicht staubiger Geruch schlug Lily anstelle des süßen Duftes von Lilien und Rosen entgegen, als die Tür aufschwang und sie den Raum betraten. Im Vergleich zu dem leichten Rascheln der Blätter und dem Summen der Insekten auf den Fluren war es hier totenstill. Die holzvertäfelten Wände waren frei von Bildern und Pflanzen, stattdessen nahmen Bücherregale die rechte und linke Seite ein. Die großen Fenster am anderen Ende des Raumes reichten bis zum Boden und standen offen. Leichter Wind bewegte die feinen Gazevorhänge und fuhr raschelnd durch einen Stapel Papier, der auf einem langen Tisch lag. An diesem saßen sie auf hohen, lederbezogenen Stühlen – die Mitglieder des Rates. Sie musterten Lily stumm und im ersten Moment starrte sie einfach nur zurück. Schließlich besann sie sich und grüßte die Anwesenden mit einer leichten Verneigung, wie Alina es ihr vor einigen Stunden gezeigt hatte.

Aus den Augenwinkeln betrachtete Lily die Ratsmitglieder neugierig. Links außen saß ein breitschultriger Mann, der vielleicht Mitte vierzig sein mochte. Unbändige, braune Locken, zwischen denen Federn, Steine und Knochen hervorblitzten, umrahmten sein breites Gesicht. Die tiefliegenden Augen schimmerten golden und um seinen Mund lag ein harter Zug. Neben seinem Ohr verunstaltete eine lange Narbe sein Gesicht. Das musste Phileas, der Anführer der Werwesen, sein.

Zu seiner rechten saß eine menschliche Frau unbestimmbaren Alters. Ihr schwarzes Haar war bereits von grauen Strähnen durchzogen, doch in ihren silbernen Augen loderte ein unbändiges Feuer. Von nun an nahm sie die Position von Lilys direkter Vorgesetzten ein – Adora, die die menschlichen Rechte im Rat vertrat.

In der Mitte hatte der Herr des Hauses Platz genommen – ein zierlicher und wunderschöner Mann, der Lily fast den Atem nahm. Schneeweißes Haar fiel in ein schmales, jugendliches Gesicht und spitze Ohren lugten unter einigen Strähnen hervor. Über den hohen Wangenknochen leuchteten zwei saphirblaue Augen, in denen leiser Spott stand. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, bevor er sich abwandte und seiner Sitznachbarin etwas zuflüsterte. Diese wirkte jünger als Alina, doch ihre dunklen Augen zeugten von Weisheit und verrieten ihr wahres Alter. Aus der kunstvoll hochgesteckten, roten Haarmähne ringelten sich einige Strähnen in ihre hohe Stirn und den Nacken. Als sie lächelte, entblößten ihre vollen Lippen für einen Moment zwei scharfe Zähne. Estera war noch schöner, als Radu sie ihr beschrieben hatte. Lily verstand, warum der Vampir seine Herrin so abgöttisch liebte und verehrte. Mit einer eleganten Bewegung lehnte sie sich zurück und wickelte versonnen eine Haarsträhne um ihre Finger.

Das waren sie also, die vier Mitglieder des Rates, die die Arbeit der Jäger steuerten und den Frieden zwischen den Rassen wahrten.

Plötzlich blieb Lilys Blick an einer weiteren Person hängen. Fünf Vertreter? Unmöglich …

Überrascht hob sie den Blick und musterte den jungen Mann, der auf der rechten Seite der langen Tafel saß. Sein jugendliches Gesicht war hübsch, aber ausgemergelt, und würde er ihr in Straßen des Westends begegnen, Lily würde ihn nicht einmal bemerken. Hier jedoch, zwischen all den außergewöhnlichen Geschöpfen stach er hervor. Er war groß und schlaksig und überragte Estera selbst im Sitzen um fast einen Kopf. Dunkelbraunes Haar fiel vor stechend grüne Augen, die Lily an ein wenig Jade erinnerten. Etwas an seinem Blick kam ihr merkwürdig vor, doch sie konnte nicht sagen, was sie beunruhigte.

Sie schluckte trocken und wollte sich abwenden, als ihr ein verschlungener Anhänger auf seiner Brust ins Auge fiel. Nie zuvor hatte sie etwas Derartiges gesehen. Das silberne Schmuckstück schien in Bewegung zu sein, als schlängelten sich die Ornamente um den blassgrünen Stein, der im Zentrum saß. Ein seltsames Gefühl des Erkennens flammte in Lily auf, doch noch bevor sie nach dem Wissen greifen konnte, verflüchtigte es sich wieder.

Sie schüttelte die abstrusen Gedanken ab. Wer auch immer dieser Mann war, der mit den Ratsmitgliedern am Tisch saß, es war falsch ihn anzustarren, als sei er das achte Weltwunder. In dem Moment trafen sich ihre Blicke und Lilys Herz setzte einen Schlag aus, nur um doppelt so schnell weiter zu schlagen. Was um alles in der Welt war mit ihr los? Wieso brachte dieser Mann sie so aus dem Konzept?

Alles in Ordnung, Lily?, raunte Adrian ihr zu. Mit seinem leuchtenden Körper versperrte er ihr die Sicht auf den Fremden. Normalerweise konnte Lily es nicht leiden, wenn er sich unaufgefordert einmischte, doch dieses Mal begrüßte sie es. Sie atmete tief durch und wandte sich den anderen Ratsmitgliedern zu.

„Ich denke, wir müssen uns nicht vorstellen“, begann Aldwyn, als hätte er nur darauf gewartet, dass sie ihm Aufmerksamkeit schenkte. „Du kennst uns alle gewiss aus den Geschichten deiner Freunde, oder?“

Lily nickte, schielte jedoch unwillkürlich zu dem jungen Mann. Radu, Hannah und der Feenmann Cionaodh, der ebenfalls Alinas Jägerteam angehörte, hatten in all ihren Berichten kein weiteres Ratsmitglied erwähnt. Er war ein Mensch, das spürte Lily sehr deutlich, allerdings umgab ihn eine seltsame Aura, die ihn von Adora unterschied.

„Fragst du dich gar nicht, wo unsere Schutzengel geblieben sind?“

Lily erstarrte. Erst jetzt bemerkte sie, dass die hellen Lichtwesen gar nicht hinter ihren Schützlingen schwebten.

Sie sind nicht hier, flüsterte Adrian. Aber sie sind ganz in der Nähe. 

