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Nachtschatten - Unbezwingbar

von Juliane Seidel (Autor:in)
320 Seiten
Reihe: Nachtschatten, Band 3

Zusammenfassung

Seit dem letzten Aufeinandertreffen mit dem magischen Vampir Nazar gehen Lily und ihre Freunde zum Angriff über. In den Kaparten kann sie nicht nur ihren Schutzengel Adrian mit Hilfe eines Engelsrufers zu sich zurückführen, sondern auch eine Falle für Nazar planen. Doch auch ihr Erzfeind Rasmus bleibt nicht untätig und setzt alles daran, Lily in seine Gewalt zu bringen, um seine grausamen Experimente fortzuführen. Als Rasmus seinen allerletzten Trumpf gegen Lily ausspielt, muss sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen und riskieren, alles zu verlieren ... Das große Finale der Urban Fantasy Trilogie "Nachtschatten". Nachtschatten-Reihe Band 1: Unantastbar Band 2: Ungebrochen Band 2.5: Fuchsgeister (Spin-Off) Band 3: Unbezwingbar Band 4: Kurzgeschichten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog - Gespräche um Mitternacht

 

Schwaches Licht erhellte die untersten Treppenstufen und beleuchtete den Flur, der vor ihnen lag. Der geflieste Boden gab diesem eine kalte, abweisende Atmosphäre. Lily wäre am liebsten wieder zu ihren Freunden nach oben gegangen. Sie war sich sicher, dass es Silas ähnlich ging. Er wirkte unsicher und nervös. Dennoch war dieser Gang notwendig. In der letzten Woche hatte ihr Freund immer wieder neue Ausreden gefunden, um seinen Vater nicht aufsuchen zu müssen: Gespräche mit dem Rat, Planungen für ihre Reise nach Rumänien und gemeinsame Nachmittage im Bett mit gänzlich nicht-jugendfreien Spielen. Sie verstand Silas, konnte seine Ängste bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, doch es wurde allmählich Zeit, den Gefangenen zu befragen. Dann würde Silas endlich einen Schlussstrich ziehen und ohne Reue mit seinen neuen Freunden zu Radus Heimat aufbrechen können, um mehr über den magischen Vampir Nazar herauszufinden. Das war für die kommenden Wochen ihre Mission.

„Alles in Ordnung?“ Lily tastete nach Silas‘ Hand und umschloss seine Finger. Sie spürte, dass er leicht zitterte, sprach ihn jedoch nicht darauf an.

„Wie man es nimmt …“ Ein Seufzen kam über seine Lippen. „Um ehrlich zu sein, möchte ich am liebsten weglaufen. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn zum Reden bringen soll. Tomas und ich …“

Du bist nicht allein, Silas. Felina nahm Lily die Worte aus dem Mund. Lily wusste, wie stark Silas` Schutzengel trotz ihres kläglichen Aussehens und des fehlenden Flügels war. Sie mochte optisch nicht einem typischen Begleiter entsprechen, doch sie war ihrem Schützling treu und wich selten von seiner Seite.

Ein unangenehmer Stich begleitete diesen Gedanken. Sofort wanderten ihre Gedanken zu Adrian, der seit ihrem letzten Kampf verschwunden war. Sie spürte zwar ein leises Echo, wenn sie mental nach ihm rief, doch er hatte sich in den letzten Tagen weder materialisiert, noch mit ihr Kontakt aufgenommen. Dabei stand so vieles zwischen ihnen. Sie betete, dass ihnen eine weitere Chance gewährt wurde. Inzwischen bereute sie ihre harschen Worte zutiefst. Die Ereignisse und der Stress hatten sie Dinge sagen lassen, für die sie sich schämte. Sie wollte sich entschuldigen.

„Lily?“ Silas war stehen geblieben. Es fiel Lily schwer, seinen Blick zu deuten, doch sie glaubte, eine Spur Mitleid zu erkennen. Er wusste ganz genau, woran sie gedacht hatte. „Er wird wiederkommen, da bin ich mir sicher.“

Lily ließ die Schultern hängen. Sie wünschte, sie könnte Silas‘ Zuversicht teilen. Vielleicht bildete sie sich Adrians Gegenwart nur ein und er war schon längst verschwunden. Der Gedanke schmerzte in ihrer Brust. Damian hatte auf ihre Nachfrage hin erzählt, was mit Menschen geschah, deren Schutzengel die Seele nicht zum Ursprung zurückbringen konnten – sie wandelten als Geister auf Erden, auf ewig zwischen den Welten gefangen. Würde das auch mit ihr geschehen, wenn sie ohne Adrian starb? War das mit ihrer Schwester Rose passiert?

Lily schob den grausigen Gedanken von sich, versiegelte ihn im hintersten Winkel ihres Herzens. Ihr graute vor einer Antwort, weswegen sie Damian nie darauf angesprochen hatte. Ihre Schwester … ein Geist?

Der Zauber hat ihm viel Kraft entzogen, riss Felina sie aus ihren Gedanken. Lily brauchte ein wenig, bis sie wusste, dass Silas‘ Begleiter von Adrian und ihrem Feuerzauber sprach, den sie gegen den Vampir Nazar gewirkt hatte. Du hast doch mal gesagt, dass so etwas schon einmal vorgekommen ist. War das nicht bei einem Kampf gegen ein Rudel Werwölfe? 

Lily nickte. „Da haben wir uns aber nicht vorher gestritten und … es gab nicht so viel Unausgesprochenes. Außerdem hat da Addy gezaubert, nicht ich …“

„Du wirst doch jetzt nicht aufgeben! Du musst Vertrauen in Adrian und dich haben. Er ist nicht fort.“ Silas legte seinen Arm um sie und zog sie fester an sich. „Felina hat dir schon mehrfach versichert, dass er noch da ist. Gib ihm die Zeit, die er braucht, um seine Kräfte zu regenerieren. Bis dahin haben wir eine neue Aufgabe, die es zu erfüllen gilt.“

„Das Gespräch mit deinem Vater?“

Silas verzog das Gesicht. „Eigentlich meinte ich unsere Reise nach Rumänien. Oder einen gewissen Radu davon zu überzeugen, dass es wichtig ist, seine Heimat aufzusuchen …“

Ein kurzes Lächeln huschte über Lilys Gesicht. Silas und Radu verhielten sich, was ihre Familie anging, vollkommen gleich. Während sich Silas am liebsten vor dem Gespräch mit Tomas gedrückt hätte, wollte Radu überhaupt nicht in die Heimat zurückkehren, die er vor zweihundert Jahren verlassen hatte. „Da seid ihr Brüder im Geiste“, sagte Lily und sah den Flur entlang, der in das unterirdische Gefängnis unter Aldwyns Palast mündete. Nur noch wenige Schritte trennten sie von dem Gewölbe, in dem man Tomas untergebracht hatte. Vor einigen Wochen waren ihre Freunde die Gefangenen des Feenkreises gewesen, jetzt beherbergte Aldwyns Zauber Silas‘ Vater.

Drei Sidhe bewachten den Gefangenen, der in einem leuchtenden Kreis hockte und ins Nichts starrte. Sein Haar stand wirr in alle Richtungen ab. Er wirkte schmaler und ausgemergelter als bei ihrer letzten Begegnung. Sein Schutzengel war kaum noch zu erkennen. Sie glich einem Geist – blass und unscheinbar. Für Lily war dies ein schrecklicher Anblick. Die verkrüppelte Gestalt tat ihr leid.

„Können wir unter vier Augen mit ihm reden?“, fragte Silas mit zitternder Stimme.

„Lord Aldwyn hat euch bereits angekündigt“, war die Antwort eines großgewachsenen Sidhe mit langem blondem Haar. Ein Falke hockte auf seiner Schulter, die Knopfaugen auf Lily und Silas gerichtet. Die beiden anderen Feenwesen – ein Dachs und ein Fuchs – gaben ohne zu zögern ihren Posten auf. Zusammen verließen sie das Gewölbe. Sie verschwanden hinter einer der wuchtigen, verzierten Säulen, die die gewaltige Kuppeldecke trugen.

Als ihre Schritte verklungen waren, hob Tomas den Kopf. In seinen Augen blitzte Hass und Zorn auf, doch er rührte sich nicht. Weder begrüßte er seinen Sohn, noch ließ er einen abfälligen Kommentar fallen. Lediglich die Anspannung in seinen Schultern verriet Tomas. Er wirkte ebenso nervös wie Silas.

„Es wird Zeit zu reden“, setzte Silas an. Er blieb dicht vor dem Feenkreis stehen. Sein Blick wanderte kurz zu den irdenen Schalen, die Knochen, Federn und Erde enthielten und Aldwyns Macht bündelten.

„Wir haben nichts zu bereden, Verräter!“

„Du irrst dich. Aldwyn ist bereit, mit dir zu verhandeln, wenn du seine Fragen offen und ehrlich beantwortest. Er würde dich sogar gehen lassen, wenn …“

„Und er schickt ausgerechnet dich als Unterhändler?“ Ein keckerndes Lachen erklang. Tomas richtete sich auf und strich sich das strähnige Haar aus dem Gesicht. Er verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. „Als würde ich ausgerechnet mit dir reden wollen, mein Sohn!“ Die letzten Worte stieß er so abfällig aus, dass Silas sichtlich zusammenzuckte. „Wenn er verhandeln will, soll der edle Lord selbst in dieses elende Gewölbe kommen.“

Silas schüttelte den Kopf. „Aldwyn wird nicht kommen, Vater. Aber vielleicht beantwortest du zunächst erst einmal meine Fragen. Unter anderem, warum du Rasmus‘ Plan zugestimmt und mich hierher geschickt hast. Du musst zugeben, dass ich eine denkbar schlechte Wahl war.“

Worauf willst du hinaus, Silas?, fragte Felina leise.

Was auch immer er ihr mental antwortete, ihr sanftes Gesicht nahm einen betrübten Ausdruck an.

„Du solltest deine Treue unter Beweis stellen, nachdem du dich für Damians verfluchten sanften Weg …“ Er setzte die Worte mit den Fingern in Gänsefüßchen. „… entschieden hast. Ich habe Rasmus darum gebeten, immerhin bist du mein Sohn. Er sollte sehen, dass du trotzdem ein Magier bist, auf den man sich verlassen kann.“

„Und das kann man!“, mischte sich Lily verärgert ein. Alles in ihr begehrte gegen Tomas Worte auf, der seinen Sohn und dessen Ideale wie Dreck behandelte. „Er ist ehrlich und treu. Und sein sanfter Weg ist gerechter und besser als der, den du eingeschlagen hast.“ Ein kurzer Seitenblick von Silas brachte sie zum Schweigen.

„Was weißt du schon, Mädchen.“ Tomas schüttelte den Kopf. Er ballte die Fäuste und sah zu seinem verkrüppelten Begleiter, der ängstlich zurückwich. „Wir sind Magier, da ist es normal, die Energie zu nutzen, die uns zur Verfügung steht.“

„Nur leider steht euch diese nicht endlos zur Verfügung. Ihr tötet willentlich eure eigenen Schutzengel.“ Lily trat näher an den Kreis, unfähig sich zurückzuhalten. Sie ertrug es nicht, wenn jemand so abfällig über Schutzengel sprach.

„Deswegen zaubern wir auch mit Hilfe anderer Begleiter.“ Ein böses Grinsen huschte über seine Lippen. „Ich könnte deine Seelenenergie nutzen, wenn ich will.“

Lily bemerkte den Blick, den Rasmus‘ Schutzengel ihr zuwarf. Sie schien etwas sagen zu wollen, schwieg jedoch. Scheinbar wollte sie ihren Schützling nicht einmal darauf aufmerksam machen, dass Lily zurzeit keinen Schutzgeist besaß, den man hätte anzapfen können. Lily konzentrierte sich auf andere, weniger deprimierende Gedanken und antwortete auf Tomas‘ verbalen Angriff: „Solange du in dem Bannkreis stehst, ist dir das nicht möglich. Aldwyn hat dafür gesorgt, dass du niemandem schaden kannst. Und mit der Kraft deines Schutzengels steht dir Magie nicht mehr offen, oder? Sie ist zu schwach, um …“

„Aus diesem Grund hat Rasmus nach einem Weg geforscht, diesen Umstand zu korrigieren“, unterbrach Tomas sie barsch. „Gerade du müsstest ihm dankbar sein. Bei dir ist ihm sein Vorhaben erstmals geglückt.“

Lily biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste, worauf Silas‘ Vater hinaus wollte. Schmerz flutete ihren Verstand, gepaart mit einer Traurigkeit, die ihr den Atem nahm. Sie erinnerte sich an Adrians Geständnis, die grausame Wahrheit, die alles auf den Kopf gestellt hatte.

„Du bist der lebende Beweis, dass es funktioniert. Dass sein Weg und seine Ideale richtig sind. Wie kannst du all das als falsch hinstellen?“ Er trat so dicht an den Bannkreis heran, dass Lily nur die Hand ausstrecken musste, um den Magier zu berühren. Oder er sie …

„Das genügt.“ Silas schob Lily hinter sich. Er stieß zischend die Luft zwischen den Zähnen aus. „So reibungslos hat euer Experiment nämlich nicht geklappt.“

„Anfängerfehler. Kein Experiment funktioniert beim ersten Mal einwandfrei. Natürlich muss man weiter forschen, indem man das Ergebnis auswertet und Fehler ausmerzt.“

Silas ballte die Fäuste. „Lily ist kein Experiment! Ihr befindet euch auf einem Irrweg. Würdet ihr eine friedliche Koexistenz mit euren Schutzengeln anstreben, müsstet ihr jetzt nicht nach Wegen suchen, diese auszutauschen. Denn nichts anderes schwebt euch vor, nicht wahr?“

„Du bist nicht so dumm, wie ich dachte“, entgegnete Tomas. „Aber du bist dennoch eine einzige Enttäuschung. Nach allem, was ich getan habe, um Rasmus zu überzeugen, dass du das Zeug zu seinem Nachfolger hast – sanfter Weg hin oder her. Ich hatte gehofft, du siehst irgendwann die Notwendigkeit unserer Experimente. Doch du bist mit Blindheit geschlagen.“ Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und in seinem Gesicht zeichnete sich Wut ab. Mit einem Schnauben wandte er sich ab. Seine Schultern bebten vor unterdrücktem Zorn. Im nächsten Moment stieß er mit dem Fuß einen Teller mit Essen gegen die unsichtbare Wand des Bannkreises. Er zerbrach mit einem lauten Scheppern. „All meine Hoffnungen hast du zerstört, weil du diesem Weib verfallen bist, weil sie dir leidtut. Dabei ist sie nur…“

„Rede nicht so über Lily!“, unterbrach Silas seinen Vater mit scharfer Stimme.

Der Magier wirbelte herum, Funken sprühten aus seinen Augen. „Du hast keine Ahnung, was auf dem Spiel steht, Silas!“ Er atmete tief durch. Seine Schultern sackten herab und die Anspannung schien von ihm abzufallen. Wesentlich ruhiger fügte er hinzu: „Ich werde keine weiteren Fragen mehr beantworten - weder deine noch die von diesem Feigling Aldwyn, der nicht einmal den Anstand hat, persönlich aufzutauchen. Richte ihm aus, dass ich kein Interesse an einem Angebot habe, ganz gleich, was er mir anbietet. Im Gegensatz zu dir werde ich Rasmus nicht in den Rücken fallen.“

„Ist das dein letztes Wort?“

Tomas schwieg, doch sein Blick sprach Bände. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Sein wütend verzerrtes Gesicht hatte sich in eine kühle Maske verwandelt. Was auch immer in seinem Kopf vorging, er verbarg seine Gedanken und Gefühle.

„Und jetzt?“, fragte Lily, nachdem eine Minute vergangen war und niemand etwas gesagt hatte.

Silas seufzte. „Gibt es nichts mehr, was wir tun können. Mein Vater ist stur – er wird schweigen, selbst wenn ich ihn provozieren würde.“

„Aldwyn wird nicht zufrieden sein.“ Lily überlegte, ob sie es vielleicht schaffen konnte, den Magier zum Reden zu bringen. Sie hatte Fragen – viele konnte Tomas ihr beantworten. Doch sie zweifelte nicht an Silas Worten - wahrscheinlich würde sein Vater jeden Versuch eines Gesprächs mit Ignoranz strafen und niemanden an sich heranlassen. Ob sie es später noch einmal versuchen sollte? Sie hatte nicht viele Chancen, mehr über diese Experimente zu erfahren. Notfalls würde sie ohne Silas herkommen – vielleicht war Tomas gesprächiger, wenn sein Sohn nicht dabei war.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine schwache Handbewegung von Tomas‘ Schutzengel. Sie gab ihr ein Zeichen näherzutreten und deutete mit dem Kinn auf ihr linkes Handgelenk. Obwohl ein Schutzengel keine Uhr tragen konnte, war Lily klar, was die verstümmelte Kiria sagen wollte. Sie sollte anscheinend später noch einmal kommen. Lily schenkte ihr ein kurzes Lächeln, das zum Glück niemand bemerkte.

Silas deutete zum Gang hinüber. „Gehen wir, Lily.“ Mit forschem Schritt steuerte er den Ausgang des Gewölbes an. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Bevor sie den Raum verließen, richtete Silas erneut einige Worte an seinen Vater. „Ich werde Lord Aldwyn ausrichten, was du gesagt hast. Vielleicht hast du Glück und er gibt dir die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen. Wenn nicht, kann ich nichts mehr für dich tun.“

 

Mitten in der Nacht machte sich Lily erneut auf den Weg in die unterirdischen Gewölbe, nachdem Silas in ihren Armen eingeschlafen war. Auch in den benachbarten Zimmern schien alles ruhig, von leisem Schnarchen einmal abgesehen.

Wo willst du hin? Felina runzelte die Stirn, als Lily sich behutsam von Silas löste und aus dem Bett schlüpfte. Ihr Blick huschte zu Silas, der sich auf die andere Seite rollte. Statt Lily umarmte er das Kissen und murmelte etwas vor sich hin.

