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Nexus

Black Ice IV

von Werner Karl (Autor:in)
561 Seiten
Reihe: Black Ice IV, Band 4

Zusammenfassung

Bérénice – Serpent Savoy – kam sich vor wie im Zentrum eines Stadions, in dem Zehntausende aber keinen Schlachtgesang anstimmten, sondern in dem jeder einzelne seinen Hass, seine Furcht, seinen Zorn mit brüllenden Lauten ausstieß … die Bérénice allesamt, Wort für Wort, verstand! Die Masse mordgieriger Gedanken bedrängte ihren Geist wie giftige Dolche, die Haare und Kopfhaut längst durchdrungen hatten, nun an ihrem Schädelknochen entlangkratzten und nach einer Lücke suchten, um ihr ins Gehirn zu stechen, zu schneiden, damit das Gift unstillbaren Hasses die Quelle der Pein ein für alle Mal auslöschen würde. Die Mutantin versuchte, diesen tausendfachen Ansturm zu ignorieren, versuchte, sich auf ihre Mission zu konzentrieren und sandte neue, grauenvolle Szenarien aus … Bérénice Savoy, Mutantin und Agentin des Terranischen Geheimdienstes, tritt die letzte Schlacht gegen die Hydren an. Im Einsteinraum und in der fremden Dimension ... dem Nexus. Sie muss lernen, mit neuen Waffen zu kämpfen. Und zwar schnell. Ihr Scheitern würde das Ende aller raumfahrenden Rassen im Einsteinraum bedeuten. Auch das der Menschheit …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Weitere Titel des Autors:

Science-Fiction

BLACK ICE (Quadrologie)

Band 1 Odyssee

Band 2 Aevum

Band 3 Hydra

Band 4 Nexus

The Fantastic Zone (Story-Band)

Fantasy

SPIEGELKRIEGER (Trilogie)

Band 1 Druide der Spiegelkrieger

Band 2 Königin der Spiegelkrieger

Band 3 Dämon der Spiegelkrieger

(Prequel-Trilogie in Vorbereitung)

Menosgada

Driftworld

Details zu den Titeln siehe Anhang

Science-Fiction-Roman

von

Werner Karl

NEXUS – Black Ice IV

Bérénice – Serpent Savoy – kam sich vor wie im Zentrum eines Stadions, in dem Zehntausende aber keinen Schlachtgesang anstimmten, sondern in dem jeder einzelne seinen Hass, seine Furcht, seinen Zorn mit brüllenden Lauten ausstieß … die Bérénice allesamt, Wort für Wort, verstand!

Die Masse mordgieriger Gedanken bedrängte ihren Geist wie giftige Dolche, die Haare und Kopfhaut längst durchdrungen hatten, nun an ihrem Schädelknochen entlangkratzten und nach einer Lücke suchten, um ihr ins Gehirn zu stechen, zu schneiden, damit das Gift unstillbaren Hasses die Quelle der Pein ein für alle Mal auslöschen würde. Die Mutantin versuchte, diesen tausendfachen Ansturm zu ignorieren, versuchte, sich auf ihre Mission zu konzentrieren und sandte neue, grauenvolle Szenarien aus …

Bérénice Savoy, Mutantin und Agentin des Terranischen Geheimdienstes, tritt die letzte Schlacht gegen die Hydren an. Im Einsteinraum und in der fremden Dimension ... dem Nexus.

Sie muss lernen, mit neuen Waffen zu kämpfen. Und zwar schnell. Ihr Scheitern würde das Ende aller raumfahrenden Rassen im Einsteinraum bedeuten. Auch das der Menschheit …

Impressum

NEXUS: Black Ice IV

Science-Fiction Roman

Copyright © 2021 by Werner Karl

www.wernerkarl.org

Independently published

Cover-Gestaltung by Graphic-Artist Nadin Merten © 2021

unter Verwendung eines Bildes von Svetlanamiku

www.depositphoto.com

und dem Graphicart Snakehead

by Graphic-Artist Nadin Merten © 2021

Schriftarten: Times New Roman und Bedrock-Cyr

Vorwort

Wahrscheinlich wird jeder Autor oft genug gefragt, wie er auf die Idee zu diesem oder jenem Roman gekommen sei oder wie er generell Ideen findet. Bei mir ist das nicht anders.

Im Falle von BLACK ICE habe ich mich – zumindest für die Basis-Idee – eines einfachen Kniffs der schreibenden Zunft bedient: Nimm eine tolle Geschichte und ändere die Vorzeichen!

So weit die Füße tragen (nach dem gleichnamigen Roman von Josef Martin Bauer; erschienen 1955) war eine sechsteilige TV-Serie, welche die Geschichte eines deutschen Soldaten erzählt, der aus einem russischen Kriegsgefangenenlager in Sibirien flieht und eine Odyssee erlebt, bis er es zurück in die Heimat schafft. Natürlich sah ich nicht die Erstausstrahlungen von 1959, da war ich gerade mal 1 Jahr alt, sondern erst Jahre später als Teenager eine der vielen Wiederholungen. Als Nachkriegsgeborener, als Cold-War-Kid, hat mich die Handlung dennoch fasziniert.

Aus dem Mann machte ich eine Frau, aus dem deutschen Soldaten eine schwarzhäutige Spacetrooperin, aus den bösen Russen die außerirdischen Sambolli (welche ja nur die Handlanger der Mazzar sind, wie Sie, liebe LeserInnen, nun längst wissen), aus dem kältestarrenden Sibirien den tropisch-heißen Dschungel des Planeten Samboll usw. usw.

Doch dieser an sich schon spannende Rahmen genügte mir nicht. Ich wollte eine vielschichtige Handlung erzählen, einen perfiden Plan … und noch einiges mehr, was Sie ja in den Bänden I bis III erleben konnten. Aus unerfindlichen Gründen wusste ich von Anfang an, dass für meine Geschichte ein Buch nicht ausreichen würde, sondern deren vier nötig sein würden!

Diejenigen unter Ihnen, die in Band I Odyssee bei der Betitelung Epilog (Nachwort) des ersten Textstückes gezuckt haben, werden nun in diesem Band IV Nexus den Grund dafür erfahren …

Der Autor

Einsteinraum

[Serpent Alpha an alle: Tötet Black Ice!]

Der Gedankenbefehl der führenden Hydra jagte lautlos durch den Weltraum des Sonnensystems und dessen mentalen Äthers, überwand locker sämtliche Wände aus Stein, Kunststoff oder Ceramstahl und erreichte auch das Gehirn von Bérénice Savoy. Die Agentin der Terranischen Föderation stand direkt neben Enya, der Grande Dame des irisch-stämmigen Rigelianer-Clans 49. Beide befanden sich immer noch im Sitzungssaal auf der Insel New Atlantis inmitten des Schwarzen Meeres auf Terra. Alle biologischen Wesen im Saal – Menschen, Mazzar und ein paar Vertreter anderer befreundeter Rassen – hatte es nach dem alarmierenden Ausruf Savoys nicht mehr auf ihren Plätzen gehalten.

Noch immer hingen die Worte der Agentin wie Geister in der Luft: »Wir empfangen die Hirnströme von Schlangenwesen. Von sehr vielen.« Den telepathischen Tötungsbefehl der führenden Hydra hatten aber nur die Mutanten empfangen können.

Die Handvoll GUARDIANS und der einzige im Saal anwesende Kampfroboter der BEHEMOTH-Klasse III, Freitag, rührten sich keinen Millimeter.

Nur Akono Diya, Präsident der Terranischen Föderation, war in diesem Moment in der Verfassung, etwas auf Savoys Worte erwidern zu können: »Die Hydren. Sie sind da.«

Und als hätte seine Antwort einen Damm gebrochen, sprach Enya ebenso knapp das Offenkundige aus: »Die dritte Welle.«

Alle starrten auf die Clan-Chefin der Mutanten, die für einen kurzen Augenblick Furcht durch ihre sonstige Würde hatte schimmern lassen. Der Moment verschwand aber so schnell, wie er gekommen war und machte einem Ausdruck Platz, den man nicht anders als abgebrüht nennen konnte. Enyas Blick wanderte zu einem unbestimmten Punkt, weit über allen Köpfen, dann schloss sie ihre Augen.

Natürlich waren weder Enya, Bérénice, noch ein anderer Mutant in der Lage, den Tötungsbefehl der Hydra in verständlichen Worten zu hören. Sie empfingen ihn nur als ein von Hass gefärbtes Kaleidoskop in Form schrecklicher Gedankenbilder, die aber an ihrem eindeutigen Inhalt keinen Zweifel ließen. Jeder Teil dieser Imagination fühlte sich für Bérénice wie eine abgeschossene Metallkugel eines altmodischen Flippers an, die wild in ihrem Kopf hin und her zuckte. Als fände der Mordaufruf keinen erlösenden Ausgang, schlugen die Bilder beinahe physisch spürbar an die Innenseite ihres Schädelknochens. Eines dieser Gedankenfragmente traf sie bis ins Mark und versetzte ihr einen Schock: Sie sah sich selbst im antiken Griechenland stehen. Halb nackt, schweißüberströmt … und ihre Geliebte Naya mit dem mittlerweile berühmt-berüchtigten Katana niederstreckend.

Bérénice taumelte für eine Sekunde, schüttelte die Szene dann vehement von sich und kämpfte um ihre Konzentration. Mit aller Macht verstärkte die Haitianerin ihren geistigen Abwehrschirm. Sie versuchte, die augenblicklich aufflammenden Kopfschmerzen zu ignorieren. Dennoch gingen sie nur langsam und unter mühsamster Anstrengung zurück. Erst nach fünf schrecklichen Sekunden – die sich für die Agentin wie auf das Zehnfache gedehnt anfühlten −, konnte Bérénice Savoy eigene klare Gedanken fassen.

Die Hydren haben mich identifiziert und in mir einen ihrer Hauptgegner erkannt. Sie jagen mich! Und unmittelbar danach: Woher wissen diese Monster von unserem Kampf mit der antiken Hydra? Und warum haben sie mich nicht schon damals getötet? Ich war zu dem Zeitpunkt ihr willenloses Opfer.

Sie drängte die Fragen zurück und verstand mit plötzlicher Nüchternheit, dass diese Erinnerung ein persönlicher Angriff auf sie war, eingebettet in die Hypnowellen, die wer weiß wie viele Menschen der Erde unterjochen konnten.

Jeder Mensch, der unter ihren Einfluss gerät, kann diese Bilder sehen! Sie versuchen, uns zu spalten … mich als Mörderin meiner eigenen Art hinzustellen.

Bei diesem Gedanken mahlten ihre Kieferknochen und eine altbekannte Kälte stieg in ihr auf.

Da kennen sie uns Menschen aber schlecht. Wir hatten noch nie große Probleme damit, uns gegenseitig umzubringen.

Plötzlich spürte sie Connor und Naya, die ihre um Gleichgewicht suchenden Hände packten. Wie auf ein Kommando hin, rückten auch die anderen Rigelianer-Telepathen heran und bildeten mit allen parapsychisch Begabten erst eine enge Kette, rasch danach einen geschlossenen Ring. Enyas Kopf war immer noch erhoben und ihre Augen schienen trotz gesenkter Lider etwas sehen zu können … weit draußen im All. Der Ring der Mutanten blieb geschlossen und alle, auch Bérénice, folgten dem Beispiel der Clan-Chefin.

Die anderen Menschen in ihrer Nähe machten respektvoll Platz. Der Anblick von rund zwei Dutzend Mutanten, die scheinbar blind und lautlos den Feind ins Visier nahmen, musste auf sie mehr als unheimlich wirken. Einige trugen Unsicherheit, andere eindeutig Vertrauen in den Augen. Was sie sich allerdings im Detail von der Verbindung der Mutanten erhofften, blieb unausgesprochen. Denn keiner der Politiker, hohen Beamten oder Wachsoldaten konnte den mentalen Kampf verfolgen. Und die anwesenden Mazzar erst recht nicht. Sie genossen eine mentale Taubheit, um die sie jetzt vielleicht auch einige der entsetzt starrenden Menschen beneiden dürften.

Dabei schien die Unsicherheit unangebracht zu sein. Ganz offensichtlich taten die brandneuen Stirnbänder, die jeder Nicht-Mutant in der Halle trug, zuverlässig ihren Dienst. Der Helm der Yildirim-Attentäterin – und später auch in diversen Verstecken der Titanenkinder gefundene weitere Exemplare – waren von den Rigelianern genauestens analysiert worden. In enger Zusammenarbeit mit den Neural-Technikern der Föderation und des Mentalkorps des Terranischen Geheimdienstes hatte man die Konstruktion verbessern und zu den weitaus bequemeren Stirnbändern verkleinern können. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatte das Erz des Planeten Violetta III, was die Mazzar der Menschheit zum Geschenk gemacht hatten. Dessen abschirmende Wirkung gegenüber paranormalen Kräften war den Mazzar schlichtweg deswegen entgangen, weil sie selbst gegen solche Beeinflussung immun waren und somit auch nicht in eine entsprechende Richtung geforscht hatten. Die Menschen schon. Die Entwickler hatten allerdings sofort darauf hingewiesen, dass auch kriminelle oder, wie geschehen, terroristische Elemente mental abgeschirmt wären, kämen sie in den Besitz dieser Schutzausrüstung. Eine Versorgung aller Menschen auf Terra oder gar weiterer Planetenbevölkerungen der Föderation war also nicht nur aus diesem Grund völlig illusorisch.

Ganz bewusst – und zähneknirschend − hatte man auf die Errichtung von Schutzfeldern verzichtet, die komplett gegen mentale Angriffe von außen schützen würden. Denn die verlustreiche Erfahrung bei Raumbasis FRONTIER CV hatte bewiesen, dass eine rechtzeitige Entdeckung anrückender Hydren durch eine absolute Absicherung − wie beim Konferenzraum − behindert oder zumindest massiv verzögert wurde. Leider hatte noch niemand eine Idee gehabt, wie man das Auftauchen feindlicher Hydren frühzeitiger entdecken könnte. Selbst die Positionierung von wachsamen Mutanten außerhalb eines solchen Schutzfeldes war diskutiert worden. Allerdings hätten nicht einmal sie mit einer mentalen Warnung einen solchen Schirm durchdringen können. Egal, welche Maßnahme man also getroffen hätte: Irgendwann müsste man einen Schirm ohnehin öffnen. Also konnte man auch gleich die wichtigsten und vor allem positiv überprüften Personen mit einem Anti-Hypno-Stirnband, kurz: AHS, ausrüsten. Trotz allem hatte man begonnen, für die Zivilbevölkerung geeignete Schutzräume einzurichten. Leider genügten sie zu diesem Zeitpunkt gerade mal für drei Prozent der Erdbewohner.

Bérénice gingen all diese Vorsichtsmaßnahmen blitzschnell durch den Kopf, dann erfasste sie eine ganze Welle solidarischer Strömungen, die ihre eigenen Kräfte verstärkten und sie mit neuer Zuversicht erfüllten.

Ich muss den Kampf nicht alleine austragen.

Die Bilder ihrer blutüberströmten Hand an ihrem Katana, das Niedersinken Nayas und ihr eigenes Erwachen aus der Gewalt der Hydra, blitzten in Sekundenbruchteilen wie höhnisch grinsende Dämonen auf … und verschwanden, als Nayas Geiststimme sie erreichte.

Ich bin hier. Ich lebe!

Bérénice riss dennoch die Augen auf und vergewisserte sich, dass Naya wirklich da war und ihre Hand hielt. Sie sah die rothaarige Rigelianerin neben sich stehen, angespannt wie alle anderen Mutanten, aber konzentriert und mit geschlossenen Augen.

Die Agentin senkte die eigenen Lider, versuchte, sich enger in die Gemeinschaft der Rigelianer einzufügen, und fand rasch einen Platz in einer mentalen Lücke, die man extra für sie freigelassen hatte. Mit einiger Überraschung empfand sie sich augenblicklich nicht mehr als Individuum, sondern als Teil einer Familie, deren Bande weitaus stärker waren, als die zwischen biologischen Verwandten. Es gab keine Verstecke mehr, keine verborgenen Gedanken oder Scham. Jeder hätte jetzt einem Mitglied der Gruppe bis in die tiefsten Etagen seines Seins schauen und jedwedes darin schlummernde Geheimnis entdecken können. Doch niemand tat dies. Alle suchten zwar eine möglichst enge Verbindung zu erlangen, vollzogen dies aber so harmonisch, dass die zentrale Kraft – Enya – nicht eingezwängt wurde, sondern von jedem Mitglied des Ringes Energie erhielt, die sie ihrer eigenen hinzufügen konnte.

Bérénice wusste nicht, wie sie selbst das bewerkstelligen sollte. Ihre Ausbildung durch Connor hatte die Kooperation mit anderen Mutanten, geschweige denn mit einer ganzen Gruppe, noch nicht erfahren. Also sammelte sie ihre Kräfte und versuchte, diese auf die Clan-Chefin fließen zu lassen. Für eine nicht fassbare Dauer rollten ihre Kräfte unstet umher … bis die Agentin ein Becken aus mentaler Energie fand, in das sie ihre eigene strömen lassen konnte. Bérénice erfasste sofort, dass dieses Becken in Enya lag und einen Sog entwickelte, der die angebotenen Parakräfte fast gierig aufnahm.

Die Haitianerin kam sich wie ein Kind vor, das man durch ein Schlüsselloch in ein weihnachtlich geschmücktes Wohnzimmer spähen ließ, als sie verstand wie Enya die dargebotenen Energien sammelte, ihrer eigenen Kraft hinzufügte … und sie mit einem mächtigen Schub ausstieß, gerade dann, als das Becken nicht mehr in der Lage zu sein schien, auch nur noch ein einziges Watt aufzunehmen.

Black Ice erhaschte die Ausläufer eines extrem gebündelten Gedankenbefehls, der so schrecklich war, dass Bérénice im ersten Moment dachte, er käme von den Hydren. Doch es war Enya, die ihn ins All geschleudert hatte.

Gnadenlos.

Mit aller Macht, die ihr zur Verfügung stand.

Und auf Slide-Schiffe gelenkt, die immer näher rückten …

Einsteinraum

Richter Hassan Yildirim hielt den Brief seiner Frau noch immer in Händen, als auch sein Com-Terminal in Nerv tötender Intensität Globalen Alarm hinausbrüllte. In allen Zimmern seines Hauses erwachten Monitore zum Leben und übertrugen die hektischen Worte eines uniformierten Mannes.

»… wiederhole: Die Erde und das Sonnensystem werden von einer Flotte feindlicher Slide-Schiffe angegriffen. Sollte sich in Ihrer Nähe einer der neuen Mentalschutzräume befinden, suchen Sie ihn sofort auf! Besitzer von Anti-Hypno-Stirnbändern stehen in der Verantwortung, entweder ihre vorgeschriebenen Verteidigungsposten aufzusuchen oder Maßnahmen zu treffen, welche ungeschützte Personen vor Leid bewahren. Der Gebrauch von Betäubungswaffen ist ausdrücklich erlaubt. Alle anderen Personen …«

Der Angehörige des Militärs sprach weiter, doch Yildirim nahm die Worte nicht mehr wahr. In seinem Schädel herrschte Chaos und ein Gedanke hetzte den anderen.

Mein AHS liegt in einem Fach in meinen Amtsräumen in Den Haag. Ich habe keine Chance, dorthin zu gelangen, bevor die Hydren die Erde erreichen.

Ich muss die Raumstreitkräfte und den Terranischen Geheimdienst davor warnen, die Sodom-und-Gomorrha-Bomben abzufeuern! Wir würden nur unsere eigenen Schiffe vernichten.

Amélie Colbert!

Yildirim kannte sie seit der Gerichtsverhandlung, in der man Bérénice Savoy die Ermordung Rikard Whitblooms, alias Agent White, vorgeworfen hatte. Die Erinnerung an das Mitglied der Titanenkinder löste eine rasende Kette von Assoziationen in Yildirim aus. Er hob die Hand mit dem Brief seiner Frau und hatte plötzlich den Eindruck, als würde das Papier seine Finger verbrennen. Er ließ es fallen und sah verwundert, dass es trotz seiner Erwartung nicht in Flammen aufging, als es den Fußboden erreichte. Der Name seiner Frau brannte dennoch in glühenden Buchstaben vor seinen Augen.

Aishe war Mitglied dieser Terrorgruppe … und ich habe nichts davon geahnt.

Hassan erinnerte sich daran, wie er vor vielen Monaten einen Einkauf Aishes belächelt und sie ein wenig damit aufgezogen hatte. Und an die gestochen scharfen Vid-Aufzeichnungen seiner Attentäterin, welche ihm Amélie Colbert später gezeigt hatte. Der Hut der Attentäterin glich dem seiner Frau auf frappierende Weise.

Ich Idiot! Diese Organisation hat auch meiner Frau einen Hut zum Schutz vor Telepathen zur Verfügung gestellt.

Die Flammen des Briefes schienen nun seinen Kopf erreicht zu haben.

Wo ist dieses Ding?

Der Richter stürmte quer durch den Wohntrakt zur Treppe, welche in die obere Etage und somit zu den Schlafräumen führte. Direkt daneben befand sich das Ankleidezimmer seiner Frau. Hassan hatte die Treppe halb erstürmt, als er wie angewurzelt stehenblieb.

Aishe hat ihn trotz meiner Spöttelei immer getragen, wenn wir ausgingen … mit einem Ausdruck im Gesicht, der mir wohl sagen sollte, dass er ihr dennoch gefiel.

Dann fiel es Yildirim wie Schuppen von den Augen.

Alles eine Lüge. Sie hat ihn getragen, weil wir uns auch oft genug in der Gesellschaft von Agenten und Mutanten bewegten! Sie hat ihn immer erst dann abgesetzt, wenn wir zuhause waren. Er könnte also immer noch da sein.

Der stämmige Mann, der nicht nur die Hände, sondern auch die Statur eines türkischen Ringers besaß, wollte gerade den Rest der Treppe erklimmen, als zwei Dinge gleichzeitig geschahen:

Kalte Fühler tasteten nach seinem Gehirn und schienen aber noch keinen Ansatzpunkt gefunden zu haben, um sich seines Verstandes bemächtigen zu können. Und Füße tauchten vor dem Gesicht des Richters auf.

Yildirim riss den Kopf nach oben, so als könne er allein damit die tastenden Gedanken abschütteln, die nur von den Hydren stammen konnten. Gleichzeitig offenbarte sein Blick nach oben, wer dort am Ende der Treppe stand.

Es waren seine Köchin und Mitya, der Pilot seines Dienstgleiters. Und beide hatten einen Schleier in ihren Augen, der Yildirim verriet, dass sie nicht mehr Herr über ihre Sinne waren.