„Hör auf, sie zu ärgern, Aldwyn.“ Ein leises Lachen begleitete Esteras Worte und sie zwinkerte Lily amüsiert zu. „Es ist doch offensichtlich, dass sie Meister Silas’ Anwesenheit verwirrt.“

‚Silas also …’, schoss es Lily durch den Kopf. Sie spürte, wie ihr vor Scham die Röte ins Gesicht stieg. Man hatte sie durchschaut und es war ihr peinlich, dass die Vampirin es auch noch offen aussprach. Dennoch zwang sie sich zur Ruhe und fragte leise: „Wo sind sie?“

„Wir hielten es für besser, wenn du sie ein andermal kennenlernst.“ Über Aldwyns Gesicht huschte ein kurzes Grinsen und er breitete gönnerhaft die Arme aus. „Wir gratulieren dir zu deiner bestandenen Prüfung.“

„Du hast den gefährlichen Vampir Logan erfolgreich zur Strecke gebracht“, fügte Estera anerkennend hinzu. „Es tut mir sehr leid, dass er dich verletzt hat. Da er in gewisser Weise zu meiner Brut gehört, bin ich für seine Taten verantwortlich. Es ist bedauerlich, dass immer mehr vom rechten Weg abkommen und den alten Riten und Regeln abschwören.“

Lily wagte es nicht, sie zu unterbrechen. Die Vampirin schien sehr zerknirscht zu sein.

„Dafür gibt es die Jägergruppen, meine Liebe.“ Adora erhob sich, schenkte Estera ein kaltes Lächeln und winkte Lily zu sich. Ihre Stimme nahm einen feierlichen Ton an, als sie fortfuhr: „Ab heute bist du einer von ihnen, Lily. Du hast deine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und deine Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Daher erhebe ich dich offiziell in den Rang eines menschlichen Jägers. Ab sofort unterstehst du meinem Befehl oder dem deiner Meisterin Alina. Du bist mir gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet und wirst nichts tun, um meinem Namen zu schaden.“

Lily nickte eifrig.

„Versprichst du, den alten Kodex zu wahren?“

„Ich verspreche es.“

Adora nickte wohlwollend und fuhr fort. Es hörte sich an, als wiederholte sie Worte, die sie bereits hundert Mal gesprochen hatte. „Kein Sterblicher darf von der Existenz der Vampire, Feen- und Werwesen erfahren, das ist unser oberster Kodex. Die Pflicht eines Jägers besteht darin, diejenigen zur Strecke zu bringen, die dieses eiserne Gesetz brechen. Du wirst gegen alle Abtrünnigen kämpfen, die unser sensibles Gleichgewicht stören.“

„Ich werde kämpfen“, sagte Lily wild entschlossen. Darauf hatte sie seit Jahren gewartet.

„Vergiss eine Sache niemals: Auf dir als Mensch ruht eine größere Last, da du dich mit Leuten umgibst, die nichts von alldem wissen. Sei dir stets bewusst, dass du ihnen gegenüber nie etwas verraten darfst – keine Hinweise, keine Warnungen. Ansonsten brichst du selbst den Kodex und wirst vom Jäger zum Gejagten.“

Lily schauderte unwillkürlich. Sie hatte bisher nie von einem Menschen gehört, der in den Fokus des Rats gerückt war. Wenigstens würde sie nicht hinzugezogen werden, wenn es darum ging, einen Menschen zur Strecke zur bringen, sagte doch ein weiteres Gesetz aus, dass Jäger und Gejagte nicht derselben Rasse angehören durften.

„Wenn du alles verstanden hast, tritt näher.“ Adoras Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln und es wirkte nicht einmal aufgesetzt.

Entschlossen setzte Lily einen Fuß vor den anderen und blieb vor dem menschlichen Ratsmitglied stehen. Lediglich die breite Tischplatte trennte sie voneinander. Mit Stolz nahm sie ein versiegeltes, zusammengerolltes Pergament entgegen.

„Mit dieser Lizenz bist du ab sofort berechtigt, in unserem Auftrag solche zu jagen und zu vernichten, die den Kodex brechen, unwissende Menschen bedrohen und unsere Existenz in Gefahr bringen.“

„Ich danke Euch.“ Lily senkte den Blick und registrierte beiläufig, wie Estera verärgert den Kopf in den Nacken warf und das Spielen mit ihrer Haarsträhne einstellte. Aus irgendeinem Grund funkelten die Augen der Vampirin zornig, doch Lily wusste nicht, wieso. Lag es an ihr? Oder konnte sie Adora nicht leiden?

„Wir haben entschieden, dass du aufgrund deines jungen Alters …“ Sie warf einen überheblichen Blick auf Estera und ließ diese Worte einen Moment im Raum stehen. „… vorerst bei Alina und ihrer Gruppe bleiben wirst. Es ist zwar unüblich, zwei menschliche Jäger in einem Team zuzulassen, doch wir denken, dass es besser ist. Du kannst noch viel von Alina lernen und später zu einem passenden Team wechseln.“

„Danke“, flüsterte Lily und verneigte sich leicht, das Pergament an ihre Brust gedrückt.

Adora lachte kurz auf. Es klang wie das rostige Scheppern einer Gießkanne.

Ich wünschte, sie würde dieses überhebliche Gehabe ablegen, flüsterte Adrian. Er stand neben ihr, beobachtete jedoch noch immer den unbekannten Mann. Und ich frage mich, was dieser Mann hier im Rat macht. Sind sie wahnsinnig geworden? Ein seltsamer Unterton beherrschte seine Stimme. Sie klang ungewohnt hart, streng und … angsterfüllt? Am liebsten hätte sie ihn gefragt, was er damit meinte, doch sie konnte jetzt unmöglich das Wort an ihn richten.

Stattdessen folgte sie seinem Blick, um Silas zu mustern. Noch immer starrte er sie an, doch es hatten sich Erkennen und Ungläubigkeit in seine Gesichtszüge geschlichen. Fragen erwachten in ihr und am liebsten hätte sie auch das fünfte Ratsmitglied damit bombardiert.

Mühsam riss sie sich von den seltsamen grünen Augen los und fixierte Adora, die beständig weiter redete. Lily achtete kaum auf ihren Monolog, der sich um die Jagd, die Aufträge und die Pflichten der Jäger drehte. „Damit ist der offizielle Teil beendet“, schloss Adora schließlich. „Auf eine gute Zusammenarbeit.“

Lily ergriff die ihr dargebotene Hand. Mit fester Stimme wiederholte sie die Worte, die Alina ihr eingetrichtert hatte. „Vielen Dank für Euer Vertrauen. Ich werde den Rat nicht enttäuschen.“

Als sie sich mit einer Verneigung abwandte und zu Alina trat, fuhr ihr kalter Schrecken durch Mark und Bein. Adrian war nicht an ihrer Seite, sondern trat zu Silas und musterte ihn ausgiebig. Die Schultern ihres Schutzengels wirkten angespannt, seine Hände zitterten sichtlich. Lily war froh, dass die Begleiter der Ratsmitglieder ihre Schützlinge nicht auf Adrians Verhalten aufmerksam machen konnten. Lediglich Hektor sog scharf die Luft ein und flüsterte Alina etwas zu.