Lily warf dem Schutzengel einen flehenden Blick zu und legte die Finger auf die Lippen. Rasch schlüpfte sie in Jeans und Shirt und kämmte sich mit den Fingern das Haar. Sie deutete zur Tür und glücklicherweise folgte Felina ihr. Dennoch antwortete Lily erst, als sie das Zimmer verlassen hatten.

„Ich muss mit Tomas …“

Er wird dir nicht antworten, unterbrach Felina sie entrüstet.

„… Schutzengel reden“, vervollständigte Lily den Satz und sah sich um. Bis auf einen Lichtschein, der sich unter Radus Tür abzeichnete, war der Flur dunkel. Scheinbar konnte der Vampir nicht schlafen, was wohl zum einen an der Nacht lag, zum anderen am Ziel ihrer bevorstehenden Mission. Radu hatte Rumänien vor zwei Jahrhunderten aus gutem Grund verlassen, jetzt zurückzukehren … sie schob den Gedanken von sich. Für den Moment bedeutete Radus Schlaflosigkeit, dass sie noch leiser und vorsichtiger sein musste.

Du willst … mit Kiria sprechen? In Felinas Gesicht zeichneten sich Unsicherheit und Verwirrung ab.

„Sie hat mir vorhin ein Zeichen gegeben“, flüsterte sie so leise, dass sie sich selbst kaum hörte. Felina schien sie dennoch verstanden zu haben.

Aber …

„Verstehst du nicht, dass ich es versuchen muss? Dieser Schutzengel kann mir die Antworten geben, die Tomas mir verweigert.“ Lily schlich sich den Gang entlang, setzte mit Bedacht einen Fuß vor den anderen.

Felina schüttelte den Kopf, folgte ihr aber. Das ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst, Lily. Sie kann nicht über den Willen ihres Schützlings hinweg agieren. Wir sind unfrei in solchen Entscheidungen. Es könnte eine Falle sein, die er dir stellt. 

„Trotzdem muss ich es riskieren. Er befindet sich in einem Bannkreis. Viel kann er eh nicht ausrichten. Du kannst ruhig zurückgehen, Felina. Ich weiß, dass du Silas informieren müsstest.“

Ich begleite dich. Solange ich auf dich aufpasse, kann ich Silas nicht Bescheid geben. Sie schloss zu Lily auf und blieb an ihrer Seite, als sie durch den Flur schlichen. Aber spätestens morgen werde ich ihn über deinen nächtlichen Ausflug in Kenntnis setzen. 

„Ist in Ordnung …“

Als sie die Treppe erreichte, gab sie ihre Vorsicht auf und huschte schnell ins Erdgeschoss hinunter. In der Dunkelheit der Nacht wirkten die verwachsenen Wände des Foyers mit all den Schlingpflanzen ein wenig unheimlich, doch Lily ließ sich davon nicht abschrecken. Selbst als sich einige Blumen in ihre Richtung bewegten und die bunten Blüten schwach aufleuchteten, setzte sie ihren Weg fort. Wahrscheinlich würde es keine zehn Minuten dauern, bis Aldwyn von seinen Pflanzen informiert wurde.

Im Gewölbekeller bewachten zwei Sidhe den Gefangenen. Sie unterhielten sich leise und reagierten sofort, als Lily durch den schwach beleuchteten Gang kam. Ein Wolf knurrte leise und das Schlagen von Flügeln deutete auf einen großen Vogel hin, der zu einer der Wachen gehörte. Ein heiseres Krächzen war zu hören.

„Was machst du hier?“, fragte eine junge Frau, als Lily in den Schein einer Fackel trat. Der Wolf an ihrer Seite sträubte das Nackenfell und fletschte die Zähne. „Um diese Zeit darf sich hier niemand aufhalten.“

Lily sah nur kurz zu den Wächtern, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Schutzengel des Magiers, der auf einem notdürftigen Lager auf der anderen Seite lag. Kiria trat sofort näher, verharrte dicht vor dem Bannkreis. Kurz sah sie zu ihrem Schützling zurück, doch dieser rührte sich nicht. „Ich muss mit ihr reden“, antwortete Lily automatisch.

Die Frau zog die Brauen hoch, bis sie unter ihrem blonden Pony verschwanden. „Ihr? Von wem sprichst du?“

Ihr Begleiter zischte ihr zu: „Das muss das Mädchen mit der Gabe des Erkennens sein. Sie meint bestimmt den Schutzengel des Magiers, oder?“ Als Lily nickte, machte sich Unruhe in dem anderen Wächter, einem hageren Mann breit. Sein Adler löste sich von seiner Schulter und flog einen engen Bogen über sie hinweg, darauf achtend, dem Bannkreis nicht zu nahe zu kommen.

„Aber Aldwyn hat doch …“, setzte die Sidhe an und strich dem Wolf über den Kopf.

„Sie kann mit dem Begleiter des Magiers reden. Vielleicht kommen wir so an Informationen für Lord Aldwyn heran, die der Gefangene nicht sagen will, wenn er bei Bewusstsein ist. Das wäre die Chance!“ Er hob die Hand und der riesige Vogel landete auf seinem Unterarm.

„Deswegen bin ich hier“, fügte Lily hinzu. „Ich muss mit ihr reden … allein.“

„Ich weiß nicht.“ Die Frau schien unschlüssig zu sein. Ihr Blick wanderte von ihrem Freund zu Lily und zurück. „Wer weiß, ob das nicht eine Falle des Magiers ist. Begleiter dürfen ihre Schützlinge schließlich nicht verraten.“

Genau das habe ich dir ja gesagt, Lily, stimmte Felina zu, wenngleich nur Lily sie hören konnte. Es könnte eine Falle sein. 

„Aber er schläft. Außerdem könnten diese Regeln für Magier nicht gelten. Ihr Band zu Schutzengeln ist ganz anders. Vielleicht können die ihren freier entscheiden.“ Etwas leiser fügte er hinzu, während er mit dem Finger auf Lily deutete: „Es geht das Gerücht, dass ihr Schutzengel sich sogar in einen Vampir verliebt hat, Gigi. Wenn das nicht freier Wille ist …“

Lily mochte die Richtung nicht, in die das Gespräch der Sidhe ging, doch sie mischte sich nicht ein. Sie war lediglich überrascht, dass Aldwyns Gefolgsleute so gut über Adrian informiert waren. Wahrscheinlich hatten die Schutzengel über Adrians Gefühle für Radu getratscht.

Der Mann nickte zum Gang hinüber. „Geben wir ihr eine Chance. Wenn sie dem Bannkreis nicht zu nahe kommt, kann nichts passieren.“

Die Sidhe zögerte einen Moment, dann gab sie sich geschlagen. „In Ordnung, aber ich behalte dich im Blick, Mädchen“, sagte sie und gab dem Wolf einen leichten Stoß. Das große dunkle Tier trottete neben ihr her zum Ausgang. Ihr Kollege folgte ihr, nachdem er Lily aufmunternd zugenickt hatte.

Als sie außer Hörweite waren, meldete sich Kiria zu Wort. Sie wirkte erleichtert, gleichzeitig war sie aufs Äußerste angespannt. Ich bin froh, dass du gekommen bist. Mir bleibt nicht viel Zeit, bis Tomas aufwacht, also hör mir gut zu und unterbrich mich nicht. 

Lily wollte schon aufbegehren, doch ein Gefühl sagte ihr, dass es besser war, Tomas‘ Schutzengel ausreden zu lassen. Was auch immer Kiria zu sagen hatte, es schien wichtig genug zu sein, um sie nachts hierher zu bitten und den Zorn ihres Schützlings in Kauf zu nehmen. Oder fürchtete sie sich vor jemand anderem, der sie in Angst und Schrecken versetzte? Vielleicht Rasmus? War dieser Wahnsinnige in der Nähe und überwachte sie?

Lily drängte die Gedanken zurück und konzentrierte sich auf Kiria. Aus der Nähe betrachtet, wirkten ihre Verstümmelungen noch schlimmer – die beiden Stümpfe auf ihrem Rücken, der fehlende rechte Arm und die tiefliegenden Augen. Von allen Schutzengeln, die sie kannte, sah Kiria am schlimmsten aus. Selbst Damians Eleonore war durch das Wirken von Magie nicht so grausam zugerichtet. Sie entschied, sich anzuhören, was Tomas‘ Begleiter zu sagen hatte. Mit etwas Glück blieb noch Zeit für wichtige Fragen über den Orden, die Experimente und den magischen Vampir.

Ich will dir helfen, Lily. Auch wenn du mir nicht glaubst, so möchte ich dir einen Hinweis geben, wie du deinen Schutzengel zurückholen kannst.

„Wie …?“ Lily war so überrascht, dass sie nicht wusste, wie sie auf diese Worte reagieren sollte. Unsinnigerweise fühlte sie sich von Kirias Worten fast persönlich angegriffen. Sie sollte sich um sich selbst kümmern, statt sich in Lilys Probleme mit Adrian einzumischen. Wobei Sorgen passender war …

Du musst …

Wut wallte in Lily auf. Von all den Themen, die sie aktuell besprechen wollte, stand Adrian an letzter Stelle – nicht dass er ihr nicht wichtig war, im Gegenteil. Es war lediglich zu schmerzhaft, über diese unsägliche Situation nachzudenken, und mit Tomas‘ Schutzengel wollte sie erst recht nicht darüber reden. „Wie kommst du darauf, dass ich mit dir über Adrian sprechen will?“, fuhr Lily sie ungewollt barsch an.

Kiria zuckte zurück. Sie wandte sich zu Tomas um, der sich unruhig auf die andere Seite drehte, jedoch nicht aufwachte. Beschwichtigend legte der Schutzengel einen Finger an die Lippen.

„Ich habe ganz andere Fragen“, fuhr Lily etwas leiser fort, auch wenn es ihr nicht leicht fiel, sich zurückzuhalten. Sie atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen und den Kloß zu vertreiben, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte.

Kiria ließ sich weder beirren, noch von ihrem ursprünglichen Kurs abbringen. Die sind momentan nicht wichtig, Lily. Dein Schutzengel ist nicht an deiner Seite, was dich in Gefahr bringen kann. Ich spüre, dass er nicht gänzlich verschwunden, sondern lediglich geschwächt ist, aber es ist von immenser Wichtigkeit, dass du ihn zu dir rufst. 

„Das mache ich doch. Jeden Tag versuche ich, Kontakt zu ihm aufzubauen.“ Lily ließ die Schultern hängen. Es schmerzte, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Inzwischen hatte sie sogar den Eindruck, das Echo wurde schwächer. Sie fühlte sich hilflos, weil dieser Hauch seiner Präsenz immer weniger wurde.

Es genügt nicht, nach ihm zu rufen. Dafür ist er zu schwach. Du bist eine Magierin, also musst du aktiver werden, wenn du das Band wieder aufbauen willst. Sie nagte an der Unterlippe und sah zu Felina. Unsicherheit sprach aus ihren Augen. Ich kann dir erklären, wie du ihn zurückholen kannst. 

„Warum solltest du das machen?“, fragte Lily skeptisch. Auch Felina legte die Stirn in Falten. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ich bin quasi der Feind. Du könntest mich und meine Freunde in Schwierigkeiten bringen oder mir Lügen auftischen. Womöglich schlägst du mir vor, mich an Rasmus zu wenden oder lässt mich etwas machen, was uns an ihn verrät.“

Das habe ich nicht vor. Ich gebe zu, dass ich bei all dem auch das Wohl meines Schützlings im Sinn habe … Aber niemand kann mir das zum Vorwurf machen. Außerdem kann Felina bezeugen, dass ich es ehrlich mit dir meine. Sie weiß, dass ich nicht lügen kann. Sie sah zu Silas‘ Begleiter. Und sie weiß genau, worauf ich hinaus will, nicht wahr? 

Silas‘ Schutzengel wiegte den Kopf und hob schließlich die Achseln. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, auf was du anspielst, Kiria, murmelte sie schließlich. Aber in einem Punkt hat sie recht, Lily. Sie kann nicht lügen. Wenn sie sagt, dass sie nicht vorhat, dich in eine Falle zu locken, dann kannst du ihr zumindest in diesem Punkt Vertrauen schenken. 

„Gut …“ Lily schloss die Augen, um nachzudenken. „Und worauf will sie hinaus?“

Ich weiß es nicht, gestand Felina.

Auf einen Engelsrufer, mischte sich Kiria ein. Du musst doch von ihnen wissen, Felina. Magier erschaffen sie, um ihre Schutzengel zu erreichen, wenn diese weit entfernt sind oder zu viel Energie verloren haben. Hat Silas nie davon gehört? 

Felina schüttelte den Kopf. Sie schwebte ein wenig näher an den Bannkreis und betrachtete Kiria eingehend. Ihre Neugierde schien geweckt zu sein.

Dann muss Silas sich von seinem Vater abgewandt haben, bevor er ihm davon erzählt hat. Ich habe wirklich gedacht … Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Kirias schmale Lippen. Es tut mir leid, Erinnerungen bereiten mir schon seit geraumer Zeit Probleme. Manchmal vergesse ich Ereignisse oder bringe Dinge durcheinander. 

Ein Zeichen dafür, dass Tomas sein Erinnerungsvermögen verliert. Die Zauber fordern ihren Tribut. Wenn er nicht aufhört, wird er irgendwann dement und alles vergessen, was wichtig ist, setzte Felina aufgebracht hinzu. Sorge schlich sich in ihre Züge und sie begann, nervös auf und ab zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, dass es schon so schlimm um euch steht. 

Kiria hob lediglich die Achseln. Tomas und Rasmus läuft die Zeit davon. Lily ist ihre einzige Hoffnung, deswegen setzen sie alles auf eine Karte, um das Unausweichliche abzuwenden. 

„Was meinst du damit?“, mischte sich Lily ein. Ihre Hände wurden feucht, während sie überlegte, was Kiria damit sagen wollte. „Was habe ich damit zu tun?“

Kiria betrachtete sie, schüttelte jedoch den Kopf. Das ist momentan nicht wichtig. Ich will dir helfen, weil ich meinem Schützling helfen will – in gewisser Weise bist du nämlich seine Rettung. 

Lilys Gedanken wirbelten wild durcheinander, während sie das Gesagte verarbeitete. Sie sollte diesen Wahnsinnigen retten? Da standen unzählige Menschen und Wesen vor Rasmus und Tomas, denen sie eher helfen wollte.

Kiria kümmerte sich nicht um Lilys verdutztes Gesicht und fuhr fort: Glaubst du wirklich, dass dein Schutzengel aus eigener Kraft zu dir zurück findet? Das kann er gar nicht schaffen! Du musst ihm den Weg weisen, denn ohne deine Hilfe wird er in der Unendlichkeit zwischen den Welten verloren gehen. Und je länger du wartest, desto weiter wird er sich von dir entfernen, desto schwieriger wird es werden, ihm zu helfen. Wenn du Adrian zurückholen willst, musst du einen Engelsrufer erschaffen! 

Ein Schauder rann Lily über den Rücken und sorgte für eine Gänsehaut auf den Armen. Sie wollte widersprechen, doch Kirias Mahnung brachte etwas in ihr zum Klingen. Sie spürte, dass Tomas‘ Schutzengel recht hatte. Allein die Tatsache, dass Adrians Präsenz schwächer wurde … Er würde nicht zurückkommen – eine Horrorvorstellung, die ihr Herz zum Stocken brachte.

Wesentlich sanfter fuhr Kiria fort: Entgegen aller Aussagen ist der Weg, dem mein Schützling folgt, nicht nur schlecht. Natürlich zaubern sie mit unserer Energie und jedes Mal besteht die Gefahr, dass sie uns so sehr schwächen, dass wir den Kontakt zu ihnen verlieren. Deswegen schaffen hochrangige Magier bei ihren Abschlussprüfungen einen Engelsrufer, um ihre Begleiter zu sich zu rufen. 

Silas hat es nie soweit geschafft …, warf Felina ein. Er hat sich vorher Damians Weg angeschlossen und dort wird das scheinbar nicht unterrichtet. 

Wozu auch? Beim sanften Weg besteht gar nicht die Gefahr, dass ein Schutzengel seine Kräfte verliert. Daher sind Engelsrufer für diese Magier nicht unbedingt notwendig. Kiria trat so nahe an den Schutzschild, dass blaue Funken stoben. Aber Lily braucht einen, sonst wird ihr Begleiter irgendwann verschwinden. Und dann passiert mit ihr das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. 

Lily spürte, dass sie blass wurde. Sie wusste, worauf Kiria hinaus wollte, und der Gedanke daran fuhr wie Eis in ihren Körper. Plötzlich war ihr kalt und nur mühsam konnte sie verhindern, dass ihre Zähne klapperten. Sie atmete tief durch und schob den beängstigenden Gedanken an eine Existenz als Geist weit von sich. „Was muss ich machen.“

Du weißt, was ein Engelsrufer ist?

Lily nickte. Sie kannte die Schmuckstücke, die teilweise in den Schaufenstern von Modegeschäften hingen – mitunter wundervoll ausgearbeitet, filigrane Meisterwerke mit farbigen oder kristallenen Klangkugeln in der Mitte. Sprach Kiria davon, oder meinte sie etwas Anderes? „Redest du von diesen kleinen Anhängern?“

Ja. Jeder hochrangige Magier trägt einen Engelsrufer. Tomas hat einen, Rasmus ebenfalls und sogar Damian. Sie deutete zu ihrem Schützling, doch Lily konnte keinen Anhänger entdecken. Wahrscheinlich trug er ihn unter seinem Hemd. Du musst deinen selbst und ohne Hilfe eines anderen Magiers herstellen, Lily. 

„Aber kann Damian nicht …“

Er könnte dir helfen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob er das machen wird.

„Und warum?“ Lily ließ kein böses Wort auf den besten Freund ihrer Eltern zu. Damian war ehrlich, loyal und absolut treu. Ihr Patenonkel würde sie gewiss nicht im Stich lassen, wenn etwas so Wichtiges auf dem Spiel stand.

Weil du Magie dafür brauchen wirst, um das Silber zu formen. Da Adrian nicht da ist, bist du gezwungen, auf fremde Energie zurückzugreifen. Kiria verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen und seufzte. Im Grunde wird es ohne ihn nicht gehen. Damian muss dir zeigen, wie du die Kraft fremder Begleiter anzapfst und damit Zauber webst. 