Der Richter hielt sich in seiner Freizeit durch klassisches Ringen fit. Ein weiterer Grund, warum er sich für Mitya als Hausangestellten entschieden hatte. Der Russe liebte wie er den Körperkontakt und das Kräftemessen. Beides hätte ein robotischer Pilot nicht liefern können.

Jetzt kann es mich das Leben kosten, dachte Hassan Yildirim und hoffte aus vollem Herzen, dass entweder die Beeinflussung durch die Hydren Mityas Können behindern würde oder die Hydren die beiden Hausangestellten vielleicht noch nicht völlig übermannt hatten.

Beim Ringkampf kommt es auch auf die Reaktionsschnelle eines Kämpfers an. Wenn es ihm aber gelingt, mich zu packen …

Yildirim zögerte keinen Moment mehr. Mit geballter Faust schlug er der Frau auf die Zehen, dass sie aufstöhnte und zurücktaumelte. Mit der Rechten jedoch fegte er gegen die kräftigen Beine seines Angestellten und hatte gehofft, ihn damit von den Füßen reißen zu können. Doch es war, als hätte Yildirim gegen den Stamm einer alten Eiche geschlagen. Der Pilot stand wie angeschraubt über ihm und senkte nun langsam die verschleierten Augen auf seinen Arbeitgeber. Hassan wusste, dass er sich in der Vergangenheit nur selten dem Griff des Mannes hatte entziehen können und vermutete, dass Mitya dies ihm nur gewährt hatte, weil er es sich mit seinem Dienstherrn nicht verscherzen wollte.

Jetzt wird er aber keine Rücksicht üben, schoss es Yildirim durch den Kopf, der sich zunehmend so anfühlte, als würde ihm jemand Schicht um Schicht kalte Watte um den Schädel wickeln wollen. Ich muss rasch handeln!

Hassan warf sich zur Seite, da Mitya mit beiden Händen nach seinem Kopf gegriffen hatte. Gott sei Dank in einem mäßigen Tempo, dem der Richter leicht entkommen konnte. Er nahm die letzten Stufen, duckte sich unter einem etwas flotteren Schwinger des Russen weg und umklammerte dessen Brust mit aller Kraft. Yildirim hatte vor, seinem Piloten die Luft aus den Lungen zu drücken, ihn bewusstlos zu machen, und dann nach dem verdammten Hut zu suchen. Es wäre ihm geglückt, wenn nicht seine Köchin den geringen Schmerz in ihren Zehen überwunden und sich ihm von hinten genähert hätte. Ihr Schlag auf seinem Kopf mit einer kostbaren Vase, ließ seinen Griff um Mitya für einen Moment schwächer werden. Aber es genügte.

Der Russe hatte entweder zu seinem normalen Trainingstempo zurückgefunden oder die Hydren hatten ihn jetzt soweit in ihrer Gewalt, dass sie vollständig auf sein Gehirn und damit auf seine Fähigkeiten und Reaktionsschnelle zugreifen konnten. Yildirim selbst hoffte, dass seine Kopfschmerzen dem Hieb mit der Vase zu verdanken waren und nicht dem Einfluss der Schlangen. Mit hastigen Schlägen wehrte er die immer schneller werdenden Angriffe des Russen ab, der nur einen einzigen körperlichen Nachteil zu Hassan aufwies: Seine Hände waren zwar kräftig, aber nicht so prankenhaft wie die des Richters. Mityas Stärke bei einer Umklammerung eines Gegners stammte aus seinen muskulösen Armen, nicht aus seinen Händen. Als Yildirim sich dies vor Augen hielt, fasste er einen eiligen Entschluss.

Es tut mir leid, mein Freund.

Aber ich habe nur diese Chance …

Er packte die auf ihn erneut zuschießenden Hände des Russen und drückte mit aller Kraft zu. Für den Bruchteil einer Sekunde erfasste ihn Mitleid … dann spürte er die Fingerknochen des Russen brechen. Mit einem gequälten Aufschrei sank Mitya auf die Knie, die schmerzerfüllten Augen auf seine Hände gerichtet und ließ für eine Sekunde Entsetzen darin erkennen. Dann hatten ihn die Hydren wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Er versuchte, sich ohne seine Hände auf die Beine zu stemmen, doch der Richter ließ ihm dazu keine Zeit. Mit geballter Faust schlug er auf die linke Schläfe des Piloten ein und hoffte, der Mann würde später nur unter fürchterlichen Kopfschmerzen zu leiden haben und nicht sterben.

Mitya sackte zusammen, als hätte man ihn mit einer Axt gefällt … und fiel der Köchin vor die Füße, die sich inzwischen mit einem neuen Gegenstand bewaffnet hatte.

Yildirim erkannte in dem Objekt eine der gusseisernen Vorhangstangen seines Schlafraumes, der im Stil eines türkischen Emirs eingerichtet war und dessen schwere Vorhänge entsprechend stabile Halterungen verlangten. Jetzt hielt die Frau die Stange wie einen Speer vor sich, zeigte aber durch ihre Bewegungen, dass sie keine Ahnung hatte, wie man mit so einem Ding wirklich umging.

Hassan wich der ungeschickt geführten Attacke der Köchin aus, entriss ihr die Waffe und schlug sie mit einem Hieb derselben bewusstlos. Noch während sie fiel, erlitt er selbst einen eiskalten Stoß, den keine greifbare Waffe verursacht hatte. Keuchend ging der Richter in die Knie, sah beide Angestellten flach atmen und rang mit zunehmender Verzweiflung um die Herrschaft über seinen Verstand.

Die Watteschichten um seinen Kopf fühlten sich so schwer an, als bestünden sie aus Blei. Und auch sein Körper schien mehr und mehr unter einer Last zu leiden, die sein Besitzer nicht sehen konnte. Yildirim besaß nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten. Er kroch und fühlte sich selbst wie ein Reptil, das sich über den Boden bewegte … langsam … mühselig, stets in Erwartung eines Hammers, der sein Rückgrat brechen würde. Hassan spürte die Umklammerung kalter Fesseln, die sich seiner zu bemächtigen versuchten.

Wie vielen Menschen geht es in diesem Moment wie mir? Wenn ich versage, wird keiner von ihnen mehr aus diesem Albtraum erwachen …

Yildirim versuchte, sich die Hydra vorzustellen, die ihn im Visier hatte. Einen schuppigen Leib, gekrönt von einem V-förmigem Kopf und daraus bösartig blitzenden Schlitzaugen. Der Richter glaubte, zwischen den vibrierenden Zungenspitzen zischelnde Laute zu hören, und stöhnte auf, als er die Schwelle zum Ankleideraum seiner Frau erreichte. Wie ein Betrunkener kämpfte er sich in zwei, drei Versuchen auf die Beine, taumelte, wäre fast gestürzt, als er den Kopf hob und das Fach anvisierte, in dem der Hut Aishes liegen musste.

Wenn sie ihn mitgenommen hat … an den Platz, an dem sie sich das Leben nahm, bin ich verloren. Und all jene, die den Hydren zum Opfer fallen … oder unseren eigenen Bomben.

Die Vorstellung seiner irgendwo tot im Dreck liegenden Frau und die pure Angst, dass er sie wahrscheinlich nie finden würde, erfüllten ihn mit Zorn und ließen ihn die Arme heben.

Zitternd.

Bebend.

Zentimeter für Zentimeter die Schrankwand empor, tastend wie ein Tentakel eines nach Beute greifenden Kraken.

Ein Arm, ein Finger, ein kleiner Druck genügt, um das Fach zu öffnen …

Seine Linke fiel herab und hätte ihn beinahe aus seiner labilen Haltung gerissen. Doch seine Rechte erreichte den Sensor, der das Fach wie gewohnt sanft aufgleiten ließ.

Yildirim wagte es kaum, seine Augen in das Fach zu lenken.

Der Hut …

Da ist er.

Yildirim streckte sich, fühlte, wie die wachsende Kälte der Hydren-Befehle sein Gehirn umschlossen. Seine Gedanken drohten zu erstarren und auch seine Hand schien plötzlich in der Luft wie festgefroren zu verharren.

So nah …

Oh, Gott:

Lass mich Hiobs Knecht1 sein!


  1. Hiobs Knecht: Entgegen häufiger Verwendung ist es nicht Hiob selbst, der Unglücksnachrichten mitteilt, sondern einer seiner Knechte. Hiob selbst erleidet schwere Prüfungen, da sich Gott und der Teufel einen Streit um die gottesfürchtige Einstellung Hiobs liefern. Am Ende besteht Hiob die Prüfungen und wird von Gott von allen Unglücken befreit.

Einsteinraum

Natürlich hatten Sicherheitsbeamte auch auf New Atlantis die Militärs in Alarm versetzt, kaum, dass bestätigt worden war, dass eine Flotte feindlicher Slide-Schiffe in das Sonnensystem vorstieß. Space-Com-Nachrichten jagten zu allen Raumstationen, Abwehr-Plattformen und Raketenbatterien. Dazu zu jedem Kampfschiff, das sich im Orbit Terras oder in relevanter Nähe befand. Sie alle waren längst über die Natur des Feindes aufgeklärt und selbstverständlich auch mit den brandneuen Sodom-und-Gomorrha-Bomben ausgerüstet worden.

Dennoch kochte Diana Carpenter vor Wut, als sie in die offene Vid-Com-Verbindung sprach und den Befehl ausgab, der allem entgegenstand, was sie jetzt nur zu gerne getan hätte. Ihre Miene musste ein Abbild ihrer Gefühle sein, denn die gesamte Brückenbesatzung bemühte sich, mucksmäuschenstill ihren Aufgaben nachzugehen. Aber Carpenter wusste genau, dass die Hitzköpfe in ihrer eigenen Flotte besser noch einmal an die Dinge erinnert werden sollten, über die sie schon vor einiger Zeit instruiert worden waren.

»Hier ist die TSS LEONIDAS. Hier spricht Admiralin Diana Carpenter, Kommandeurin der 3. Terranischen Heimatflotte. Da ich im Augenblick der ranghöchste Militär im System bin, gebe ich Order 47 aus: Alle Kampfschiffe mit menschlichen Besatzungen ziehen sich sofort hinter die Roboter-Einheiten zurück! Sie, meine Kameraden und Kameradinnen, werden selbstverständlich wie ich am Kampf teilnehmen können. Aber nicht in vorderster Linie! Die Slide-Schiffe sind mit hypnotisch begabten Feinden besetzt, die Ihnen schneller den Verstand rauben, als Sie bis drei zählen können. Wie es die erweiterte Order 47 außerdem vorschreibt, haben sich während eines Hydren-Angriffes nur Träger von Anti-Hypno-Stirnbändern in einer Zentrale aufzuhalten. Diese ist dabei bis zum Ende eines Angriffes hermetisch abzuriegeln.«

Mit grimmiger Genugtuung sah sie, wie ihre eigene Brückenbesatzung ihrem Befehl nachkam und ein Schott nach dem anderen krachend geschlossen wurde. Da sie sich mit der LEONIDAS schon in einer entsprechenden Position im weiteren Orbit um die Erde befand, blieb ihre Flug-Crew untätig − dafür aber sichtlich nervöser − in ihren Andrucksesseln sitzen.

Irgendeine Tätigkeit würde sie ihre momentane Anspannung leichter ertragen lassen.

Carpenter drückte auf eine Taste, welche die Com-Verbindung auf ihr eigenes Schiff beschränkte. »Brückenbesatzung: Überprüfen Sie den korrekten Sitz Ihrer Stirnbänder! Achten Sie vor allem darauf, dass die Verschlüsse stramm sitzen! Ich möchte nicht, dass jemand sein AHS verliert, nur weil wir eventuell durcheinandergeschüttelt werden.«

Dann gab sie mit einer Taste die Verbindung All Ships wieder frei. »Carpenter an alle Kommandeure der stationären Verteidigung: Verzichten Sie strikt auf herkömmliche Waffensysteme! Sie würden damit nur die Paraschirme der Slide mit kostbarer Energie versorgen. Einzig die SuGs zeigen Wirkung. Loggen Sie sich – falls nicht schon geschehen – in unser Target-Programm ein und nehmen Sie sich Gegner vor, die noch nicht von den mobilen Einheiten erfasst wurden. Achtung, Warnung! Die Slide-Schiffe sind äußerst schwierig zu orten. Bevor Sie eine SuG verschwenden, warten Sie auf die Bestätigung mindestens einer weiteren Orter-Besatzung! Viel Glück Ihnen allen. Carpenter Ende.«

»Admiral«, kam es hastig vom Leiter ihrer Orter-Mannschaft. Offensichtlich hatte er nur auf das Ende ihrer Ansprache gewartet. »Wir messen bislang 435 Slide-Schiffe an. Und es werden ständig mehr.«

»Was zu erwarten war, Major Wong. Die, die wir anmessen, machen mir keine Sorgen. Eher die, die unseren Sensoren entwischen.«

Der Chinese wusste genau, worauf sie anspielte. Zwar arbeiteten sämtliche Elektronikspezialisten und Forscherteams mit Hochdruck an besseren Ortungsmethoden, doch fehlte ihnen schlichtweg ein Zugang zu parapsychischen Fakten und Daten. Es war Nicht-Mutanten kaum verständlich zu machen, wie ein begabtes Gehirn funktionierte. Ein normales Hirn gegen jedwede mentale Beeinflussung abzuschotten, war eine Sache. Paraschirme fremder Wesen, die dazu noch aus einer anderen Dimension stammten und somit dem Begriff exotisch im wahrsten Sinne des Wortes eine neue Dimension verliehen, eine ganz andere.

Und wir sind nicht wie diese Titanenkinder. Wir schlachten keinen neuen Alliierten ab, nur um herauszufinden, wie sein Gehirn funktioniert oder wie sein Körper es schafft, unglaubliche Energiemengen aufzunehmen und für sich selbst zu nutzen. Die Artgenossen der MOBY DICK mögen ja kooperativ sein. Aber im Augenblick sind sie nicht da. Nice hat mitgeteilt, dass die beiden Trutt-Frauen sich der Überläufer angenommen haben. Und dass Enya dabei munter mitzumischen scheint.

Carpenter seufzte und drückte eine weitere Taste. »Admiral Carpenter an alle Robot-Einheiten: Feuer frei auf jedes Slide-Schiff mit Hydren-Kennung.«

»K17: Befehl erhalten und verstanden; Starten Operation Firestorm.«

In rascher Folge kamen die Einzelmeldungen aller Robot-Geschwader und Diana Carpenter hoffte, dass die Markierung der desertierten Slide-Schiffe auch in der Hektik der bevorstehenden Schlacht diese vor Friendly Fire schützen würde.

Wenn ich wüsste, wo die beiden Trutt mit unseren Slide stecken, wäre mir wohler. Wenn sie unvermutet mitten in der Schlacht auftauchen, kann ich für nichts garantieren. Und Enya schweigt wie ein Grab.

Und auch dieser Gedanke trug nicht dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern.

»Die Zahl der Hydren-Schiffe liegt jetzt bei 730 … 734 … 735.« Der Mann von der Orterstation schwieg für einen Moment, dann meldete er: »Keine weiteren Feindschiffe mehr, Kommandantin.«

»Mehr als genug«, murmelte DC eher für sich und beobachtete, wie die ersten SuG-Salven von den Roboterschiffen abgefeuert wurden und nur Bruchteile von Sekunden später das All aufblitzen ließen, als hätte ein Gott eine Lichterkette entzündet.

Plötzlich drang ein Lachen von einer anderen Station zu Carpenter. Allerdings klang es nicht danach, als hätte der Lachende etwas Lustiges erlebt. Da die Kommandantin die Stimme des Mannes kannte, wandte sie sich der betreffenden Person zu. »Was erheitert Sie so, Sergeant Svenson?«

»Tut mir leid, Kommandantin. Aber hier ist Ihre Freundin, Agent Colbert und fordert uns auf, unsere eigenen SuGs nicht abzufeuern.«

»Was? Legen Sie die Verbindung sofort auf mein Terminal!«

Der baumlange Com-Offizier − dem alle nachsagten, er wäre in der Lage, allein mit einer Kerze auf seinem Kopf Signale ins All zu senden, was auf seine enorme Körpergröße anspielte −, verzichtete auf eine Antwort und deutete lediglich mit einer Geste an, dass er ihren Befehl schon vorausgesehen hatte.

Carpenter wandte sich um und sah das aufgeregte Gesicht ihrer Agenten-Freundin auf einem kleinen Monitor, das sie kreidebleich anblickte.

»AC? Was …?«

»Keine Zeit, DC. Ich meine es todernst: Ihr dürft eure SuGs nicht abfeuern! Vorerst zumindest nicht.«

»Wie bitte? Ist das dein Ernst? Was sollen wir dann gegen die Hydren-Schiffe unternehmen, die durch die Reihen der Roboter gelangen könnten?«

Colbert ignorierte die Frage mit einem knappen Kopfschütteln, das der Admiralin andeuten sollte, dass sie zuerst Wichtigeres mitzuteilen hatte. »Wir haben eine Meldung erhalten, dass die SuGs manipuliert wurden. Diana! Sie explodieren angeblich in dem Moment, in dem sie gestartet werden … noch bevor sie ihren Bombenschacht verlassen haben!«

Das Gesicht der Kanadierin wurde aschfahl. »Das kann nicht sein, AC.« Sie warf einen kurzen Blick auf ihr Battle-Scene-Display und nickte grimmig. »Die Robot-Einheiten feuern bereits und erzielen einen Abschuss nach dem anderen. Und du selbst verwendest das Wort angeblich. Von wem stammt die Behauptung?«

»Von einer absolut zuverlässigen Quelle, Diana: von Richter Hassan Yildirim.«

Die Admiralin kannte den Mann und hielt ihn für den Inbegriff von Integrität. Auch, dass er eine Zielperson der Titanenkinder war, untermauerte seinen Wert als glaubwürdige Person, schlichtweg, als Teil einer demokratischen Gesellschaft. Wie er aber in den Besitz einer solch entscheidenden Information gelangt sein sollte, entzog sich ihrer Vorstellungskraft. Bevor sie dies oder einen anderen Einwand hervorbringen konnte − von dem sie selbst nicht wusste, wie der aussehen sollte −, fuhr die Agentin hastig fort.

»Seine Frau Aishe war offenbar ein Mitglied der Titanenkinder. Sie hat sich nach Yildirims Aussage das Leben genommen. In ihrem Abschiedsbrief hat sie angegeben, dass die Terrorgruppe die SuGs manipuliert hat.«

»Alle?« Carpenter hatte längst den nächsten erschreckenden Gedanken formuliert, wagte es aber nicht, ihn auszusprechen. Sie sah, dass sich ihre Freundin wie unter Qualen zu winden schien.

»Vielleicht; wir wissen es nicht genau. Laut Aishes Angaben soll es nur die Bomben betreffen, die wir an die Mazzar geliefert haben.«

»Was das Kernanliegen der Titanenkinder – ein Wiederaufflammen des Krieges mit den Mazzar – unweigerlich Realität werden lassen dürfte.« Carpenter knirschte mit den Zähnen und war das moderne Abbild der antiken Kassandra.

»Dennoch dürfen wir es nicht riskieren, auch die SuGs abzufeuern, die sich in unseren Schiffen befinden!«, stieß die hübsche Agentin hervor. »DC: Wir müssen das erst überprüfen …«

»Dazu haben wir keine Zeit, AC! Der Feind ist mitten in unserem System. Die Roboter werden nicht alle Hydren-Schiffe erwischen. Wir müssen unsere SuGs einsetzen. Sofort!«

»Ich könnte es dir verbieten, DC, das weißt du genau.« Amélie Colberts Gesicht war ein einziger Ausdruck von Verzweiflung.

»Und du weißt, dass du das nicht tun wirst«, antwortete die Admiralin ohne hörbaren Gefühlsausdruck. Dann wandte sie sich vom Abbild Colberts ab und ihrem Kampfteam zu. »Status?«

Eine olivhäutige Frau gab mit deutlich indischem Akzent sofort Antwort. »Die Robot-Einheiten haben bisher 278 Slide-Schiffe zerstört, die restlichen haben sich zurückgezogen und formieren sich neu. Die Hydren scheinen überrascht zu sein, dass wir ihnen etwas entgegenzusetzen haben, Madam.«

Diana Carpenter hätte dem Stolz der Frau nur zu gerne beigepflichtet, doch der Anblick von rund zwei Dritteln verbliebener feindlicher Schiffe hielt sie davon ab. Erneut drückte sie die Taste All Ships.

»Carpenter an alle: Es kann sein, dass die Titanenkinder unsere Sodom-und-Gomorrha-Bomben manipuliert haben. Sobald sich die Hydren-Schiffe entschließen, erneut anzugreifen, feuert nur die TSS LEONIDAS eine SuG ab. Kein anderes Schiff! Sollten wir dabei nicht selbst detonieren, folgen Sie unverzüglich unserem Beispiel!«

Als hätten die Hydren nur auf diesen Moment gewartet, setzten sich die Slide-Schiffe wieder in Bewegung. In dichten Pulks – offenbar um die Effektivität ihrer Paraschirme als Schwarm ausnutzen zu können – stießen sie in größter Eile auf die Planeten und Raumstationen des Sonnensystems vor.

»Waffenkontrolle: Auf mein Kommando hin feuern Sie eine SuG auf das führende Hydren-Schiff des Pulks, der sich der Erde nähert. Carpenter an alle: Mögen die Götter des Alls mit uns sein!« Mit regungslosem Gesicht verfolgte sie die Anzeigen der Ortung. »Feuer frei in sechs … fünf … vier … drei …«

Es war exakt der Moment, in dem Bérénice Savoy ein Beispiel dessen erlebte, was geballte PSI-Fähigkeiten zu leisten vermochten. Enya hatte sich bis an die Grenzen ihrer Kraft mit parapsychischer Energie aufladen lassen und diese in einem gewaltigen Ausbruch ins All geschleudert.

Die Welle – gebündelt in einem einzigen Gedanken – stieß auf Slide-Schiffe, die bislang nur die Unterdrückung durch die Hydren erfahren hatten. Alle Lebendschiffe waren sich aber nur zu gut darüber im Klaren, dass sie Sklaven waren und es zeit ihres Lebens auch bleiben würden. Die Freiheit zu erlangen, war ein Traum, den sie bislang nur dann zu träumen gewagt hatten, wenn sie für kurze Zeit keine Aufgabe zu bewältigen hatten oder wenn sich ihre Meister zur eigenen Regeneration in separate Einzelwesen auflösten und somit die absolute Kontrolle schleifen ließen.

Die Selbstmordrate unter den lebenden Raumschiffen war während solcher Phasen hoch. Doch das war den Hydren egal. Sie schlossen die entstandenen Lücken genauso gnadenlos mit neuen Sklaven, wie sie die Verluste durch die Schockwellen aus dem Einsteinraum ausglichen. Schon vor Jahrzehnten hatten sie die Zuchtanstrengungen vervielfacht. Für Nachschub war also gesorgt.