Was bedeuteten Adrians seltsames Gebaren und seine obskuren Worte? Wieso diese offene Feindschaft gegenüber Silas? Zum ersten Mal wünschte sie sich, mit ihrem Schutzengel verbunden zu sein, seine Gedanken und Gefühle lesen zu können. 

Kapitel 5 – Ungeahnte Kräfte

 

Lily hetzte durch den Wald, so schnell es ihre Beine erlaubten. Sie sprang über Wurzeln, wich tiefhängenden Ästen aus und umrundete niedrige Büsche und Efeuranken möglichst geschickt und ohne wertvolle Zeit zu verlieren. Zeit, die sie benötigte, um die Lichtung zu erreichen, auf der Alina und Radu auf sie warteten. Sie betete darum, schnell genug zu sein, bevor …

Der Gedanke an ihre Verfolger verlieh ihr Flügel. Obwohl ihre Kehle brannte, als würde sie pures Feuer trinken, und ihre Seite so sehr stach, dass sie glaubte, die Besinnung zu verlieren, stürzte sie weiter. Das gefährliche Grollen, das sie seit einem knappen Kilometer verfolgte, spornte sie zusätzlich an. Als hätte ihr jemand einen Peitschenhieb verpasst, preschte sie ungebremst durch einen mannshohen Busch. Dornen und Äste zerkratzten ihr Gesicht und ihre Arme, doch sie kümmerte sich nicht um die leichten Kratzer. Wenn einer der Werwölfe seine Zähne in ihrem Fleisch versenkte, würde es wesentlich schlimmer werden.

Ich übernehme! Adrian flog direkt über ihr, behielt die Verfolger im Auge und gab ihr Hinweise, wohin sie laufen sollte. Du bist am Ende deiner Kräfte. 

Lily ersparte sich eine Antwort und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den unebenen Waldboden. So schnell der Körpertausch auch vonstattenging, sie würde dafür stehen bleiben und sich auf ihren Schutzengel konzentrieren müssten. In der jetzigen Situation war das reiner Selbstmord. Sie würden ihren Vorsprung einbüßen und Adrian brauchte zudem immer einige Sekunden, um sich an Lilys Körper zu gewöhnen.

Das Heulen hinter ihr klang näher als jemals zuvor. Fast glaubte sie, den warmen Atem der Werwölfe in ihrem Nacken zu spüren. Sie zwang sich, keinen Blick zurückzuwerfen, um keine wertvollen Sekunden zu verschenken.

Dann hole ich wenigstens Hilfe. Adrian verschwand mit einem leichten Flackern. Sie betete, dass sie der Lichtung nah genug waren. In Ausnahmesituationen konnten sie sich für kurze Zeit voneinander lösen, doch sie durften nie allzu weit auseinander sein.

Für eine Sekunde lenkte sie die plötzliche Trennung von Adrian so sehr ab, dass sie die Wurzel übersah, die sich wie ein riesiger Wurm über den Boden wand. Mit einem Aufschrei stürzte sie, riss sich Hände, Arme und Knie blutig. Der brennende Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, als Erde, Dreck und trockene Blätter in ihre Wunden drangen. Sie schnappte nach Atem, doch die Luft schien sich in glühende Lava zu verwandeln, die jeden Atemzug zur Qual machten.

‚Weg hier!’, schrie ihre innere Stimme panisch, doch noch bevor Lily sich aufrappeln konnte, erreichte sie der erste Wolf. Mit lautem Geheul stürzte er sich auf sie und setzte sein ganzes Gewicht ein, um sie zu Boden zu drücken.

Lily schrie, wich dem zuschnappenden Maul aus und stemmte sich gegen das grauschwarze Monstrum. Wenn sie schon von einem wild gewordenen Werwolf zerfleischt wurde, dann würde sie bis zum letzten Blutstropfen kämpfen.

Plötzlich war sie frei. Von einem Moment zum anderen fiel aller Schmerz von ihr ab und unerwartete Freiheit umgab sie. Erleichtert atmete sie auf. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Adrian sie aus ihrem Körper verdrängt hatte und nun an ihrer Stelle gegen den Werwolf ankämpfte.

Wie immer schwebte sie ein gutes Stück oberhalb der Szenerie, beobachtete das Duell aus sicherer Entfernung. Die restlichen Mitglieder des Rudels hatten unterdessen aufgeholt, zögerten jedoch mit ihrem Angriff. Sie belauerten Adrian, der den Anführer der Werwölfe im Genick packte und mit aller Kraft von sich schleuderte. Diese Kraft hätte sie nie aufbringen können.

Adrian ignorierte die Wunden, die seinen Körper übersäten, und richtete sich auf. Seine Augen funkelten golden, als er die Wölfe fixierte.

Die Luft war wie elektrisiert und die Atmosphäre glich der Ruhe vor dem Sturm. Obwohl Lily nicht direkt involviert war, kroch Angst in ihr Herz. Was geschah mit ihr, wenn ihr Körper unter den Angriffen starb? Bisher hatte Adrian nie gegen eine solche Übermacht kämpfen müssen. Im Vergleich dazu war die Mission gegen Logan ein Kinderspiel gewesen.

Das leise Knacken war wie ein Kanonenschuss. Drei der Werwölfe stürzten sich mit gefletschten Zähnen auf Adrian, der sich mit einem tollkühnen Sprung vor dem ersten Angreifer in Sicherheit brachte. Seiner Geschicklichkeit hatte er es zu verdanken, dass er den Zweiten mitten im Sprung mit einem Tritt gegen einen Baum schleudern konnte und genügend Zeit fand, mit beiden Händen den Kopf des weißen Tieres zu packen. Mit aller Gewalt drückte er das Maul zu, hielt den gewaltigen Schädel. Der Wolf wehrte sich wie ein Wahnsinniger. Immer wieder schnappte er nach Adrians ungeschützter rechter Seite, wand sich und hinterließ blutige Kratzer auf den Oberschenkeln ihres Körpers. Erst als sich der Anführer grollend näherte, ließ Adrian von seinem Gegner ab, entzog sich den scharfen Zähnen und taumelte einige Meter zurück. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Noch war er, bis auf die Kratzer der Klauen, unverletzt, doch Adrians Kräfte schwanden. Jede Attacke und jedes Ausweichmanöver zehrte an seiner Energie und obwohl er mit Müh und Not drei Wölfe in Schach halten konnte, stand die Zeit nicht auf ihrer Seite. Die Werwesen verfügten nicht nur über eine stärkere Konstitution, auch der Körpertausch war nicht von Dauer. In einigen Minuten würde Lily sich dort unten wiederfinden. Bereits jetzt deutete ein unangenehmes Ziehen darauf hin, dass ihre Seele zurück in ihren Körper drängte.