„Das wird er nie machen.“ Lily biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte keine Ahnung, wie Damian und Silas darauf reagieren würden, dass sie diese Unart der Magie erlernen wollte. Im Grunde konnte sie nicht einmal von ihnen verlangen, dass sie es ihr beibrachten.

Ohne geht es nicht. Das Silber muss mit Hilfe von Magie geformt werden, nicht von Hand. Dein Herz bestimmt bei diesem Zauber die Form, was sehr wichtig für die Klangkugel ist, die später eingefügt wird. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um eine Kugel handeln - die Magie des Anhängers kann alles in das passende Format umwandeln, vom Kuscheltier bis zum Ehering. Deswegen kann der Anhänger nicht von Hand gefertigt werden. Magie ist notwendig! Kiria machte eine Pause und strich sich eine zerzauste Strähne aus den Augen. Dieser Gegenstand muss allerdings etwas Persönliches von dir sein – etwas, was dir viel bedeutet und einen Teil deiner Seele in sich trägt. Um die Verbindung zu deinem Engel herzustellen, musst du diesen Gegenstand mit deinem Blut beträufeln. Das ist wichtig, Lily, also vergiss diesen Schritt nicht. Der Anhänger symbolisiert dein Herz, die Kugel deinen Schutzengel, denn in gewisser Weise ist dein Begleiter deine Seele und das Blut ist die Verbindung zwischen euch. Wenn du ihn nutzt, wirst du Adrian erreichen und ihn zurückführen können. 

Nachdem Kiria ihre Ausführungen beendet hatte, wagte niemand etwas zu sagen. Lily fühlte sich von den Anweisungen des Schutzengels überfahren; Felina zog es vor, sich nicht zu äußern. Schließlich wandte sich Lily an Silas‘ Begleiter: „Hat sie recht?“

Ich weiß nicht …

Lily überlegte einen Moment und formulierte ihre Frage neu: „Hast du so ein Schmuckstück jemals bei Tomas oder Damian gesehen?“

Felinas Blick richtete sich ins Leere, sie schien nachzudenken. Ich glaube schon. Ich erinnere mich an einen Anhänger, den Tomas stets bei sich trägt und nicht mal beim Schlafen oder Waschen abnimmt. Er ist ihm heilig. 

„Aber Damian trägt keinen Schmuck. Ich habe nie etwas bei ihm gesehen.“

Vielleicht weil er ihn nicht braucht. Sein Band zu Eleonore ist auch sehr fest und er zaubert kaum noch. Du könntest ihn danach fragen. Dann wissen wir es ganz genau.

Du wirst diesen Engelsrufer brauchen, Lily. Kiria wandte sich von ihnen ab und brachte mehrere Meter zwischen sich und den Bannkreis. Sie wirkte noch müder und erschöpfter als zuvor. Ihr inneres Leuchten hatte stark abgenommen. Und je eher du ihn anfertigst, umso leichter wird es dir fallen, Adrian zu erreichen, bevor es zu spät ist. 

 

 

Kapitel 1 – Erinnerungsstücke

 

Die Landung in Cluj-Napoca war hart und rüttelte Lily aus dem Halbschlaf, in den sie verfallen war, nachdem sie München verlassen hatten. Es war früher Abend und auf dem kleinen Flughafen in Siebenbürgen herrschte mäßiger Betrieb. Das zweckmäßige, aber baulich hässliche Flughafengebäude lag fast verlassen da und die Start- und Landebahn wirkte verwaist – keine wartenden Flugzeuge oder emsigen Mitarbeiter. Auch die Maschine war nicht voll besetzt gewesen, was ihnen zumindest eine Menge Freiraum brachte. Cionaodh und Hannah saßen etwas abseits – die Werwölfin versuchte Cionaodh zu beruhigen, der noch immer wütend darüber war, dass man seinen Schutzengel Sorcha im Gepäckraum untergebracht hatte. Die rotgetigerte Katze war beim Umstieg in München gereizt und aggressiv gewesen, was zu einer längeren Diskussion mit der Fluglinie geführt hatte. Radu hatte sich ebenfalls zurückgezogen und starrte aus dem kleinen Fenster. Wahrscheinlich dachte er über seine Heimat nach und die Ereignisse, die vor mehr als zweihundert Jahren für seine Flucht gesorgt hatten – damals hatte er Rumänien zu Fuß verlassen. Lily hatte ihn darauf ansprechen wollen, doch Florica hatte den Kopf geschüttelt und ihren Schützling auf ihre Art vor den anderen bewahrt – die Arme um seinen Hals geschlungen und jeden Schutzengel böse angefunkelt.

Lily war ihr nicht böse. Sie verstand Floricas Beweggründe. Darüber hinaus hatte sie eigene Probleme – Felina drängte darauf, dass sie mit Damian und Silas sprach und ihnen von dem Gespräch mit Kiria erzählte. Bisher hatte sich Lily noch nicht dazu durchringen können, mit den beiden zu reden. Sie wusste nicht, wie sie Kirias Worte und die Tatsache, dass sie einen Engelsrufer unter Zuhilfenahme fremder Energie anzufertigen hatte, passend verpacken sollte. Beide verabscheuten Magier, die mit gestohlener Kraft zauberten – nichts anderes würde sie machen müssen. Aber es ging um Adrian. Sie spürte, dass er sich wirklich immer weiter von ihr entfernte und dass er irgendwann nicht mehr zu ihr finden würde. Fast zwei Wochen war er nun schon weg und bisher gab es keine Anzeichen für seine Rückkehr.

Sie konnte es nicht länger verheimlichen – früher oder später würde Felina mit der Wahrheit herausrücken, da sie vor Silas keine Geheimnisse hatte.

Das Flugzeug kam mit einem Ruck zum Stehen. Ein uralter Bus schaukelte über die betonierte Startbahn auf sie zu. Unruhe machte sich breit. Die ersten Passagiere erhoben sich und räumten ihre Sachen zusammen. Einige holten das Gepäck aus der Ablage und machten sich auf den Weg zum Ausgang.

„Da wären wir“, murmelte Silas und streckte die Beine aus. Gähnend fuhr er sich durch das dunkle Haar. „Ich bin gespannt, was uns hier erwartet.“

„Hoffentlich Antworten“, sagte Damian, der auf der anderen Seite des Ganges saß. „Aldwyn wird nicht begeistert sein, wenn wir wieder mit leeren Händen kommen.“

„Wieder …“ Silas stand auf und fischte ihr Gepäck herunter. Mit einem verärgerten Gesichtsausdruck fügte er hinzu: „Ich habe ihm gesagt, dass es keinen Sinn macht, mich mit meinem Vater reden zu lassen. Er verachtet mich und ich ihn.“

„Umso mehr Erfolg sollten wir hinsichtlich des magischen Vampirs haben.“ Damian sah sich um, sein Blick blieb auf Radu haften, der schweigend dem Ausgang zustrebte. „Ich hoffe, dass er uns keine Probleme macht.“

„Für Radu ist das alles nicht so einfach. Wenn man bedenkt, was ihm hier widerfahren ist …“ Lily ließ den Satz offen – inzwischen wusste das gesamte Team, was vor zweihundert Jahren in dem verschlafenen Dörfchen Ramet vorgefallen war. Lily ahnte, wie schwer es dem Vampir fiel, sich seiner Familie zu stellen. Dass sie sich erst morgen mit zwei Mietwagen auf den Weg machen würden, half wenig. Radu würde in der kommenden Nacht kein Auge zutun und garantiert durch Cluj-Napoca streifen. Einmal mehr wünschte sie sich Adrian zurück. Ihr Begleiter war schwer in Radu verliebt und konnte in dem verschlossenen Gesicht des Vampirs lesen wie in einem Buch. Er hätte gewiss gewusst, wie man mit ihm umgehen musste. Ein Grund mehr, mit Damian und Silas zu sprechen, sobald sie im Hotel ankamen. Sie musste sich dringend an die Herstellung des Engelsrufers setzen.

Allerdings dauerte es fast zwei Stunden, bis sie das gut zehn Kilometer entfernte Hotel in der Innenstadt erreichten. Die meiste Zeit verstrich, als sie auf ihr Gepäck warteten und Sorcha aus dem Transportkäfig befreiten – was für skeptische Blicke der anderen Passagiere, des Personals und der Beamten sorgte. Glücklicherweise ließ sie sich klaglos Geschirr und Leine umlegen und blieb treu an Cionaodhs Seite, als sie das Flughafengebäude verließen. Dank Radus Redegeschick fanden sie sogar zwei Taxen, die sie günstig zum Hotel fuhren. Auch das Einchecken musste der Vampir übernehmen, da kaum einer der Mitarbeiter verständlich Deutsch oder Englisch sprach. Selbst Radu hatte Probleme mit seinem recht antiquierten Rumänisch, doch es genügte, um die Zimmer zu bekommen und die Mietwagen für den kommenden Morgen zu bestellen.

Lily war froh, als sie hinter Silas und sich die Tür schloss und sich auf das einfache Doppelbett fallen ließ. Silas stellte ihre Taschen neben den robusten Kleiderschrank und trat ans Fenster. Er betrachtete die kleine Straße, die ins prachtvolle Zentrum der Stadt führte. Lily war überrascht, wie erhaben und sauber die Gebäude, Kirchen und Häuserblocks waren.

„Irgendwie hab ich mir Rumänien anders vorgestellt“, sagte Silas nach einer Weile und nahm damit Lily die Worte aus dem Mund. „Irgendwie … ländlicher.“

„Ramet dürfte eher dem entsprechen, was wir uns vorstellen.“ Sie hielt ihr Handy hoch. „Ich hab mir das Dorf mal online angesehen und es sieht dort aus wie vor hundert Jahren. Weit verteilte, strohgedeckte Häuschen, einfache Straßen und alles noch sehr traditionell. Liegt vielleicht an den Vampiren, die dort leben …“

„Ich bin gespannt.“ Silas ließ sich neben ihr nieder und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Blick wanderte zu Felina, die versuchte, auffällig gelassen zu wirken. „Weißt du, Lily, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, mir von deinem nächtlichen Streifzug vor paar Tagen zu erzählen.“

Lily warf einen bösen Blick auf Silas‘ Schutzengel, nickte jedoch. Es war wirklich an der Zeit … „Können wir Damian hinzuholen?“

„Damian?“ Silas runzelte die Stirn. „Warum?“

„Weil das Thema auch ihn betrifft“, antwortete Lily.

Ich hole ihn, bot Felina an und schwebte durch die geschlossene Tür.

„Sie weiß also Bescheid …“, murmelte Silas und verzog das Gesicht. Er streifte sich die Schuhe ab und ließ sie neben das Bett fallen.

„Felina hat dich nicht angelogen – sie hat mir nur Zeit gegeben, um mich zu sammeln und es euch zu erzählen. Sei bitte nicht böse auf sie.“ Lily drehte sich zu ihm und betrachtete sein markantes Profil, das so gar nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprach.

„Ich weiß, aber es ärgert mich trotzdem. Du hättest mir heute früh sagen können, was passiert ist. Wir waren lang genug mit dem Packen beschäftigt.“

Lily seufzte und strich ihm über die Wange. „Ich brauchte einfach Zeit. Und glaub mir – Felina hat mich immer wieder daran erinnert, den Mund aufzumachen. Deswegen will ich jetzt mit Damian und dir reden.“ Sie drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Auch wenn ich mir sicher bin, dass euch nicht gefallen wird, was ich zu sagen habe.“

„Dann möchte ich es erst recht wissen.“

„Ich auch“, warf Damian ein. Er stand in der Tür, die Hände in die Hüften gestemmt. Sein Blick wanderte über Lily und ihren Freund. „Eleonore liegt mir seit Tagen damit in den Ohren, dass du nachts im Gewölbe warst. Sie hat wohl erwartet, dass ich dich darauf anspreche. Allerdings wollte sie mir nicht verraten, was du gemacht hast.“ Er schob einen unbequem wirkenden Holzstuhl ans Bett und ließ sich nieder. „Sie meinte, du müsstest uns ohne Zwang erzählen, was passiert ist.“

„Du bist mir gefolgt?“, fragte Lily entrüstet.

Damian hat mir den Auftrag gegeben, dich im Auge zu behalten, bis … Sie geriet ins Stocken. Hätte sie Flügel gehabt, sie hätte sie um sich gelegt, wie Adrian es immer tat, wenn er unsicher war. … Adrian zurückkommt. 

„Ein guter Aufhänger.“ Lily beschloss, nicht lange um den heißen Brei herum zu reden. Sie behielt Damian im Blick, suchte unwillkürlich nach dem Anhänger, den er einst geschaffen hatte, um Eleonore zu erreichen. „Laut Kiria wird er es ohne meine Hilfe nicht schaffen, zurückzukommen. Es liegt an mir, ihm zu helfen.“

„An dir?“ Silas richtete sich auf die Ellenbogen auf. „Wie soll das …“

Ein tiefes Seufzen seitens Damians unterbrach ihn. Der Magier fuhr sich durchs Haar und sah kurz aus dem Fenster. „Ich hatte gehofft, dass es nicht notwendig ist …“

„Was notwendig ist?“ Silas stand endgültig auf und begann, nervös im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Einen Engelsrufer herzustellen“, entgegnete Damian und schob den Ärmel des Hemdes nach oben. An seinem Handgelenk trug er ein stabiles Armband, an dem ein Anhänger baumelte. Er war silbern und recht einfach gefertigt. Die braune Kugel in der Mitte war fast nicht zu sehen. „Kiria hat dir davon erzählt, nicht wahr?“

Lily nickte und betrachtete fasziniert das Schmuckstück. „Du trägst ihn nicht um den Hals …“, murmelte sie. „Moment mal – du weißt die ganze Zeit, dass ich einen Engelsrufer brauche, um Addy zu erreichen …“

Damian hob die Achseln. Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ehrlich gesagt, habe ich es nur vermutet. Eleonore und ich waren uns nicht sicher, ob es nicht auch ohne geht, doch inzwischen ist viel Zeit vergangen und er ist immer noch nicht wieder aufgetaucht. Ich hätte dich in den nächsten Tagen darauf angesprochen, aber da war Kiria wohl schneller als ich.“

„Worüber genau redet ihr?“, mischte sich Silas ein. „Bin ich der Einzige, der nicht weiß, was los ist?“

„Entschuldige.“ Lily schob sich aus dem Bett und trat zu ihm. Leise berichtete sie ihm von Kirias Worten, ihren Erklärungen zum Engelsrufer und den Hintergründen. Sie spürte, dass Silas zu Beginn wütend, zuletzt aber eher besorgt war. Wie es Lily geahnt hatte, gefiel ihm die Tatsache, Lily das Anzapfen fremder Seelenenergie für einen Zauber beibringen zu müssen, überhaupt nicht.

„Gibt es keinen anderen Weg?“ Silas sah zu Damian. „Kannst du nicht den Anhänger formen?“

„Das geht nicht. Ein Engelsrufer muss komplett vom Magier selbst hergestellt werden. Das ist wichtig, da er ansonsten nicht funktioniert.“ Er schien zu überlegen und sich mental mit Eleonore auszutauschen. „Es gibt leider keinen anderen Weg, als Lily diesen unschönen Zauber beizubringen. Und damit niemand seine Energie opfern muss, werden Eleonore und ich uns zur Verfügung stellen. Wir sind gefestigt genug, um den Verlust ausgleichen zu können.“

Lily beobachtete ihren Freund. Es war offensichtlich, dass er mit dieser Lösung nicht einverstanden war. Er schielte zu Felina, betrachtete den fehlenden Flügel und das zerzauste Haar. Sie nickte ihm zu. „Felina stellt ebenfalls ihre Energie zur Verfügung.“

„Ich denke nicht …“

„Du solltest Lily eher anleiten, Damian. Sie wird nicht nur erstmals fremde Energie in einen Zauber weben, sondern auch etwas wie dieses Schmuckstück erschaffen müssen. Es wäre besser, wenn derjenige, der darum weiß, sie notfalls unterstützen kann.“ Seine Schultern verrieten seine Anspannung. „Außerdem gehört Lily zu mir! Wir stehen uns durch die Ereignisse der letzten Wochen viel näher als ihr beide. Es wird ihr leichter fallen, auf meine Kräfte zuzugreifen.“

Außerdem ist es persönlicher … ihre Seelen haben sich bereits berührt, als Lily in der magischen Dunkelheit nach Silas gesucht hat. Das schweißt zusammen. Felina schwebte zu Eleonore und blickte sie direkt an.

Damians Begleiter wiegte den Kopf. So leid es mir tut, sie hat recht, Damian. Der Anhänger muss von Lily eigentlich mit der Energie ihres Schutzengels geschaffen werden – da Adrian nicht da ist, wäre es wirklich besser, wenn sie auf Felina zurückgreift. Ihre Bindung zu Silas ist wesentlich stärker … 

„Auch in Ordnung“, gab sich Damian geschlagen. „Wir sollten das so schnell wie möglich angehen. Mit jedem Tag wird es schwieriger werden, Adrian zu erreichen.“ Er strich sich grübelnd über das Kinn und wandte sich ab. „Zunächst brauchen wir Silber - glücklicherweise habe ich etwas, was uns helfen könnte.“

Im nächsten Moment war er aus dem Zimmer verschwunden und polterte den Gang entlang. Eleonore folgte ihm. Was sie sagte, konnte Lily nicht mehr verstehen.

„Bist du dir sicher, dass du das machen willst?“ Lily tastete nach Silas‘ Hand und schob ihre Finger zwischen seine. „Ich will Felina nicht wehtun. Und dir auch nicht.“

Ein Lächeln erhellte Silas‘ Gesicht. Mit der freien Hand strich er über Lilys Wange und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich weiß, aber du darfst nicht vergessen, dass wir zusammengehören. In so einer Angelegenheit unterstütze ich dich, niemand sonst. Das ist gewissermaßen mein Privileg.“

Sein Kuss war sanft und doch fordernd. Lily verlor sich in dem betörenden Duft und der angenehmen Wärme. Ein wohliges Gefühl breitete sich kribbelnd in ihrem Magen aus und ließ sie Zeit und Raum vergessen. Für sie gab es nur Silas, seine Nähe und die Liebe, die aus seinen Blicken und Berührungen sprach.