Die Hydren hatten nicht ohne Grund ihre Lebendschiffe dichte Pulks – Schwärme – bilden lassen: Denn sie mussten jeden Paraschirm eines Slide-Schiffes minimal öffnen, um ihre eigenen, gegen die Menschheit gerichteten Hypnowellen passieren lassen zu können. Diese bewusste Schwächung eines Paraschirmes, versuchten sie durch besagte Zusammenschlüsse auszugleichen. Außerdem rechnete kein einziges Schlangenwesen damit, dass sie es mit einem ebenbürtigen Gegner, geschweige denn mit einem parapsychisch begabten Gegner, zu tun bekommen könnten.

Daher traf der Befehl der Menschenfrau die Slide-Wesen und ihre Sklavenhalter völlig unvorbereitet. Dabei glich er ihrem eigenen so sehr, dass einige der Hydren-Anführerinnen es zunächst gar nicht begreifen wollten. Erst als die vordersten Slide-Schiffe ihren Paraschirm überlasteten und in schrecklichen Gluthöllen vergingen, erkannten die restlichen Hydren zu spät, dass ihre Sklaven die einzige Freiheit anstrebten, zu denen sie sich in der Lage glaubten.

Der letzten Freiheit.

Einsteinraum

Präsident Akono Diya verfiel fast in einen Trab, als er an der Spitze eines ganzen Trosses um eine Ecke bog und Amélie Colbert, sowie zwei Posten in der Uniform des Terranischen Geheimdienstes vor dem Zugang zum gesonderten Patiententrakt des Krankenhauses stehen sah. Mit nur mühsam im Zaum gehaltener Stimme rief er ihr über eine Entfernung von fast 50 Metern nur wenige Worte zu.

»Sind sie erwacht?«

Die Agentin drehte sich ein wenig, blieb ruhig stehen, schüttelte stumm den Kopf und antwortete erst, als er sie erreicht hatte und mit beiden Händen ihre dargebotene Rechte umschloss.

»Aber am Com sagten Sie doch …«

»Dass die Ausschläge ihrer EEGs1 veränderte Signale zeigen, Sir. Aber ja: Die Ärzte hoffen, dass sie bald erwachen werden.«

»Ich … wir, alle Bewohner des Sonnensystems haben ihnen so viel zu verdanken. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal eine Zeit geben könnte, in der jeder einzelne Mutant …«

Ein sanftes, aber unverkennbar markantes Akustiksignal ließ ihn verstummen und wie alle anderen in die Richtung blicken, aus der der Ton gekommen war. Ein blinkendes Licht über der betreffenden Tür unterstrich das erste Signal, dem in gleichmäßigen Abständen zwei weitere folgten. Aus einem nahen Bereitschaftsraum eilten ein Arzt und eine Krankenschwester an die Tür und wollten sie gerade öffnen, als diese von innen aufschwang und der Alarm dadurch automatisch erlosch.

Noch bevor der Präsident der Terranischen Föderation fragen konnte, wessen Zimmer das war, erschien Bérénice Savoy in der halb offenen Tür. Ihre schwarze Haut kontrastierte heftig mit dem zarten goldgelb ihres Patientenkittels.

Amélie Colbert schob sich rücksichtslos an dem Arzt und der Krankenschwester vorbei, ignorierte dabei sein empörtes Schnaufen und griff nach der Hand ihrer Freundin, die wie um Halt suchend durch den Türspalt ragte. Die zweite lag immer noch auf dem Türknauf.

»Nice … den Göttern des Alls sei Dank. Warum hast du dein Bett verlassen? Geht es dir gut?« Misstrauisch beäugte sie das Geflecht vom Kopf abgetrennter Sonden, das nur noch mit einem Kabel um ein Ohr Savoys hing. Mit einem überaus sanften Griff befreite Amélie ihre Kollegin davon und gab das Ding an die Krankenschwester weiter.

Als hätte die Haitianerin ihre französische Freundin noch nie gesehen, lenkte sie ihre Augen auf die etwas kleinere Frau und ließ für zwei, drei Sekunden den Anblick auf sich wirken.

»AC.«

»Ja, ich bin da. Geht es dir gut?«, wiederholte Colbert ihre Frage und war erfreut, dass mehr als 30 Personen hinter ihnen gebührenden Abstand hielten und vorerst stumm blieben.

»Die Hydren … sind sie weg? Die Slide?«

»Der Angriff wurde erfolgreich von der Roboterflotte zurückgeschlagen … und von euch, wie alle Welt annehmen darf. Kein einziges Feindschiff ist entkommen.« Dann begriff sie, dass Bérénice mit ihrer zweiten Frage die desertierten Slide-Wesen gemeint hatte. »Weder die MOBY DICK, noch ihre … Freundinnen waren bei der Schlacht in der Nähe. Die beiden Trutt-Frauen Daneeh und Loraah müssen sie an einen sicheren Ort gebracht haben.« Colbert sah, wie diese Nachricht sichtlich zur Stabilisierung der Patientin beitrug. »Wie habt ihr das geschafft?«

Für den Arzt schien nun endgültig der Zeitpunkt gekommen zu sein, in dem er seine Verantwortung gefordert sah. »Ich bitte Sie alle ausdrücklich, von weiteren Fragen Abstand zu nehmen. Auch Sie, Präsident Diya. Es bringt uns wohl allen nichts, wenn unsere Patienten wieder einschlafen. Lassen wir ihnen Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen. Und uns Ärzten eine Chance, den Zustand …«

Auch er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden, denn plötzlich ertönten aus mehreren Krankenräumen die gleichen Warnlaute, wie zuvor aus dem Savoys. Weiteres Personal drängte aus zwei anderen Fluren zahlreich herbei und verteilte sich in den Zimmern, in die man alle Mutanten gebracht hatte, die am Ende ihrer Vereinigung – und damit dem Ende des Hydren-Angriffes − einfach zusammengebrochen waren.

Trotz all der Hektik, die damit in diesem Abschnitt des Krankenhauses nun entstand, fiel Präsident Akono Diya sichtlich ein Stein vom Herzen. »Meine Befürchtung, dass uns die Mutanten vielleicht nicht mehr zur Seite stehen könnten, scheint sich glücklicherweise nicht zu bewahrheiten, Agent Colbert. Ich werde Sie und die Patienten daher für die Dauer Ihrer Erholung nicht länger belästigen. Ich bitte Sie aber inständig, mir sofort Nachricht zu geben, wenn Enya, Agent Savoy und alle anderen zu einem … äh, Gedankenaustausch bereit sind.«

»Selbstverständlich, Präsident Diya. Wir alle brennen darauf zu hören, was da eigentlich passiert ist. Und wie wir zukünftige Angriffe auf ähnliche Weise abwehren könnten.«

»Sie rechnen mit weiteren Hydren-Attacken?«

»Natürlich, Sir. Die Schlangen werden nicht so schnell aufgeben. Ich vermute sogar: niemals!«

Diya nickte und seufzte kurz. »Hoffen wir, dass Ihre Erwartungen nicht schon bald eintreffen.« Dann straffte er sich. »Und wir haben noch ein weiteres Problem zu bewältigen.«

»Richtig, Sir: Die SuGs, die wir dem Reich Mazzar in gutem Glauben geschenkt haben.« Colberts Miene überzog ein dunkler Schatten. »Hoffentlich kommen Ihre Kurierschiffe rechtzeitig zu allen Mazzar-Basen, bevor auch dort die Hydren auftauchen und für ein Gemetzel sorgen. Gerade jetzt, wo der Bürgerkrieg der Krötenabkömmlinge beendet zu sein scheint und wir an allen Fronten endlich eine dauerhafte Ruhe erreicht haben, wäre es wirklich fatal, wenn Mazzar-Flotten aufgrund unserer Bomben vernichtet würden. Ein Danaergeschenk2 …«

Nach einer Stunde hatten sich sowohl die Ärzte als auch alle erwachten Mutanten soweit beruhigt, dass Amélie Colbert mit Bérénice Savoy und Naya die Krankensuite Enyas betreten durften. Die Grande Dame des irisch-stämmigen Rigelianer-Clans lag immer noch in ihrem Bett und machte einen wachen, aber erschöpften Eindruck. Ihr ohnehin blasser Teint wirkte auf die drei deutlich jüngeren Frauen wie Schnee, umrahmt von rötlichen Haaren, deren nachlassende Brillanz eine weitere Schwächung erfahren hatte.

Der Zusammenschluss und der Tötungsbefehl an die feindlichen Slide-Schiffe muss sie unglaubliche Kräfte gekostet haben, dachte Bérénice. Ich selbst fühle mich matt wie nie zuvor in meinem Leben … und ich war nur ein kleines Rädchen innerhalb des Mutanten-Ringes. Wie alt ist Enya eigentlich? Bei unserem ersten Zusammentreffen auf Hope schätzte ich sie auf Anfang 60. Jetzt sieht sie deutlich älter aus.

Als hätte sie ihre besorgten Gedanken laut ausgesprochen, lächelte Enya Bérénice freundlich an und winkte allen drei Frauen, näher zu treten. Eine kurze Umarmung und einen Kuss Nayas auf ihre Stirn nahm sie ebenfalls mit einem warmen Lächeln entgegen.

»Ihr macht euch Sorgen um mich«, sprach sie das Offensichtliche aus und hatte plötzlich ein Glitzern in den Augen, das ihren Besuchern vermittelte, dass in ihr noch genügend Kräfte schlummerten, die nur ein wenig Ruhe brauchten, um sich erneut entfalten zu können.

»Natürlich, Mutter!« Naya zog plötzlich ihre Stirn in Zornesfalten. »Du hast uns nicht über deine Absichten aufgeklärt. Du hast uns alle benutzt. Und schon gar nicht darüber informiert, wie gefährlich dein Vorhaben ist. Und ich meine damit nicht, wie gefährlich für unsere Feinde, sondern auch für uns … und für dich!«

Enya richtete sich ein wenig in ihrem Bett auf und wehrte die zu Hilfe eilenden Hände ihrer Tochter ab. »Hätte ich euch in mein Vorhaben eingeweiht, wäre nur wertvolle Zeit verstrichen. Und ich … wir … hatten keine Zeit zu verlieren! Die Hydren mussten überrascht werden.«

»Sie hätten uns früher über diese … Möglichkeit ins Bild setzen können«, warf Amélie Colbert ein. »Sie haben das wahrscheinlich schon vor Monaten mit den beiden Trutt-Frauen ausgeheckt. Damals, im Januar dieses Jahres, als Sie sich für volle vier Tage an Bord eines der Kokonschiffe befanden.«

Enya nickte bestätigend. »Ja, wir haben damals viele Möglichkeiten durchdiskutiert, wie sich die Menschheit und alle anderen Rassen der Milchstraße dieser Gefahr erwehren könnten. Die Trutt sind grundsätzlich eine friedliche Spezies. Aber auch sie kämpfen um ihr nacktes Überleben und sind zu Schritten bereit, die … effektiv sein können.«

»Nun, effektiv war Ihr mentaler Gegenschlag auf jeden Fall, Enya.« Die Französin schüttelte dennoch ihren Kopf, sodass ihre schwarze Pagenfrisur hin und her tanzte. »Aber wie haben Sie das gemacht?«

Enya lächelte in einer Weise, in der lediglich eine winzige Prise Humor steckte. Alle verstanden sofort, dass dieses Lächeln der Clan-Chefin eine überraschend geringschätzige Selbstbewertung des Erreichten bedeutete und keinesfalls eine Verniedlichung ihrer tödlichen Tat darstellte.

»Die Slide sind seit wer weiß wie lange schon Sklaven der Hydren«, begann die Rigelianerin ruhig. »Und jeder Sklave – ob nun in dieser Dimension oder in ihrer – dürfte den Traum von Freiheit träumen. In diesem Traum steckt die Stärke der Verzweiflung. Wenn diese irgendwann groß genug geworden ist, ist sie wie ein Vulkan, der vor einem Ausbruch steht. Unbändige Wut … Kraft … explosive Kraft. Ich habe den Slide lediglich einen Weg gezeigt, diese zu nutzen. Sie gegen ihre Unterdrücker zu wenden. Und die Freiheit zu erlangen.«

Bérénice fühlte bei diesen Worten etwas in ihr lauern, so als würde auch in ihr etwas schwelen … sich sammeln … und doch entfliehen, sobald sie danach zu greifen versuchte. Das Einzige, was sie bei einer Frage dazu hätte entgegnen können, wäre eine Parallele zu Enyas Worten gewesen. Und doch mit einem gänzlich anderen Inhalt. Von allen anderen unbemerkt, schob sie das Gefühl wie ein lästiges Insekt zur Seite, machte sich dennoch einen gedanklichen Haken und setzte ein ebenso stummes Später hinzu.

Für ein paar Augenblicke schwiegen alle. Dann sah Amélie Colbert Enya gespannt in deren jetzt völlig nüchtern blickende Augen. »Besteht die Chance, es auch bei anderen Angriffen der Hydren in gleicher Weise zu tun? Ich sehe ja, wie sehr Sie es angestrengt haben muss.«

Bérénice und Naya nickten heftig mit ihren Köpfen. Bevor aber Naya sprechen konnte, ergriff die Haitianerin das Wort. »Anfangs fühlte ich mich nur wie ein unerfahrener Teenager, der urplötzlich in eine Gruppe Erwachsener gestoßen wurde. Binnen kurzer Zeit erfasste mich ein Sog, beziehungsweise meine bescheidenen Mentalkräfte, dem ich nur zu bereitwillig folgte.« Bérénice stockte. »Sehe ich das richtig, wenn ich jetzt sage, dass ich mich bei anderen Gelegenheiten niemals so naiv verhalten sollte? Ein feindlicher Mutant könnte mein Angebot skrupellos ausnutzen und mich geistig … aussaugen

»Ja, so etwas könnte durchaus passieren.« Enya sah die Gefährtin ihrer Tochter ernst an. »Aber Sie sind intelligent genug, um sich nicht noch einmal unüberlegt in eine körperliche Verbindung zu begeben, die überhaupt so eine Konzentration von Mutantenkräften erst möglich macht. Ein einzelner Mutant hätte niemals einen so umfassenden Selbstmord-Befehl ins All stoßen können. Und ich frage mich seit dem Treffen mit den Trutt, was die Hydren als Antwort auf unsere Suicide-Squad ins Spiel bringen könnten.«


  1. EEG: Abkürzung für Elektroenzephalogramm. Bezeichnet die grafische Darstellung elektrischer Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche eines Patienten, welche durch zahlreiche Sonden gemessen werden.

  2. Danaergeschenk: ein sich für den Empfänger als unheilvoll und schadenstiftend erweisendes Geschenk. Der Begriff stammt aus der griechischen Mythologie. Benannt ist er in Anlehnung an das hölzerne Trojanische Pferd, mit dessen Hilfe die Danaer (bei Homer eine allgemeine Bezeichnung für Griechen/Hellenen) die Stadt Troja erobern konnten.

Ultraraum

Lemurr − nach dem Hydren-Angriff auf das Mazzar-Kernsystem und dem Tod seiner Familienmitglieder nun in die Position des Ersten Spenders der Nestmutter aufgestiegen − klackte nervös vor sich hin und war sich dabei völlig bewusst, dass er damit auf seine Umgebung wenig hoheitlich wirken dürfte. Sein relativ kleines, dafür aber prächtiges Diplomaten-Schiff, die ZUNGENSCHNALZER, war so schnell wie jedes Kurierschiff der Krötenabkömmlinge. Als zusätzliche Besonderheit war es äußerst massiv gepanzert. Beides – Schnelligkeit und Robustheit – sollte die allerhöchsten Vertreter der Mazzar-Gesellschaft bei Raumflügen schützen. Und trotzdem fühlte sich der oberste männliche Mazzar so, als würde er ständig einen Blitzer an den Schädel gedrückt bekommen.

»Wie lange noch?«, fragte er zum gefühlt hundertsten Mal und erhielt wieder die Antwort, die er bis auf die Zeitangabe fast wortgleich auf seine letzte Frage erhalten hatte. Und er erhielt sie in der gleichen respektvollen Weise, auch wenn der betroffene Mazzar-Offizier aus seiner Stimme eine leichte Genervtheit nicht verbannen konnte.

»Erster Spender der Nestmutter: Wie schon einmal gemeldet, werden wir den Planeten Harrathar beim Erblühen der Sonne über dem Zentralkomplex erreichen. Ihr erinnert Euch sicher. Von diesem Zungenschnalzer an gerechnet also in nicht mehr als drei Zehntel Gezeitenwechseln1

»Und wann kommen wir in Com-Reichweite?«

»Wir könnten sofort aus dem Ultraraum austreten und einen Funkversuch starten, Erster Spender. Aber Sie erinnern sich natürlich daran, dass die Atmosphäre der Blitzwelt jeglichen Funkkontakt verhindert.«

Lemurrs Antwort darauf war ein leises und mehrfaches Schnalzen mit seiner Zunge, welches eine der zahlreichen mazzarischen Gesten für Ungeduld darstellte, aber auch Eile und Schnelligkeit bedeuten konnte. Der Ton des Mannes, den er sehr wohl vernommen hatte, und die Parallele zu dem Schiffsnamen, bewegten Lemurr dazu, sich zusammenzureißen.

»Anscheinend haben die Menschen mich um eine Mission gebeten, die eher meiner Sicherheit geschuldet ist«, grummelte Lemurr mit leisen, klickenden Geräuschen vor sich hin. Die Mazzar in seiner direkten Umgebung nahmen sie dennoch wahr.

Um sich selbst ein wenig zu beruhigen, wandte er sich an eine der jüngeren Beraterinnen, die ihm nach dem Desaster auf und um seiner Heimatwelt zugeführt worden war.

»Was denken Sie, Beraterin Oyvenn?«

Die Mazzarin erhob sich aus ihrem Andrucksessel und machte zwei Schritte, eher elegante Hüpfer, auf das Mitglied der Herrscherfamilie zu.

»Dieses Schiff fliegt mit maximaler Geschwindigkeit, Erster Spender. Ein Zwischenstopp würde nur wertvolle Zeit kosten. Die Wahrscheinlichkeit, dabei auf ein Mazzar-Schiff zu stoßen, welches die Warnung schneller als wir befördern könnte, geht gegen null.« Sie gab mit ihrer Schallblase leise, knarrende Geräusche von sich. »Eure Mission, Hoheit, ist äußerst wichtig. Die Menschen hätten vielleicht Agentin Savoy nach Harrathar geschickt. Aber diese lag bei unserem Alarmstart noch in tiefer Bewusstlosigkeit. Und wer außer Euch, Erster Spender, würde sonst Arliss davon überzeugen können, die von den Menschen überlassenen Bomben bei einem Hydren-Angriff nicht zu benutzen?«

Lemurr reagierte nicht sofort auf Oyvenns Entgegnung, sondern schien in den Schlieren des Ultraraumes auf dem Hauptmonitor eine weitere Bestätigung zu suchen. Schließlich blinzelte er ein paar Mal rasch mit seinen Nickhäuten.

»Sie haben sicher recht, Beraterin. Aber ich stelle mir seit unserem Start praktisch in jedem Zungenschnalzer vor, dass gerade ein Mazzar-Kommandant auf die Taste drückt, welche die Menschenbomben gegen Hydren-Schiffe schleudern lassen soll … und in einem Feuerball vergeht, als würde die Große Mutter alle Nester mit göttlicher Strafe verheeren.«

Oyvenn begriff sofort, dass Lemurrs Zustimmung zu ihren Worten ihn nicht wirklich beruhigen konnte und fügte ein weiteres Detail an, das ihm natürlich ebenfalls bekannt war. Dennoch zeigte sie den Mut, ihren Souverän daran zu erinnern.

»Die Menschen haben – kaum, dass ihr Geheimdienst die Manipulation der Bomben durch diese Terroristen bestätigt hatte – fast 100 Kurierschiffe zu allen Mazzar-Stationierungen entsandt, die wir ihnen als mögliche Ziele für Hydren-Angriffe benannt hatten.«

Sie stockte für die Dauer von zwei, drei Schnalzern, dann fuhr sie noch leiser als zuvor fort.

»Wir müssen allerdings damit rechnen, dass einige unserer Kommandantinnen auf die Idee kommen könnten, Teilvorräte dieser Waffen auch an andere exponierte Habitate des Reiches weiterzugeben. Und diese Ziele sind dann weder uns, geschweige denn den Terranern bekannt.« Noch einmal hielt sie kurz inne. »Erster Spender: Es wäre zu optimistisch, würden wir erwarten, dass wir alle gefährdeten Standorte rechtzeitig warnen können. Es wird Opfer durch diese Bomben geben, Hoheit!«

Sie unterließ es, ihm auch einen Rat für die befürchtete Katastrophe zu geben. Oyvenn schien zu erkennen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Schließlich begab sie sich wieder an ihren Platz und überließ den Ersten Spender seinen Gedanken.

Für die restliche Dauer ihres Fluges blieb Lemurr stumm, den Blick fast totenstarr auf das Wirrwarr des Ultraraumes gerichtet.

Als dann endlich das ersehnte Klacken des unmittelbar bevorstehenden Wiedereintritts in den Einsteinraum erschallte, zuckte Lemurr zusammen, als hätte ihn eine samboll’sche Faustfliege gestochen. Er empfand den Schmerz des Übergangs aber eher als Erleichterung und sah, wie rasch seine Kommandantin Ticall ihre eigenen Schmerzwellen in den Griff bekam.

Unvermittelt klackte es befehlsgewohnt aus dem Krötenmaul der Mazzarfrau, die sich während der bisherigen Reise auffallend zurückgenommen hatte. Jetzt schoss sie förmlich einen Befehl nach dem anderen ab:

»Orterstation: Den Orbit und die Umgebung Harrathars scannen! Suchen Sie auf allen Bändern, insbesondere nach jenen Frequenzen, die uns der Terranische Geheimdienst als für Slide-Schiff-Signaturen relevant übermittelt hat! Waffenkontrolle: Machen Sie eine einzige unserer Sodom-und-Gomorrha-Bomben abschussfertig; die anderen für sofortige Nachschüsse vorbereiten! Pilot: Nehmen Sie schnellstmöglich Kurs auf die schwächste Stelle des Blitzgewitters, die Sie aktuell erfassen können; höchstens aber in einer Distanz von einem Zehntel des Planetenumfangs. Ich will nicht unnötig Zeit verlieren. Brückenmannschaft: Schutzschirm auf Maximum!«

Ein schneller Blick Lemurrs zur Kommandantin ließ ihn erkennen, dass die kräftige Mazzarin den Beteuerungen der Terraner offenbar vertraute, dass ihre SuGs − trotz aller Eile ihres Aufbruches − gründlich gecheckt, unverfälscht und somit einsatzbereit waren. Vielleicht zeigte sie damit aber nur ihre Abgebrühtheit. Gleichzeitig war Lemurr – wie sicher auch Ticall – bewusst, dass sie lediglich acht dieser Bomben an Bord hatten; mehr hatte die relativ kleine Munitionskammer nicht aufnehmen können. Und ohnehin hatte dieses für repräsentative Zwecke konstruierte Schiff, die ZUNGENSCHNALZER, nur einen einzigen Bombenschacht zur Verfügung, der gleichzeitig auch als Fluchttunnel für ein Evakuierungsbeiboot genutzt werden konnte. Diese Sparsamkeit stammte noch aus einer Zeit, in der einem Mazzar-Leben nur wenig Wert beigemessen worden war. Es sei denn, es handelte sich dabei um einen Vertreter der Herrscher-Familie. Andere Mazzar waren damals entbehrlich gewesen.