„Keine Angst, die anderen sind auf dem Weg.“

Wollte er so lange weiterkämpfen, bis Alina und Radu hier waren? Unmöglich – sie und Adrian waren noch nicht so weit, um für mehr als fünf Minuten den Platz zu tauschen.

Adrian ignorierte ihre Zweifel und ging stattdessen in den Angriff über. Mit einem gewaltigen Sprung schoss er auf den schwarzen Anführer zu und rammte ihm die Faust in die Seite. Ein keuchendes Heulen entfloh dem Wesen und noch bevor es seine Überraschung überwinden konnte, setzte Adrian nach. Er packte den Werwolf, warf sich mit seinem Gewicht gegen den monströsen Körper und rang ihn zu Boden. Mit beiden Armen umklammerte er den Hals des Werwolfs, versuchte ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Leider griffen in diesem Moment zwei Tiere des Rudels ins Geschehen ein.

Pass auf! 

Ihr Warnruf half nicht. Scharfe Zähne gruben sich tief in Adrians Schulter; noch schlimmer, der Wolf biss sich an ihm fest. Er zerrte so heftig an ihm, dass Lily bereits das Knacken von Knochen und das Reißen der Muskelstränge zu hören glaubte. Sie würden ihn und damit ihren Körper zerfleischen, wenn die Kavallerie nicht binnen der nächsten Sekunden die Bildfläche betrat.

Adrian bäumte sich auf, drückte allerdings immer noch mit aller Gewalt den schwarzen Wolf zu Boden. Woher er die Kraft nahm, den Arm zu nutzen, wusste Lily nicht, doch er hielt den Anführer wie in einem Schraubstock fest. Der schwarze Werwolf schnappte knurrend nach Adrians Händen und Armen, zerkratzte mit seinen Klauen Oberarme und Brust. Lilys Shirt hing längst in Fetzen herab.

Obwohl sie den Schmerz nicht spürte, tastete Lily über ihre Schulter. Noch war sie unversehrt, doch sie glaubte, das riesige Gebiss bereits jetzt zu spüren. Wie würde es sich erst anfühlen, wenn sie in ihren Körper zurückkehrte und die Verletzungen direkt wahrnahm?

Plötzlich veränderte sich Adrians Haltung. Er spannte sich an, als wollte er die Werwölfe abschütteln und fliehen. Lily wusste, dass er nicht davonlaufen würde, doch sie begriff nicht, was ihr Schutzengel plante. Seine Gedanken waren ihr ein Rätsel, ungreifbar und irreal. Zum ersten Mal fühlte sich Adrians Gegenwart seltsam an, als wäre er ein Fremdkörper, der nicht zu ihr gehörte.

Im nächsten Moment brachen leuchtend weiße Schwingen aus seinem Rücken. Mit einem einzigen Schlag schleuderte er den Wolf an seiner Schulter beiseite und drängte die übrigen zurück. Blut spritzte, benetzte den Waldboden und Lilys Körper. Mit einem Aufschrei stürzte sich Adrian auf den Anführer und drückte dessen Kehle zu, bis die gelben Augen aus den Höhlen quollen.

Die Wölfe überwanden ihren Schreck und kamen ihrem Alpha zu Hilfe. Mit wütendem Geheul stürzten sie sich auf Adrian, schlugen ihre Fänge in die weißen Flügel, bis sie unter dem Ansturm des Rudels brachen.

Übelkeit stieg in Lily auf. Noch nie hatte sie so viel Blut gesehen. Es floss über Adrians Arme und Rücken, färbte seine Schwingen rot, bis sie sich in graue Asche verwandelten und verschwanden.

Adrian atmete schwer. Sein Gesicht war kalkweiß, sein Blick flackerte. Er murmelte etwas, das Lily nicht verstand, doch die Worte klangen seltsam rau und fremdartig. Sie wusste weder, was er tat, noch konnte sie es in seinen Gedanken erkennen. Für den Bruchteil einer Sekunde glühte ein verschlungenes Symbol auf Adrians Stirn auf. Gleichzeitig baute sich eine bläulich schimmernde Schutzwand um ihn auf und schleuderte die Angreifer zurück. Einige Werwölfe prallten gegen die umstehenden Bäume, andere wichen zurück und brachten einige Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und den Schutzengel.

„So leicht mache ich es euch nicht!“, presste Adrian zwischen bebenden Lippen hervor. Obgleich er immer mehr Blut verlor und Lily sich sicher war, dass er kaum noch Kraft hatte, hielt er den schwarzen Wolf gefangen.

Wie hast du das gemacht? Nie zuvor hatte Lily etwas Derartiges gesehen. Erst die Flügel, die aus ihrem Körper hervorbrachen, jetzt dieses Schutzschild. Von Alina wusste sie, dass einem Engel im Notfall einige Zauber zur Verfügung standen, um ihren Schützling zu verteidigen, aber so etwas? War es normal, dass aus ihrem menschlichen Körper Flügel wuchsen? War eine solch starke Symbiose möglich?

Anstatt einer Antwort, spürte sie den Sog ihres eigenen Körpers mit einer Gewalt, der sie kaum etwas entgegensetzen konnte. Alles in ihr drängte zurück und allmählich mischte sich Schmerz in ihre Empfindungen. Sie waren länger getrennt als jemals zuvor und dieser Umstand forderte seinen Tribut. Sie schwebte näher, obwohl sie wusste, dass es Wahnsinn war, jetzt zurückzukehren. Der Anführer hatte seine erbitterte Gegenwehr zwar aufgegeben, doch es war offensichtlich, dass er auf eine Chance lauerte.

„Komm ja nicht auf die Idee, jetzt zu tauschen!“ Adrians Stimme hallte laut durch die Nacht. Er schob ein Knie in das Genick des Wolfes und erntete ein Jaulen. Das Wesen schnappte nach ihm, doch Adrian drückte sein Maul unbarmherzig in den weichen Waldboden.

Ich kann es nicht verhindern. Meine Seele will zurück. 

„Dann konzentriere dich mehr. Alina hat dir gezeigt, wie du den Tausch verlängern kannst.“ Er blickte Lily direkt an. Ihr eigenes Gesicht kam ihr merkwürdig vor, jetzt wo sich Adrians Züge damit vermischten. Sie hätte nie gedacht, dass sich ihr Körper so sehr verändern würde, wenn sie tauschten. Der Schutzschild flackerte. Adrian verzog die Lippen. Die Verletzung an der Schulter schwächte ihn, ebenso die Magie, die er anwandte, und die Kraft, die er benötigte, um in ihrem Körper zu verharren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Adrian zusammenbrach.

„Du hältst nicht mehr lange durch!“ Ein Knurren begleitete die kehligen Worte des Anführers der Werwölfe. Es überraschte Lily, dass er trotz seiner tierischen Gestalt in der Lage war zu sprechen.