Erst das leise Räuspern von Damian brachte sie ins Hier und Jetzt zurück. Behutsam löste sich Silas von ihr, nicht ohne ein letztes Mal durch Lilys blonde Locken zu streichen. „Soll ich morgen wiederkommen?“

„Neidisch?“, fragte Silas mit einem breiten Grinsen.

Damian verdrehte die Augen und legte zwei Armbänder auf den Nachttisch. „Die sind beide aus Silber und sollten für einen Anhänger reichen.“

Lily trat näher und betrachtete die grob gearbeiteten Schmuckstücke. Sie waren nichts Besonderes – ebenso schlicht und einfach wie das Armband, das er trug. „Bist du sicher, dass ich die dafür nehmen kann?“

„Wir haben keine Zeit, uns Rohsilber zu besorgen. Das sollte ausreichen.“

Du solltest Lily wenigstens sagen, was es mit den Armbändern auf sich hat. Eleonore verschränkte die Arme vor der Brust. Als Damian schwieg, setzte sie zu einer Antwort an: Das sind Geschenke deiner Eltern. Sie haben sie Damian überreicht, als er euer Pate wurde. 

„Das ist nicht wichtig, Eleonore“, sagte Damian und drehte seinem Schutzengel den Rücken zu.

„Aber sie sind dir wichtig“, widersprach Lily. Das warme Kribbeln, das Silas Kuss ausgelöst hatte, verwandelte sich allmählich in ein unangenehmes Ziehen. „Es wäre falsch, sie dafür zu …“

„Wäre es nicht – gerade weil sie von deinen Eltern stammen. Du hast schließlich nichts von ihnen. Auf diesem Weg sind sowohl sie als auch ich immer bei dir.“

„Trotzdem fühlt es sich falsch an. Können wir uns nicht hier umsehen? Cluj-Na…“ Lily verdrehte die Augen. Sie würde es nie hinbekommen, die Stadt korrekt auszusprechen. Wie gut, dass die rumänische Metropole auch einen deutschen Namen hatte. „Klausenburg ist nicht so klein, als dass wir in der Stadt keinen passenden Laden finden.“

„Da wir morgen früh bereits nach Ramet aufbrechen, haben wir keine Zeit, nach einem Silberschmied zu suchen. Die Armbänder werden ihren Zweck erfüllen.“

Lily zögerte dennoch. Ihr gefiel der Gedanke nicht, Damian die letzten Erinnerungsstücke an ihre Eltern wegzunehmen, um den Engelsrufer herzustellen. Andererseits war es reizvoll, etwas zu tragen, das ihren Eltern gehört hatte. Immerhin war ihr nichts von ihnen geblieben.

Es ist in Ordnung, Lily, sagte Eleonore. Du musst dich nicht um Damian sorgen. Er hat sich das Ganze gut überlegt. 

„Willst du das jetzt direkt angehen, Damian?“, mischte sich Silas ungläubig ein. „Wir sollten das nicht überstürzen. Wir haben beide gesehen, was passieren kann, wenn ein Magier die Kontrolle verliert.“

„Viel Zeit haben wir nicht mehr und es wird garantiert mehrere Tage dauern, bis Lily den Anhänger überhaupt angehen kann. Wir müssen uns beeilen. Je länger wir brauchen, umso schwieriger wird es für Adrian, zurückzufinden.“ Er seufzte und fuhr sich durchs Haar. „Deswegen sollten wir heute zumindest mit den Grundlagen anfangen: Dem Anzapfen fremder Energie.“

Silas rollte genervt mit den Augen und begann seine Tasche auszupacken, obwohl sie morgen früh weiterfuhren und er sich unnötig Arbeit machte.

Damian ignorierte ihn und setzte zu einer Erklärung an: „Das Anzapfen fremder Energie ist leider ziemlich simpel – ganz besonders, wenn der Zauberer auf keinen Widerstand stößt. Dass du die Gabe des Erkennens hat, wird es dir leichter machen, glaub mir. Ich hatte nie Schwierigkeiten damit, fremde Seelenenergie zu nutzen …“ Er räusperte sich. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Zunächst musst du dich auf Felina konzentrieren und ihre Energie erspüren. Hast du das Band zwischen ihr und Silas gefunden, kannst du die Kraft, die daraus entspringt, für dich nutzen und in deine Zauber einweben.“

„Und das Formen des Anhängers?“, fragte Lily.

„Das gestaltet sich etwas schwieriger.“ Damian strich über den Engelsrufer an seinem Handgelenk und schien zu überlegen. „Dafür gibt es nämlich keine Anleitung. Jeder Zauberer hat da eine eigene Vorgehensweise. Da dein Herz die Form bestimmt, entspricht der Zauber deiner Natur. Das bedeutet, dass du für dich entscheiden musst, wie du vorgehen möchtest. Ich kenne Magier, die dafür ein Ritual durchgeführt haben mit viel Theater und Brimborium. Andere haben das mit wenigen Worten geschafft, still und leise. Deswegen ist das Herstellen eines Engelsrufers nicht so einfach, denn es gibt keine allgemein gültige Vorgehensweise, die man erlernen kann.“ Er geriet ins Stocken. „Um ehrlich zu sein, gibt es auch Magier, denen es gar nicht glückt.“

Ein Schauder rann über Lilys Rücken. Sie atmete tief durch, um den Anflug von Panik abzuschütteln. Allein der Gedanke, dass es ihr nicht gelang, einen Engelsrufer herzustellen, brachte ihre Entschlossenheit ins Wanken. Was, wenn sie scheiterte? Würde Adrian dann nie zu ihr zurückkehren?

Silas ließ von seinen Klamotten ab und trat zu ihr. Er zog sie in den Arm und drückte ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn. „Du schaffst das, Lily. Du hast schon ganz andere Dinge hinbekommen.“

Außerdem hast du den Vorteil, keine magische Ausbildung genossen zu haben, entgegnete Felina. Wenn ich das richtig verstanden habe, musst du die Magie aus dir heraus wirken, sprich einen natürlichen Weg dafür finden. Ausgebildete Zauberer versteifen sich viel schneller auf gelernte Sprüche und versuchen, mit ihrem Wissen etwas zu erzwingen, anstatt ihrer Intuition zu folgen. 

„Aber ihre Intuition ist Adrian und der ist nicht hier“, warf Silas ein.

Ein nachsichtiges Lächeln huschte über Felinas Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. Wir führen und leiten euch, aber das bedeutet nicht, dass Menschen keinerlei Intuition, Gefühl und Eigenverantwortung mehr haben, wenn ihre Schutzengel nicht an ihrer Seite sind. Wenn ich die Gegend auskundschafte oder von einem Zauber geschwächt bin, bist du nicht automatisch hilflos. 

„Trotzdem wäre es einfacher, wenn Adrian hier wäre“, führte Damian den Gedankengang fort und nickte Felina zu. Lily war stets aufs Neue überrascht, dass auch Damian die Gabe des Erkennens besaß. Nur Silas musste sich die Worte der anderen Begleiter von Felina weitergeben lassen, um die Gespräche nachvollziehen zu können.

„Ist er aber nicht …“, murmelte Lily traurig. Noch immer tat es ihr leid, wie sie ihren Begleiter nach dessen Offenbarung behandelt hatte. Sie war arrogant und unleidlich gewesen, hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich in seine Lage hineinzuversetzen. Sie musste sich bei Adrian entschuldigen und alles wiedergutmachen, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Sie war bereit, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihren Schutzengel zurückzuholen. Sie nahm Damians Armbänder und drehte sie zwischen den Fingern. Trotz Damians ausführlicher Erklärung wusste sie weder, wie man fremde Energie für einen Zauber nutzte, noch wie sie den Engelsrufer herstellen sollte.

„Wollen wir es versuchen?“ Damian nahm ihr die Schmuckstücke aus der Hand und legte sie aufs Bett. „Ein erster Anlauf, um zu sehen, wie weit du bist. Wäre das okay für dich, Silas?“

„Sicher … machen wir Nägel mit Köpfen.“ Seufzend löste er sich von Lily und trat beiseite, um ihr genügend Raum zu geben. Ihm schien alles ein wenig zu schnell zu gehen, doch er flüsterte ihr lediglich zu: „Du schaffst das. Felina und ich geben dir unsere Energie freiwillig. Such‘ unser Seelenband … du hast es schon einmal gefunden.“

Damian nickte lächelnd und trat einige Schritte zurück. „Schließ die Augen und konzentriere dich auf das Band zwischen Felina und Silas. Es sollte als blauer Lichtstrom sichtbar werden. Sobald du es vor deinem inneren Auge siehst, greif nach der Energie und forme einen simplen Zauber. Ich denke, ein Schutzschild ist nicht zu schwierig und braucht nur wenig Kraft, wenn es nicht durch einen Zauber beschädigt oder zerstört wird.“„

Lily nickte und versuchte ihr Glück. Überraschend schnell wurde die Verbindung zwischen den beiden vor ihrem geistigen Auge sichtbar. Sie ähnelte dem Pfad aus Licht, dem sie gefolgt war, um Silas in der magischen Dunkelheit seines Vaters wiederzufinden und erinnerte sie zeitgleich an das Band, das sie mit Adrian verband.

„Siehst du ihn?“, fragte Damian.

„Ja.“ Lily straffte die Schultern und behielt das Licht im Blick. „Ging ganz leicht.“

„Ihr steht euch sehr nahe, deswegen ist es einfach für dich. Bei Fremden hättest du viel mehr Probleme.“ Damians Stimme klang angespannt, während er mit seinen Erklärungen fortfuhr. „Du kannst danach greifen. Geh behutsam und ohne Hast vor. Erforsche zunächst die Verbindung, lerne sie kennen. Das ist ein wenig wie bei dem Band zwischen dir und Adrian. Sobald du ein Gefühl dafür hast, versuche, die Energie für deinen Zauber zu nutzen.“

Lily gab ihr Bestes, die Ratschläge des Magiers umzusetzen. Mit zusammengepressten Lippen konzentrierte sie sich auf den Strom aus Licht, folgte ihm von Felina zu Silas und näherte sich langsam dem Seelenband. Es fiel ihr nicht so leicht wie das Sehen, aber irgendwann bekam sie ein Gefühl für Silas‘ Seele und die Energie, die in ihr schlummerte. Es glich einem warmen Pulsieren, lebendig und stark. Eine ganze Weile genoss sie die angenehme Wärme, die die enge Bindung zwischen Felina und Silas ausstrahlte. Ihre Seele hatte bereits die von Silas berührt und das Kribbeln, das sich in ihrem Magen ausbreitete und bis in ihre Fingerspitzen strahlte, fühlte sich einfach unglaublich an. Sie spürte Silas‘ tiefe Liebe und hatte fast den Eindruck, dessen Gedanken zu hören.

Schließlich tastete sie nach der verborgenen Energie und murmelte leise: „Pericula Coerce.“

Nichts geschah.

Lily startete einen weiteren Versuch, während sie mehr von der Kraft abzweigte, die dem Band aus Licht innewohnte. Für wenige Sekunden flammte ein blauer Schild auf, dann verpuffte er mit einem kläglichen Seufzen.

„Für das erste Mal war das wirklich gut“, beschied Damian und klopfte ihr auf die Schulter.

Lily fühlte sich an den Moment erinnert, als sie unter Damians Anleitung den Schutz mit Adrians Energie aufgebaut hatte. Da war der Schild auch binnen weniger Augenblicke in sich zusammengefallen. Dennoch hatte sie gehofft, dieses Mal schneller von der Stelle zu kommen.

„Probiere es gleich nochmal“, schlug Damian vor. „Lass dir vielleicht mehr Zeit, um die Energie besser zu fassen zu bekommen, bevor du sie für deine Magie nutzt.“

Der nächste Zauber hielt länger, doch der Schutz war so winzig, dass er gegen einen Angriff kaum geholfen hätte. Zudem zuckte Felina zusammen und wurde für einen Moment noch blasser und durchscheinender.

„Alles in Ordnung?“, fragte Lily besorgt. Ihr Blick fiel auf Silas, dessen Gesicht sichtbar Farbe verloren hatte.

„Dafür, dass der Schild zu mickrig war, hast du eben eine Menge Energie genommen.“

Damian runzelte die Stirn. „Klingt, als würdest du die Kraft, die du dir borgst, nicht richtig umsetzen. Es geht zu viel beim Transfer von Silas zu dir verloren.“

Wenn sie näher beieinander stünden, könnte das vielleicht helfen, schlug Felina vor und legte ihren Flügel um sich. Sie rieb sich die Oberarme.

Ich denke nicht, dass das wirklich etwas bringt, aber wir können es probieren. Eleonora legte einen Arm um Silas‘ Schutzengel und strich ihr behutsam über den Rücken.

Lily folgte der Anweisung und trat näher zu Silas. Sofort stieg ihr der angenehm würzige Duft seiner Haut in die Nase und brachte sie unweigerlich auf falsche Gedanken.

Vielleicht hilft sogar ein Kuss. Dann seid ihr euch wirklich nah. Eleonore sah zu Damian, der zögerlich nickte.

‚Dann kann ich mich aber nicht richtig auf den Zauber konzentrieren …‘, schoss es Lily durch den Kopf, doch sie hütete sich davor, ihre Gedanken in Worte zu packen. Da Silas keine Anstalten machte, sie zu küssen, probierte sie es auf normalem Wege. Sie atmete tief durch, versuchte die Präsenz ihres Freundes auszublenden und tastete nach dem Band zwischen Silas und Felina.

Dieses Mal gelang es ihr tatsächlich, mehr Energie in den Zauber zu leiten und ein stärkeres Schild zu erschaffen. Es hielt zwar nur eine halbe Minute, doch es wirkte resistent und stabil. Auch schienen Silas und Felina ihren Zauber besser zu vertragen als zuvor.

„Ein interessanter Effekt“, murmelte Damian. „Vielleicht liegt es daran, dass Adrian nicht da ist, um dich beim Nutzen fremder Seelenenergie zu unterstützen. Normalerweise nimmt der Schutzengel dem Magier einiges an Arbeit ab. Ein Kuss als zusätzliche Verbindung ist wahrscheinlich nicht verkehrt, wenn du dich an den Anhänger machst.“

Lily verzog das Gesicht, was dazu führte, dass Silas die Augenbrauen hob und einen Schritt zurücktrat. „Du verstehst das falsch … ich fürchte, meine Konzentration wird immens darunter leiden, wenn wir uns dabei küssen.“ Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. „Wer weiß, was ich dann für einen Zauber wirke und was dabei herauskommt.“

Silas nickte, konnte sich ein breites Grinsen jedoch nicht verkneifen.

„Das dürfte eigentlich kein Problem sein, im Gegenteil. Der Anhänger spiegelt dein Herz wieder – Silas nimmt einen großen Teil davon ein. Mit etwas Glück fällt es dir sogar leichter, den Anhänger zu erschaffen, wenn dir Silas so nah ist“, nahm Damian ihr den Wind aus den Segeln.

Lily hatte das Gefühl, krebsrot zu sein. Sie wusste nicht, wie sie auf diesen Vorschlag reagieren sollte. Einerseits klang es logisch, andererseits hatte Lily keine Ahnung, wie sie vernünftig zaubern sollte, wenn Silas mit seiner Zunge ihren Mund erkundete. Und das auch noch während Damian dabei zusah …

„Wollen wir gleich anfangen?“, fragte Silas neckisch und zog Lily mit einem Ruck an sich heran. Sie spürte deutlich, dass ihn der Gedanke an einen derartigen Kuss erregte. Dabei hätte er garantiert keinerlei Kraft mehr, wenn Lily mit dem Anhänger fertig war.

„Ich denke, das verschieben wir erstmal … zunächst sollte Lily noch daran arbeiten, deine Seelenenergie kontrollierter einzusetzen. Ein Schild ist kräfteschonender als das Formen von Silber. Deinetwegen sollte sie zunächst sicherer werden, bevor wir den Anhänger in Angriff nehmen …“

„Und Adrian?“, fragte Lily. Kiria klang danach, als sollte sie sich beeilen.

„Ein paar Tage wirst du dich gedulden müssen. Du brauchst mehr Übung, Lily, denn für den Engelsrufer hast du nur einen Anlauf. Es nützt niemandem etwas, wenn du bei deinem Zauber Silas und Felina ernsthaft Schaden zufügst.“

 

Der nächste Morgen begann viel zu früh – es mochte erst sieben Uhr sein, als sich Radu mit einem Klopfen und den Worten „Guten Morgen. In einer guten Stunde fahren wir los!“ bemerkbar machte.

Lily hatte das Gefühl, gerade erst vor wenigen Minuten eingeschlafen zu sein. Die halbe Nacht hatte sie sich mit Üben um die Ohren geschlagen, die restliche Zeit hatten sie und Silas für andere Dinge genutzt. Natürlich war es nicht nur beim Küssen geblieben, wenngleich Damian recht behielt – die Zauber fielen Lily wirklich leichter, wenn sie Silas nahe war. Dennoch musste sie sich in den kommenden Tagen, wenn nicht Wochen zusammenreißen. In Ramet hatten sie garantiert kein Zimmer, in das sie sich zurückziehen konnten.

Da Silas noch schlief, nutzte Lily die Gelegenheit, das Bad aufzusuchen und zu duschen. Auch das war mit etwas Pech in Radus Heimatdorf nicht möglich, denn laut Google war das Dörfchen noch sehr altertümlich, fast schon rückständig. Vielleicht irrte sie sich auch, doch sie wollte auf alles vorbereitet sein.

Als sie frisch geduscht und angezogen aus dem Badezimmer trat, hatte sich Silas zumindest aufgesetzt und blinzelte verschlafen in die aufgehende Sonne. Sein Haar stand ihm kreuz und quer vom Kopf ab, auf seiner blassen Haut zeichneten sich rote Muster der Bettdecke ab. Er wirkte zerknittert, aber sehr zufrieden.

„Du bist schon fertig …“, stellte er mit leichtem Bedauern in der Stimme fest.