Lemurr spukte genau dieser Gedanke durch den Kopf, als die letzten Schlieren des Ultraraumes verschwanden und er einen freien Blick auf das Weltall um den Blitzplaneten werfen konnte.

Wir hätten viel früher Vertrauen in die Terraner fassen sollen. Viele hunderttausend Mazzar könnten noch am Leben sein … und nun dem wirklichen Feind ins Auge blicken.

Lemurr ertappte sich dabei, wie er mit beiden Händen einige seiner Sekretdrüsen knetete. Er versuchte, sie zur Raison zu bringen. Es misslang.

Wie soll ich ein Wiederaufflammen des Krieges mit den Menschen verhindern, wenn Tausende Mazzar durch diese Bomben vor ihrer Zeit ins Ewige Nest gerissen werden? Wie kann ich ihren Verwandten klarmachen, dass die Bomben verfälscht wurden? Und diese – der Manipulation wieder beraubt – unsere einzige Rettung sind? Nein, nicht die einzige Rettung: Die terranischen Mutanten konnten die Hydren-Schiffe zum Selbstmord treiben. Aber wir Mazzar haben keine Mutanten …

Seine Augen hatten ebenfalls zu tränen begonnen und Lemurr musste mehrmals blinzeln, um wieder klar sehen zu können. Für die Dauer eines Schnalzers wusste er nicht, was er sah. Dann erlöste ihn ein Ausruf eines Orters.

»Messe Feindschiffe … Hydren-Schiffe am Rand der Atmosphäre Harrathars an. Distanz noch außerhalb eines sicheren Treffers.«

Lemurr verstand sofort, dass der Mann es noch nicht gewohnt war, zwischen Feinden zu differenzieren … und die Terraner nicht mehr als solche zu betrachten. Und wohl auch nicht, den Schrecken aller Mazzar so nahe an ein hoheitliches Raumschiff fliegen zu lassen.

Wir haben über Jahrzehnte hinweg Hydren-Schiffe aus allen möglichen Distanzen bekämpft. Erfolg hatten wir damit nur wenig. Wir müssen den Angaben der Terraner vertrauen! Wir müssen die Hydren-Schiffe so nahe herankommen lassen, dass sie den Bomben nicht mehr ausweichen können!

Ein anderer Gedanke trug ein wenig zur Linderung seiner Befürchtungen bei.

Wenigstens können die Hydren uns nicht hypnotisieren.

»Ortung! Ich registriere bislang nur drei Hydren-Schiffe.« Der Stimme des Mannes war dennoch anzumerken, dass er durchaus mit mehr Feinden rechnete.

»Waffenkontrolle«, klackte Ticall sofort mit harter Stimme. »Feuer frei auf das vorderste Feindschiff in drei … zwei … eins … jetzt!«

Die Kommandantin verspürte sichtlich, wie alle an Bord, die leichte Erschütterung, als die Sodom-und-Gomorrha-Bombe ins All geschleudert wurde. Lemurr bewunderte die Frau für ihre augenscheinliche Gelassenheit. Ihre Haut glänzte im Gegensatz zu seiner kein bisschen.

Optisch konnte man von dem Abschuss nur ein kurzes Blitzen erkennen, als die Bombe ihren eigenen Antrieb zuschaltete und enorm an Tempo zulegte. Mit Faszination verfolgten die Mazzar der Ortungsstation, wie die Bombe selbstständig ihren Kurs auf das programmierte Ziel korrigierte, als dieses sich zu bewegen begann. Die an Bord des lebenden Schiffes befindlichen Hydren sahen offensichtlich nur ein Objekt heranrasen und verließen sich auf den bisher zuverlässig funktionierenden Schutz des Paraschirms ihres Slide-Sklaven. Als die Bombe ihr Ziel erreichte, war es zu spät für ein erfolgversprechendes Ausweichmanöver.

Das Hydren-Schiff blähte sich in Sekundenschnelle auf und verging in einem enormen Glutball. Die beiden anderen Schiffe der Schlangen stoppten ihren Flug und schienen ein Wendemanöver starten zu wollen. Doch Ticall hatte ihre Waffen-Crew bestens ausgewählt. Auf ihre knappen Kommandos hin, schossen in Rekordzeit zwei weitere SuGs nacheinander aus dem Schacht, trafen das erste der übrig gebliebenen Schiffe mitten in der Drehbewegung, das zweite, als es massiv zu beschleunigen versuchte.

Hier zeigt sich, dass biologische Wesen es mit hochgezüchteten Maschinen nicht im Ansatz aufnehmen können, dachte Lemurr beeindruckt. Selbst unsere Raketen und Torpedos sind den Lebendschiffen zumindest an Geschwindigkeit überlegen. Der Technologie der Terraner haben sie nichts entgegenzusetzen.

Und noch ein Gedanke ließ den Ersten Spender seine Sekretproduktion endlich eindämmen:

Weder die Hydren, noch die Slide, werden ihre physischen Funktionen in absehbarer Zeit ändern können. Die Slide würden dies ohnehin nicht anstreben. Selbst wenn die Schlangen eine Möglichkeit sähen, ihre Zuchtprogramme zu optimieren, dürfte das Jahre dauern. Und ich hoffe, dass wir lange davor – zusammen mit den Menschen und all unseren alten und neuen Verbündeten – eine endgültige Lösung der Gesamtsituation erreichen werden.

»Ortung!« Das Wort trug einen fast panischen Unterton, der Lemurr schlagartig aus seinen hoffnungsvollen Gedanken riss. »Mehrere Hydren-Schiffe stoßen aus der Corona der Sonne hervor. Entweder haben sie sich dort aufgehalten, um ihre Paraschirme aufzuladen oder um sich vor einer Entdeckung zu schützen. Ich zähle 41 … 57 … 112 … 113 Hydren-Schiffe!«

»Diese Hydren haben natürlich den Tod ihrer drei Lebendschiffe bemerkt, Erster Spender«, stieß Ticall an Lemurr gerichtet hervor. »Nachdem wir nur noch fünf SuGs an Bord haben, schlage ich eine sofortige Landung auf Harrathar vor, Hoheit. Vielleicht genügen die restlichen für eine Weile, um Arliss´ Mannschaften die Rückmontage der gelieferten Bomben zu ermöglichen. Die Pläne dafür haben wir dabei. Die Blitzhülle dürfte auch ihren Beitrag zu einem entsprechenden Zeitvorsprung leisten.«

Lemurr wusste wie seine Kommandantin genau, dass jedweder Transfer durch das Permanent-Gewitter des Planeten ein Vabanquespiel war, hoheitliche Panzerung der ZUNGENSCHNALZER hin oder her. Und mindestens 108 auf dem Planeten befindliche SuGs kampfbereit zu machen, kostete sicherlich viel Zeit.

Aber bleibt uns eine andere Wahl?

»Tun Sie es!«, presste Lemurr mit seltsam klingenden Klacklauten hervor.


  1. (mazzarischer) Gezeitenwechsel: Basis für das Zeitsystem der Krötenabkömmlinge; bezieht sich auf den Wasserstand der Hauptwelt Mazzar. Ein Gezeitenwechsel der Zentralwelt findet alle 7,5 Terra-Standardstunden statt. 3/10 entsprechen somit 2,25 irdischen Stunden.

Déjà-vu 1

Bérénice saß in einem Sessel und beobachtete die Fische, die neugierig an dem riesigen Panoramafenster der Klinik auf dem Meeresgrund vor der Insel New Atlantis vorbeizogen. Kein Mensch hielt sich in ihrer Nähe auf und im Augenblick war sie froh darüber. Ihr Gehirn überflutete sie mit Gedankenfetzen, bei denen sie sich nicht sicher war, ob es wirklich ihre eigenen waren oder die von anderen Wesen. Alte Ängste von Fremdbestimmtheit lauerten am Rande ihres Verstandes und hielten sie mehr beschäftigt, als ihr lieb war. Noch immer fühlte sie sich schwach, leer wie ein Fass nach einem Saufgelage. Ein mentaler Nachhall ließ sie die tödliche Aktion Enyas wieder und wieder erleben.

Sie hat das mit Daneeh und Loraah von langer Hand geplant. Denn sonst hätte sie die MOBY DICK und die anderen Überläufer von den Trutt nicht irgendwohin in Sicherheit bringen lassen. Wahrscheinlich war sie sich selbst nicht sicher, ob und wie ihr Mutanten-Ring funktionieren würde. Das Risiko, die wertvollen Lebendschiffe zu verlieren, wollte sie nicht eingehen.

Sie schloss die Augen und war sich dabei der Anwesenheit des Kampfroboters Freitag bewusst, den sie als Einzigen im Moment bei sich duldete. Der BEHEMOTH der Klasse III stand nur ein paar Schritte von ihr entfernt und gab keinen Laut von sich. Selbst Naya hatte sie weggeschickt, mit der lahmen Begründung, dass diese ebenfalls noch großen Erholungsbedarf hätte und dabei keinerlei Ablenkung erfahren sollte, auch wenn es eine willkommene oder gar erotische hätte sein können.

Bérénice lächelte bei dem Gedanken und freute sich ehrlich auf Stunden mit der Rigelianerin, die mehr von Sinnlichkeit und Lust erfüllt sein würden, als von Kampf und parapsychischen Gewaltaktionen. Dann erlosch ihr Lächeln.

Wie erfindungsreich wir Menschen doch im Krieg sind. Wir besitzen jetzt Anti-Hypno-Stirnbänder, die Einzelpersonen vor einer geistigen Übernahme schützen können. Die Produktion der Dinger läuft auf Hochtouren, hat mir Präsident Diya versichert. Und jetzt können wir den Hydren sogar auf ihrem eigenen Kampfplatz – dem Geist – Widerstand leisten. Die Roboterflotten lassen sich sowieso nicht vereinnahmen und von Menschen geführte Schiffe haben neue fürchterliche Bomben an Bord. Ich dachte immer, die Kaskadenbombe als Planetenkiller wäre das Ende einer scheinbar unaufhaltbaren Entwicklung. Erstaunlich, wie oft sich das Haiku dieses nur einigen Wenigen bekannten deutschen Dichters auch heute noch bewahrheitet.

Krone der Schöpfung?

Größtes Raubtier auf Erden.

Reißzähne im Kopf.

Sie öffnete die Augen und gönnte sich den Anblick zweier Schmetterlings-Schleimfische, die sie an ein ungleich monströseres Tier erinnerten, das ein ähnliches Körpermuster und aufgestellte Rückenflossen besessen hatte … damals auf Samboll, nahe der geheimen Mazzar-Station unter dem Meer.

Krankenstation … Meeresgrund … Fischmonster.

Die beiden harmlosen irdischen Fische verwandelten sich vor den Augen der Haitianerin scheinbar in die exotische Kreatur, von der sie erst später von Freitag Aufnahmen vorgespielt bekommen hatte, da sie beim damaligen Tauchgang nur Schemen derselben gesehen hatte und anschließend bewusstlos gewesen war. Mit gefasster Anspannung, aber Faszination, gab sich die Agentin dem Déjà-vu hin, und versuchte die Botschaft darin zu erkennen, welche ihr das eigene Gehirn damit zu vermitteln gewillt schien.

Beide Szenen – die reale mit den irdischen Fischen und die vergangene auf Samboll – wurden urplötzlich hinweggewischt. Das Déjà-vu wurde von einem Bild ersetzt, welches Bérénice für den Bruchteil einer Sekunde ein anderes Meer zeigte: Pflanzen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, ein einzelnes Lebewesen, von dem sie nicht hätte sagen können, ob es ein Fisch oder etwas anderes war. Auch die Farbe des Wassers kam ihr mehr als seltsam vor. Und doch war es kein Bild gewesen …

Das Vieh hat geblinzelt.

Bérénice schüttelte alle verwirrenden Eindrücke von sich und sah sich um.

Kein Mensch.

Kein Mutant.

Keine Hydra.

Was hat mein krankes Gehirn da schon wieder ausgespuckt?, dachte sie und erhob sich zögernd.

»Fühlen Sie sich wohl, Agent Savoy?« Die Stimme Freitags brachte sie endgültig in die Wirklichkeit zurück.

»Danke, mir geht es gut«, behauptete sie, obwohl ihr Herz um etliche Takte schneller schlug. »Ich sollte endlich wieder aktiv werden, Freitag. Und ich sehe keine andere Möglichkeit, das Hydren-Problem aus der Welt zu schaffen, als durch deren … Mithilfe.«

Der Kampfroboter schwieg für ein paar Sekunden, dann machte er einen Schritt auf sie zu und sah sie direkt an. »Ich kann dieser Aussage aus militärischen Gründen niemals zustimmen, Agent Savoy. Nach allem, was wir über die Schlangenwesen in Erfahrung bringen konnten, dürften Sie keine Chance haben, mit ihnen in Verhandlungen treten zu können. Die bisherigen Fortschritte hinsichtlich unserer Abwehrmöglichkeiten sind durchaus …«

»Das ist nicht genug, Blechschädel!«, fuhr sie ihn heftiger an, als sie es eigentlich wollte oder er verdient hätte. »Wir können nicht einfach hingehen und alle Hydren abschlachten, die uns über den Weg laufen! Wir müssen sie dazu bringen, ihre Angriffe einzustellen und uns – am besten gemeinsam – an einer technischen Variante des Slidens arbeiten zu lassen.«

»Ich besitze kein Programm zur psychologischen Auswertung Ihrer Absichten, Agent Savoy. Aber ich darf feststellen, dass Ihr angedeuteter Plan zum Scheitern verurteilt ist und Sie bei dem Versuch mit einer extrem hohen Wahrscheinlichkeit den Tod finden dürften.«

Dass er auf eine prozentuale Angabe seiner Bewertung verzichtete, ließ Bérénice viel deutlicher als eine nackte Zahl erkennen, dass er damit recht hatte.

»Ich muss es dennoch versuchen«, sagte sie lahm und glaubte in seinen elektronischen Augen ihr eigenes Todesurteil erkennen zu können. »Wir fliegen in den Nexus!«

Einsteinraum

Lemurr war kein Feigling. Aber der Anblick, der sich ihm bot, ließ seine Haut vor Feuchtigkeit nur so glänzen. Dass fast alle in der Zentrale des Mazzar-Diplomatenschiffes ebenso empfanden, entging ihm, da er es nicht wagte, seine Augen vom Geschehen abzuwenden. Zu seiner Freude gelang es ihm, mit seinem Krötenmaul selbstbewusste Klacklaute zu erzeugen.

»Hier spricht der Erste Spender: Beraterin Arliss, bitte kommen!«

Lemurr verfolgte das wahnwitzige Manöver, mit dem der Pilot auf Geheiß seiner Kommandantin Ticall die ZUNGENSCHNALZER auf eine Stelle zurasen ließ, die scheinbar schwächer von Blitzen heimgesucht wurde als andere Bereiche der tobenden Atmosphäre Harrathars.

Wie harmlos doch Violetta III im Vergleich zu unserem Namen klingt, dachte er dabei und war sich der Übersetzung des mazzarischen Wortes deutlicher bewusst, als je zuvor in seinem Leben.

Harrathar … der zuckende Tod.

Werde ich heute sterben? Findet meine neue Position im Reich Mazzar ein frühzeitiges Ende? Wer wird schneller das Chaos aus Blitzen durchstoßen können? Die Hydren oder wir?

Der Erste Spender musste sich förmlich dazu zwingen, seine Augen vom Hauptbildschirm weg und auf die hektisch arbeitende Brückenbesatzung hin zu lenken. Die Krallen der Flug-Crew hackten wie besessen auf ihren Armaturenpulten herum, als wollten sie die Belastbarkeit der einzelnen Tasten einem Härtetest unterziehen. Nicht viel anders sah es bei den Mazzar der Com-Station aus. Sie versuchten mit allen Tricks, die Störeinflüsse der unentwegt zuckenden Mäander aus tödlicher Energie einzudämmen. Dabei war allen klar, dass ihre Versuche fruchtlos bleiben würden. Je näher sie der Atmosphäre des Planeten kamen, desto aussichtsloser waren ihre Bemühungen. Eine Mazzarin nahm sich tatsächlich die Zeit, dem hoffnungsvoll blickenden Lemurr ihr verzweifeltes Gesicht zuzuwenden.

»Keine Chance, Hoheit. Bevor wir das Blitzgeflecht nicht durchflogen haben …«

»Eine Gruppe Hydren-Schiffe hat sich von ihrer Flotte abgesondert und unsere Verfolgung aufgenommen«, kam es von der Orter-Station. Die Stimme des Mannes trug mit unheilvollen Klacklauten die für alle darin verborgene Botschaft. »Sieben Schiffe!«

Und wir haben nur noch fünf SuGs an Bord!

»Die wollen sich an unsere Krallen heften und mit uns das Gewitter durchfliegen«, kam es scheinbar gefasst und nüchtern von Ticall. »Waffenoffizier: Terra-Bombe bereit zum Abschuss?« Allein, dass Ticall fragte, bewies Lemurr, dass ihre Beherrschtheit nur äußerlich war.

»Bereit, Kommandantin.«

»Waffen-Crew: Klar für raschen Einsatz aller SuGs? Warten Sie aber auf meinen Befehl!«

»Klar und verstanden, Kommandantin.«

Dann tauchten sie endlich in die Schicht ein, die irgendwann jemand als Fluch und Segen des Planeten bezeichnet hatte. Schutzblenden schoben sich über alle Monitore und ließen die sonnenhellen Verästelungen auf ein erträgliches Maß sinken. Ein Besatzungsmitglied war so geistesgegenwärtig, den Bereich hinter ihnen durch ein Ortungsgerät grafisch darstellen zu lassen. Für die Dauer eines Schnalzers konnte man ein paar der fast nachtschwarzen Verfolger als simple Punkte erkennen, dann nur noch einen.

Schließlich befanden sie sich inmitten des Irrsinns. Statisches Knistern in schmerzhafter Lautstärke verkündete, dass sie gerade erst begonnen hatten, die Atmosphäre zu durchdringen und noch weit davon entfernt waren, sie unbeschadet hinter sich zu lassen. Dennoch bemühte sich die Com-Crew mit neuer Hoffnung, Verbindung mit der planetaren Mazzar-Besatzung aufnehmen zu können.

Plötzlich traf sie ein heftiger Stoß und schleuderte das Schiff seitlich weg. Ein Schatten raste an ihnen vorbei … und verging an einem Kreuzungspunkt von nicht weniger als fünf gewaltigen Blitzen, die von dem Hydren-Schiff nur Aschepartikel übrigließen, die sofort in alle Richtungen auseinandergefegt wurden.

Lemurr starrte auf die elektronischen Anzeigen seines Pultes, da die optischen Systeme aufgrund der massiven Energiekaskade, in der das Slide-Wesen vergangen war, kläglich versagten. Drei hartnäckige Anzeigen konnten nichts anderes bedeuten, als dass ihnen drei Hydren an den Krallen klebten.

»Wir dürfen die Schlangen nicht auf Harrathar gelangen lassen, Ticall!«

»Habe ich auch nicht vor, Hoheit«, klackte Ticall und ließ die Verfolger nicht aus den Augen. »Waffenkontrolle: nicht feuern!«

»Hier Ortung: Die drei Slide-Schiffe schließen rasch auf.«

»Verstanden Ortung. Dennoch: nicht schießen!«

»Passieren Blitzhülle in drei … zwei …«

»Ortung: Feindschiffe aufgrund des Blitzgewitters nicht mehr erfassbar.«

Niemand setzte diese Information mit einem Rückzug der Feindschiffe gleich. Trotzdem erklang ein mehrfaches Lippenflattern, das einen Menschen dazu gebracht hätte, sich nach scheinbar vorhandenen schnaubenden Pferden umdrehen zu lassen. Doch die Erleichterung hielt nur einen Zungenschnalzer an. Zwei gewaltige Detonationen ließen die Vermutung zu, dass ebenso viele Slide den violetten Entladungen zum Opfer gefallen waren.

»Blitzhülle jetzt durchstoßen … ein Slide-Schiff folgt uns.«

»Feuer frei!«, stieß Ticall sofort hervor und wieder spürten alle den Ausstoß der Bombe.

Sind wir weit genug entfernt?

Lemurr hatte seinen Gedanken kaum beendet, als gleichzeitig ein Feuerball und ein heftiger Stoß die ZUNGENSCHNALZER erfassten und in ein rotes Flammenmeer hüllten, das sie auf den wieder nutzbaren Monitoren verfolgen konnten.

»Hier Ortung! Kein weiteres Slide-Schiff erfassbar. Die anderen Verfolger müssen sich zurückgezogen haben.«

»Sie haben eingesehen, dass sie mit so einer kleinen Gruppe keine Chance haben.« Ticall wandte sich Lemurr zu. »Es dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis sie einen Ring bilden werden … wie schon einmal.«

Genau wie Ticall hatte auch Lemurr die Beschreibung dieses Manövers von Agentin Savoy erhalten. Bevor der Erste Spender etwas sagen konnte, drang das erleichterte Lippenflattern eines Com-Offiziers zu ihnen.

»Kontakt! Audio-Verbindung zu Beraterin Arliss steht! Vid-Verbindung … jetzt!«

Das Bild der im gesamten Reich Mazzar berühmten Beraterin verlor noch ein paar Störeffekte, dann strahlte es stabil vom Hauptmonitor herab.

»Lemurr? Sind Sie es wirklich? Wieso wagt der Erste Spender der Nestmutter eine Landung auf Harrathar? Wir haben eine mächtige Detonation mitbekommen. Haben Sie eine Eskorte verloren?«

Lemurr strich sich rasch mit einer Klaue über die geschlossenen Augen, riss sie dann aber sofort wieder auf. »Nein, Beraterin. Das war ein Hydren-Schiff, welches versuchte, uns auf diese Welt zu folgen. Zwei weitere fielen den Blitzen zum Opfer, dieses dritte haben wir abgeschossen.«

»Mit einer dieser neuen Terra-Bomben, wie ich annehmen darf. Meinen Glückwunsch an Ihre Waffen-Crew, Erster Spender. Eine tolle Leistung, wenn man bedenkt, dass Sie ein Diplomatenschiff …«

Statt die entsprechende Mazzar-Geste zu zeigen, schüttelte Lemurr auf terranische Weise heftig mit dem Kopf und Arliss verstummte augenblicklich. Lemurrs nächste Sätze kamen so schnell, dass sein Klacken wie Dutzende Stahlkugeln klang, die über ein Steinpflaster kullerten.