Adrian ignorierte ihn. Er umklammerte den Hals seines Gegners, wollte ihn endgültig erwürgen oder ihm das Rückgrat brechen. Vergebens. Dazu fehlte ihm unterdessen die notwendige Kraft.

„Schade, dass du vorhin zu abgelenkt warst, als du noch genügend Kraft hattest“, höhnte der Wolf. Er spannte seine Muskeln an und stemmte die Pfoten in die Erde. Nur mit Mühe konnte Adrian ihn zu Boden drücken. „Es dauert nicht mehr lange und du kannst mich nicht mehr halten.“

Lily schauderte. Der Werwolf hatte recht.

„Gib auf! Auf die paar Sekunden kommt es nicht mehr an.“ Er fletschte die Zähne und ein Grollen entstieg seiner Kehle.

Im nächsten Augenblick brach ein riesiger brauner Wolf hinter einem Baum hervor und stürzte sich mit gebleckten Zähnen und wütendem Geheul auf das verwirrte Rudel. Er bewegte sich mit solch einer Kraft und Schnelligkeit, dass sein erster Gegner nicht einmal Zeit zum Aufjaulen hatte. Scharfe Fangzähne rissen dem Wolf die Kehle auf.

Hannah!

Lily würde sie unter hundert Wölfen wiedererkennen.

Noch bevor ihr erstes Opfer zusammenbrach, setzte sie zum Sprung an und attackierte den nächsten. Dieser wich aus und Hannah setzte ihm nach. Ein wilder Kampf entbrannte. Holz splitterte. Wütendes Gebell, Fauchen und Knurren erfüllten die Nacht. Hannah kämpfte mit einer solchen Wut und Grausamkeit, dass niemand sie bezwingen konnte. Binnen weniger Minuten hatte sie einen Großteil der Werwölfe verletzt oder getötet.

Adrians Schutzschild zerbrach, als Hannah die letzten Wölfe davonjagte. Obwohl die Niederlage der Werwölfe feststand, gab der schwarze Wolf nicht auf. Mit funkelnden Augen bäumte er sich auf und schüttelte Adrian wie eine lästige Fliege ab. Der Engel taumelte zurück und stürzte zu Boden.

„Wenn ich schon sterbe, nehme ich dich wenigstens mit mir!“

Adrian! 

Plötzlich geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ein schwarzer Schatten stürzte sich mit glühenden Augen auf den Anführer der Wölfe. Mit unsäglicher Gewalt riss er ihn von Adrian hinunter. Noch bevor Lily erkennen konnte, wer ihnen in letzter Sekunde das Leben rettete, nahm der Sog, in ihren Körper zurückzukehren, überhand. Er war so stark, dass sie fast die Besinnung verlor. Sie durfte nicht länger außerhalb verweilen.

Mit einer unsäglichen Wucht spürte sie ihren eigenen Körper und ihre Seele zerbrach fast an der plötzlichen Enge ihres körperlichen Gefängnisses.

Lily keuchte auf und blinzelte die Tränen aus den Augen. Die Rückkopplung war heftiger als jemals zuvor. Blut rauschte in ihren Ohren, ebenso hallte jeder Herzschlag in ihrem Kopf wider. Sie wartete auf den Moment, in dem ihr Geist die vielen Verletzungen wahrnahm, sich der Schmerz in ihren Verstand bohren würde, doch nichts dergleichen geschah. Ihre Muskeln brannten vor Erschöpfung, ihre Sprunggelenke waren überdehnt und ein Krampf saß in ihrer rechten Hand, aber darüber hinaus fühlte sie nichts. Das war unmöglich …

„…ly“, schob sich eine leise Stimme in ihre Verwunderung. „Lily! Alles in Ordnung?“ Beharrlich wiederholte jemand ihren Namen und es dauerte einen Augenblick, bis sie die panischen Worte mit Alina verband.

„Ja …“, krächzte sie.

„Gott sei Dank.“ Alina atmete auf und legte ihre Jacke über Lilys nackten Oberkörper. „Bist du verletzt?“

Ohne dass Lily es verhindern konnte, entschlüpfte ihr ein irres Lachen. Sah Alina denn die klaffende Schulterverletzung nicht? Die blutigen Kratzer, die ihren Körper übersäten, die Bisswunden an Armen und Beinen? Mit zitternden Fingern strich sie über ihren Oberarm, ertastete jedoch unversehrte Haut. Sie riss die Augen auf, starrte verwirrt in Alinas besorgtes Gesicht und wandte den Kopf zur Seite. Nichts. Die tiefe Wunde war verschwunden, nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben. Auch die blutenden Bissspuren und die Kratzer hatten sich in Luft aufgelöst.

Was um alles in der Welt war geschehen?

Lily richtete sich vorsichtig auf. Es kostete sie enorm viel Kraft, sich in die sitzende Position zu stemmen, doch mit Alinas Hilfe gelang es ihr. Sie atmete tief durch und schloss die Augen, bis der Schwindel nachließ und die bleierne Müdigkeit verschwand, die ihr in den Knochen saß.

„Geht es?“ Alina schob die Jacke über Lilys Schultern. Tränen standen in ihren hellen Augen. „Als ich den Kampflärm hörte, dachte ich schon, wir seien zu spät. Es tut mir so leid. Ich hätte dich nie einer solchen Gefahr aussetzen dürfen.“

„Es ist nicht deine Schuld. Du konntest nicht wissen, dass sie angreifen, sobald sie mich sehen.“ Lily schauderte und ließ den Blick über das aufgewühlte, blutige Schlachtfeld schweifen. Gräser und Moose waren zertrampelt, Kratzer und Risse zierten die breiten Baumstämme. Hier und da lagen die Kadaver der Wölfe, einige atmeten schwach oder stöhnten leise. Die wenigstens würden den kommenden Sonnenaufgang erleben, bei einigen lösten sich bereits die Schutzengel aus dem Körper, einen leuchtenden Seelenkristall an die Brust gedrückt. Etwas abseits lag der übel zugerichtete Körper des Anführers. Das Leben hatte ihn bereits verlassen. Von den übrigen Werwesen fehlte jede Spur. „Wo sind die Überlebenden?“

„Hannah und Radu kümmern sich um sie. Die beiden haben sie sofort von hier weggetrieben, als sie dich fanden.“

Endlich konnte Lily den schwarzen Schatten einordnen, der den Alpha der Werwölfe gepackt hatte, kurz bevor sie in ihren Körper zurückgekehrt war – Radu. Dankbarkeit erfüllte ihr Herz. Wäre er nur wenige Augenblicke später aufgetaucht, hätte sie diesen Kampf nicht überlebt.

Nur was war aus ihren Verletzungen geworden?

‚Adrian!’, schoss es ihr mit einem Mal durch den Kopf. Konnte es sein, dass er … Sie unterdrückte ihre aufkeimende Sorge und sah sich um. Adrians schimmernde Silhouette war nirgends zu entdecken. Ein seltsam bekanntes Gefühl des Verlustes stieg in ihr auf. „Adrian? Wo bist du?“

„Ist er nicht bei dir?“, fragte Alina besorgt und sah sich unwillkürlich suchend um.