„Radu will binnen der nächsten halben Stunde aufbrechen.“

„Ich weiß – er hat laut genug gebrüllt.“ Silas schlug die Decke beiseite und stand auf. Dass er vollkommen nackt war, störte ihn überhaupt nicht. „Wir hätten zusammen duschen können.“

„Und Radu damit vollkommen in den Wahnsinn getrieben?“ Lily schüttelte den Kopf und warf ihm einige frische Klamotten zu. „Du hattest letzte Nacht deinen Spaß.“

„Tu nicht so, als hätte dir nicht gefallen, was ich gemacht habe.“ Er trat näher und fing Lily ein, bevor sie sich über das Bett hermachen konnte. Er gab ihr einen stürmischen Kuss und schmiegte sich eng an ihren Körper. „Du hast dich zumindest nicht beschwert, als ich …“

„Genug jetzt“, unterbrach Lily ihn kichernd und ließ ihre Finger über seine Seiten wandern. Den leichten Schauder, der Silas erfasste, spürte sie nur allzu deutlich. „Du solltest dich wirklich beeilen, oder willst du, dass Radu beim nächsten Besuch die Tür eintritt?“

„Nein, das wäre dann doch zu viel Stress am frühen Morgen.“ Er stahl sich einen weiteren Kuss, den Lily mit einem Klaps auf seinen Hintern quittierte, und verzog sich dann ins angrenzende Badezimmer.

Lily klaubte ihre letzten Sachen zusammen, verstaute sie in den Taschen und machte das Bett, dann setzte sie sich auf den unbequemen Holzstuhl. Sie hielt die Armbänder in der Hand, die Damian letzte Nacht zurückgelassen hatte. Nachdenklich betrachtete sie die einfachen Schmuckstücke. Sie wiesen etliche kleine Kerben und Schrammen auf, die davon zeugten, dass sie lange getragen worden waren.

‚Wenn Addy da wäre, könnten wir uns darüber unterhalten‘, dachte sie traurig. Was er wohl zu Damians Vorschlag und den Armbändern gesagt hätte? Wahrscheinlich würde er ihrer Meinung sein und sich weigern, die beiden Schmuckstücke für die Herstellung des Engelsrufers zu verwenden. Es war einfach falsch. Sie gehörten Damian. Im Gegensatz zu Lily hatte er eine Menge Erinnerungen an ihre Eltern und hatte einige davon mit ihnen erlebt. Im Gegenzug dazu wusste sie kaum etwas über ihre Mutter und ihren Vater. Sicherlich, Damian hatte ihr viel erzählt, aber das war nicht dasselbe wie eigene Erinnerungen.

„Lily?“ Silas‘ gedämpfte Stimme ging fast im Rauschen der Dusche unter. „Nach deinem gestrigen Versuch habe ich mir etwas überlegt … ich würde gern deine Meinung dazu hören.“

„Was denn?“ Lily stopfte die restlichen Sachen in die Tasche und trat ins Bad, um Silas besser hören zu können.

„Ich habe mich gefragt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, Schutzengel zu heilen oder ihnen zumindest mehr Energie zu geben.“

„Wirklich?“ Lilys Neugierde war geweckt. „Aber hat Damian nicht gesagt, dass ein Begleiter keine fremde Seelenenergie speichern und wiederverwerten kann?“

„Schon, aber er hat ja auch versucht, Energie zu stehlen, um seinen eigenen Schutzengel zu heilen. Ich denke, wenn man es andersherum probiert, könnte es funktionieren.“

„Du meinst, wenn Felina freiwillig etwas von ihrer Energie Adrian geben würde?“

Silas nickte und Felina fügte hinzu: Er müsste es aber akzeptieren. Es wäre ein anderer Ansatz als der, den dein Vater und Damian verfolgt haben. 

„Bei deinem Versuch gestern ist mir aufgefallen, wie leicht es für einen fremden Magier ist, Felinas und meine Energie zu nutzen, wenn ich keinen Versuch starte, dagegen anzukämpfen. Ich wage sogar zu behaupten, ich könnte dir Energie für alle möglichen Zauber zur Verfügung stellen. Von diesem Punkt aus ist es theoretisch gesehen nur ein kleiner Schritt, um Seelenenergie selbst zu Heilungszwecken weiterzugeben.“

„Du meinst freiwillig?“

Silas nickte und stellte das Wasser ab. Er strich sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht und angelte nach einem Handtuch. „Ich denke, das sollte möglich sein. Es wäre eine Möglichkeit, einen fremden Schutzengel zu stärken, ohne ihn komplett zu heilen. Ich frage mich, ob es sinnvoll wäre, an einem Zauber zu arbeiten, der das ermöglicht.“

„Wäre es!“, sagte Lily. Sie trat zu ihm und fuhr ihm über die Wange. „Das ist eine tolle Idee. Darin solltest du unbedingt Zeit investieren.“

Silas schenkte ihr ein Lächeln. „In Ordnung. Ich hab sogar eine Ahnung, wer mir als Versuchskaninchen zur Verfügung steht.“

Lily streckte ihm die Zunge raus, was Silas mit einem stürmischen Kuss quittierte.

Das laute Pochen an der Tür unterbrach sie, noch bevor Silas‘ vorwitzige Finger unter ihr Shirt wandern konnten. „Seid ihr endlich fertig? In zehn Minuten brechen wir auf!“ Radu klang unbeherrscht und ungeduldig, als wüsste er ganz genau, womit Lily und Silas beschäftigt gewesen waren.

„Du machst vielleicht einen Lärm!“, rief sie und löste sich von Silas. Sie huschte ins Zimmer und öffnete die Tür.

„Als wärt ihr letzte Nacht leiser gewesen“, schnaubte Radu und schaute sich mit gehobenen Brauen im Raum um.

Lily seufzte. „Du warst am anderen Ende des Flures …“ Sie verbot sich, den Satz fortzuführen. Es wäre nicht gut, in diesem Moment noch Salz in Radus Wunden zu streuen. Er war schon angespannt und unleidlich genug. „Silas ist gleich fertig, wir beeilen uns.“

„In Ordnung …“, murmelte Radu, machte jedoch keine Anstalten zu gehen. Trotz seiner imposanten Erscheinung und der dunklen Aura, die er verströmte, sah er mit einem Mal verloren aus. Selbst sein Schutzengel Florica wirkte unsicher und nervös. Sie schwebte dicht hinter ihm, die zierlichen Arme um seinen Oberkörper geschlungen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Lily.

„Natürlich …“ Radu schüttelte den Kopf. „… nicht.“ Er ging an Lily vorbei und ließ sich auf dem Bett nieder. Kurz lauschte er, doch dann schien es ihm egal zu sein, ob Silas mithören konnte: „Ich weiß nicht, ob ich das alles schaffe, Lily. Allein wieder hier zu sein, fühlt sich … seltsam an. Vor zweihundert Jahren habe ich mir vorgenommen, nie wieder zurückzukehren. Jetzt sind wir auf dem Weg nach Ramet und ich habe keine Ahnung, was mich dort erwartet.“

Lily setzte sich zu ihm. Es tat ihr in der Seele weh, Radu so verzweifelt zu sehen. „Hast du versucht, jemanden von deiner Familie zu erreichen?“

Der Vampir vergrub das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. „Ich hab keine Ahnung, was ich sagen soll. Außerdem ist es nicht so, dass sie im Telefonbuch stehen.“

„Vielleicht leben sie gar nicht mehr dort …“

„Das wäre schlecht für unsere Nachforschungen, oder? Wie wollen wir etwas über den magischen Vampir herausfinden, wenn sie nicht mehr dort wären.“ Ein trauriges Lächeln huschte über Radus bleiche Lippen. „Aber darüber musst du dir keine Gedanken machen. Unsere Familie ist sehr traditionell und ortsgebunden. Da müsste Ramet schon bei einem Erdbeben untergehen, um die Sippe Dragomir zu vertreiben.“

„Dragomir?“

„Mein Familienname. Ich verwende ihn aber fast nie. Mein richtiger Name ist Dragomir Radu.“

Lily wusste nicht, was sie sagen sollte. In all den Jahren, die sie sich kannten, war sie nie auf die Idee gekommen, den Vampir nach seinem vollständigen Namen zu fragen. Sie hatte ihn einfach immer bei seinem Vornamen angesprochen und Radu hatte sie nie korrigiert. Ob Adrian oder die anderen seinen vollständigen Namen kannten?

Als hätte Radu ihre Gedanken gelesen, beantwortete er zumindest einen Teil ihrer stummen Fragen: „Keine Sorge – außer Alina kannte niemand meinen Nachnamen. Im Grunde hab ich ihn abgelegt, als ich Rumänien verlassen habe. Für mich gab es nie einen Grund, euch meinen Namen auf die Nase zu binden.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Tut mir trotzdem leid. Ich hätte zumindest fragen sollen.“ Lily kam sich schäbig vor, dass sie nie soweit gedacht hatte.

„Ach Blödsinn, weißt du denn, wie Hannahs Nachname ist?“

„Klar – Petersen. Und bevor du fragst, Cionaodh hat keinen. Sidhe nutzen so etwas nicht.“

Radu grinste. „Offiziell heißt er trotzdem Kenneth Wilde – zumindest steht das in seinem Ausweis. Sonst hätte er wohl kaum eine Wohnung in Wiesbaden mieten können, auch wenn er fast nie dort ist.“

„Kenneth?“, hakte Lily nach. Sie ahnte, warum er sich dafür entschieden hatte, klang der irische Name Cionaodh doch fast genauso, wenn man ihn korrekt aussprach. „Passt irgendwie. Hätte ich an seiner Stelle wohl genauso gemacht.“

Florica flüsterte ihrem Schützling etwas ins Ohr, das Lily nicht verstand. Im nächsten Moment trat Silas frisch geduscht aus dem Badezimmer. Er setzte bereits zu einem Kommentar an, verkniff ihn sich jedoch, als er Radu sah.

Der Vampir wiederum verbarg seine Gedanken und Gefühle so schnell hinter einer stoischen Maske, dass Lily überrascht den Atem einsog.

„Wenn ihr fertig seid, brechen wir auf.“ Mit diesen Worten verschwand er aus dem Zimmer und trampelte hörbar die hölzerne Treppe ins Erdgeschoss des Hotels hinunter.

„Was wollte er denn?“, fragte Silas und griff nach seiner Tasche. „Hab ich irgendwas falsch gemacht?“

Lily schüttelte den Kopf und überlegte, wie viel sie verraten sollte. „Er ist nur ein wenig unsicher und hat nach Rat gesucht. Immerhin kehrt er nach fast zweihundert Jahren zu seiner Familie zurück.“

„Das ist alles?“ Bevor Lily antworten konnte, baute sich Felina vor ihrem Schützling auf.

Ich denke, das ist eine riesengroße Sache für Radu. Und ich weiß genau, dass du das genauso siehst. Also sei nicht so unsensibel.

Silas schluckte und nickte. Er nagte an seiner Unterlippe, ein Zeichen dafür, dass er unsicher war. „Du hast recht – es ist garantiert nicht leicht für ihn, nach so langer Zeit zurückzukehren … vor allem nach dem, was zwischen ihm und seiner Familie vorgefallen ist …“

 

 

Kapitel 2 – Das Geheimnis der Dragomirs

 

Der Weg nach Ramet war genauso, wie Lily es vor dem Flug auf einer Internetseite gelesen hatte - holprig und unwegsam. Die asphaltierte Straße war voller Schlaglöcher und die letzten Kilometer ging es über einen besseren Feldweg stetig bergan. Es war eine Herausforderung, das langgestreckte Plateau zu erreichen, von dem man einen sagenhaften Blick über die raue Landschaft hatte. Zerklüftete Berge wechselten sich mit Weideflächen und kleinen Ackerparzellen ab, hin und wieder entdeckte man weit verstreute Höfe.

Sie hatten die beiden Wagen nebeneinander abgestellt und bewunderten den Ausblick. Es war ein fremdartig schönes Fleckchen, das noch vollkommen unberührt wirkte.

Cionaodh genoss die warmen Sonnenstrahlen und atmete tief durch. Ihm schien die Gegend auf Anhieb zu gefallen, denn ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Sorcha saß schnurrend auf der Motorhaube des Geländewagens. Sie hatte ihr rotes Fell aufgeplustert und wirkte fast doppelt so breit.

„Was für ein schöner Ort“, murmelte Hannah andächtig. Sie schirmte die Augen vor der Sonne ab und betrachtete die weit entfernten Berghänge. „Und hier bist du aufgewachsen, Radu? Wenn ich da an das nordische Flachland denke, wo ich gelebt habe …“

Der Vampir brummte lediglich leise. Obwohl er die Sonne hasste, stand er neben ihnen und betrachtete die Gegend skeptisch. Er witterte immer wieder und trat nach einer Weile in den Schatten einiger karger Bäume. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er war bereits während der Fahrt unruhig gewesen – der Hauptgrund, weshalb er nicht hinterm Steuer saß, sondern Damian vom Beifahrersitz aus gelotst hatte. Lily und Silas hatten auf der Rückbank gesessen, was ihr die Möglichkeit gegeben hatte, den Vampir zu beobachten. Als sie Cluj-Napoca verließen, schien sich Radu weitestgehend gefangen zu haben. Von ihrem kurzen Gespräch und seinen Ängsten ließ er nichts nach außen dringen. Erst als sie die Autobahn verließen und sich den Bergen näherten, wuchs seine Anspannung. Mit jedem Kilometer wurde er stiller und meldete sich nur selten zu Wort.

„Wo ist die Unterkunft, die du uns organisiert hast?“, fragte Damian.

„Noch ein Stück weit in diese Richtung.“ Radu deutete die unbefestigte Straße entlang. „Da müsste das Zentrum von Ramet kommen. Soweit ich das gesehen habe, steht da inzwischen eine Kirche. Dort in der Nähe müssten die Ferienwohnungen liegen. Ich habe telefonisch Bescheid gegeben. Sie sind auf meinen Namen reserviert.“

„Dann sollten wir erstmal dort einziehen und alles Weitere besprechen.“ Damian hatte bereits die Autotür geöffnet, als ein Mann und eine Frau am Rand des Plateaus auftauchten. Sie waren in traditionelle Tracht gekleidet. Langes dunkles Haar umspielte den breiten Kopf der stämmigen Frau, während der Mann eine Mütze trug. Schon auf die Entfernung erkannte Lily die vampirischen Schutzengel, die die beiden begleiteten.

„Ihr werdet ohne mich gehen müssen. Ich habe anderweitig zu tun, wie es aussieht“, entgegnete Radu steif. Seine Augen fixierten die Neuankömmlinge. Sie kamen näher und sagten etwas in der unverständlichen Sprache, die Radu hin und wieder benutzte. Einzig den Namen des Vampirs konnte Lily in dem Kauderwelsch verstehen.

„Was wollen sie?“, fragte Lily und legte Radu eine Hand auf den Unterarm.

„Mich zu meinem Vater bringen.“

„Können wir mit…?“

„Nein“, unterbrach Radu sie sofort. Er schenkte Lily ein schiefes Grinsen. „Das muss ich allein machen. Sollte alles gut gehen, werdet ihr später von jemandem abgeholt und zu ihnen gebracht.“

Er straffte die Schultern und antwortete den beiden Vampiren auf Rumänisch. Dann wandte er sich wieder an die anderen. „Wartet in der Ferienwohnung auf mich.“

Niemand sagte etwas, als Radu sich entfernte und den Vampiren folgte. Erst als sie hinter einer Biegung verschwanden, regte sich Hannah: „Ob das gut geht? Ich hatte gehofft, wir könnten unser Vorgehen besser besprechen.“

„Es sind Vampire, Hannah. Sie haben uns wahrscheinlich schon mitbekommen, als wir die letzten Dörfer passiert haben.“ Damian winkte sie zu den Wagen. „Wir sollten Radus Vorschlag folgen und die Ferienwohnungen beziehen. Warten wir bis er zurückkommt. Für Radu und seine Familie ist es erst einmal am wichtigsten ihre Differenzen zu klären. Da würden wir nur stören.“

Lily musste zugeben, dass Damian recht hatte, auch wenn sie sich um Radu sorgte. In diesem Moment war sie fast schon erleichtert, dass Adrian nicht da war. Er würde ihr in den nächsten Stunden keine Ruhe lassen, weil sich seine Gedanken nur noch um Radu drehen würden.

Nur wenige Minuten später erreichten sie die Kirche, hinter der sie die neu gebauten Ferienhäuschen fanden, direkt an der Straße. Mit Händen und Füßen machten sie sich verständlich und bezogen zwei der kleinen Häuschen. Sie waren einfach eingerichtet und stellenweise nicht ganz sauber, aber sie erfüllten ihren Zweck. Damian nistete sich bei Silas und Lily ein, Cionaodh und Hannah würden gemeinsam mit Radu in der anderen Ferienwohnung bleiben.

Sorcha machte sich umgehend auf Erkundungstour, um die nähere Umgebung zu inspizieren. Sie verschwand hinter einer Mauer, die den nahen Wald vom Grundstück trennte.

„Sie wird mich informieren, falls uns jemand beobachtet“, sagte Cionaodh.

„Wir werden garantiert nicht aus den Augen gelassen“, sagte Hannah. „Hier wimmelt es von Vampiren und ich dringe als Werwolf in ihr Revier.“ Sie sah zu Charon, der mit grimmigem Gesichtsausdruck die Umgebung im Auge behielt. Mit einem Schnauben verschränkte er die Arme vor der breiten Brust.

Der ganze Vampirclan ist bekannt für seine Werwolfjagden. Radu ist nicht der einzige, zu dem der Beiname Wolfstöter passt.

„Dann solltest du am besten nicht allein durch die Gegend streifen, Hannah.“ Damian deutete auf die Tür zu einer der Ferienwohnungen. „Besprechen wir erstmal, wie wir weiter vorgehen.“

„Macht das Sinn? Solange Radu nicht zurück ist, können wir sowieso nichts machen.“ Hannah ließ sich auf einen alten Plastikstuhl nieder, der neben einem weißen Tisch stand. Sie streckte die Beine aus.