»Um Harrathar lauert eine Hydren-Flotte aus über einhundert Slide-Schiffen, Beraterin. Und wir können alle die Große Mutter anrufen, dass uns genügend Zeit bleibt, Ihre Terra-Bomben einsatzbereit zu machen.«

»Das sind sie längst, Erster Spender.« Arliss´ Stimme trug einen merklich beleidigten Unterton.

»Nein, sind sie nicht! Die terranische Terroristengruppe Titanenkinder hat die Bomben manipuliert. Sie detonieren im Augenblick ihrer Aktivierung!«

Arliss erstarrte und bewies mit ihren nächsten Worten, dass sie völlig zu Recht eine hohe Position im Reich Mazzar einnahm: »Sie wissen, wie wir diese Sabotage rückgängig machen können.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Der Großen Mutter sei Dank: ja!«, antwortete Lemurr und verfolgte aus einem Augenwinkel, wie Ticall die ZUNGENSCHNALZER auf einen der vielen Raumlandehäfen zufliegen ließ. »Eigentlich verdanken wir diese Information einer Terroristin, die sich kurz vor ihrem Selbstmord ihrem Mann offenbart hat. Aber die Behebung der Manipulation kostet Zeit, Beraterin Arliss. Wir haben nur noch vier funktionstüchtige SuGs an Bord, um eventuell durchdringende Slide-Schiffe vernichten zu können. Den Rest muss einstweilen die Atmosphäre für uns erledigen.« Er sah kurz zur Seite und empfing das bestätigende und rasche Nickhautblinzeln Ticalls. »Wir senden Ihnen bereits die detaillierten Anweisungen, wie die Bomben wieder in Funktion gesetzt werden können. Bitte weisen Sie Ihre Techniker an, mit äußerster Eile, aber dennoch mit maximaler Präzision zu arbeiten.«

»Wie lange dauert eine Korrektur pro Bombe?«, kam es sachlich von der Mazzarin zurück.

»Ein Terraner-Team aus zwei Spezialisten benötigt nicht ganz eine ihrer Standard-Stunden.« Lemurrs Stimme klang zerknirscht. »Wir verfügen über deutlich gröbere Klauen als die Menschen und sind daher auf bestimmte Werkzeuge angewiesen, die wir seit Beginn des Mazzar-Mensch-Krieges in jedem Schiff und jeder Basis besitzen. Die Agentin Amélie Colbert gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass es ein Mazzar-Duo in vielleicht der doppelten Zeit schaffen könnte.«

»Harrathar ist ein Werft-Planet, Erster Spender«, entgegnete Arliss selbstbewusst. »Praktisch jeder stationierte Mazzar ist ein Spezialist. Ich lasse alle Bomben gleichzeitig korrigieren, ständig überwacht von zwei weiteren Technikern. Ich garantiere Ihnen, Hoheit, dass wir mit jedem Schnalzer schneller werden.«

Das Schiff Lemurrs stand im Stand-by-Modus seiner Antriebe auf seinem Landeplatz. Doch kein einziges Besatzungsmitglied verwechselte die momentane Ruhe mit der Überwindung der Gefahr. Ohnehin erinnerte sie das ständige Gewitter aus violetten, blauen und blutroten Blitzen daran, dass sie sich auf einer der tödlichsten Welten des Reiches befanden. Niemand dachte auch nur entfernt daran, die Hydren könnten sich aufgrund des Verlustes von ein paar Slide-Schiffen komplett zurückgezogen haben. Etwa die Hälfte der voraussichtlichen Rückmontage-Zeit war verstrichen und mittlerweile glänzte auch Ticalls Haut, als hätte man sie mit Wasser übergossen. Die Stille in der Zentrale des Diplomatenschiffes wurde nur durch die Stimmen und Bilder unterbrochen, die permanent von mehreren Orten des Planeten auf den Hauptmonitor übertragen wurden. Gespannt verfolgten die Mazzar an Bord die hektische Arbeit ihrer Artgenossen in vielen Hangars und Waffenmagazinen überall auf dem Blitzplaneten.

Oyvenn hatte nur kurz ihre ehemalige Ausbilderin Arliss begrüßt und saß nun in unmittelbarer Nähe Lemurrs. Die junge Beraterin verstand nur zu gut, was in ihrem Souverän vorgehen musste und flatterte wie jeder in der Zentrale erleichtert mit den Lippen, wenn wieder ein Team den Abschluss seiner Arbeit verkündete.

»Die erste Terra-Stunde ist verstrichen, Hoheit«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Mehr als 70 Bomben konnten schon …«

Plötzlich geschahen mehrere Dinge so rasch hintereinander, dass die zaghaft aufkeimende Hoffnung schlagartig auf null zurückgesetzt wurde.

»Ortung! In einer Entfernung von 7.650 terranischen Kilometern bildet sich der erwartete Ring aus Slide-Schiffen. Die Hydren versuchen, in der Atmosphäre einen Durchgang für ihre Flotte zu schaffen.«

Niemand wunderte sich darüber, dass die Meldung ein terranisches Maß beinhaltete. Die sonst übliche Mazzar-Einheit Durststrecke1 wäre gerade auf der zerklüfteten Oberfläche Harrathars ziemlich ungenau gewesen.

Für die Dauer eines Herzschlages schoss der jungen Beraterin der Gedanke durch den Kopf, dass die Terraner auch aufgrund solcher Details zu einer exakteren und fortschrittlicheren Technologie gelangt waren, als die im Grunde immer noch in evolutionären Begriffen denkenden Mazzar. Mit neuem Unbehagen wandte sie ihren Blick auf eines der Reparaturteams, welches verbissen an seiner Sodom-und-Gomorrha-Bombe arbeitete und wie Oyvenn das entnervende Klacken des Alarms zu ignorieren versuchte.

»Alarmstart!«, donnerte Ticalls Befehl durch den Raum, und versetzte der Brückenbesatzung einen imaginären Peitschenhieb, auf den diese nur gewartet zu haben schien. Hektische Betriebsamkeit löste die nur mühsam gebremste Tatkraft der Männer und Frauen ab. »Ziel: der Ring aus Feindschiffen. Waffen-Crew: SuG auf mein Kommando!«

Von allen Seiten kamen die Bestätigungen der Offiziere und Oyvenn begriff mit unvermittelt aufsteigendem Stolz, dass alle Mazzar des Diplomatenschiffes sehr wohl auch an Bord eines Kampfraumschiffes ihren Dienst hätten leisten können.

Wieder sah sie zu einem der planetaren Spezialisten-Teams und hatte augenblicklich den Eindruck, dass etwas falsch an dem Bild war. Nach nur einem Lidschlag wurde das Bild abrupt schwarz und ein neuer Alarm fiel in das Crescendo des ersten ein.

»Tausend faule Eier!2 Macht diesem Lärm ein Ende!« Kommandantin Ticall war bekanntermaßen eine von etlichen Militärs, welche eine längst überfällige Überarbeitung mazzarischer Alarmsignale forderten. Sie verfochten die Ansicht, dass infernaler Lärm die Denkfähigkeit von Besatzungsmitgliedern eher hemme als fördere. Laut der Forderung dieser Gruppe sollten die Alarme zwar deutlich, aber immens nervenschonender gestaltet werden.

»Ortung!« Der Ausruf einer Frau riss Oyvenn aus ihrem Schock. »Eine Bombe ist detoniert. Leider ist auf den Aufnahmen nicht zu sehen, welchen Fehler das Team gemacht hat.«

Niemand entgegnete etwas darauf. Nur die Bewegungen wurden schlagartig konzentrierter; rasch, aber mit mehr Respekt vor dem, was ein falscher Handgriff auszulösen vermochte. Allen war klar, dass die ZUNGENSCHNALZER im Augenblick das einzige Schiff war, das sich dem Feind entgegenstellen konnte.

Natürlich würden die bereits verwendbaren SuGs schnellstmöglich wieder an ihre Bestimmungsorte verbracht werden. Aber bis das geschehen würde und die betreffenden Schiffe oder Abschussrampen wieder kampfbereit wären, würde dennoch eine gewisse Zeit verstreichen.

Oyvenn begriff, dass dies sowohl Lemurr, als auch Kommandantin Ticall klar war. Und sie bemerkte auch, wie sich der Erste Spender zurückhielt, um die kampferprobte Mazzarin nicht zu stören.

Die ZUNGENSCHNALZER näherte sich mit tobenden Antrieben dem fast schon geschlossenen Ring aus Slide-Wesen. Oyvenn wusste wie alle in der Zentrale, dass nur eine Handvoll Hydren an Bord so eines lebenden Schiffes agierte.

Die Terraner sprechen von drei oder vier kompletten Hydren, die so ein Slide-Schiff kontrollieren. Dazu etwa 2.000 Affenähnliche. Oyvenn kräuselte vor Grauen ihre Lippen. Uns Mazzar fehlt völlig die Fähigkeit, so eine geistige Versklavung zu verstehen. Doch dieses Unvermögen ist Fluch und Segen zugleich. Die Menschen dagegen haben das Grauen mentaler Unterdrückung schon zu spüren bekommen.

Dann hatte die ZUNGENSCHNALZER den Ort des Geschehens erreicht …

Der Erste Spender der Nestmutter fühlte seine Muskeln erstarren, als sich innerhalb weniger Lidschläge der Ring aus Slide-Schiffen schloss und zum zweiten Mal in der Geschichte des Werft-Planeten einen Ausblick in den freien Weltraum zuließ. Alle in der Zentrale der ZUNGENSCHNALZER sahen mit einer Mischung aus Faszination und Furcht, wie die Blitzatmosphäre unentwegt in diese schwarze Formation einschlug, unglaubliche Energiemengen hinein schleuderte … scheinbar nur dazu geeignet, die Paraschirme der Angreifer auch noch zu verstärken. In der Mitte des Ringes zeigten sich weitere dunkle Flecke, die sich anschickten, mehr und mehr Sterne mit ihrem Leib zu verdecken … das Loch im Himmel zu durchstoßen … und allen Mazzar auf dem Planeten den Untergang zu bringen.

Unvermittelt zuckte Lemurr zusammen, als hätte ihn eine Elektropeitsche der Sambolli getroffen.

»Kommandantin Ticall! Feuern Sie eine SuG auf zwei dicht beieinander schwebende Slide-Schiffe!«

Ticall schnalzte als Antwort nur laut mit ihrer Zunge und klackte harte Befehle:

»Waffen-Crew: eine SuG auf die beiden Schiffe im südwestlichen Kreisbogen feuern! Jetzt!«

Das Schiff erbebte und nur wenige Herzschläge später fand die Bombe ihr Ziel. Als hätte der Teufel das ewige Feuer der Hölle neu entfacht, überstrahlte ein Lichtblitz die Speere der zurückgedrängten Atmosphäre, brannte für ein paar Augenblicke mit bösartig brennenden Lohen … und hinterließ eine Lücke aus rasch zerstiebenden Flammenfetzen. Für einen kurzen Moment schienen die nachrückenden Slide-Wesen zu stocken. Doch dann schlossen zwei neue Feindschiffe den Ring, als wäre nichts geschehen.

In Lemurrs Vorstellung keimte eine Ahnung dessen auf, was an Bord der Ersatz-Schiffe vorgehen musste.

Die Hydren zwingen ihre Sklaven in den Ring … in den Tod … auch in den eigenen! Nur, um anderen die Passage zu ermöglichen. Für einen schrecklich langen Moment fand Lemurr eine noch schrecklichere Parallele in diesem Verhalten. Auch wir haben jahrhundertelang ein einzelnes Mazzar-Leben als Nichtigkeit betrachtet. Ich hörte von Besatzungsmitgliedern, die sich nicht einmal eines eigenen Namens rühmen konnten. Nur Nummern unterschieden die einzelnen Soldaten. Ihr Kampfgeist muss mehr als schwach gewesen sein … ein weiterer Grund, warum uns die zahlenmäßig weit unterlegenen Terraner so lange Widerstand leisten konnten. Ich bete zur Großen Mutter, dass sich das zunehmend ändert. Als Erster Spender werde ich alles tun, um jedes Mazzar-Leben als kostbar zu betrachten. Wir haben unsere Lektion gelernt … die Hydren ganz offensichtlich nicht.

Lemurr hatte ab diesem Moment das Gesicht einer Terranerin vor Augen: schwarz wie die Nacht, mit golden geschminkten Augen und Lippen. Er hatte nur wenige Male die Kälte darin erleben müssen. Jetzt empfand er sich wie ein Abbild der Kriegerin, die von ihren Feinden Black Ice genannt wurde. Als hätte er ihre Härte übernommen, beobachtete er, wie Ticall noch ein weiteres Mal mit einer Bombe zwei Slide-Schiffe vernichten konnte. Dann hatten die Hydren begriffen und hielten untereinander einen Abstand im Ring, der die Blitze zurückhielt, aber keinen Doppelverlust mehr provozierte. Lemurr behielt die Kälte der terranischen Amazone in sich, auch dann, als Ticall verkündete, sie hätten ihre letzte Sodom-und-Gomorrha-Bombe verschossen und müssten sich jetzt zurückziehen. Fast ausdruckslos verfolgte der Erste Spender, wie Slide-Schiffe den Ring durchstießen, sich den Raumlandehäfen näherten … und in das Feuer aus planetar abgeschossenen SuGs rasten … und starben.

Ob es Sturheit oder der grenzenlose Hass der Hydren war, der sie bewog, ihre Chancenlosigkeit zu akzeptieren, konnte Lemurr nicht einmal ahnen. Das Einzige, was er wirklich begriff, war, dass diese Wesen aus einer anderen Dimension niemals aufgeben würden.

Aus sicherer Distanz verfolgte er, wie ein Slide-Schiff nach dem anderen den Ring passierte, vernichtet wurde und am Ende auch die lebenden Schiffe, welche den Ring gebildet hatten, von Arliss´ Abwehrbatterien in verwehende Atome verwandelt wurden.

Als kein Slide-Schiff mehr Harrathars Hülle zu überwinden versuchte, nahm er nur nebenbei wahr, wie die Besatzung der ZUNGENSCHNALZER in Jubel ausbrach und meldete, dass tatsächlich 113 bestätigte Abschüsse registriert worden waren.

So können wir dennoch keinen Frieden erreichen, dachte Lemurr ernüchtert. Und ich setze meine Hoffnungen auf eine Agentin, die das ebenfalls weiß … und wohl wieder in den Nexus fliegen wird.


  1. Durststrecke = Distanz zwischen zwei Wasserlöchern, die ein Mazzar ohne Austrocknung zurücklegen kann. Achtung! Unterschiedliche Geländearten lassen diese Strecke stark variieren; daher kein exaktes Maß vorhanden. Grobe Schätzungen reichen von 25 bis max. 80 terranischen Kilometern.

  2. Tausend faule Eier! Mazzarischer Fluch; in etwa: „Was zur Hölle …!“

Auf dem Flug in den Nexus

Bérénice Savoy war sich dessen bewusst, dass die Augen aller in der Zentrale der MOBY DICK auf ihr ruhten. Wobei der Ausdruck ruhen wohl nicht die Empfindungen widerspiegelte, die in den Gehirnen dahinter herumwirbelten.

Naya war die Erste, welche die Stille unterbrach und mit einfühlsamer Stimme ihre Geliebte aus deren Gedanken zu reißen versuchte. »Fühlst du dich wirklich erholt genug, um schon eine Woche nach dem Hydren-Angriff wieder in den Nexus zu sliden?«

Im Gesicht der Haitianerin zeigte sich ein Lächeln, ohne echte Freude darin. »Das Gleiche könnte ich dich oder Connor fragen, Liebes. Ihr wart ebenfalls Teil des Mutanten-Kreises und habt eure Kräfte verausgabt.«

Naya nickte und wäre wohl gerne näher zu ihr gerückt, doch ihre Einsatzstation – das symbiotische Gespinst, welches sie mit dem Slide-Wesen namens MOBY DICK verband – ließ das nicht zu. Also wandte sie sich nur halb um und versuchte, ihre Worte vorwurfsfrei klingen zu lassen. »Du vergisst dabei, dass Connor und ich ausgebildete Mutanten mit jahrelanger Praxis sind. Du jedoch …«

»Ich bin eine blutige Anfängerin, ja, ich weiß. Und wir alle wissen noch nicht mal, was für eine Art Mutantin ich bin.«

»Wir sollten erst deine Ausbildung beenden und deine Fähigkeiten besser kennenlernen, Nice«, warf Connor ein und erhob sich ebenfalls aus seinem Sessel, da er augenblicklich nicht in seinem Geflecht gebraucht wurde. Als er Bérénice erreichte, legte er eine Hand auf ihre linke Schulter. »Es ist ohnehin ein Wagnis, was du hier tust. Nur die Hoffnung, dass wir dich vor wahnwitzigen Aktionen bewahren können, lässt uns dich begleiten. Du weißt ja noch nicht mal selbst, was du im Nexus anstellen willst. Dein Roboter hielt es übrigens für notwendig, uns über deine unausgegorenen Pläne zu informieren.«

»So, hat er das?« Bérénice warf dem Kampfroboter einen vorwurfsvollen Blick zu, doch die Maschine stand weiterhin regungslos auf ihrem Platz. Dann lachte die Agentin kurz auf. »Nun, ich hatte es ihm nicht ausdrücklich verboten. Er tut nur alles, um meine … unsere Chancen zu verbessern. Allerdings kalkuliert er die als so gering, dass er mir nicht mal versucht hat, eine Prozentzahl zu präsentieren.«

Sie wandte sich Connor zu, der seine Hand wieder von ihrer Schulter nahm. »Was ihr alle wohl nicht zu verstehen scheint oder wollt, ist, dass mit jedem Ultraraumsprung weitere Hydren und andere Spezies im Nexus zu Tode kommen oder zumindest verletzt werden. Es genügt einfach nicht, eine Waffe oder eine Abwehr nach der anderen in unserer Dimension zu installieren, während wir weiterhin munter Massenmord begehen! Es muss einen Weg geben, die Hydren dazu zu bringen, ihre Angriffe einzustellen und mit uns zusammenzuarbeiten!«

»Das ist mehr als naiv, Nice! Und du weißt das!« Connors Gesicht hatte eine deutliche Rotfärbung angenommen, was mit seinem ohnehin rötlichen Haar einen unästhetischen Gesamteindruck ergab.

»Soll ich dich auf einer Basis oder einem Planeten aussetzen, Connor?« Bérénices Gesicht war plötzlich eine Maske, in der sich kein Muskel regte.

Connors Miene wiederum wurde um eine weitere Nuance dunkler und seine Kieferknochen mahlten sichtlich. Mit kaum geöffneten Lippen und mühsam gebändigter Stimme stieß er seine Antwort hervor.

»Das würde deine Chancen, die MOBY DICK zu führen, nur schwächen. Naya ist gut, aber zwei Mutanten sind das Minimum … und auch das weißt du nur zu genau. Ich bleibe!« Sagte es und schmiegte sich demonstrativ wieder in sein Geflecht hinein.

Wie von fremder Hand gesteuert, drehte Bérénice ihren Kopf Naya zu und sah sie nur fragend an.

»Ich werde dich niemals allein in den Nexus lassen, auch wenn du es könntest. Es genügt schon, dass keine der beiden Trutt uns begleiten wollte. Und vielleicht solltest du ihre Weigerung als letzte Warnung betrachten, Nice: Sie sehen ebenfalls keine Chance für Verhandlungen. Ihr Plan – wie auch der Enyas, Connors, meiner und vieler anderer – ist, dass wir die Überläufer möglichst rasch analysieren und irgendeinen Weg finden, ihre natürliche Slide-Fähigkeit in eine maschinelle umzusetzen. Dein Ausflug in den Nexus ist nicht nur unnötig, sondern einfach Irrsinn. Aber selbst in diesem Irrsinn brauchst du jemanden, der auf dich aufpasst, dein Kampfroboter hin oder her. Du brauchst lebende Unterstützung!«

»Dann bring jetzt die MOBY DICK dazu, einen Slide durchzuführen, Liebes. Ich kann euch nicht sagen, was ich im Nexus zu erreichen versuche; ich weiß es selbst nicht. Aber alles in mir schreit danach, dort nach einer Lösung zu suchen.«

Der Übergang von einer Dimension in die andere war auch jetzt ein Vorgang, der alle Milchstraßenbewohner an Bord des lebenden Raumschiffes bis in ihre letzten Fasern elektrisierte. Es war nicht nur das Ausbleiben des Sprungschocks oder der üblichen Schmerzen, sondern die Gewissheit, in völlig unbekanntes Terrain einzutauchen. Dass im Nexus ein tödlicher Feind zuhause war, war ebenfalls nicht der Grund für die allgemeine Angespanntheit; das war man seit Jahrzehnten auch im Einsteinraum gewohnt gewesen. Weitaus bedrückender war der Umstand, dass niemand die Gesetzmäßigkeiten der Zeit einzuschätzen vermochte. Niemand – außer natürlich den Trutt – konnte vorhersagen, wie viele Stunden, Tage oder Wochen im Nexus wie vielen Gegenstücken im Einsteinraum entsprachen. Savoys erster Aufenthalt im Nexus konnte nicht als Referenz herangezogen werden. Daneeh hatte sie gekonnt zurückgebracht und ein zweites Mal bei der Rettung Nayas durch die Zeiten gelotst. Dass keine der beiden Trutt jetzt anwesend war, hatte in Bérénice zu widersprüchlichen Gedanken geführt.

Entweder glauben Daneeh und Loraah, dass sie mich schon irgendwie holen könnten, fände ich nicht selbst den Weg in unseren Zeitstrom zurück … oder sie hoffen, dass andere Trutt auf uns aufmerksam werden und uns helfen. Schließlich ist der Nexus auch ihre Heimat.

Das vage Gefühl, das seit ihrem Krankenhausaufenthalt auf New Atlantis in ihr rumorte, meldete sich wieder. Oder ich …

Ihr Gedanke wurde so brutal beiseite geschleudert wie ihr Körper. Der Gravitationsstoß traf die Schwarzhäutige völlig unvorbereitet und ließ sie wie einen Felsbrocken eine schräge Ebene hinunterstürzen. Der Fußboden der Zentrale stand in einem Winkel von über 60° … aber nur für eine Sekunde. Dann kippte die MOBY DICK in die andere Richtung und fegte alles dorthin, wo es sich kurz vor dem Stoß befunden hatte. Aus den Augenwinkeln sah Bérénice, dass sowohl Naya als auch Connor wie Fliegen in einer Venusfalle in ihren Gespinsten hingen, zappelten und versuchten, sich aufzurichten. Als für die Dauer von zwei Sekunden der Boden beinahe wieder waagrecht stand, wäre es ihnen fast gelungen. Bérénice genügte aber der Moment, um den Raumanzug zu greifen, den ihr der Kampfroboter entgegenhielt, selbst wie festgenagelt mit beiden Beinen monumentenartig dastehend.