Lilys Angst schlug in nackte Panik um. Sie wusste nicht, woher dieses Gefühl kam, doch ihre Sorge um Addy wuchs ins Unermessliche. Hatte er ihre Wunden angenommen, als sie in ihren Körper zurückkehrte und war nun zu schwach, um sich zu zeigen? War etwas Derartiges jemals vorgefallen? Sie wandte sich an Alina: „Ich war schwer verletzt, fast tot, als Hannah und Radu hier aufgetaucht sind.“

Alle Farbe wich aus Alinas Gesicht. Blankes Entsetzen stand in ihrem Blick und sie zog Lily in eine feste Umarmung. Sie zitterte.

„Kann ein Schutzengel bei einem Körpertausch Verletzungen auf sich nehmen, wenn er das möchte? Hat Adrian mich vor all dem bewahrt und …?“ Ihre Stimme überschlug sich und sie umfasste hilfesuchend Alinas Arme. „Ist er jetzt verletzt und kann sich deswegen nicht zeigen?“

Alina schüttelte den Kopf und strich sich nachdenklich über ihr kurzes Haar. „Ich habe noch nie von einer derartigen Heilung gehört. Schutzengel können lediglich deinen Körper lenken und im Notfall ihre Flügel für eine kurze Zeitspanne nutzen, um zu fliehen.“

„Aber er muss es gewesen sein. Wer sollte es sonst …“ Lily verstummte. Ihre Augen weiteten sich. „Wie meinst du das mit Flügel nutzen?“

„Ist der Schützling einer übermächtigen Gefahr ausgesetzt und besteht keine Hoffnung mehr, den Kampf zu gewinnen, kann ein Schutzengel seine eigenen Flügel zum Einsatz bringen. Das ist eine riskante Angelegenheit, da sie dank des menschlichen Körpers stofflich und damit angreifbar sind, aber es gibt ihm die Möglichkeit zu fliegen und seinen Schützling schneller in Sicherheit zu bringen. Aber heilen …?“ Sie stockte und für einen Moment erbleichte sie, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Ihr Mund formte stumme Worte.

„Was?“ Lily umfasste Alinas Arm fester und bohrte ihre Finger in die kühle Haut ihrer Meisterin. „Du hast eine Vermutung. Dir ist etwas eingefallen, oder?“

„Ich …“

„Lily!“ Radus tiefe Stimme unterbrach Alina.

Sie stöhnte frustriert auf. Musste er Alina gerade jetzt unterbrechen? Mühsam schluckte sie einen bissigen Kommentar hinunter, immerhin hatte er sie gerettet. Sie würde schon noch herausfinden, was ihre Meisterin sagen wollte.

Der Vampir überbrückte die kurze Distanz in einem Wimpernschlag und legte ihr trotz Alinas Jacke seinen schwarzen Mantel um die Schultern. „Geht’s dir gut? Bist du verletzt?“

„Mir geht’s gut. Danke für deine Hilfe vorhin.“

„Und ich dachte, ich käme zu spät.“ Er legte seine Hände auf Lilys Schultern und kniete sich neben Alina. „Ich war krank vor Sorge, als Florica Adrians Botschaft überbrachte. Gott, zum ersten Mal bin ich froh, dass sich Hannah über Alinas Anordnungen hinweggesetzt hat und uns heimlich gefolgt ist.“ Er zog sie fest in seine Arme und lehnte seine Stirn an ihre Wange. Lily war zu erschöpft, um zu protestieren. Sie sehnte sich nach ihrem Bett und mehreren Stunden Schlaf. Erst jetzt sickerte in ihr Bewusstsein, dass sie dem Tod nur um Haaresbreite entkommen war. Sie fröstelte und vergrub sich in Radus Mantel und seinen Armen. Nur einen Moment wollte sie ausruhen, bevor sie über Adrians Verschwinden und die Ereignisse nachdachte.

„Was ist mit den Werwölfen?“, fragte Alina. Ihre Stimme klang ungewohnt hölzern und fremdartig.

„Die sind keine Gefahr mehr.“ Ein leichtes Rascheln erklang, als Radu sich ins Moos setzte. „Einer lebt noch, die anderen haben wir in Stücke gerissen.“ In seiner Stimme schwang Genugtuung mit und gleichzeitig mischte sich ein leises Grollen hinein.

„Gut, dann können wir wenigstens einen befragen.“

„Das solltest du gleich machen – ich weiß nicht, wie lange er noch überlebt. Ich hab den Mistkerl ziemlich fertiggemacht. Aber ich warne dich - er verhält sich irgendwie seltsam und redet wirr, als wüsste er nicht, was geschehen sei.“

„Ich seh' ihn mir an. Du kümmerst dich währenddessen um Lily.“ Alina strich ihr sanft über den Kopf. „Ich rufe gleich Cionaodh an, damit er den Bus holt und hier in der Nähe parkt.“

„Soll ich den Rat informieren?“

„Nein, das mache ich am besten selbst. Ich muss sie über Hannahs Einmischung aufklären und davon überzeugen, dass sie zum Handeln gezwungen war“, sagte sie und entfernte sich durch das Unterholz.

„Lily? Geht’s dir wirklich gut?“ Radu schob sie auf Armeslänge von sich und musterte sie eingehend.

„Addy ist weg.“ Tränen schossen in ihre Augen.

„Wie weg?“, fragte Radu überrascht.

„Er ist nicht mehr in meiner Nähe, als sei er verschwunden“, stammelte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Und ich war so schwer verletzt. Jetzt sind die Wunden weg und Addy auch.“ Sie wusste, dass Radu ihren Worten nicht folgen konnte, doch das war ihr egal. Sie wollte sich nicht erklären, sondern wissen, was mit ihrem Schutzengel geschehen war.

Ein sanftes Schimmern tauchte hinter Radu auf und warf rote Schatten in das Gesicht des Vampirs. Im ersten Moment glaubte Lily, Adrian sei zurückgekehrt, dann erkannte sie Floricas schlanke, kleine Gestalt. Ihre großen Augen blickten fragend zwischen ihnen hin und her.

„Florica, kannst du nach Adrian suchen? Weit weg kann er nicht sein.“

Der zierliche Engel nickte und flog davon.