„Hannah hat recht“, stimmte Lily zu. „Bevor wir Pläne schmieden, müssen wir abwarten, wie es Radu ergeht. Von ihm hängt es letztendlich ab, ob wir Informationen zu Nazar bekommen oder nicht.“ Sie zog sich einen zweiten Stuhl in die Sonne und setzte sich. Nach und nach nahmen auch die anderen Platz. Cionaodh zog sein Handy hervor und begann gelangweilt zu tippen, Silas und Damian unterhielten sich leise.

Die Zeit verstrich zäh wie Sirup. Irgendwann tauchte Sorcha wieder auf und berichtete von drei Vampiren, die sich in der näheren Umgebung aufhielten und sie beobachteten. Ansonsten war kaum jemand unterwegs, was in Ramet kein Wunder war. Lily hatte gelesen, dass die einzelnen Häuser und Höfe weit verstreut lagen. Die meisten Einwohner waren Bauern und Landwirte und arbeiteten, selbst diejenigen, die die Siebzig weit überschritten hatten.

„Wie wäre es, wenn wir noch ein bisschen üben, Lily?“, schlug Silas schließlich vor. „Zeit genug hätten wir.“

„Was macht ihr denn?“, fragte Hannah neugierig und gähnte ungeniert. „Ein neuer Zauber?“

„Gewissermaßen“, schaltete sich Damian ein. „Aber dafür brauchen wir Ruhe. Deswegen verziehen wir drei uns nach drinnen. Sagt Bescheid, wenn Radu auftaucht.“

Hannah runzelte die Stirn. Es gefiel ihr überhaupt nicht, einfach so ausgesperrt zu werden. Da Lily ihr jedoch kurz zunickte, verzichtete sie darauf, weiterzubohren. „In Ordnung, dann bleiben Cionaodh und ich hier und genießen die Sonne, während ihr euch in dem stickigen Wohnzimmer der Hütte zusammenfaltet.“ Sie schielte zu dem Sidhe, der noch immer sein Handy in den Fingern hatte. „Kannst du das nicht mal beiseitelegen?“, herrschte sie ihn an.

„Nele kommt in drei Tagen aus Japan zurück.“ Ein Leuchten trat in seine grünen Augen.

„Wirklich?“ Lily vergaß Damian, der bereits auf halbem Weg zum Bungalow war. „Wie geht es ihr?“

„Gut, sie scheint alle Aufgaben erfolgreich ausgeführt zu haben und darf jetzt offiziell in Deutschland wohnen.“ Cion stieß die Faust in die Luft. Es war offensichtlich, dass er am liebsten seine Sachen gepackt und nach Frankfurt geflogen wäre.

„Das freut mich. Grüß sie von mir. Ich freue mich, wenn wir uns wiedersehen.“

„Mach ich …“ Er erhob sich. Im nächsten Moment hatte er das Telefon am Ohr und sprach aufgeregt mit seiner Freundin. Sorcha streckte sich gähnend, dann folgte sie ihrem Schützling.

„Wer ist Nele?“, fragte Silas skeptisch.

„Ach ja, du kennst sie nicht. Nele ist Cionaodhs Freundin. Sie war die letzten Monate in Japan, weil es dort einiges mit dem Hohen Rat zu klären gab.“ Lily hob die Achseln. „Ist eine längere Geschichte – am besten fragst du Cionaodh selbst mal danach.“

„Sie ist eine Halb-Sidhe“, fügte Hannah vom Tisch aus hinzu und wartete, bis Silas sich zu ihr gedreht hatte. Mit einem Grinsen setzte sie zu einer Erklärung an: „Ihre Mutter ist eine japanische Kitsune, ihr Vater deutscher Professor oder Lehrer. Wegen ihrer Kräfte gab es vor einigen Jahren Probleme hinsichtlich der Zuständigkeiten, aber inzwischen ist das meiste geklärt.“

Lily erinnerte sich zu gut an Eason – Neles ungewöhnlicher Schutzengel war eine Mischung aus Fuchs und Mensch, was sich in seinem Fall durch riesige rote Ohren und einen buschigen Schwanz offenbarte. Von Adrian wusste sie, wie selten bei einem Mischblut besondere Fähigkeiten auftraten – die meisten Halb-Sidhe besaßen einen menschlichen Schutzengel und keinerlei Kräfte. Nele war eine Ausnahme, sie war nicht nur mit einem seltsam aussehenden Schutzengel gesegnet, in ihr schlummerten auch beachtliche Kräfte. Deswegen übernahm die Kitsune Hiko die Ausbildung ihrer Tochter. Soweit Lily informiert war, war die gefürchtetste Fähigkeit einer Kitsune die betörende Wirkung auf Männer – weswegen Nele ähnlich früh mit ihrer Ausbildung begonnen hatte wie Lily. Sie waren sogar fast gleich alt. Was freute sie sich darauf, Nele wiederzusehen. Sie hatte ihr so viel zu erzählen …

„Faszinierend …“, murmelte Silas und schüttelte den Kopf. „Wir sollten uns aber auf das Hier und Jetzt konzentrieren und mit deinen Übungen fortfahren“, erinnerte Silas und nahm sie bei der Hand, um Damian in die Hütte zu folgen.

 

Es war bereits weit nach Sonnenuntergang, als Radu endlich in der Ferienwohnung auftauchte. Lily hatte inzwischen den Schild gemeistert und war auch ohne Zungenkuss in der Lage, Silas Seelenenergie behutsam und gleichmäßig abzuzapfen. Cionaodh hatte in einem der naheliegenden Dörfer Essen für die kommenden Tage eingekauft und gemeinsam mit Hannah zubereitet. Nach einigen Diskussionen hatten sie am frühen Abend ohne Radu gegessen, denn niemand wusste, wann der Vampir zurückkehren würde. Womöglich übernachtete er bei seiner Familie.

Die Gruppe saß entspannt hinter einem der Ferienhäuser und hatte die Probleme rund um den magischen Vampir, den Orden Tenebrae und die Familie Dragomir fast vergessen, da tauchte Radu im Zwielicht auf. Er sah abgespannt und erschöpft aus. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und er wirkte noch hagerer als gewöhnlich. Von dem stolzen, selbstverliebten Mann war kaum etwas übrig geblieben – was auch immer vorgefallen war, es hatte ihn mitgenommen. Florica gab kein besseres Bild ab. Ihr inneres Leuchten war fast verschwunden. Lily ahnte, dass Radu Blut fehlte – vor fast zwei Wochen hatte sie ihn notgedrungen von sich trinken lassen, als er in einem ähnlich desolaten Zustand war. Andererseits hatte Radu vor der Abreise einen seinen Spender aufgesucht und genug zu sich genommen, um gut zwei Wochen über die Runden zu kommen. Es musste etwas Gravierendes vorgefallen sein.

Lily wollte gerade aufstehen, als hinter Radu die beiden Vampire auftauchten, die ihn auf dem Plateau abgeholt hatten. Sie warfen skeptische Blicke in die Runde. Da sie sich mit ihren Schutzengeln verbunden hatten, waren sie kampfbereit, sollte nur einer von ihnen etwas unternehmen.

„Deine Freunde?“, fragte der Mann in stark gebrochenem Deutsch. Als Radu nickte, verengten sich seine Augen zu Schlitzen. „Auch Werwölfin?“

Radus Antwort fiel in harschem Rumänisch aus. Er schüttelte den Kopf und deutete mit einer abrupten Handbewegung in die Runde. Schließlich schnaubte er und ließ die Schultern hängen. „Mein Vater will euch sehen.“

„Wirklich?“, fragte Hannah.

„Zumindest einen Teil von euch. Keine Magier und keine Werwesen“, spezifizierte er.

„Toll, dann bleibt nur Cionaodh, der mitkommen kann.“ Hannah verschränkte die Arme vor der Brust.

„Lily könnte uns auch begleiten. Ich hab nicht erwähnt, …“ Er unterbrach sich und räusperte. Er schien sich unsicher zu sein, wie gut die Vampire die deutsche Sprache beherrschten. „Jedenfalls wären wir dann zu dritt.“

„Ich bin dagegen. Ich lasse Lily doch nicht allein und ohne Schutz in ein Vampirnest gehen!“ Silas trat vor Lily und stemmte die Arme in die Hüften. Das leise Grollen der Vampire ignorierte er, ebenso die Tatsache, dass sie die Muskeln anspannten, wie ein Raubtier vor dem Sprung. Er ließ sich davon nicht beirren und ballte die Fäuste.

Radu schien zu müde zu sein, um Silas zurechtzuweisen. Seufzend wandte er sich ab und murmelte etwas in Richtung der Vampire. Dies war der Moment, wo sich Lilys Sorgen überschlugen. Normalerweise glich Radu einem Racheengel, der ein solches Verhalten verachtete und kein Blatt vor den Mund nahm, um seine Meinung zu äußern. Dieses Mal fiel seine Antwort wesentlich schlichter aus: „Es geht nicht, Silas. Das Dorf und das Umland unterstehen der Herrschaft meines Vaters – die Vampire leben hier seit Jahrhunderten und schützen die Dörfer und Gemeinden. Keiner von uns kann die ungeschriebenen Regeln und Gesetze brechen oder sich einer derartigen Anordnung widersetzen. Entweder gehen wir drei allein“, Radu deutete auf Cionaodh und sie. „… oder niemand von uns. In letzterem Fall müssten wir spätestens morgen früh abreisen, ansonsten nehmen wir eine offene Kampfhandlung in Kauf.“

„Das können wir nicht riskieren“, sagte Damian. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns unterzuordnen.“

Silas knirschte mit den Zähnen, gab sich aber geschlagen, als Lily ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Sei nicht so stur, Silas. Wir brauchen alle Informationen, die sie über Nazar haben“, wisperte sie ihrem Freund ins Ohr.

„Glücklich bin ich trotzdem nicht!“

„Ich weiß, aber Radu wird schon auf mich aufpassen.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und schob sich an ihm vorbei. Nach einem kurzen Blick auf Radu musste sie jedoch zugeben, dass sie sich im Notfall am ehesten auf Cionaodh verlassen musste. Ihr neuer Anführer wirkte nicht so, als hätte er in einem Kampf eine Chance.

„Kann er das überhaupt?“, fragte Silas leise, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Sei vorsichtig, Lily.“

„Bin ich.“

Nach einem intensiven Kuss machten sie sich auf den Weg. Die beiden fremden Vampire gingen vorweg, Lily und ihre Freunde folgten ihr. Cionaodh ließ sich weder Anspannung noch Neugier anmerken. Er schlenderte gemächlich neben Radu her. Lediglich seine Augen verrieten seine Unsicherheit. Er behielt die Umgebung im Blick und achtete auf jede noch so winzige Bewegung. Auch Sorcha kundschaftete die Gegend aus. Sie verschwand zwischen hohen Gräsern und niedrigen Büschen und kehrte Minuten später zurück, um Cionaodh ihre Entdeckungen zu berichten.

„Hier wimmelt es von Vampiren. Sie sind überall“, murmelte der Sidhe schließlich.

„Jetzt wo es dunkel ist, sind sie wahrscheinlich aktiver“, sagte Lily. Sie rieb sich die Oberarme. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.

„Sie beobachten auch Damian, Hannah und Silas“, entgegnete Radu. „Ganz besonders Hannah, die nach Alpha riecht.“

„Sie ist aber kein Alpha.“

„Mag sein, dass sie kein Rudel anführt, aber sie hat das Zeug dazu. Jeder Vampir bekommt mit, dass Hannah die passenden Veranlagungen hat. Das macht sie automatisch gefährlich.“ Radu schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Du darfst nicht vergessen, dass die Dragomirs eine lange Tradition der Werwolfjagd haben. Sie verteidigen diese Wälder und Gebirge seit Jahrhunderten gegen Werwölfe.“

„Aber der Friedenspakt zwischen Vampiren und Werwesen …“

„Denkst du ernsthaft, dass diese brüchige Vereinbarung hier, fernab der heutigen Zivilisation, gilt?“

„Das gefällt mir nicht“, sagte Cionaodh. „Sie könnten Hannah sonstwas antun. Vielleicht sollte ich besser umkehren und sie warnen.“

„Ich habe mich für Hannah verbürgt. Solang sie sich nicht mit Charon verbindet oder in der Gegend herumschnüffelt, wird niemand ihr etwas tun.“

Lily beobachtete ihre Führer, die sich nicht einmal nach ihnen umsahen. Sie schienen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Vielleicht vertrauten sie einfach auf die vielen Vampire, die ihnen durch das Unterholz folgten. Die ganze Sache gefiel ihr nicht. Sie fühlte sich wie auf dem Präsentierteller. Sie sandte einen stummen Hilferuf nach Adrian aus. Nie zuvor hatte sie ihn schmerzlicher vermisst. Leider kam auch dieses Mal nur ein leises Echo zurück, kaum mehr als ein Windhauch.

Mit einem leisen Seufzen konzentrierte sie sich auf den Trampelpfad und die Häuschen und Hütten, an denen sie vorüber kamen. Es handelte sich um Gebäude, die mindestens hundert Jahre alt waren. Stroh bedeckte die hohen, spitzen Dächer, die windschiefen Wände waren grob verputzt oder bestanden aus Holz und Steinen. Mit Blumen geschmückte Balkone liefen um die meist einstöckigen Hütten herum, von einigen spannten sich voll behängte Wäscheleinen zu einem nahestehenden Baum. Die Gärten wirkten verwildert, hin und wieder entdeckte Lily jedoch auch frisch angelegte Kräuterbeete oder Obstbäume. Hinter den Hütten begannen Felder und Weideland für Kühe und stämmige Pferde. Allerdings gab es auch einige leerstehende Gebäude, die allmählich verfielen und im Mondlicht fast gespenstisch wirkten.

Insgesamt bot Ramet einen seltsamen Anblick. Lily fühlte sich schlagartig um ein Jahrhundert in die Vergangenheit versetzt, hatte den Eindruck, in einem Museumsdorf zu sein. Eine Katze streunte den Weg entlang, machte jedoch einen riesen Bogen um Sorcha.

„Man hat den Eindruck, im Mittelalter gelandet zu sein“, sagte Cionaodh und streckte sich wohlig. Er genoss die angenehme Kühle der Nacht und die urige Atmosphäre des Dorfes.

„Irr dich da mal nicht. In jedem zweiten Haus dürfte ein Computer stehen“, entgegnete Radu. „Dennoch hat sich kaum etwas verändert, seitdem ich das letzte Mal hier war. Die Häuser sind zwar keine zweihundert Jahre alt, sondern neueren Datums, aber die Anordnung und die Grundstruktur ist identisch.“ Trotz der Dunkelheit hatte Lily den Eindruck, dass Radus Augen aufblitzten. So schwer ihm die Konfrontation mit seiner Familie fiel, er war glücklich, seine Heimat wiederzusehen.

Am Ende des Trampelpfades, der sich zwischen den Hütten hindurchwand, stand ein großes, imposantes Haus, das noch älter wirkte als die übrigen Gebäude. Es bestand aus zwei Etagen und hatte ein ausladendes Dach aus Stroh. Der steinerne Sockel reichte bis zum ersten Stock. Licht schimmerte hinter den kleinen Fenstern hervor und zeigte deutlich, dass die Bewohner zu Hause waren. Die beiden Vampire stiegen eine steinerne Treppe empor und klopften an einer wuchtigen Holztür.

„Am besten überlasst ihr mir erstmal das Reden. Gerade du musst dich zurückhalten, Lily. Frauen reden nur, wenn sie dazu aufgefordert werden.“ Radu sah ihr beschwörend in die Augen. „Mein Vater kann Deutsch, wenn auch mit einem starken Akzent.“

„Wer wird da sein?“, fragte Cionaodh leise.

„Mein Vater und meine Mutter, einige Berater und zwei meiner jüngeren Schwestern.“

Die Tür öffnete sich mit einem Knarzen und unterbrach ihr Gespräch. Radu straffte die Schultern und wandte sich um. Selbst Florica schien sich aufzurichten und ihre Reserven zu sammeln. Mit festem Schritt stieg er die Treppe empor. Lily und Cionaodh folgten ihm.

Sie wurden in ein großes, hell erleuchtetes Zimmer geführt, das von einem gewaltigen Holztisch dominiert wurde. Die Wände waren teils mit farbigen Malereien, teils mit Bildern und bunten Tüchern verziert. An den Querbalken und Holzstützen hingen Tassen, Krüge und Blumensträuße. Der Raum wirkte auf diese Weise fast vollgestopft, gleichzeitig jedoch auch sehr heimelig. Um den Tisch herum saßen ausnahmslos Vampire – der mächtigste unter ihnen überstrahlte mit seiner Aura alle anderen. Er war Radu von den feinen Gesichtszügen her nicht unähnlich, doch in seinem dunklen Haar hatten sich bereits vereinzelte graue Strähnen verirrt. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt, sein Gesicht wirkte verhärmt. Er hatte breite Schultern und ungewöhnlich große Hände, die Lily fast an Schaufeln erinnerten. Sein Begleiter war nicht minder beeindruckend – eine groß gewachsene, schlanke Frau, die Lilys Blick unerschrocken erwiderte. Ihr langes, welliges Haar umrahmte ihre Gestalt und verlieh ihr eine eigenwillige Schönheit. Ohne es zu forcieren, sah Lily das Band der beiden. Es glich einem breiten Strom, was darauf hindeutete, dass sie zusammen ein unschlagbares Team waren. Zudem schien der Vampir gerade erst Blut zu sich genommen zu haben. Auch die Frau an seiner Seite hatte erst vor kurzem getrunken – ihre Wangen und Lippen hatten den typisch rosigen Hauch. Sie war etwas grobknochig und muskulöser als die üblichen weiblichen Vampire, die Lily kannte, doch dank ihres dichten Haars eine echte Schönheit.

„Willkommen im Hause Dragomir. Mein Name ist Mihai, das ist meine Frau Aurelia“, erklang die volltönende Stimme des Anführers. Er beherrschte die deutsche Sprache besser, als Lily gedacht hatte, wenngleich der Vampir seine Herkunft nicht verheimlichen konnte. Er erhob sich leicht und deutete eine Verneigung an. „Bitte nehmt Platz. Wollt ihr etwas trinken oder essen?“

Lily lehnte höflich ab, auch Cionaodh schüttelte den Kopf. Mit klopfendem Herzen nahm sie Platz und verschränkte die Hände miteinander. So nervös war sie seit ihrer ersten Begegnung mit dem Hohen Rat nicht mehr gewesen. Radu postierte sich an ihrer Seite, schwieg jedoch.