 Freitag hat sich mit ausgefahrenen Krallen im Boden verankert. Meinen schweren Raumanzug hat er ständig auf dem Rücken getragen, seit wir an Bord gingen, egal wohin ich mich gerade innerhalb der MOBY DICK bewegt habe.

Bérénice hatte es gerade geschafft, ihre Beine in den Anzug zu stecken, als die MOBY DICK erneut einer Gravitationsschockwelle ausgesetzt wurde und einen Satz nach oben machte. Die Agentin wurde wie in einem Lift gehoben, rutschte dabei bis zur Hüfte in den Anzug hinein und sah mit entsetzten Augen die Decke der Zentrale auf sich zurasen.

 Ich werde mir das Genick brechen …

Bérénice riss eine Hand nach oben, die andere klammerte sich verzweifelt an ihren Raumanzug, der jetzt Tonnen zu wiegen schien. Nur wenige Zentimeter vor einem Aufprall wurde sie von stählernen Händen gepackt und zurückgerissen. Freitag zog sie herunter, klemmte ihre Beine samt Anzug zwischen seine und half ihr, ihre Arme in das Ding zu stecken.

Von einem Augenblick zum anderen kam die MOBY DICK zur Ruhe und fremdartige Schmerzlaute schienen aus jeder Wand zu kommen.

»Was ist passiert?«

»Das, worauf ich schon lange warte, Nice«, kam es von Connor, der sich gebärdete, als würde das Gespinst ihn wie eine Venusfalle wirklich fressen wollen. »Wir wurden von Sprungschocks aus dem Einsteinraum getroffen. Zum Glück nicht voll, sonst wären wir nicht mehr da. Aber mindestens zwei Mal in unmittelbarer Nähe.«

»Die MOBY DICK wurde verletzt, Nice!«, stieß Naya hastig hervor, kaum dass ihr Clan-Mitglied geendet hatte. »Sie leidet körperliche Schmerzen. Irgendeine Stelle ihrer Haut wurde aufgerissen.«

»Bitte schließen Sie sofort Ihren Raumanzug, Agent Savoy.«

»Bin ja schon dabei, Blechschädel. Aber was ist mit Naya und Connor?«

»Ich kann deren Anzüge aus dem Nebenraum holen. Allerdings kann ich nicht sagen, ob sie dann die Symbiose-Verbindung zum Slide-Schiff aufrechterhalten können.«

»Kannst du bitte aufhören, Hiobsbotschaften von dir zu geben?« Die nicht ganz ernst gemeinte Bemerkung Nayas zeigte nur, dass auch ihr klar war, dass beides gleichzeitig nicht funktionieren würde. »Wenn die MOBY DICK so etwas wie einen Hüllenbruch erlitten hat, der lebensbedrohlich wäre, hätten wir das schon zu spüren bekommen«, versuchte sie, die Bedenken ihrer Freundin zu zerstreuen.

»Dennoch müssen wir dem Schaden nachgehen«, bestand der Kampfroboter auf das weitere Vorgehen. »Ich registriere vielfältige Bio-Signale aus der betreffenden Region.«

»Gorillas, die ins All geschleudert wurden?« Connors Stimme war anzuhören, dass er darüber nicht gerade unglücklich war. Er hielt die Affenähnlichen immer noch für wankelmütige Verbündete.

»Nein, die Signaturen sind deutlich kleiner. Leider kann ich von hier aus keine exakten Werte erfassen. Ich werde der Ursache auf den Grund gehen«, sagte er und drehte sich bereits um.

»Ich komme mit, Blechschädel. Hier in der Zentrale kann ich ohnehin nicht helfen.« Bérénice drehte sich Naya zu, während sie hastig die Anzugverschlüsse an Brust und Händen verriegelte. »Versucht, der MOBY DICK zu helfen. Ich habe keine Lust, sie wieder in eine Suizid-Stimmung verfallen zu lassen. Kümmert euch um die Slide!« Dann setzte sie noch im Laufen ihren Helm auf und war weg.

Bérénice hatte Mühe, mit Freitag Schritt zu halten, der rasch und scheinbar unaufhaltsam durch die Gänge des lebenden Schiffes stapfte und seine Waffenarme nach vorn gerichtet hatte.

»Was könnte die MOBY DICK an Bord haben, das kleiner als ein Mensch ist?«

Freitag ignorierte ihre Frage. Offenbar hatte er erkannt, dass sie nicht ihn gefragt hatte. Da er im Augenblick wohl keine neuen Daten liefern konnte, verzichtete er also auf eine Antwort. Bérénice betrachtete sich und die beiden anderen Menschen als die kleinsten Besatzungsmitglieder. Die Gorillas und die Mazzar waren deutlich größer.

Meine Güte … einzelne Schlangen wären kleiner als ein Mensch! Hat sich eine Hydra aufgeteilt und so lange versteckt gehalten? Haben wir so ein Miststück übersehen? Hätte die MOBY DICK uns nicht davor gewarnt? Gerade der letzte Gedanke ließ ihre aufkommende Beunruhigung abflauen und machte nüchterner Betrachtung Platz. Nein. Nicht über so eine lange Zeit. Aber wer oder was dann?

»Wir nähern uns der Schadstelle. Seit der letzten Körperöffnung hat sich der Luftvorrat verringert.«

Bérénice schalt sich selbst eine Närrin. Verdammt: Konzentrier dich! Sonst bist du bald eine tote Agentin.

Sie passierten eine weitere Körperöffnung, die man auf einem konstruierten Schiff wohl als Schleuse bezeichnet hätte, und Bérénice blickte verblüfft auf das Ding, das dort stand.

»Die MATA HARI! Das Mazzar-Scoutschiff hatte ich fast vergessen.«

»Der Slide-Hüllenschaden muss sich dahinter befinden, Agent Savoy. Die bis vor kurzem noch feststellbaren Bio-Signale sind verschwunden.« Dennoch marschierte der Kampfroboter mit schussbereiten Waffenarmen um das kleine Raumschiff herum und blieb nach ein paar Metern stehen. »Bio-Signale identifiziert«, gab er knochentrocken bekannt.

Bérénice kam ihm von der anderen Seite des kleinen Schiffes entgegen und blieb stehen, als sie durch einen zwei Meter hohen und etwa sieben Meter breiten Riss einen freien Blick in das Weltall des Nexus machen konnte. Die angeblich sternarme Finsternis wirkte auf sie wie das offene Maul eines Ungeheuers.

Ich verliere wohl immer mehr meine angestammten Wertvorstellungen. Ich befinde mich selbst an Bord eines Ungeheuers.

Sie drehte sich dem kleinen Mazzar-Schiff zu und sah, dass auch dort ein Riss in der Wandung klaffte. Dann fiel ihr auf, dass Freitag noch nicht die Natur der Bio-Signale genannt hatte.

»Waren das … Schlangen … separierte Hydren?«

»Nein, Agent Savoy. Die Signaturen trugen eindeutig mazzarische Muster.«

»Aber wir haben keine Mazzar an Bord genommen. Könnten sie sich versteckt haben?«

Und wozu? Die Mazzar sind jetzt unsere Verbündeten.

»Bist du dir sicher, Freitag? Wenn die Signale verschwunden sind, wieso kannst du dann behaupten, dass es Mazzar waren?«

»Weil ich sie jetzt wieder orten kann, Agent Savoy. Ich registriere 117 Signale. Dort draußen …«

Bérénice folgte seinem ausgestreckten Arm und sah … gar nichts. Erst, als sie ihre Helmkamera in die Richtung hielt, in die er zeigte, und sie die sich offenbar entfernenden Objekte heranzoomte, erkannte sie, dass Freitag recht hatte.

»Mazzar … Babys? Woher?«

»Es gibt dafür nur eine logische Erklärung, Agent Savoy: Die beiden Mazzar Bozadd und Kefann müssen sich – unbemerkt von uns – vor ihrem Tod auf Violetta III gepaart und Nachwuchs bekommen haben. Allen vorliegenden Daten zufolge haben sie ihre Kinder in der Stasiskammer der MATA HARI – am ihrer Ansicht nach wohl sichersten Ort – untergebracht. Wahrscheinlich hätten sie ihre Nachkommen auf irgendeinem Mazzar-Planeten aus der Kammer entlassen und dort aufgezogen. Die Kollision der MOBY DICK mit mindestens zwei Gravitationsschockwellen hat nicht nur deren Außenhaut zerfetzt, sondern auch die Hülle der MATA HARI und das Stasisfeld der Kammer zum Zusammenbruch gebracht. Die Mazzar-Jünglinge wurden ins All gerissen und sind sicher sofort gestorben.«

Noch während Bérénice diese Informationen verdaute und tiefe Trauer für die kleinen Kröten empfand, traf ein weiterer Gravitationsschock sie, Freitag und die MOBY DICK.

Und schleuderte die Agentin durch den Riss ins freie Weltall …

Nexus

Das ist weder ein Déjà-vu noch eine Vision. Das ist Realität!

Die fast auf die Sekunde genau stattfindenden Teile ihrer früheren Vision erzeugten in Bérénice eine Ruhe, die sie fast selbst ängstigte. Die sprichwörtliche Kälte, welche ihr ihren Kampfnamen eingebracht hatte, empfand sie aber nicht.

Ich bin allein im All. Jetzt sehe und weiß ich, dass es der Nexus ist. Mein Com und mein Hauptantrieb sind ausgefallen. Die Steuerdüsen, die Lebenserhaltung und die künstliche Schwerkraft sind okay.

All dies war noch in ihrem Kopf gespeichert, als hätte sie die Vision erst gestern gehabt. Dennoch konnte sie einen Kontrollblick auf ihr Unterarm-Paneel nicht unterdrücken. Die in der alles umfassenden Finsternis aufleuchtenden roten und grünen Lichter, wirkten auf Bérénice wie Augen exotischer Tiere und bestätigten ihre Erinnerung. Sie verzichtete auf das Drehmanöver, das sie in der Vision vollzogen hatte.

Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.

Zeit.

Jetzt müsste bald der Schatten vorbeiziehen, der den Planeten und seine Sonne verdeckt. Es muss ein mit Hydren besetztes Slide-Schiff sein. So nah … und sie nehmen mich mental nicht wahr?

Dann fiel ihr ein, dass ihr brandneuer Raumanzug mit der gleichen Anti-Hypno-Technik versehen war, wie die Stirnbänder auf der Erde. Mit nicht wenig Scham registrierte sie ihre exklusive Ausrüstung, die sie als normale Spacetrooperin wohl niemals erhalten hätte.

Präsident Akono Diya hat mir das Ding persönlich überreicht und gesagt, dass auch Naya und Connor so einen Anzug erhalten haben. Also schwebe ich direkt unter den mentalen Augen der Hydren diesem unbekannten Planeten entgegen.

Es war Bérénice klar, dass die Benutzung ihrer Steuerdüsen sie für jedes konstruierte Schiff und dessen mannigfaltige Ortungsgeräte aufspürbar hätte werden lassen. Sie jetzt – in der Realität und in tödlicher Nähe zu einem Hydren-Schiff − nicht benutzt zu haben, ließ sie ihre eigene Vision mit ganz anderen Augen betrachten.

Habe ich Einfluss auf das, was ich in der Zukunft sehe? Kann ich den Lauf der Zeit beeinflussen? Ist das meine parapsychische Gabe? Oder liege ich hier schon wieder falsch? Laut den Trutt besitze ich kein Zeitorgan. In der Vision habe ich die Düsen benutzt. Vielleicht im Vorwissen dessen, dass mein Anzug mich schützt? Zu diesem Zeitpunkt existierte der noch gar nicht. Das war vor sieben Monaten …

Fast wie in einer Filmvorführung verfolgte sie das Entschweben des Slide-Schiffes und das Auftauchen des fremden Planeten und seiner dahinterstehenden Sonne. Blassgelbes Licht in völliger Dunkelheit …

Ich kann die Blindheit der Hydren, mein Wissen um die kommenden Abläufe nutzen und Zeit sparen, dachte sie und gab wie damals einen kontrollierten Schub mit ihrer Hecksteuerdüse ab. Zwei weitere wohldosierte Schubstöße beschleunigten sie nach den Angaben ihres Paneels deutlich. Trotzdem schien sie sich dem Planeten nicht einen Millimeter zu nähern.

Geduld. Es dauert, bis er sich merklich vergrößert … und dann wird es schon wieder Zeit abzubremsen. Alles hängt von der Stärke der Schwerkraft und der Dichte der Atmosphäre des Planeten ab … beides Dinge, die ich noch nicht weiß. Leider verfügt dieser Anzug nicht über eine Fernortung. Und wenn ich so nahe bin, dass die Anzeigen mir Daten liefern können, ist es zu spät … für was auch immer.

Stunden danach hatte die Ruhe in Bérénice eine Stufe erreicht, die sie einerseits der Unausweichlichkeit der bevorstehenden Geschehnisse zusprach, andererseits der Hoffnung, dass ihr Wissen darüber ihre geringen Chancen um gerade das Maß erhöht haben könnte, welches ihr ein Überleben gestatten würde.

Mittlerweile hatte sie sich dem Planeten so weit angenähert, dass sie sich hätte drehen müssen, wollte sie die Schwärze des Alls darum sehen. Die Anziehungskraft war längst spürbar und die Anzeige blieb stabil bei 0,951 G stehen. Sie hatte ihre Steuerdüsen längst mehrfach eine Schubumkehr vollziehen lassen, dennoch hatte sie den Eindruck, dass sie sich immer noch viel zu schnell der Atmosphäre näherte.

Wie oft und wie stark kann ich noch abbremsen, bevor die Energievorräte erschöpft sind? Und: Wird mein Sauerstoffvorrat noch so lange durchhalten?

Mit eiserner Disziplin zwang sie sich seit Stunden, flach zu atmen. Ihr Verstand lieferte sich mit ihrem pochenden Herzen ein unsichtbares Duell.

Und dann machte sie eine Beobachtung, die auf sie wie ein Vorbote ihres eigenen Schicksals wirkte:

Erst einzelne, dann Dutzende Objekte um sie herum fingen zu lodern an, als sie in die äußeren Schichten des Planeten stürzten. Lautlose Feuer, die sie anzuschreien schienen, sie solle ihren wahnwitzigen Plan aufgeben und ihr Heil im freien Weltall suchen. Diese Objekte bildeten eine lockere Gruppe und besaßen alle dieselbe Größe. Bérénice löste einen erneuten – und dieses Mal einen besonders langen − Bremsschub aus und die mindestens 70 oder 80 Gebilde überholten sie und verwandelten ihre Lohen zu Glutbällen, die immer heller leuchteten.

Sternschnuppen … ich befinde mich inmitten einer Gruppe von Sternschnuppen.

Bérénice fragte sich, ob das Schicksal oder Gott ihr damit eine letzte Freude machen wollte … bevor sie selbst als Fackel in die fremde Luftschicht stoßen und niemals lebend den Boden erreichen würde. Die Zahl der fallenden Feuerbälle hatte noch zugenommen. Bérénice schätzte sie nun auf mindestens 100.

Und dann begriff sie, was diese Sternschnuppen in Wahrheit waren.

Die Kinder Kefanns und Bozadds! Auch sie werden von der Gravitation des Planeten angezogen.

Dass die kleinen Mazzar schon den Tod beim Herausschleudern aus der MATA HARI gefunden haben mussten, spendete Bérénice nur wenig Trost.

Sie lagen im Stasisfeld … sie waren nicht bei Bewusstsein, als sie starben. Ich bin es schon.

Mit trotziger Bewegung legte sie ihren rechten Zeigefinger auf die Taste ihres Unterarm-Paneels, welche wohl zum letzten Mal die Bremsdüsen aktiveren würde. Sie behielt den Finger so lange auf der Taste, bis die Anzeige ihres Energievorrates auf null stand. Dann tippte sie auf das Medi-Kit und löste die Betäubung aus.

Maximale Wirkung … wenn ich schon verbrennen muss, dann nicht mit offenen Augen und wachem Verstand.

Ihr letzter Blick erfasste nur feurige Fackeln, die sie wie eine schreckliche Eskorte umringten. Die Temperaturanzeige stieg beständig an und Bérénice versuchte, zwischen dem Flackern der Flammen einen Blick auf den Planeten zu erhaschen. Es misslang ihr.

Ein ganzer Planet als Grab für einen einzigen Menschen. Eine Feuerbestattung …

Noch während sie selbst zur Sternschnuppe wurde, umfing ihren Verstand gnädige Schwärze.

Nexus

Die Lichtung wurde durch das Feuer, welches in ihrer Mitte brannte, nur schwach beleuchtet. Dennoch hätte ein Beobachter es aus großer Ferne wahrnehmen können, denn es gab keine andere Lichtquelle, weder in der Nähe, noch in weiter Entfernung … nirgendwo auf diesem Planeten. Einzig die Sterne sandten ihr spärliches Licht auf die nächtliche Szenerie herab.

Zwei Körper befanden sich rund um das kleine Feuer. Der eine lag regungslos und ausgestreckt auf dem Boden, der andere stand ebenso bewegungslos nur wenige Schritte entfernt. Nicht weit von der Gestalt am Boden lag ein Haufen, der entfernt humanoide Umrisse besaß, aber zerknüllt und unförmig den Eindruck machte, als hätte er schon bessere Tage gehabt. Der Haufen wies überall Brandspuren auf. Manche Stellen mussten zu Blasen aufgequollen gewesen sein, zeigten jetzt aber, dass sie geplatzt und in sich zusammengesunken waren. Andere Teile sahen verformt, verbogen, aber nicht geschmolzen aus. Trotzdem war dem Ding anzusehen, dass es wohl seinen ursprünglichen Zweck niemals wieder würde erfüllen können.

Dicht neben dem ruhenden Körper lag ein längliches Ding, offenbar aus Metall und leicht gebogen. Der Griff des Gegenstandes befand sich nur wenige Zentimeter neben einer Hand der Gestalt, deren Brust sich in gleichmäßigem Rhythmus hob und senkte.

Kurz nachdem das Feuer entzündet worden war, hatte sich die örtliche Fauna entschlossen, vorerst stumm zu bleiben. Keiner der zahlreichen Bewohner dieser Welt konnte die Neuankömmlinge einschätzen. Denn dass sie neu auf dieser Welt sein mussten, spürten alle rund um die Lichtung lauernden Jäger und die in ihren Verstecken hockenden Gejagten. Besonders die aufrechtstehende Gestalt stellte etwas dar, was keines der Lebewesen jemals zuvor gesehen hatte. Also war Vorsicht geboten. Allerdings verströmte der liegende Körper einen Duft, der neugierig machte und vielleicht bisher nie erlebte Genüsse versprach. Stunden vergingen, in der das Feuer nur einmal mit neuer Nahrung versorgt wurde und danach alles wieder in scheinbar tatenlose Stille verfiel.

Ein kleines Tier wagte es schließlich, sich aus seiner Deckung zu bewegen. Es schnüffelte und schob sich bis an den Rand der Lichtung vor, hielt inne und betrachtete aus seinen ovalen Augen die Gliedmaßen des Wesens am Boden. Blaue Schichten überzogen den Körper, nur wenige Stellen zeigten eine schwarze Haut. Das Tier registrierte, dass das Objekt seiner Begierde lebte und atmete, aber schwach und wie verletzt wirkte. Nach langen abschätzenden Betrachtungen machte das Tier zwei rasche Schritte auf den Körper zu, lautlos und unbemerkt, wie es wohl dachte.

Dann ereilte es sein Schicksal in Form eines flachen Steines, der mit großer Wucht seinen Schädel spaltete und es sogar ein Stück zurückwarf, wo es mit starren Augen liegen blieb. Viele andere Tiere hatten sein Ende verfolgt und beschlossen, sich lieber nicht auf die Lichtung zu wagen. Zumindest nicht, solange der fremde Wächter in der Nähe der verlockenden Beute war.

Als die ersten Sonnenstrahlen die Lichtung erreichten, war das Feuer herabgebrannt und kleine Insekten tanzten in der Luft. Eines davon setzte sich auf die Nase der liegenden Gestalt und wurde fast im gleichen Moment von einer Hand verscheucht, die im Reflex danach schlug, das winzige Tierchen aber verfehlte.

»Es freut mich, dass Sie endlich erwacht sind, Agent Savoy.«

»Freitag?« Bérénice stöhnte, öffnete die Augen und richtete sich mühsam in eine hockende Position auf. »Ich bin nicht verbrannt? Und wo zur Hölle kommst du plötzlich her?«

»Ich konnte verhindern, dass ich wie Sie aus dem Riss geschleudert wurde. Mir schien es zwingend notwendig und zeitlich zumutbar zu sein, mich so rasch als möglich aus dem Ausrüstungspaket B-III-Beta mit zusätzlichem Equipment auszustatten und Ihnen erst danach zu folgen. Ich konnte die MOBY DICK gerade noch rechtzeitig verlassen, bevor sie in einer Art Notfallreaktion einen Slide vollzog. Ich versuchte natürlich zuvor, eine Com-Verbindung zu Naya oder Connor herzustellen, blieb aber erfolglos. Ich kalkuliere mit nahezu 100%iger Wahrscheinlichkeit, dass sich die MOBY DICK wieder im Einsteinraum befindet. Wie es um den Zustand des Lebendschiffes und seiner Besatzung bestellt ist, kann ich leider nicht berechnen. Ich kann nur bestätigen, dass das in der Nähe befindliche Hydren-Schiff das System verlassen hat, als die MOBY DICK den Slide durchführte.«

»Ich habe dieses Schiff auch gesehen … zumindest seinen Schatten vor diesem Planeten und seiner Sonne. Wie …?«

»Die Einrichtungen Ihres Raumanzuges sind nicht dazu geeignet, eine kontrollierte Landung auf einem Planeten zu ermöglichen.«

Bérénice hörte förmlich den versteckten Vorwurf darin, dass sie es überhaupt probiert hatte.