„Keine Sorge, sie findet ihn. Hast du schon mal versucht, mit Adrian Kontakt aufzunehmen? Er ist auf jeden Fall noch da, ansonsten würde es dir wesentlich schlechter gehen.“ Mit einer Hand wischte er Lilys Tränen weg. „Euer Band ist noch nicht so stark, daher ist er gewiss in der Nähe. Vielleicht hat er Angst, sich zu zeigen, dabei hat er dich dieses Mal wirklich vorbildlich beschützt.“

Lily schwieg. Sie zog den Mantel enger um sich und lehnte sich erschöpft an Radus Schulter. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf Adrian. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie ein leichtes Echo spürte, einen leisen Widerhall ihrer Gefühle. Die Antwort war kaum wahrnehmbar, doch sie war vorhanden. Der Vampir hatte recht – ihr Schutzengel war nicht verschwunden, lediglich geschwächt.

‚Adrian?’

Hab keine Angst, Lily. Ich könnte dich nie im Stich lassen. Das habe ich dir vor einigen Jahren versprochen und ich halte mich daran. Gib mir nur Zeit, neue Kräfte zu sammeln, damit ich mich wieder materialisieren kann. 

‚Wieso bin ich unverletzt? Hast du mich geheilt?’

Dieses Mal blieb ihr Adrian eine Antwort schuldig. Doch die Klärung dieser Frage konnte warten, bis er bei Kräften war. Es galt nur, dass Adrian noch existierte und in ihrer Nähe war. Die Erleichterung, die Lily erfasste, spülte alle Ängste und Sorgen weg und machte einer unsäglichen Müdigkeit Platz. Sie kämpfte sie verbissen zurück und wandte sich an Radu:

„Du hattest recht. Adrian ist da, aber sehr schwach und nicht in der Lage, sich zu zeigen.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen und er nickte ihr zu. „Das freut mich. Wusst’ ich’s doch, dass Adrian nicht einfach so verschwindet. Ich rufe gleich Florica zurück.“

Eine Weile saßen sie schweigend beieinander und lauschten auf die Geräusche des nächtlichen Waldes. Ein Uhu stieß in der Nähe seinen unheimlichen Ruf aus, während der Wind seufzend durch die Baumwipfel fuhr.

„Irgendwie ist die ganze Mission gegen die Wand gefahren. Erst die Irreführung von Cionaodh, als er mit Hilfe der Pflanzen nach ihrem Lager gesucht hat …“, durchbrach Lily die unangenehme Stille. Sie dachte an den Feenmann, der mit geschlossenen Augen an einer Eiche lehnte, warme grüne Funken, die über die raue Borke wanderten, als er mit dem uralten Geist kommunizierte. Er hatte nichts herausfinden können. Auch die anderen Pflanzen konnten ihm nicht helfen, fanden das Lager des Rudels nicht, als verberge es sich vor den Bäumen des Waldes. Als Alina schließlich beschloss, getrennt nach dem Lager zu suchen und sie in alle Himmelsrichtungen ausschwärmten, ahnte niemand, dass die Werwölfe Lily verfolgten und angriffen, als diese weit genug von ihrem Treffpunkt auf der Lichtung entfernt war. Als hätten sie es darauf angelegt, sie von ihren Freunden zu trennen und auf sie Jagd zu machen. Steckte ein grausamer Plan dahinter? Aber warum sollten die Werwölfe es auf sie abgesehen haben? Sie war als neuernannte Jägerin ungefährlich und schwach, niemand, den man gezielt töten würde. Oder?

„Was ist nur in den Köpfen dieser Werwölfe abgelaufen?“

„Was weiß ich … sie sind einfach durchgedreht. So was passiert immer mal wieder, wenn sie die Rituale zu ihren Schutzengeln nicht regelmäßig wiederholen.“

„Arme Hannah. Ihre eigenen Leute töten zu müssen.“ Ein unangenehmer Gedanke kroch in Lilys Bewusstsein. „Ihr wird doch nichts geschehen, oder? Ich meine jetzt, wo sie gegen eines der Gesetze verstoßen hat und …“ Die Sorge schnürte ihr die Kehle zu.

„Das war eine Notsituation. In diesem Fall gibt es Ausnahmen. Du kannst das bezeugen, Alina und ich ebenfalls. Ihr wird nichts passieren.“

„Aber sie werden es untersuchen, oder?“

„Ja, das werden sie.“ Radu schnaubte und zog sie fester zu sich. „Und ich hasse es, wenn sie das tun.“

 

Der Morgen dämmerte bereits, als Alina und Hannah erschöpft und verwirrt zurückkehrten. Die Werwölfin hatte lediglich eine karierte Decke um ihren muskulösen Körper gewickelt, einige blaue Flecke verunzierten ihre Oberarme.

„Was ist passiert?“ Lily schob Radu von sich und kam mühsam auf die Beine. Ihre Muskeln kribbelten protestierend und ihr Kopf dröhnte, doch sie behielt ihr Gleichgewicht. Allmählich wich die taube Erschöpfung aus ihren Knochen und der Schwindel legte sich.

„Der Beta ist tot.“ Hannah wandte den Kopf ab und blinzelte trotzig die Tränen fort. „Ich habe keine Ahnung, was mit ihm los war, aber irgendwie …“ Sie schluckte heftig und fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen.

„Was?“ In Radus Stimme schwang eine Mischung aus Neugierde und Gereiztheit mit. Er gesellte sich zu Lily und legte wie selbstverständlich einen Arm um ihre Schulter.

„Es war, wie du sagtest.“ Alinas Blick huschte von Radu zu Hannah, die mühsam die Tränen zurückhielt. Der Tod eines ihrer Artgenossen nagte schlimmer an ihr, als sie zugeben wollte. „Er sprach wirr und unzusammenhängend, wusste überhaupt nicht, was geschehen war. Hektor hat versucht, mit seinem Schutzengel zu sprechen, doch der bereitete die Seele seines Schützlings bereits für den Übergang vor und hat nicht geantwortet.“

„Ihr habt also gar nichts herausgefunden?“

Alina schüttelte den Kopf. „Nein. Hektor meint, dass der Werwolf manipuliert worden sei. Er ist sich sicher, dass weder er noch das Rudel den Angriff aus freien Stücken gemacht haben.“

„Aber das bedeutet …“ Radu biss sich auf die Unterlippe und warf Lily einen skeptischen Blick zu. Binnen weniger Sekunden zeichneten sich verschiedene Emotionen in den ebenmäßigen Gesichtszügen des Vampirs ab: Unentschlossenheit, Zorn, Sorge und Abscheu.