„Mir wurde gesagt, dass ihr Antworten sucht. Daher will ich euch die Möglichkeit geben, mir eure Fragen zu stellen. Ich will versuchen, euch zu helfen.“ Mihai setzte sich wieder. In seinen Augen flackerte Neugier auf, doch sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos.

Lily schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Ihre Hände waren schweißfeucht. Sie wusste nicht, wo sie ansetzen sollte, ob sie überhaupt etwas sagen durfte. Radus Hinweis, sich zurückzuhalten, schwebte noch immer über ihr.

Schließlich wagte sich Radu vor. Seine Stimme zitterte, als er Lily und Cionaodh vorstellte und kurz umriss, welche Aufgaben sie innerhalb des Jägerteams hatten. Bereits nach wenigen Sätzen war Lily klar, dass es hier in Rumänien, oder zumindest in Siebenbürgen, keinen Hohen Rat gab und damit auch keine Jäger. Das System schien sich hier noch nicht etabliert zu haben. „Wir sind hier, um zu erfahren, was mit Nazar geschehen ist … nachdem …“ Er kam ins Stottern.

„… du feige davongelaufen bist?“, vollendete Radus Vater den Satz. Seine Frau legte ihm eine Hand auf den Unterarm und flüsterte ihm etwas zu. Leises Getuschel erfüllte den Raum. Unruhe breitete sich aus. Es war offensichtlich, dass dieses Thema bereits ausdiskutiert worden war, jedoch zu keinerlei Ergebnis geführt hatte. Der Vampir war nicht glücklich, dass Cionaodh und sie hinzugeholt worden waren.

Lily biss sich auf die Unterlippe. Ihr erster Impuls war, Radu zur Seite zu stehen, doch sie ahnte, dass sie damit alles schlimmer machen würde.

„Betrifft dieser Mann wirklich die Probleme deiner Freunde? Das Thema geht eigentlich nur den Clan und dich etwas an. Wir sollten das untereinander klären, ohne dass Außenstehende involviert werden“, murmelte Radus Vater und fügte etwas in Rumänisch dazu. Mehrere Vampire nickten.

Lily runzelte verwirrt die Stirn. Hatten die Vampire sie nicht eingeladen?

Aurelia hat gefordert, Radus Freunde kennenzulernen, bevor ein Urteil über ihren Sohn gefällt wird. Mihai und die meisten Vampire anderen waren dagegen, doch sie hat sich durchgesetzt, flüsterte Florica ihr zu, als hätte sie Lilys Gedanken gelesen. Sie möchte mehr über die Hintergründe erfahren. 

„Bei allem Respekt“, setzte Cionaodh an und streichelte über Sorchas Kopf. „Nazar hat sich seine Unsterblichkeit zunutze gemacht, um als Magier unbegrenzte Macht zu erlangen. Er ist zu einem Problem für den Hohen Rat in Wiesbaden geworden. Auch das deutsche Konzil ist über die Schwierigkeiten informiert, die dieser Vampir mit sich bringt. Persönliche Fehde hin oder her – wenn ihr etwas über ihn wisst, müsst ihr es uns sagen.“

„Muss ich das?“, fragte der Vampir gereizt.

„Mihai, bitte“, mischte sich Aurelia ein. Sie warf ihm einen strengen Blick zu, bevor sie sich an Cionaodh wandte. „Ist dieser Mann wirklich so gefährlich, wie ihr behauptet?“

„Er hat die Kräfte eines Vampirs, ist aber in der Lage zu zaubern“, antwortete Lily. „Durch sein hohes Alter kann er viele Wesenheiten kontrollieren, denn das ist seine größte Stärke – Kontrollmagie. Er hat dutzende Jäger unter seinem Bann gehabt, mehrere Werwesen und Vampire. Sogar den Hohen Rat in Wiesbaden und der besteht aus sehr alten und mächtigen Wesen.“

Mihai murmelte etwas auf Rumänisch, was wie ein Fluch klang.

„Wie meinst du das?“, fragte Radu aufgebracht. Zum ersten Mal schien seine Unterwürfigkeit abzubröckeln und es offenbarte sich der Mann, den Lily kannte. „Ihr habt ein Monster geschaffen?“

Plötzlich redeten alle durcheinander – eine wilde Mischung deutscher und rumänischer Worte machte es Lily unmöglich, den Gesprächen zu folgen. Sie verstand nur einzelne Worte: Magie, unverantwortlich, Gefahr und des Öfteren Nazars Namen. Auch der Begriff Blutritual fiel, doch Lily hatte keine Chance, nachzuhaken. Cionaodh schien es ähnlich zu gehen. Skeptisch sah er zwischen Radu und den übrigen Vampiren hin und her. Nach einer Weile wechselten die Vampire komplett ins Rumänische.

Nach mehreren Minuten ergriff Aurelia das Wort. Sie brauchte nur wenige Augenblicke, um die aufgebrachten Vampire zur Ruhe zu bringen. Lily begriff, dass Mihai der Clanführer sein mochte, seine Frau aber ebenfalls einen Großteil der Macht innehatte.

„Beschimpfungen und Schuldzuweisungen helfen uns nicht weiter“, sagte sie in deutscher Sprache und warf einen Blick auf Lily und Cionaodh. „Wir verhalten uns unseren Gästen gegenüber unmöglich. Daher habe ich einen Vorschlag – mein Mann und ich werden Radu und seine Freunde aufklären. Dazu bedarf es keiner großen Runde.“

„Und Verrat und Bestrafung?“, warf ein alter Vampir mit faltigem Gesicht ein und deutete auf Radu.

„Darum kümmern wir uns später. Auch wenn ich der Meinung bin, dass das nicht mehr notwendig ist.“ Ihre Aussage sorgte für leise Proteste, doch ein scharfer Blick von Mihai genügte, um die Vampire zum Verstummen zu bringen. Einer nach dem anderen erhob sich und verließ den Raum, bis sie nur noch zu fünft waren. Auch zwei junge Frauen, die Aurelia ähnelten und Radu aufmunternd zulächelten, folgten den übrigen Vampiren. Eine unangenehme Stille breitete sich aus, die niemand brechen wollte.

„Kommen wir zu Nazar zurück“, schlug Aurelia schließlich vor. „Die Sache mit ihm und die Ereignisse vor rund zweihundert Jahren sind schmerzlich für uns und den Clan. Noch immer herrscht Zorn und Unverständnis gegenüber Radus Flucht und Scham und Unsicherheit seitens des Ältesten, weil wir einem Lügner auf …“ Sie sah hilfesuchend zu Radu und sagte etwas in ihrer Heimatsprache.

„… auf den Leim gegangen sind“, übersetzte Radu überrascht. „Also gesteht ihr ein, dass ihr Fehler begangen habt?“

„Nur bedingt!“, mischte sich Mihai mit herrischem Tonfall ein und funkelte seinen Sohn zornig an. „Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du dich aus der Verantwortung gestohlen hast, anstatt uns zu helfen.“

„Helfen?“

„Natürlich - als einer meiner Nachfolger wäre es deine Aufgabe gewesen, den Clan beim Kampf gegen den Magier zu unterstützen, ebenso die von Toma.“

Radus Verwirrung war nicht gespielt – seine Augen waren weit aufgerissen und sein Mund klappte leicht auf.

Aurelia schaltete sich ein. Mit gerunzelter Stirn wandte sie sich an Radu: „Weißt du nicht, dass Nazar uns ebenfalls kontrolliert hat?“

Lily schüttelte automatisch den Kopf – das deckte sich nicht mit dem, was Radu ihr erzählt hatte. Laut seiner Aussage hatte Nazar nur Radu und dessen Bruder Toma kontrolliert, die übrigen Vampire waren vollkommen bei Bewusstsein gewesen, als es zu den unschönen Ereignissen kam, bei denen Radu seinen Erzfeind getötet und damit seinen eigenen Clan gegen sich aufgebracht hatte. Er hatte von einer wahren Treibjagd durch die Berge erzählt, bei der Toma von seiner eigenen Familie zur Strecke gebracht wurde, während Radu die Flucht aus Rumänien gelang.

Erst im Nachhinein war offensichtlich geworden, dass Nazar nicht durch Radus Angriff ums Leben gekommen war, sondern irgendwie überlebt hatte. Möglicherweise gab es weitere Ereignisse, von denen Radu nichts wusste.

„Das ist … unmöglich …“ Radu ließ sich auf einen Stuhl sinken und starrte seine Mutter an. „Ihr wart …“

„Du dachtest wirklich, wir hätten Toma und dich im Stich gelassen?“ Ein bitterer Zug umspielte Aurelias Lippen. „Wir hatten gehofft, dass du uns gegen Nazar hilfst, damit wir seinem Bann ebenfalls entkommen können.“

Radu schien auf diesen Vorwurf keine Antwort zu finden. Er starrte stumm vor sich hin, unfähig, das Gesagte zu begreifen. Florica wirkte ebenso verstört wie ihr Schützling.

„Aber Radu hat Nazar angegriffen“, warf Cionaodh ein. „Er mag ihn nicht getötet haben, doch die Attacke muss ihn so sehr geschwächt haben, dass ihr die Möglichkeit hattet, den Bann abzuschütteln. Gerade wenn er sich kurz vorher …“ Der Sidhe zögerte, bevor er offen fortfuhr: „… mit einigen Frauen vergnügt hat. Radu konnte sich dabei befreien und ihn angreifen. Warum ist euch das nicht gelungen, als Nazar schwer verletzt am Boden lag? Ich bezweifle, dass in diesem Moment seine Zauber wirkten.“

Lily überlegte kurz, dann fiel ihr ein, wie Nazar die Jäger und den Rat kontrolliert hatte, als sie ihn vor zwei Wochen im Ratssaal stellten. Nazar hatte sowohl Radus Attacken als auch den Feuer-Angriff überstanden, der Adrian all seine Energie gekostet hatte. Erst als er sich komplett zurückzog und das Anwesen verließ, hatten sie herausgefunden, wie er einen Großteil der Wesenheiten unter seiner Kontrolle gehalten hatte: Er hielt die Schutzengel in einem Bannkreis gefangen. Damit konnte er seine Macht über andere aufrecht erhalten, selbst wenn er weit weg oder mit anderen Dingen beschäftigt war. „Der Bannkreis“, fasste sie ihre Gedanken in Worte. „Er muss die Schutzengel der Vampire in einem Bannkreis gefangen gehalten haben.“

„Hältst du das für möglich?“, fragte Cionaodh skeptisch. „Er hat das in Aldwyns Palast gemacht, richtig, aber die Sache hier liegt Jahrhunderte zurück. Es würde bedeuten, dass er bereits damals mächtig genug war, um …“

„Warum nicht – auf die Art hat er sogar verhindert, dass sich die Vampire mit ihren Schutzengeln vereinigen und ihre natürliche Stärke nutzen konnten. Dadurch hat er zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: die Vampire standen unter seiner Kontrolle und waren nicht in der Lage, ihn anzugreifen, selbst wenn sie sich kurzzeitig aus seinem Bann befreit hatten.“ Lily war trotz der Abscheulichkeit von Nazars Taten beeindruckt von seiner Weitsicht. Er hatte sich mehrfach abgesichert und nichts dem Zufall überlassen.

„Ich weiß nicht genau, worüber ihr sprecht“, fuhr Aurelia dazwischen, „aber er sperrte die Schutzengel von meinem Mann, mir und einigen sehr starken Vampiren ein. Dann bestimmte er, was wir sagten, und alle anderen folgten unseren Befehlen. Wir konnten nichts unternehmen, selbst als der Bann schwächer wurde …“

„Er musste also nur die Anführer kontrollieren, um den ganzen Ort zu beherrschen“, murmelte Cion.

„Wir hatten gehofft, du befreist uns, Radu. Doch du bist mit Toma geflohen …“

„Ich habe Nazar getötet – zumindest sah er für mich tot aus, als ich von ihm abließ. Was habt ihr an diesem Abend getan? Uns den halben Clan auf den Hals gehetzt“, begehrte Radu auf. Er schluckte so hart, dass sein Adamsapfel hüpfte. „Sie haben Toma auseinandergerissen und mich wie ein Tier durch die Berge gejagt. Ich hatte keine Gelegenheit, nach euch zu sehen oder mit euch zu reden. Meine Vermutung war, dass ihr uns lieber tot sehen wolltet, als unsere Sicht auf die Dinge zu erfahren. Dass Nazar sich an meiner Braut vergangen hat und mich dabei hat zusehen lassen. Dass er Toma und mich über Wochen hinweg gedemütigt hat, teils vor euren Augen. Zu Beginn standet ihr noch nicht unter seinem Bann, nicht wahr? Trotzdem habt ihr unseren Worten keinen Glauben geschenkt. Und ich habe euch öfters vor Nazar gewarnt …

In jener Nacht hat mir mein grenzenloser Zorn geholfen, mich aus seinem Bann zu befreien und ihn zu bekämpfen. Und als ich ihn besiegt hatte, tauchte der halbe Clan nebst Dorfbewohnern auf und klagte uns an. Toma und mir blieb nur die Flucht, sonst hätten die Vampire uns an Ort und Stelle zerrissen, denn gegen diese Masse hätten wir keine Chance gehabt.“ Radu atmete schwer. In seinen Augen schienen sich zornige Tränen zu sammeln, doch er wischte sie harsch beiseite. „Ihr habt sie doch geschickt, um uns zu vernichten, oder? Ihr habt uns im Stich gelassen.“

Mihai schnappte nach Luft. Er ballte die Fäuste, sagte jedoch nichts, als sich sein Schutzengel zu ihm beugte und etwas flüsterte. Seine Frau sah schockiert aus. Sie war leichenblass. Ihr Blick wanderte zu ihrem Schutzengel, der Florica beobachtete und sich kurz mit ihr unterhielt. Nach einer Weile nickte er und flüsterte Aurelia etwas zu.

Lily legte eine Hand auf Radus Schulter. „Ich glaube, du irrst dich, Radu. Wenn sie unter Kontrolle standen, dann ist Nazar dafür verantwortlich. Er hat dafür gesorgt, dass …“

„Aber er war tot!“, beharrte Radu. „Sie hätten sich befreien und diese Hetzjagd verhindern können. Toma ist schließlich auch zu sich gekommen …“

„Aber sein Schutzengel war auch nicht in einem Bannkreis eingesperrt wie die der anderen Vampire. Und wenn Nazar nicht tot war … Ein Magier kann Wunden mit der Seelenenergie seines Schutzengels oder der eines fremden Begleiters heilen. Wenn er sich dahingehend geschützt hat, war er nicht tot. Er hat deinen Angriff, wenn auch schwer verletzt, überlebt.“ Lily schob ihren Stuhl näher an seinen. „Es klingt danach, als hätte Nazar euch viel stärker gegeneinander ausgespielt, als du vermutet hast …“

„Aber das …“

„Es tut mir leid, Radu“, sagte Aurelia mit weicher Stimme. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Wir dachten, du hast uns im Stich gelassen, als du Nazars Macht erkanntest.“

„Du hättest mit dem Clan reden können, anstatt wegzulaufen“, sagte sein Vater. „Du hättest verhindern können, dass wir diesen Magier …“ Er brach ab und stand ruckartig auf. Der Stuhl schabte mit einem unangenehmen Geräusch über den alten Dielenboden.

„Ich war verletzt und hatte Blut an den Händen. Kein einziger Vampir hat mir zugehört, zumal die Dorfbewohner mich Mörder und Lügner schimpften. Kaum dass wir das Haus verlassen hatten, sind sie zum Angriff übergegangen.“ Radu schauderte und sackte in sich zusammen. „Du warst nicht da, um das beurteilen zu können. Was auch immer sie dir erzählt haben … wir hatten keine Chance.“

Eine unangenehme Stille zog auf. Schließlich wagte Cionaodh sie zu durchbrechen: „Es klingt danach, als hätte es eine Menge Missverständnisse gegeben. Nazar muss schon damals unglaublich stark gewesen sein – einer der mächtigsten Magier, die seinerzeit durch die Lande zogen. Er hat euch gegeneinander ausgespielt, mal Radu und seinen Bruder Toma kontrolliert, dann den Clan samt Anführer und wahrscheinlich auch die Dorfbewohner. Die Frage, die sich mir stellt – warum?“

Darauf antwortete niemand. Lily musste zugeben, dass Cion recht hatte. So verrückt Nazar auch war, ein solch perfides Spiel trieb man nicht aus reiner Langeweile. Gerade so ein Intrigant wie Nazar musste damit ein bestimmtes Ziel verfolgt haben. Kaum dass sie diesen Gedanken aufgeschnappt hatte, dämmerte ihr, welches Ziel der Magier gehabt hatte.