»Also musste ich«, fuhr Freitag ungerührt fort, »mich mit einem Flugtornister in Kampfausführung ausrüsten, um Sie vor einem Verglühen in der Atmosphäre dieses oder eines anderen Planeten zu bewahren. Es war klar, dass Sie nur auf Dauer überleben würden, wenn Ihnen die Landung auf einer Welt gelingt. Ich konnte Sie erwartungsgemäß orten und rechtzeitig einholen, bevor die Reibungshitze Ihren Anzug unbrauchbar machte. Der Flugtornister war leistungsstark genug, um Sie und mich extrem abzubremsen und ohne weitere Schäden hier landen zu lassen. Nachdem ich Ihren nicht mehr einsatzfähigen Anzug geöffnet und Sie daraus befreit hatte, ergab meine Zustandsanalyse, dass Sie sich mit der maximal vertretbaren Dosis Betäubungsmittel ruhiggestellt hatten, um so wenig Sauerstoff wie nur möglich zu verbrauchen. Dennoch wären Sie …«

»Schon gut; das genügt, Blechschädel. Hast du mir also wieder mal meinen hübschen Arsch gerettet.«

»Sind andere Teile Ihres Körpers in Mitleidenschaft gezogen worden, Agent Savoy? Ich dachte, meine Überprüfung Ihres Körpers hätte ergeben, dass nicht nur Ihr …«

»Schluss damit! Es geht mir gut … glaube ich.« Bérénice sah den Roboter an, dann schüttelte sie ihren Kopf. »Ich konnte vor meiner Bewusstlosigkeit die Gravitation dieser Welt messen: 0,951 G; das ist also kein Problem für mich. Nachdem ich ohne Schwierigkeiten atmen kann, habe ich das unglaubliche Glück, dass diese Welt eine Sauerstoffatmosphäre besitzt. Da mein Anzug wohl nur noch ein Haufen Müll zu sein scheint, darfst du mir also deren Zusammensetzung nennen. Auch wenn ich an einer möglicherweise bedrohlichen Luft nichts ändern kann, will ich doch wissen, was ich da in mich hineinsauge.«

»23,4 % Sauerstoff, 76,1 % Stickstoff und 0,5 % verschiedene Spurenelemente, aufgeteilt in …«

»Lass gut sein, Freitag. Das genügt mir völlig. Ich darf hier also ein wenig mehr Sauerstoff genießen, als ein Sportler auf der Erde mit Nasenpflaster. Warum nicht?« Dann richtete sie sich auf und hörte einige ihrer Knochen und Gelenke knacken. »Wie lange habe ich hier rumgelegen? Kannst du hinsichtlich Wasser und Nahrung auch so erfreuliche Daten liefern? Ich habe Hunger!«

»Da sich in der Nähe kein Wasser befindet, vorerst nicht. Aber Sie könnten dieses Tier dort einer Chemo-Analyse unterziehen. Das Ausrüstungspaket B-III-Beta verfügt über ein entsprechendes Mini-Labor …«

»… was du selbstverständlich auch mit dir in den freien Weltraum geschleppt hast.«

»Selbstverständlich, Agent Savoy. Es wäre unverantwortlich, in feindlichem Gebiet ohne ausreichende und geeignete Nahrung agieren zu wollen. Ihre Kampffähigkeit hängt besonders von einer …«

»Ja, schon gut, Freitag.« Bérénice seufzte und näherte sich dem toten Tier. Es hatte in etwa die Größe eines Hasen, besaß aber nur drei Beine, zwei hinten und eines vorne, was aber deutlich stärker als die anderen ausgeprägt war. Die Extremitäten endeten in kreisrunden Platten, die weich wirkten und wiederum in rund einem Dutzend krallenbewehrter Haken ausliefen, die dem Tier wohl eine außergewöhnliche Stabilität auf jeglichem Boden oder Baumstämmen ermöglichen dürften. Es hatte eine ledrig anmutende Haut mit federartigen Büscheln daran, welche die gleiche Farbe besaßen, wie der Boden auf dem es lag. Bérénice hatte im ersten Moment gedacht, dass diese Büschel Laub und kleine Zweige seien, die sich an dem Lebewesen angehaftet hatten. Jetzt gelangte sie zu der Ansicht, dass sie dem Tier eine perfekte Tarnung lieferten.

Die Agentin nahm wortlos einen Bioscanner entgegen, den ihr Freitag reichte und steckte ihn in die Wunde am Kopf des Tieres. Das Gerät brauchte mehr als zwei Minuten, bis es zu summen aufhörte und eine gelbgrüne Leuchtkombination zeigte.

Rot gleich gesundheitsschädlich. Gelb gleich bedingt genießbar. Grün gleich bedenkenlos genießbar.

»Diese Welt meint es gut mit mir, Freitag. Gib mir ´ne Neutralisier-Tablette. Die sollte ihre Wirkung entfalten, bis ich den Tripod ausgeweidet, zerlegt und gebraten habe.«

»Tripod?«, fragte der BEHEMOTH und sah ihr zu, wie sie aus einer Beintasche ein höllisch scharfes Kampfmesser zog und damit begann, dem Tier die zähe Haut abzuziehen. »Verstanden: drei Extremitäten. Während Sie hier beschäftigt sind, werde ich mit meinen Scans fortfahren. Es ist sehr schade, dass nicht auch Ihr Plagajo bei uns sein kann.«

Die Agentin hielt in ihrer Arbeit am Tripod inne und sah überrascht zu dem Kampfroboter. »Was sollte Fenrir hier auf dem Planeten an Unterstützung leisten, was du nicht für mich tun kannst?«

»Der Plagajo ist wie ein Mensch ein Allesfresser. Was seinem Magen und Verdauungstrakt bekommt, dürfte auch für Menschen genießbar sein. Sie hätten ihn als …«

»… Vorkoster benutzen können.« Die Haitianerin sah den BEHEMOTH an, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. »Ich denke, mein Freund, dass wir leider sehr viel Zeit hier verbringen werden. Ich sehe im Moment keine Chance, diese Welt verlassen zu können. Also haben wir genügend Zeit, all deine Programme, Sub-Programme und zusätzlichen Updates von Major Tyler Palmwood und Rikard White aufzuarbeiten.«

»Soweit es mir erlaubt ist, Ihnen diese alle offenzulegen, Agent Savoy.«

»Ein Roboter mit Geheimnissen.«

»Eine Agentin, die selbst ein Geheimnis ist.«

Bérénice ließ fast das Messer fallen, mit dem sie dem Tripod jetzt den Bauch öffnete und daraus vorsichtig dessen Organe entfernte. »Was hast du gesagt, Blechschädel? Was, bei allen Programmierern des Universums, soll das schon wieder bedeuten?«

»Sie haben im Krankenhaus im Schlaf gesprochen. Und dabei fast exakt den Ablauf der Geschehnisse beschrieben, die seit unserem erneuten Eindringen in den Nexus stattgefunden haben. Ich verstehe nicht, wie ein Mensch zukünftige Ereignisse wissen kann. Aus meiner Sicht ist das sehr wohl die Definition eines Geheimnisses.«

Eine Woche später sah Bérénice in eine neue Nacht hinaus, die sie auf ihrem Planeten verbrachte, und lauschte den Lauten der fremden Fauna. Sie war sich sicher, dass darunter etliche Raubtiere waren, die entweder wegen ihres Lagerfeuers fernblieben oder aber den Kampfroboter nicht einzuschätzen wussten. Bislang hatte Freitag keinen der einheimischen Predatoren abwehren müssen; das kleine Tripod zählte Bérénice eher zu den Beutetieren als zu den Jägern. Seine Neugier hatte ihn das Leben gekostet. Und ihres verlängert. Das zarte Fleisch hatte einen ungewohnten Geschmack gehabt, sie aber tatsächlich an Kaninchen oder Hase denken lassen. Aus Vorsicht hatte sie bislang nur Tripods erlegt und gegessen, den Rest ihres Bedarfes aus dem Notfallpaket gedeckt. Aber das würde natürlich nur eine sehr begrenzte Zeit lang reichen. Die Erinnerung an eine entfernt ähnliche Nacht auf Samboll kam ihr in den Sinn.

Der Dschungel dort war weitaus bedrohlicher, als die Flora oder Fauna dieses Planeten bisher war. Und feucht. Alles war nass.

Sie blickte in den sternenarmen Nachthimmel und machte sich zum tausendsten Mal klar, dass die größere Dichte an dunkler Materie in dieser Dimension für die wenigen sichtbaren Sterne verantwortlich war und der Nexus in Wahrheit vermutlich genauso viele Sterne besaß wie der Einsteinraum.

Das bisher für Bérénice Faszinierendste an dieser Welt war der Umstand, dass selbst die im Vergleich zur Erde spärlichere sichtbare Sternendichte einen von schillernden Punkten übersäten Himmel ergab. Schon zu Beginn ihrer Himmelsbeobachtungen hatte sie die Erklärung dafür gefunden:

Dieser Welt fehlt es völlig an Lichtdomen aus großen Städten, von Raumhäfen und ununterbrochenem Flugverkehr, wie er auf Terra vorherrscht, oder anderen Welten der Föderation oder den wenigen Planeten der Mazzar, die ich besuchen konnte. Wann hatte ich das letzte Mal das Privileg, eine wirklich jungfräuliche Welt und deren Firmament betrachten zu dürfen? Es ist schön hier. Wenn ich diese Welt ein wenig erkunden kann und es bei der bisherigen Friedlichkeit bleibt, ist mir für den Rest meines Lebens eine sichere Zuflucht im All beschert worden.

Dann musste sie lächeln.

Ich bin auf einer Insel gestrandet … wie Robinson Crusoe. Ich bin Miss Robinson und taufe diese Welt Crusoe.

Dennoch beschlich sie ein starkes Gefühl der Einsamkeit und sie begann zu summen, unterbrochen von einzelnen Textzeilen, die sie wie das Original mit rauchiger Stimmfärbung leise vor sich hinsang:

»It's another lonely evening, and another lonely town. Got another empty bottle, and another empty bed. «

Scheiße, wenn ich nur eine Flasche Whisky hätte … oder Naya, dachte sie traurig und summte weiter, bis ihr Blick an den letzten roten Strahlen der Sonne hängen blieb.

»That's why I'm lonely, I'm so lonely. But I know what I'm gonna do: I'm gonna ride on, ride on1. And it's another redlight nightmare …«

Nein, das stimmt nicht, korrigierte sie sich und hörte zu singen auf. Diese Welt ist kein Albtraum. Nur, wenn ich einen aus ihr mache.

»Freitag?«

»Ja, Agent Savoy?«

»Morgen machen wir uns auf den Weg.«

»Welchen Weg? Mir sind keine urbanen Eingriffe in der Landschaft aufgefallen. Auch das Ausbleiben jeglichen Funk- oder Flugverkehrs lässt mich zunehmend zu der Ansicht gelangen, dass wir allein auf dieser Welt sind … die Fauna natürlich ausgenommen.«

»Entweder haben die Hydren in dieser Galaxis mehr als genug bewohnbare Planeten oder sie meiden aus irgendeinem Grund diese Welt.«

»Nach vorsichtigen Schätzungen der letzten 300 Jahre sind terranische, givvianische und Astronomen anderer Völker zu der Erkenntnis gelangt, dass es mehr als genug bewohnbare Planeten in der Milchstraße und erst recht im Einsteinraum geben dürfte. Warum sollte das hier in dieser Dimension anders sein? Ich tendiere zu Ihrer erstgenannten Vermutung, Agent Savoy.«

»Ich stimme dir zu, Freitag. Dann lass uns ab morgen erkunden, ob wir tatsächlich allein sind oder ob diese Welt eine Gefahr birgt, welche ihre Besiedlung ausschließt.«

»Es ist nicht vernünftig, einer Gefahr ohne Informationen entgegenzulaufen, Agent Savoy.«

»Es ist aber auch nicht ratsam, sich von ihr überraschen zu lassen. Wir müssen uns diese Informationen schon selbst holen.«


  1. Ride on: Songtitel der australischen Hardrock-Band AC/DC, Album: Dirty Deeds Done Dirt Cheap (1976); damaliger Sänger: Bon Scott

Nexus

Kaum hatten Bérénice und Freitag die Zentrale der MOBY DICK verlassen, als Naya die letzten Worte ihrer Geliebten noch einmal durch den Kopf gingen: »Kümmert euch um die Slide!«

Warum hat sie nicht MOBY DICK gesagt? Und warum Plural? Oder meinte sie damit nur die feminine Form des Singulars?

»Das Lebendschiff scheint wirklich schwer verletzt zu sein!« Connors hastige Worte versagten es der Mutantin, noch länger über die Äußerung der Agentin nachzudenken. »Wir können wirklich den Göttern des Alls danken, dass es uns nicht voll erwischt hat, sonst lägen wir jetzt in einem Totenschiff«, ergänzte ihr Clan-Mitglied und fing sich in seinem Netz ab. Beide fühlten sich aber immer noch eher wie Beutetiere in einer Falle, denn als Symbionten eines biologischen Raumschiffes.

Naya schob mit einiger Anstrengung ihre Sorgen um Nice beiseite und versuchte über das Symbiose-Gespinst tiefer in den Geist des Slide-Wesens einzudringen. Während Connor lediglich seine telepathischen Sinne nutzen konnte, waren ihr als Empathin deutlich tiefere Einblicke möglich. Und die erhielt sie fast in der gleichen Sekunde.

Die Haut ist mehrere Meter weit aufgerissen … es leidet schreckliche Qualen.

Die Rigelianerin versuchte, das seit den Treffern anhaltende geistige und körperliche Vibrieren des Wesens nicht auf sich überschwappen zu lassen.

Wir sind alle verloren, wenn wir in Panik geraten. Wenn die MOBY DICK uns mit ihren Schmerzen in eine permanente Rückkopplung reißt, schaukelt sich ihre Pein binnen Augenblicken hoch … und wir verlieren zuerst unseren Verstand. Dann unser Leben!

»Such du weiter nach der Wunde!«, rief sie Connor eilig zu und gab ihm mental eine Richtung an. »Und wenn du sie erfasst hast, versuch, die Gorillas dorthin zu schicken. Ich hoffe sehr, dass sie die Wunde rasch schließen können. Ich kümmere mich inzwischen um den Geisteszustand der MOBY DICK.«

Connor nickte nur und schloss seine Augen. Die mittlerweile schon sprichwörtliche geistige Labilität der Slide-Wesen bereitete auch ihm Sorgen. Wie leicht selbst ganze Schwärme dieser erstaunlichen Wesen in den Tod gerissen werden konnten, hatte ihre Clan-Chefin Enya erst vor Kurzem bewiesen. Und auch ihm war bekannt, dass sich momentan nur 13 Gorillas an Bord des Lebendraumschiffes befanden. Dass eine normale Gorilla-Besatzung aus rund 2.000 Affenähnlichen bestand − von denen die meisten wohl für planetare Kampfaktionen vorgesehen waren − beruhigte die beiden Rigelianer nur wenig. Niemand wusste wirklich zu sagen, wie viele Gorillas allein für das Wohlbefinden eines Slide-Wesens vonnöten waren. Von der Behandlung offensichtlich massiver Verletzungen einmal ganz abgesehen.

Während Connor telepathisch nach Caesar rief, tauchte Naya tiefer in die leidende Seele des Slide-Wesens ein und war sich dabei bewusst, dass sie auch die körperlichen Schmerzen wahrnahm und verhindern musste, dass sie davon überwältigt wurde.

Wie kann ich dir helfen?, sandte sie mit aller Kraft und hoffte, die MOBY DICK würde ihr auf irgendeine Weise antworten. Das lebende Schiff überrollte Naya sofort mit einem Chaos aus Bildern und Szenen, von denen etliche gar nichts mit der jetzigen Situation zu tun haben konnten. Die Rigelianerin sah Ereignisse in klein gehackten Fitzelchen, die sie anfangs überhaupt nicht einordnen konnte. Mentale Schreie durchzogen wie extrem verzerrte Walgesänge ihr Gehirn, quälten sie auf doppelte Weise, bis sie erkannte, dass die Schreie auch ihre eigenen waren, die sich mit den realen, akustischen Lauten der MOBY DICK vermischten und ein Heulen ergaben, das auch Connor in seinem Netz erreichen musste. Naya versuchte, einzelne Qualen des Slide-Wesens zu erhaschen und sie abzumildern. Ein Angriff auf die Gesamtheit der Pein erschien ihr aussichtslos. Die Rigelianerin fing sich eines dieser Fragmente, klammerte sich mental daran fest und umhüllte es mit beruhigenden, positiven Empfindungen.

Ich bin auch ein Sender, versuchte sie sich selbst Mut zuzusprechen, und begriff, dass sie das erste Schmerzfragment neutralisiert hatte. Von diesem überraschenden Erfolg beflügelt, stürzte sich Naya förmlich auf das nächste Bruchstück der Qualen, welche das Slide-Wesen erschütterten.

Und dann warf die dritte Schockwelle aus dem Einsteinraum all ihre Hoffnungen über den Haufen.

Die MOBY DICK schüttelte sich, als würde ein Gott sie als Würfel in einem riesigen Becher auf und ab schleudern. Die beiden Menschen pressten ihre Kiefer aufeinander, damit sie sich nicht selbst die Zungen abbissen. Wären sie außerhalb ihrer elastischen Gespinste gewesen, hätten sie sich unweigerlich mehrere Knochen gebrochen.

Naya zuckte durch den Kopf, wie es dem Plagajo in seiner Kabine wohl ergehen könnte. Um die Affenähnlichen machte sie sich dagegen weniger Sorgen.

Die Gorillas sind mit so harten Muskeln ausgestattet, dass sie eher eine Gefahr für die empfindlicheren inneren Körperteile der MOBY DICK sein dürften.

»Wo ist Caesar?«, schrie sie und fürchtete, Connors Antwort könnte sie ihre Beherrschung verlieren lassen.

»Ich habe keine Ahnung. Aber einer der Mazzar-Monitore meldet einen Hüllenbruch an der MATA HARI. Das Scoutschiff steht in dem Hangar, dessen Außenhaut durch die Schocks aufgerissen wurde. Dort muss es die MOBY DICK am heftigsten getroffen haben. In dem Bereich herrscht jetzt ein Vakuum!«

Dann ließ ein neuer Gedanke Naya eiskalte Schauer über den Rücken jagen: Wenn Nice dieser dritte Schock dort erwischt hat, könnte sie aus dem Schiff geschleudert worden sein!

Sie hatte kaum den Satz zu Ende gedacht, als die MOBY DICK ihrerseits konsequent handelte: Das Lebendraumschiff zog sich dorthin zurück, wo es keinen weiteren Sprungschocks mehr ausgeliefert war: dem Einsteinraum. Nur nebenbei zuckte der Empathin die Frage durch den Kopf, wie etwas, was im Einsteinraum ausgelöst wurde − und dort Mazzar, Menschen und andere Raumfahrer bei jedem Sprung malträtierte −, sich für ein Slide-Wesen wenig oder offensichtlich gar nicht bedrohlich gestaltete. Im Nexus hingegen führte dasselbe Ereignis zu meist tödlichen und alles vernichtenden Schocks.

Denkfehler, meine Liebe: Die Schocks entstehen beim Ein- und Austritt in und aus dem Ultraraum! Die Schocks zeigen aber erst im Nexus ihre verheerende Wirkung, im Einsteinraum merken wir davon gar nichts. Dennoch: Wir wissen im Grunde viel zu wenig über die Physiologie dieser Wesen oder die physikalischen Gesetze dieser Dimension. Wie können sie überhaupt sliden? Wieso macht ihnen der freie Weltraum keine Probleme? Und wie schaffen sie es, in ihrem Inneren eine Schwerkraft zu erzeugen?

Dann unterlag sie der Flut der Eindrücke und fiel in gnädige Bewusstlosigkeit.

»Naya?« Eine Hand rüttelte am Gespinst der Rothaarigen und machte Anstalten, die Frau aus dem Gewebe zu lösen.

»Lass mich, Connor«, wehrte Naya ab und überlegte, ob sie ihre Augen noch ein wenig geschlossen halten sollte, um den Zeitpunkt hinauszuzögern, der sie wieder in die harte Realität zurückbringen würde.

»Geht es dir gut, Cousine?«

Naya öffnete ihre Augen und sah ihren Verwandten mit einem warmen Lächeln an. »Cousine? Auch wenn es nicht ganz stimmt, Cousin, gefällt mir das Wort. Und ja: Es geht mir gut. Aber ich möchte jetzt den Kontakt zur MOBY DICK nicht verlieren. Wo sind wir?«

»Wieder zurück im Einsteinraum. Das Slide-Schiff hat einen unkontrollierten Fluchtsprung, nein: einen Notfall-Slide vollzogen.« Er zögerte kurz. »Ich weiß nicht, wo wir sind.«

»Nice?« Naya war nicht in der Lage, eine vollständige Frage zu formulieren. Ihr Herz schlug mit jeder Sekunde, die Connor ohne Antwort verstreichen ließ, schneller und heftiger.

»Nicht mehr an Bord«, kam es leise und knapp von dem muskulösen Mann zurück, der jetzt den Eindruck machte, dass er lieber gegen einen physisch anwesenden Gegner gekämpft hätte, als gegen eine Situation, an der er momentan nichts ändern konnte.

Naya fühlte, dass seine Angst auch von dem Gedanken geschürt wurde, dass sie in absehbarer Zeit – oder vielleicht niemals – etwas dagegen tun könnten.

»Und Freitag?«

»Ebenso. Genau wie der Plagajo. Auch die Außenwand seines Quartiers ist aufgerissen und er wurde sicher ins All geschleudert. Ich betrat im Schutzanzug den Raum und konnte am Rand des Risses Spuren seiner Krallen entdecken und nirgends sonst. Er hat sich nicht in andere Bereiche des Schiffes retten können. Fenrir ist tot.«

Die Rigelianerin nickte. »Mir war der Plagajo immer unheimlich. Und wir hätten ihn ohnehin irgendwann töten müssen. Ihn solange einzusperren, bis wir Bérénice wiederfinden, wäre unmöglich gewesen. Und ohne sie hätte er uns früher oder später angegriffen, da bin ich mir sicher.«

»Ja, da gebe ich dir recht. Vielleicht war es Schicksal, dass er aus dem Schiff geschleudert wurde. Bérénice hätte uns vielleicht Vorwürfe gemacht, dass wir keine andere Lösung gefunden hätten, als ihn zu töten. Jetzt bleibt ihr nur der Roboter als Schutz … wenn er bei ihr ist.«

Die Rigelianerin schaffte es, ein halb verzagtes Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern, das aber noch eine andere Wertung in sich trug. »Ich verwette meinen strammen Arsch darauf, dass der BEHEMOTH nicht von ihrer Seite gewichen ist. Er ist bei Nice!«

»Hoffentlich.« Connor trat ein paar Schritte von ihr zurück, breitete beide Arme aus und sah sie wieder an. »Was tun wir also? Nice und Freitag sind irgendwo im Nexus verschollen. Die MOBY DICK ist verletzt und wir wissen augenblicklich nicht, wo wir uns befinden.«

»Missing In Action«, sagte Naya und sah ihn ruhig an.