„Was?“, fragte Lily, als er seinen Satz unbeendet ließ. Sie sah zu Alina, die betreten den Blick senkte, allerdings ebenfalls nicht gewillt war, sie in die unausgesprochenen Überlegungen mit einzubeziehen. „Wieso habe ich das Gefühl, ihr verschweigt mir etwas Gravierendes?“

„Lily, denk bitte nicht, wir lassen dich absichtlich im Unklaren, aber es gibt Dinge, für die du noch nicht bereit bist.“

„Noch nicht bereit?“ Lily schüttelte Radus Hand ab und trat wütend auf Alina zu. „Die Werwölfe haben ohne jeglichen Grund angegriffen, ich bin fast gestorben und Adrian ist so schwach, dass er sich nicht zeigen kann“, fasste sie ihre rasenden Gedanken in Worte. Die Sorge um ihren Schutzengel versetzte ihr einen weiteren Stich, doch sie klammerte sich an seine Worte. „Ich will wenigstens wissen, was hier vor sich geht. Wer manipuliert ein ganzes Rudel Werwölfe und warum? Um mich zu töten?“ Sie schnappte nach Luft, als ihr die Bedeutung der Worte klar wurde. Konnte das sein? Hatte es jemand auf sie abgesehen? Die Wölfe hatten sie gezielt von ihren Freunden getrennt, sie durch den Wald gejagt. Aber warum? Weil sie die Schwächste des Jägerteams war? Oder gab es andere Gründe? „Wer ist dafür verantwortlich?“

„Lily …“

„Ein Magier natürlich.“ Radus eisige, hasserfüllte Stimme unterbrach Alina.

„Radu! Es steht dir nicht zu …“

„Hör doch auf, Alina.“ Mit einer fließenden Handbewegung wischte er ihre entrüsteten Worte beiseite. „Lily ist kein Dummkopf und sie sollte wissen, womit wir es hier zu tun haben. Nur ein Magier ist in der Lage, Wesen zu manipulieren, und jeder weiß, was das bedeutet. Meines Wissens nach gibt es in diesem Bezirk nur einen einzigen Seelenzauberer.“ Seine Augen glommen hasserfüllt auf und scharfe Eckzähne schoben sich über seine Lippe.

„Es gibt keinen Beweis, dass wir es wirklich mit Silas zu tun haben“, wies Alina ihn scharf zurecht. „Solange du diese Anschuldigungen nicht belegen kannst, solltest du dich zurückhalten, Radu!“

„Willst du ihn geständig auf dem Silbertablett serviert haben, eine Gruppe Vampire um sich geschart?“

Alina verdrehte die Augen. „Mach dich nicht lächerlich. Du weißt, wie der Rat über haltlose Anschuldigungen denkt. Also beruhige dich und halte deine Zunge im Zaum, bis du unwiderlegbare Beweise präsentieren kannst.“

Radu schwieg, doch Lily ahnte, wie schwer es dem Vampir fiel, das Thema fallenzulassen. Sie wusste nicht, warum er Silas solch tiefsitzenden Hass entgegenbrachte oder ob sich seine Abneigung gegen alle Magier richtete. Lily kannte Radu zwar gut, doch über seine Vergangenheit wusste sie nur wenig. Der Vampir hielt sein Leben geheim, offenbarte nur selten etwas aus seiner Jugend und der Zeit, bevor er nach Deutschland kam. Sie warf Florica einen fragenden Blick zu, doch der zierliche Engel schüttelte leicht den Kopf, während sie Radu von hinten umarmte. Ihr Gesicht glich einer ausdruckslosen Maske, die keinerlei Gefühlsregungen preisgab.

„Wir kehren erst mal nach Hause zurück und besprechen dort unser weiteres Vorgehen“, entschied Alina. „Weiß Cionaodh Bescheid?“

„Er wartet mit dem Kombi am Feldweg“, zischte Radu mit zusammengepressten Lippen und deutete in eine scheinbar beliebige Richtung. „Sorcha wartet dort hinten auf uns, um uns zu ihm zu bringen.“

Lily kniff die Augen zusammen, bis sie Cionaodhs Seelentier entdeckte. Sorcha hatte ihre Katzengestalt abgelegt und die eindrucksvollere Form eines goldenen Löwen angenommen. Sie hockte zwischen den Bäumen, das gewaltige Haupt in ihre Richtung gedreht. Ihr Schwanz peitschte ungeduldig hin und her, doch sie näherte sich nicht.

„Gut“, sagte Alina und ergriff Lilys Handgelenke, um sie mit sich zu ziehen. „Ist Adrian wieder da?“, flüsterte sie, nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren.

„Ja und nein. Er ist zwar noch da, aber zu schwach, um eine Form anzunehmen.“

Zu schwach? Hektor schenkte ihr einen skeptischen Blick. Er schwebte neben Alina her, die Augen prüfend auf das Unterholz gerichtet, als erwartete er weitere Feinde. Ein Schutzengel sollte trotzdem an der Seite …“ 

„Hör auf, schlecht über ihn zu reden!“, fiel Lily ihm ins Wort. „Er hat mich beschützt, meine Verletzungen geheilt und wäre dieser Schutzkreis nicht gewesen …“ Bittere Galle stieg ihr in die Kehle und sie würgte bei dem Gedanken.

Alina verharrte im Schritt und wirbelte zu ihr. „Er hat einen Schutzkreis gezogen?“ Sie verengte die Augen zu Schlitzen, dann sah sie zu Hektor.

Ein ungutes Gefühl erwachte in Lily. Sie erinnerte sich an Alinas Gesicht vor einigen Stunden, als sie ihr von Adrians Heilung berichtet hatte, dem Unglauben und dem kurzen Anflug von Wissen. „Was bedeutet das?“

„Nichts“, wiegelte ihre Meisterin ab.

„Du verheimlichst mir etwas. Ich sehe dir an, dass du eine Vermutung hast, also …“

„Nicht jetzt, Lily. Ich verspreche dir, alles zu erzählen, wenn ich Gewissheit habe. Gib mir ein paar Tage Zeit, um meine Vermutung zu überprüfen.“

Lily zögerte. Zu oft hatte Alina Fragen mit diesen Worten abgeschmettert. Sie hatte den Streit an ihrem Geburtstag nicht vergessen, doch sie war zu erschöpft, um sich jetzt mit ihrer Meisterin anzulegen. „In Ordnung, aber anschließend weihst du mich ein – und zwar in alles. Damit meine ich auch meine Vergangenheit.“

Alina schwieg eine ganze Weile, ehe sie die Worte aussprach, die Lily so lange hören wollte: „Versprochen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739301532
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Jäger Geheimnisse Romantik Fantasy Engel Werwölfe Schutzengel Liebe Vampir Romance Liebesroman

Autor

  • Juliane Seidel (Autor:in)

Juliane Seidel wurde 1983 in Suhl/Thüringen geboren und lebt seit mehreren Jahren in Wiesbaden. Neben ihrer Arbeit als Teamassistentin steckt sie viel Zeit und Herzblut in verschiedene queere Projekte und schreibt seit knapp zehn Jahren fantastische Kinder- und Jugendbücher. Unterdessen hat sie, neben den ersten Bänden der Kinderbuchreihe „Assjah“ und der im Selfpublishing erschienenen Urban Fantasy-Reihe “Nachtschatten”, auch erste Veröffentlichungen im queeren Bereich vorzuweisen.
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Titel: Nachtschatten - Unantastbar