„Was ist passiert, nachdem Radu weg war?“, fragte Cionaodh, bevor sie ihren Verdacht äußern konnte. „Mit dem Clan, dem Dorf und natürlich mit Nazar. Er hat schließlich irgendwie überlebt. Gehen wir recht in der Annahme, dass er hier zu einem Vampir wurde?“

„Das ist richtig“, sagte Mihai nach einer Weile. Er setzte sich wieder neben seine Frau und streckte die Hand nach einem Weinglas aus. Er drehte es nachdenklich, beobachtete die blutrote Flüssigkeit darin – ähnlich wie Radu es tat, wenn er unruhig war. „In der Nacht des Zwischenfalls wurden wir von den Dorfbewohnern zu Nazars Unterkunft geführt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns halbwegs aus dem Bann befreit, doch unsere Schutzengel blieben verschwunden, so dass wir nur bedingt handlungsfähig waren. Man erzählte uns von Radus schrecklichem Verrat und seiner Flucht. Wir fanden den Magier halbtot in der Hütte, die ihm zur Verfügung gestellt wurde. Um zu überleben, zapfte er die Energie der Umstehenden ab, ganz besonders von deinem Mädchen, Radu. Sie war dadurch stark geschwächt, doch verdächtigte man nicht Nazar, sondern dich, Radu! Du bist der Vampir, du warst mit ihr zusammen und du hast ihr Blut getrunken. Da lag es nahe, dass man glaubte, du hättest die Kontrolle verloren. Ihre Familie forderte Gerechtigkeit.“

„Aber das ist doch …!“, begehrte Radu zornig auf. „Sie hatte nicht einmal frische Bissverletzungen.“

„Das war für die Menschen des Dorfes unerheblich … sie sahen nur das Blut an deinen Händen. Ihre Familie war schon immer gegen eure Bindung gewesen. Für sie bewahrheitete sich ihre schlimmste Vermutung – dass du ihre Tochter angegriffen und fast getötet hast.“

„Und Nazar?“

„War für sie ein Opfer deiner Raserei. Die Dorfältesten forderten Erklärungen, Terezas Familie wollte Rache.“

„Deswegen die Jagd auf mich?“

„Zumindest die weiterführende.“ Er atmete tief ein und schüttelte den Kopf. „Nachdem die meisten Vampire Stunden später zurückkehrten und von Tomas Tod berichteten, mussten wir sicherstellen, dass du Rumänien verlässt und nie mehr zurückkehrst. Aus diesem Grund haben wir andere Vampirclans informiert und über dich einen Bann verhängt. Wärst du vor fünfzig Jahren zurückgekommen, hätte man dich sofort angegriffen.“

Radu war anzusehen, dass er von diesen weitreichenden Konsequenzen nichts gewusst hatte. Da er aus eigenem Antrieb heraus in Deutschland geblieben war, war er mit diesem Punkt nicht konfrontiert worden. Dennoch war er so blass wie eine Wand. „Also ein doppelter Verrat …“, krächzte er.

Aurelia schüttelte den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen. „Wir mussten eine Entscheidung treffen, ohne die Dorfbewohner gegen uns aufzubringen. Du weißt, dass wir seit Jahrhunderten in einer friedlichen Koexistenz zusammenleben – wir schützen sie vor Werwölfen, fremden Vampiren und anderen gefährlichen Wesenheiten, sie geben uns ihr Blut. Es lag an uns, den Frieden wiederherzustellen.“

„Also habt ihr diesen schrecklichen Bann über mich verhängt? Da kann ich mich ja glücklich schätzen, dass ich nicht vorher zurückgekehrt bin!“, fauchte Radu. „Und den eigentlichen Urheber der Katastrophe habt ihr davonkommen lassen. Ihr hättet wenigstens Nazar töten können, stattdessen habt ihr ihn gesund gepflegt. Quasi als Belohnung für seine Taten.“

„Aber er hat unsere Schutzengel eingesperrt und gedroht, sie zu vernichten, wenn wir auf die Idee kommen, ihn zu töten.“ Aurelia blickte zur Decke hinauf und verzog die Lippen zu einem traurigen Lächeln. „Wir wussten nicht, ob er dazu in der Lage ist, zumal er uns noch immer kontrollieren konnte. Der Bann war zwar nicht so stark, aber Mihai und ich spürten deutlich, dass er ihn verstärken konnte, wenn seine Heilung weit genug fortgeschritten ist. Niemand wollte das Risiko eingehen, den eigenen Begleiter zu verlieren – wir nicht und die Ältesten des Clans ebenso wenig.“

„Außerdem waren die Dorfbewohner auf seiner Seite. Sie verteidigten ihn und er fühlte sich natürlich wohl in der Opferrolle“, fügte Mihai hinzu. „Hätten wir ihn getötet, wäre es das Ende unseres Bundes mit den Menschen aus Ramet gewesen. Er hatte alle Trümpfe in der Hand.“

„Das glaube ich einfach nicht …!“ In Radus Gesicht spiegelten sich abwechselnd mehrere Gefühlsregungen wider – Unglaube, Wut und Verachtung. „Warum habt ihr ihn dann nicht verjagt, als er wieder bei Kräften war?“

„Weil er noch immer unsere Schutzengel eingesperrt hatte. Er drohte uns, sie zu vernichten, sollten wir seine Bitte ablehnen. Wir kannten Magier nur aus Geschichten und Legenden, hatten nie direkt mit ihnen zu tun. In unserer Angst und Unsicherheit haben wir alles geglaubt, was Nazar sagte.“ Aurelia strich sich das Haar zurück. Ihre Hand zitterte, als sie sich eine Strähne um den Finger wickelte.

„Welche Bitte?“, hakte Lily nach. Ihr Herz schlug schneller, denn sie ahnte, was Aurelia antworten würde, auch wenn es im Grunde absolut unmöglich war – zumindest nach dem, was sie über Vampire wusste.

„Als Nazar bei Kräften war, haben wir ihn gewandelt.“

Sowohl Cionaodh als auch Radu sprangen auf. Sorcha sprang fauchend zur Seite, als der Stuhl des Sidhes scheppernd zu Boden ging.

„Ihr habt ihn … aber das ist unmöglich! Kein Mensch kann einfach so ein Blutritual durchlaufen …“, stammelte Cionaodh. Er klopfte auf den Tisch und Sorcha sprang auf die Holzplatte, ohne sich um den tadelnden Blick zu scheren, den Aurelia ihnen zuwarf. Cionoadh tastete nach dem weichen Fell seines Seelentiers, als könnte dies ihm Halt geben.

Radu schwieg. Er hatte die Fäuste geballt und sah zwischen seinen Eltern hin und her. Florica redete leise auf ihn ein, doch er ignorierte sie.

Mihai runzelte verwirrt die Stirn, bevor er fortfuhr: „Ich hole etwas weiter aus, damit ihr es versteht. Unser Blutritual unterschied sich damals von dem der anderen Vampirclans.“ Mihai legte die Hand auf die seiner Frau. „Das liegt an unserer Nähe zu den Menschen hier. Beim traditionellen Blutritual ist ein Blutopfer zwingend erforderlich, da der Vampir das gesamte Blut eines Menschen zu sich nehmen muss. Das Band zwischen dem jungen Vampir und seinem Schutzengel verlangt diese enorme Menge, um sich zu verändern und eine Vereinigung möglich zu machen. Ihr könnt euch vorstellen, wie schwer es ist, in einem Landstrich wie diesem jemanden zu finden. Hier kannte jeder jeden und wir hatten uns dem Schutz der Menschen verschrieben. Deswegen war unsere Familie gezwungen zu variieren, um das Blutritual vollziehen zu können – statt menschlichem Blut erhielt der junge Anwärter das Blut eines älteren Clanmitglieds, zumeist Aurelias oder meins.“

„Ich dachte, das wird überall so gemacht“, unterbrach Cionaodh die Erzählung des Vampirs verdutzt.

„Inzwischen ja, aber damals waren wir mit diesem Vorgehen Außenseiter, vielleicht sogar Wegbereiter. Konservative und streng traditionelle Clans nutzen noch heute Menschenopfer für das Blutritual, selbst wenn das streng verboten ist. Wir wissen um die Gesetze, die vor einigen Jahrzehnten erlassen wurden, um Menschen zu schützen und nicht unnötig auf unsere Existenz hinzuweisen. Aber vor zweihundert Jahren …“

„Was hat das mit Nazar zu tun?“, fragte Lily. „War er nicht trotzdem ein Mensch …“

„Und zu alt …“, murmelte Radu plötzlich. „Das Blutritual wird nur bei Jugendlichen vollzogen. Es gibt Altersgrenzen, ansonsten überleben die Anwärter das Ganze nicht …“

„Im Gegensatz zum traditionellen Ritual spielt das Alter bei unserer Methode keine Rolle“, fuhr Aurelia dazwischen. „Bei der alten Vorgehensweise muss der Anwärter zwangsläufig jung und kräftig sein, um die Wandlung des Begleiters zu überstehen. Bei einem Menschen, der die Dreißig überschritten hat, ist das traditionelle Blutritual daher vollkommen unmöglich! Bei unserem Blutritual unterstützt das mächtige Blut eines alten Vampirs die Wandlung … es ist vollkommen egal, wie alt man ist. Und was ist schon ein Mensch?“ Sie warf Lily einen nachdenklichen Blick zu. „Vampire kommen genauso zur Welt wie menschliche Kinder und wachsen heran wie sie. Sie essen, trinken und atmen … Was sie zu einem Vampir macht, ist die Wandlung durch das Blutritual. Wird das nicht vollzogen, ist ein Vampir trotz seiner Abstammung vollkommen menschlich.“

„Aber das heißt ja …“, murmelte Cionaodh ungläubig.

„Dass jeder zu einem Vampir werden kann, der das Blut eines mächtigen, alten Vampirs trinkt und von diesem durch das Ritual begleitet wird“, vervollständigte Aurelia den Satz. „Ihr könnt euch vorstellen, dass das Wissen um dieses Ritual inzwischen streng geheim ist, damit Außenstehende nicht auf die gleiche Idee wie Nazar kommen. Doch vor über zweihundert Jahren galten all die Gesetze nicht, die inzwischen erlassen wurden: Kein Anwärter darf jünger als achtzehn und älter als fünfundzwanzig sein und es muss sich um Nachkommen bereits existierender Vampire handeln. Damals waren die Möglichkeiten jedoch unbegrenzt. Die Ältesten unseres Clans waren über Vierzig, als sie sich dem Ritual unterzogen. Deswegen haben wir so viele optisch alte Vampire in unserer Mitte, obwohl sie jünger sind als mein Mann und ich.“

Lily musste zugeben, dass Aurelias Ausführungen eine Frage beantworteten, die ihr die ganze Zeit im Kopf herumgespukt war: warum es in Ramet Vampire gab, die vom Aussehen her älter als Mihai und Aurelia waren, aber nicht den Clan anführten. Durch Alina wusste sie, dass Vampire durchaus alterten, jedoch wesentlich langsamer als ein Mensch. Nur Sidhe wie Cionaodh alterten überhaupt nicht – sie blieben tatsächlich ewig jung. Aus diesem Grund konnte man normalerweise davon ausgehen, dass ein Vampir, der alt aussah, bereits mehrere Jahrhunderte hinter sich gebracht hatte.

„Letztendlich bleibt das Problem bestehen …“, fasste Cionaodh die unglaubliche Geschichte zusammen. Er lehnte sich zurück und schob seine Finger durch Sorchas Fell. „Ihr habt einen der mächtigsten und gefährlichsten Magier fast unsterblich und so gut wie unverwundbar gemacht …“

 

 

Kapitel 3 – Der Engelsrufer

 

„Wer hätte das gedacht …”, sagte Lily und durchbrach damit die Stille, die sich hartnäckig zwischen ihnen hielt, seitdem sie das Haus der Dragomirs verlassen hatten. Keiner von ihnen hatte es nach der unglaublichen Enthüllung länger dort ausgehalten. Mit ein paar platten Abschiedsfloskeln und dem Vorschlag, sich erst am kommenden Abend wiederzusehen, waren sie gegangen. Beide Parteien brauchten Zeit, um das Gespräch zu verdauen: Lily und ihre Freunde, um das Gesagte zu verarbeiten und sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte, Mihai, Aurelia und der Vampirclan, um zu erfassen, dass sie gleich zwei der bestgehütesten Geheimnisse preisgegeben hatten: Die Wahrheit um Nazar und die Tatsache, dass im Grunde jeder zu einem Vampir werden konnte. Hoffentlich erfuhr Rasmus nie von diesen Möglichkeiten. Ein magischer Vampir genügte.

Ob der Clan in diesem Moment zusammensaß und beriet, wie man mit der Situation umgehen sollte? Was würden die anderen Clanmitglieder dazu sagen, dass Mihai und Aurelia alles verraten hatten? Und wie würden sie mit Radu umgehen? Es mochte damals ein Fehler von ihm gewesen sein, wegzulaufen, aber die Taten der Dragomirs wogen wesentlich schwerer. Sie konnten sogar schwere Strafen der Hohen Räte nach sich ziehen, wenn jemand davon erfuhr.

„Wusstest du das, Radu?“, fragte Cionaodh.

„Was?“, fragte der Vampir gereizt.

„Dass bei deinem Familienclan auch Menschen zu Vampiren gemacht werden.“

„Schon, aber das wurde selbst zu meiner Zeit nur sehr selten praktiziert, im Grunde fast nie. Das Blutritual wurde im Rahmen der Feier zur Volljährigkeit durchgeführt. Mein Vater hat darauf geachtet, dass nur noch in Ausnahmefällen Menschen ohne vampirische Abstammung gewandelt wurden, zum Beispiel bei einer Hochzeit zwischen Vampir und Mensch. Das kam allerdings selten vor, da mein Vater darauf geachtet hat, dass es in unserer Gegend nicht zu viele Bluttrinker gibt. Er hat versucht, den Clan klein zu halten, denn je mehr Vampire, desto mehr Menschen hätten wir gebraucht, um die Versorgung sicherzustellen. Es wurden fast nur Ehen zwischen Vampiren geschlossen. Aus diesem Grund war er gegen meine Liebe zu Tereza, genauso wie ihre Familie. Hätten wir geheiratet, hätte ich ihn um ihre Wandlung gebeten.“

„Heißt das, die Vampire des Dragomir-Clans haben vorwiegend untereinander geheiratet?“, fragte Cionaodh, ohne auf Radus letzte Worte einzugehen. Wahrscheinlich wollte er kein Salz in die Wunde streuen. Dennoch war sein beiläufiger Kommentar nicht weniger unsensibel: „Klingt ein wenig nach Inzest …“

Ein Knurren entrang sich Radus Kehle. Er ballte die Fäuste und trat nach einem Steinchen. „Ich meinte Verbindungen mit anderen rumänischen Clans, als ich von einer traditionellen Vampirhochzeit sprach. Auf dem Weg wurden Bündnisse besiegelt und gemeinsame Verträge geschlossen.“

Cionaodh hob die Hände. „Schon klar …“

„Es macht mich wütend, dass sie Nazar gewandelt haben.“ Radu trat erneut nach einem Stein, der klackernd im Gebüsch verschwand. Er fluchte auf Rumänisch.

„Sie wurden gezwungen, Radu“, lenkte Lily ein. „In dieser Situation hatten sie keine andere Wahl. Wahrscheinlich sind sie deswegen wütend auf dich – du hättest vielleicht einen Teil der Schmach verhindern können, wenn du nicht weggelaufen wärst. Dennoch bin ich der Meinung, dass sie die Hauptschuld an dem Desaster tragen.“

„Wir sollten über die Schuldzuweisungen hinwegkommen“, sagte Cionaodh. „Es ist eine Tragödie, die eine Familie gespalten, den Tod von Radus Bruder und das Entstehen eines magischen Vampirs zur Folge hatte – dennoch sollten wir einen Punkt nicht außer Acht lassen …“

„Dass wir noch immer nicht wissen, wie wir Nazar bezwingen können?“, fragte Radu und ein bitterer Unterton mischte sich in seine Stimme. Mit einem Mal wirkte er noch erschöpfter als zuvor. Er schien regelrecht in sich zusammenzufallen.

Der Sidhe schüttelte den Kopf. „Auch, aber mir geht es um etwas anderes: Ich habe den Eindruck, dass Nazar all das komplett geplant hat. Sein Auftauchen in einem entlegenen Dörfchen wie Ramet – bei einem Clan, in dem bereits vor mehreren Jahrhunderten Menschen jeden Alters in Vampire verwandelt werden konnten; das Kontrollieren unterschiedlicher Vampire und Menschen, um mittels einer Erpressung der Dragomirs das Blutritual durchzuführen.“

Lily dachte über Cionaodhs Worte nach. Konnte Nazar so weit vorgeplant haben? Es war gewiss nicht unmöglich, wenn man bedachte, dass der Magier äußerst intrigant war. Beim Kampf um Aldwyns Anwesen hatte er seine weitreichenden Fähigkeiten eindrucksvoll unter Beweis gestellt. „Cionaodh könnte recht haben. Damals war das Blutritual der Dragomirs etwas Neues, das es auf der Welt in dieser Form nicht gegeben hat. Wenn Nazar davon Wind bekommen hat, könnte er tatsächlich mit dem Vorsatz, ein Vampir zu werden, nach Ramet gekommen sein. Er musste nur einen Weg finden, den hiesigen Clan zu schwächen und die Dorfbewohner für seine Zwecke zu missbrauchen.“

„Denkst du wirklich, dass mein Bruder und ich …“

Als potenzielle Nachfolger des Clans, war es am logischsten, euch zu benutzen, um eine Grundlage für die Erpressung zu schaffen, sagte Sorcha, während sie geschickt auf einem Bretterzaun entlangbalancierte und witternd die Nase in die kühle Nachtluft hob. Das Festsetzen der Schutzengel des Clans in einem Bannkreis, die Verführung Terezas direkt vor deinen Augen … Höchstwahrscheinlich hat er den Bann über dich sogar absichtlich gelockert, um einen Angriff zu provozieren – mit einem passenden Schutz seines Begleiters vor deiner Attacke war das nicht einmal ein Risiko. Und eine Energiequelle, die ihm genügend Kraft für eine Heilung schenkt, hat er ebenfalls parat gehabt. Ein perfider, aber sehr effektiver Plan … da griff alles ineinander. 

Radu rieb sich die Oberarme. Florica schlang die Arme um ihn, um ihm noch näher zu sein. „Kann man das wirklich planen?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739440095
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Urban Liebesroman Jägerin Fantasy Schutzengel Werwesen Vampire Magier Urban Fantasy Liebe

Autor

  • Juliane Seidel (Autor:in)

Juliane Seidel wurde 1983 in Suhl/Thüringen geboren und lebt seit mehreren Jahren in Wiesbaden. Neben ihrer Arbeit als Teamassistentin steckt sie viel Zeit und Herzblut in verschiedene queere Projekte und schreibt seit knapp zehn Jahren fantastische Kinder- und Jugendbücher. Unterdessen hat sie, neben den ersten Bänden der Kinderbuchreihe „Assjah“ und der im Selfpublishing erschienenen Urban Fantasy-Reihe “Nachtschatten”, auch erste Veröffentlichungen im queeren Bereich vorzuweisen.
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Titel: Nachtschatten - Unbezwingbar