»Was?«

»Ein Begriff aus der prä-atomaren Zeit der Erde. Die Terranische Föderation benutzt ihn noch heute.« Dann verstrichen ein paar Sekunden, bis sie weitersprach. »Die Gorillas scheinen den Riss im Körper der MOBY DICK geschlossen zu haben. Ich empfange zwar noch Schmerzwellen von der Stelle, aber deutlich geringere. Wie lange war ich bewusstlos?«

»Knapp drei Stunden laut meinem Chrono. Ich war ebenfalls weggetreten. Nicht so lange wie du. Ich habe nur darauf gewartet, dass du aufwachst. Ich werde nach Caesar suchen und mir die Stelle ansehen.« Als sie nichts darauf erwiderte, wandte er sich um und wollte schon aus der Zentrale gehen. Dann überlegte er es sich. »Wenn die MOBY DICK dazu in der Lage ist, sollten wir nach Hause fliegen, Enya und die beiden Trutt aufsuchen.«

»Ja, das sollten wir.«

»Wenn wir Bérénice jemals wiedersehen wollen, brauchen wir die Trutt.«

»Und wir sollten uns beeilen, Connor. Mir wird ganz schwindelig, wenn ich daran denke, wie sie sich fühlen muss: Allein in einer fremden Galaxis. Allein in einer fremden Dimension … vollgestopft mit Feinden.«

»Und niemand weiß, wie man den Faktor Zeit berücksichtigen muss. Ich stimme dir zu, Cousine: Eile tut not!«

Ultraraum / Einsteinraum

»Pilot an Kommandant: Admiral, wir erreichen das Illurion-System in 10 Minuten. Bereite Ende Ultraraumflug vor.«

Die militärisch knappe 10-Minuten-Meldung entsprach dem üblichen Prozedere, doch Admiral Titus van der Moiren hätte sie nicht gebraucht. Seit mehr als einer Stunde saß er auf seinem Platz und zermarterte sich den Kopf, worauf sie wohl stoßen würden.

Die TSS EASTWOOD, Schlachtschiff der 15. Taktischen Kampfflotte, sein Schiff − und seit seiner Ernennung zum Admiral vor gut einem Jahr auch das Flaggschiff der 15. −, gab all die Geräusche von sich, die ein Raumschiff im Ultraraum für gewöhnlich von sich gab: Das stetige Summen und leise Klicken laufender Maschinen, das manchmal beruhigend, manchmal nervtötend sein konnte. Was van der Moiren aber zusätzlich nervte, war die Tatsache, dass er, wie auch die komplette Besatzung des Raumschiffes, ihre schweren Kampfanzüge angelegt hatten. Er hatte gehofft, dass dies bei Anflügen auf ein Mazzar-System nicht mehr notwendig sei. Doch heute – und vielleicht von nun an wieder – zwangen sie die Umstände dazu.

Zu den synthetisch erzeugten Lauten fügten sich die geflüsterten Meldungen der Brückenbesatzung hinzu, die sie an ihre Kollegen und unmittelbaren Vorgesetzten richteten. Sie erschienen dem Admiral geradezu wie ein Vorheucheln normaler Umstände. Andere Kommandeure bestanden auf Meldungen in einer Lautstärke, die sie für alle Anwesenden in einer Zentrale hörbar machte. Van der Moiren hatte gleich zu Beginn seiner Karriere als Kommandant darauf geachtet, dass seine Crews zwischen Routine-Meldungen und außergewöhnlichen Meldungen zu unterscheiden wussten. Die Folge davon war, dass normalerweise eine konzentrierte, zum Nachdenken anregende Ruhe in seiner Zentrale vorherrschte. Nur war die aktuelle Situation nicht normal.

Seit dem Angriff der Hydren auf die Erde sind ganze 18 Tage vergangen! Wenn wir mit unserer Warnung zu spät kommen, erleben wir eine neue Phase des Terra-Mazzar-Krieges.

Und ein zweiter Gedanke machte dem Mann mit dem markanten Schädel Sorgen.

Wir haben den Mazzar vor drei Monaten große Kontingente SuGs übergeben. Und jetzt müssen wir ihnen sagen, dass sie sie nicht benutzen dürfen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Hardliner unter den Mazzar – allen voran die Traditionalisten – es als Verrat deuten werden. Ich kann nur hoffen, dass das Ende des Bürgerkrieges auch wirklich das Ende der alten Gesellschaftsklassen der Kröten bedeutet. Laut unseren Informationen gehörte das Illurion-System den Traditionalisten.

Van der Moiren seufzte, wie er glaubte, unhörbar.

Genau aus diesem Grund haben mich Präsident Akono Diya und Lemurr hierhergeschickt. Lemurr hatte den kürzeren Weg zu Violetta III. Wenn er dort rechtzeitig angekommen ist, wenn er die Lage klären konnte und wenn er …

Titus brach ab. Zu viele Wenn´s. Dann blickte er kurz auf sein Display und erwartete den kommenden Sprungschock mit angespannten Muskeln. Je näher sich das Chrono der Rücksprungzeit näherte, desto weißer traten seine Handknochen hervor, die zu beiden Seiten die Lehnen seines Kommandantensessels umklammerten.

»Vier … drei … zwei … eins … NULL.«

Von allen Seiten drang Stöhnen und Ächzen auf van der Moiren ein. Sein eigenes wurde mehr von seiner Anspannung genährt, als von den Auswirkungen des Sprunges selbst. Als sich seine Augen klärten und rasch den Hauptmonitor und die Anzeigen vor ihm überflogen, wich die Starre aus seinen Händen.

Die in seinem Herzen blieb.

»Status Flotte?«

»Empfange Klar-Meldungen …«, und nach einer kurzen Pause: »Alle Schiffe in vorgesehener Formation, Sir.«

38 Schiffe … die Hälfte der 15. Die andere ist unter dem Kommando Hazelwoods auf dem Weg nach Gharuharr. Wir brauchen auch die Hilfe der Sambolli und anderer Verbündeter.

»Ortung an Kommandant: Zahlreiche Wracks und Trümmerteile erstrecken sich um die Zentralwelt und die beiden Nachbarplaneten. Einer der größeren Monde existiert nicht mehr. Wenn unsere Systemdaten stimmen, müsste es sich um den Hauptmond der Zentralwelt handeln.«

»Orter-Crew: Sofort zwei Dutzend schwere Weiber1 im System verteilen! Ich will wissen, wie groß der Schaden ist.« Dann drückte er die Taste All Ships. »An alle Schiffe: Fernortung volles Spektrum! Suchen Sie nach Hydren-Schiffen, die sich hier noch herumtreiben könnten! Waffen-Crew: SuGs scharfmachen! Feuer nur auf mein Kommando. Permanenter Com-Kontakt! EASTWOOD Com-Crew: Versuchen Sie, mit Illurion eine Verbindung herzustellen! Hoffen wir, dass dort noch jemand am Leben ist.«

Als hätte man den Tratschweibern zugeflüstert, dass es dort draußen den allerneuesten Klatsch zu hören gab, schossen sie in das System hinein und stellten ihre elektronischen Lauscher auf Maximum. Binnen weiterer sieben Minuten trafen die ersten Rückmeldungen ein … und Aufnahmen, die alles übertrafen, was van der Moiren und wohl viele andere Terraner in dieser Flotte erwartet, zumindest befürchtet hatten.

Die Sonne Illurion beschien eine zerstörte Welt. Städte brannten, Feuersbrünste rasten noch immer über die Welt, obwohl der Angriff der Hydren mindestens mehrere Stunden, vielleicht einen Tag zurückliegen musste. Dort, wo nicht die Flammen dominierten, zogen Staub- und Aschewolken über vernichtete Wälder, Felder und einst grüne Parks und Freizeitanlagen hinweg. Über Sümpfen verharrten Schwelbrände und Dampfwolken. Man sah Bilder von seltsam geformten Kratern. Keiner glich dem anderen. Erst allmählich wurde den Beobachtern klar, dass dort Seen bis zu beachtlicher Größe einfach verdampft sein mussten.

Van der Moiren trafen die Bilder, die alle in der Zentrale auf dem Hauptbildschirm verfolgen konnten, mit einer Wucht, die er als Raumsoldat nur selten in ähnlicher Weise erlebt hatte. Schreckliche Nahaufnahmen, die er aus dem Krieg mit den Mazzar nur mit menschlichen Leichen kannte.

Die Tratschweiber kannten kein Mitleid. Nur den Auftrag, alles so genau und gestochen scharf zu übertragen, wie ihre hervorragenden Systeme es ihnen ermöglichten. Längst waren die Modelle für planetare Erkundungen den größeren Weltall-Versionen gefolgt und übernahmen die schaurige Aufgabe, die Verwüstungen auf dem Planeten aus der Nähe zu übermitteln und gleichzeitig zu dokumentieren.

Als dann die Sonden so tief flogen, dass sie Einzelheiten erfassen konnten, wurde es in der Zentrale der TSS EASTWOOD noch leiser als zuvor. So mancher Beobachter wünschte sich, die Aufnahmen würden weniger Details zeigen. Minuten der Stille verstrichen und irgendjemand konnte sein Weinen nicht verbergen.

»Sir?«

Die Stimme eines Analytikers der Orter-Crew drang bis in den letzten Winkel der Brücke, obwohl der Mann sie kaum erhoben hatte. Auch ohne den deutlich portugiesischen Akzent hätte der Admiral den Mann sofort erkannt.

»Ja, Soares?« Der Angesprochene vermerkte mit Erstaunen, dass sein Kommandant den Namen sogar in der korrekten portugiesischen Variante mit risch am Ende aussprach, statt wie viele seiner Kameraden, die Soares sagten. »Haben Sie etwas entdeckt, was unsere Bomben dort unten übriggelassen haben?«

»Ja, Admiral. Ich konnte bis zu diesem Moment auf der südlichen Hemisphäre von Illurion I mindestens vier Kadaver von Slide-Wesen orten. Einer ist mehr oder weniger nur noch Matsch; die drei anderen aber sind in einem Zustand, der genug … Material für eine lohnende Bergung aufweist.«

Als eine der Sonden einen der riesigen Körper erfasste, erhob sich eine Frau neben Soares und übergab sich.

Van der Moiren nickte. »Ich verstehe, was Sie damit andeuten wollen. Gute Arbeit. Wir lassen bei allen Körpern Bergungsteams landen und sie so behutsam aufnehmen, wie es nur geht. Die … Körper sollen auf die TSS ATLAS gebracht und dort zerfallsfrei gelagert werden. Bis wir die Erde wieder erreichen, dürfte ein Stasisfeld2 in einem Hangar ausreichen. Ich kommandiere die ATLAS und zwei Zerstörer zu ihrem Schutz zur Erde ab. Die gesamte Forschergruppe SLIDE wird kopfstehen, das verspreche ich Ihnen. Hoffen wir, dass diese Körper uns schneller voranbringen, als die bislang sehr spärlichen Informationen der Trutt.«

Van der Moiren wusste, dass viele in der Föderation die Tötung mindestens eines der Deserteur-Slide-Schiffe gefordert hatten, um es bis in die letzte Zelle zerlegen und studieren zu können. Jetzt konnte er mit sogar drei oder vier Körpern diese Forderung entkräften, ohne selbst zum Mörder geworden zu sein.

Wenn man die Lebendschiffe im All überhaupt töten konnte, dann nur so, dass von ihnen nicht mehr als zerstiebende Atome übrigblieben. Die Titanenkinder besaßen auch nur einen verschrumpelten Ascheklumpen. Die Illurion-Mazzar müssen mit allem auf die Schiffe der Hydren gefeuert haben, was ihnen zur Verfügung stand. Ihre Bomben … unsere Bomben.

»Sir: Jemand ruft uns von Illurion III.«

»Auf den Schirm!«

Das von Störungen immer wieder aussetzende Bild zeigte einen Mazzar. Zumindest vermutete Admiral van der Moiren, dass es sich um einen männlichen Mazzar handelte. Dass er sich darin täuschte, verrieten die mit Hass erfüllten Worte, welche der Krötenabkömmling zwischen dicken Batzen provokant ausgespuckten Schleims hervorstieß.

»Tausend faule Eier! Mein Name ist Dayass, die Stellvertretende Planetare Koordinatorin von Illurion III. Ich bin alles, was von Illurions Führung noch am Leben ist. Sind Sie gekommen, um uns den Rest zu geben, Terraner? Genügt es Ihnen nicht, dass Ihre Bomben nur Krötenscheiße hinterlassen haben, anstelle toter Hydren?«

Van der Moiren kam nicht dazu, die Mazzarin aufzuklären. Von sporadischen Bild- und Ton-Aussetzern unterbrochen, schimpfte und fluchte Dayass mehrere Minuten auf Terranisch, dann schien ihr Translator auszufallen und die Übertragung gab nur noch wütende Klacklaute von sich.

Soares war aufmerksam genug, das mittlerweile in jedem terranischen Arbeitspult gespeicherte Translator-Programm zu starten, wodurch die Menschen die restlichen Beschimpfungen wieder verständlich über sich ergehen lassen konnten, bis der Frau der Atem oder die Kraft auszugehen schien. Am Ende schaffte sie es aber noch, einen eklig gelbgrünen Brocken auf die Linse ihrer Kamera zu spucken, dann verstummte sie.

»Dayass: Ich … wir sind ursprünglich gekommen, um den Einsatz der Sodom-und-Gomorrha-Bomben zu verhindern und Sie vor einem Angriff der Hydren zu beschützen. Leider sind wir zu spät gekommen. Ich bedaure dies wirklich von Herzen. Die Bomben wurden von terranischen Terroristen manipuliert, um den Frieden zwischen unseren Völkern wieder in Krieg zu verwandeln.«

Als Antwort kam ein weiterer Brocken Schleim und van der Moiren musste sich zusammenreißen, die Verbindung aufrecht zu erhalten.

»Glauben Sie mir, Dayass! Lemurr, Ihr Erster Spender der Nestmutter, hat mir das Illurion-System als Ziel vorgeschlagen. Bitte teilen Sie mir mit, wie wir Ihnen helfen können. Wir bleiben solange, bis wir Ihnen entweder zuverlässige SuGs überreichen dürfen oder Sie natürlich vor weiteren Angriffen der Hydren beschützen können.«

»Sie wollen uns noch mal diese Drecksbomben an den Hals werfen?«

»Nein … ja; Sie verstehen nicht!«

»Wenn Sie glauben, ich würde noch über eine funktionierende Raketen-Batterie verfügen, dann hätten Sie diese längst zu spüren bekommen, Terraner! Wir werden bis zum letzten Atemzug gegen Sie kämpfen, sollten Sie es wagen, Landetruppen zu entsenden. Ein einziges unserer Kurierschiffe konnte entkommen. Es wird also bald Hilfe eintreffen. Und Sie wissen, was wir unter einer Entsatz-Flotte verstehen, nicht wahr, Terraner?«

Der Admiral schüttelte den Kopf und sah mit ziemlicher Frustration, wie die Störungen sich erst häuften und nach einem blendenden Flackern die Verbindung komplett zusammenbrach.

»Com-Crew: Versuchen Sie erneut …«

»Alarm! Eine Flotte aus 132 … 185 … 211 Feind-Schiffen stößt auf uns zu!«

»Diese Mazzar-Entsatz-Flotte?«

»Negativ, Sir: Hydren!«

Van der Moiren ärgerte sich über sich selbst, dass er im Sog der schiefgelaufenen Unterhaltung in alte Reaktionsmuster verfallen war. Offensichtlich war ihm hier die Besatzung der Orterstation einen Schritt voraus.

»Okay, dann wollen wir Dayass und allen Mazzar im System zeigen, wozu wir hier sind!«


  1. Tratschweiber: faustgroße, kugelförmige Spionagesonden; mit neuester Tarntechnologie ausgestattet. Mehrere Modelle: Miniaturisierte Version für Aktionen in Gebäuden (Tratschfliegen), für planetare Erkundungen (Tratschweiber), für orbitale Ortungen (schwere Tratschweiber; o. a. schwere Weiber).

  2. Stasisfeld: Im Gegensatz zu einer voll ausgestatteten Stasiskammer kann ein Stasisfeld darin eingeschlossene Lebewesen nur für eine begrenzte Dauer schützen. Dafür können Stasisfelder deutlich größere Ausmaße annehmen.

Déjà-vu 2

Freitag hatte am nächsten Morgen auf einen nochmaligen Einwand verzichtet und war – beladen mit dem Ausrüstungspaket – vor ihr in den Wald marschiert. Bérénice trug als Gepäck nur das Mini-Labor, ihr Katana, eine Lasersichel und einen Pulser. Mehr oder weniger hielten sie eine grobe Richtung bei, die sie anhand des Sonnenlaufes als Südwesten bezeichneten. Über Stunden hinweg sprachen sie nichts und hielten ihre so unterschiedlichen Augen und Ohren offen. Ohne Zweifel setzte der BEHEMOTH auch seine anderen Sensoren ein. Bérénice hatte ebenfalls ihre mentalen Fühler ausgestreckt, empfing aber rein gar nichts.

Die Agentin war immer noch davon fasziniert, dass sie auf Crusoe nicht ähnlichen Gefahren ausgesetzt war wie während ihrer Flucht aus dem Kriegsgefangenenlager auf Samboll. Natürlich blieb sie dennoch vorsichtig und äußerst aufmerksam.

Wie unterschiedlich Dschungel doch sein können, dachte Bérénice. Sogleich korrigierte sie sich. Das hier ist kein Dschungel im klassischen Sinne. Ich habe weder Schlingpflanzen noch eine überschäumende Blütenpracht gesehen. Ja, Crusoe besitzt eine exotische Flora … aber alles in einem verhältnismäßig überschaubaren Rahmen. Und zu meiner Freude ist dieser Wald auch keine vor Feuchtigkeit triefende Sauna. Das Viehzeug hält sich erfreulicherweise zurück. Auf anderen Inseln oder Kontinenten mag das völlig anders sein. Aber zumindest dieser Wald macht irgendwie den Eindruck, als sei er nicht extrem fremdartiger als die Wälder auf Terra. Auch dass diese Welt Teil einer fremden Dimension ist, scheint daran nichts zu ändern. Unsere Planetologen würden Crusoe garantiert als Klasse-M-Planeten1 einstufen. Und diesen Wald könnte man durchaus als Urwald, als unberührtes Stück Natur bezeichnen.

Sie legten bis Mittag eine bemerkenswerte Strecke zurück – Bérénice schätzte knapp 15 Kilometer –, was auch daran lag, dass der Bewuchs von Stunde zu Stunde weniger wurde, mehrfach baumfreie Areale zeigte und allmählich in eine Steppe überging, die leicht hügelig, und somit immer noch für überraschende Entdeckungen gut war.

Als sie dann die letzten Ausläufer des Waldes endgültig hinter sich gelassen hatten, blieb Bérénice stehen. »Ich brauche eine Pause, Freitag. Außerdem habe ich Hunger.«

Der Roboter drehte sich zu ihr um. »Denken Sie an eine kurzfristige Unterbrechung oder soll ich ein Lager aufschlagen?«

»Nein, nicht nötig. Ich will nur etwas essen, vielleicht ein wenig dösen, dann aber bis zum Abend weitermarschieren.«

Freitag ließ einfach seine Lasten zu Boden sinken und entnahm der Ausrüstung ein kleines Päckchen. Mit wenigen Handgriffen hatte er ein etwa zwei Quadratmeter großes Stück dünnen azurblauen Stoffes entfaltet und mit einem filigranen Metallgestänge zu einem veritablen Sonnensegel geformt. Mit beiden Armen hielt er es in die Höhe.

»Sie sollten Ihre Pause im Schatten verbringen, Agent Savoy. Auch wenn Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe mehr Sonnenstrahlung vertragen als hellhäutige Menschen, sind Sie damit vor Sonnenbrand nicht gefeit.«

Bérénice nickte nur, setzte sich in den beschatteten Bereich des weichen Bodens und machte sich über einen Rest Tripod-Fleisch her. Dabei ließ sie ihren Blick über die Steppe wandern und konnte sich einer seltsamen Regung nicht erwehren. Das Grasland, auf dem sie ruhte, ging in einer Distanz von einigen hundert Metern in eine steinige Landschaft über. Noch weiter entfernt – fast schon am Horizont – zeigten sich zwischen den Hügeln kegelige Pflanzen oder pyramidenförmige Gebilde, die sie für das hiesige Pendant von Termitenhügeln hielt.

Mir ist, als wäre ich schon einmal hier gewesen, dachte sie verwirrt und kaute auf dem aromatischen Fleischstück herum. Aber das ist völlig unmöglich.

Sie stillte ihren Hunger, trank mehrere Schlucke Wasser und ließ sich dann wohlig zurücksinken …

»Wachen Sie auf, Agent Savoy!« Der Ruf Freitags und seine kurz danach hörbaren Schüsse, rissen die Agentin in die Höhe. Entgegen ihrer Absicht musste sie doch in tieferen Schlaf gefallen sein, denn die Sonne hatte ihren Höchststand längst verlassen und schickte schräge Schatten über die Steppe.

Und ließ damit die Bedrohung, die der Roboter immerhin als so stark einstufte, dass er sie unter heftiges Feuer nahm, noch schrecklicher wirken. In unnatürliche Länge verzerrte Schemen näherten sich ihnen überraschend schnell aus Richtung der Steinwüste. Zunächst erfasste die Ex-Trooperin gar nicht, auf was der Kampfroboter da schoss. Aber als sie dann sah, was da auf sie zukam, weigerte sich ihr Gehirn für volle zwei Sekunden, die Wesen als das anzuerkennen, was sie waren.

Katapultkäfer!

Unmöglich!

Diese Mistviecher waren nur eine Simulation in einer Orange-Button-Trainings-Stufe.

Bérénice verfolgte, wie Freitag mit maschinenhafter Präzision einen dieser Käfer nach dem anderen in eine zerstiebende Wolke aus Chitin-Fragmenten und zerfetzten Organen verwandelte. Aber eines begriff die Agentin sofort: Entgegen der damaligen Übungsphase tauchten zwei Mal so viele Käfer aus ihren Erdlöchern auf, als der Roboter und sie würden erledigen können. Auch wenn er keinen einzigen Fehlschuss machen würde: Irgendwann hätte er keine Munition mehr. Mit steifen Gliedern verfolgte die Agentin das Massaker, das der BEHEMOTH unter den Tieren anrichtete. Und dann schob sich eine weitere Erinnerung aus den Tiefen ihres Bewusstseins nach oben:

Wenn sie nahe genug sind, werden sie ihre Betäubungsstacheln auf mich schleudern.

Im Augenblick sah es aber nicht danach aus, als dass Freitag auch nur einem Angreifer so eine Nähe gestatten würde. Der Halbkreis der toten Kadaver und ihrer vielteiligen Überreste hatte eine Spannweite von über fünfzig Metern. Und der BEHEMOTH hatte längst erkannt, in welchem Tempo er sich drehen musste, um diesen Sicherheitsabstand aufrechterhalten zu können.

Weiß Freitag von diesen Trainings-Szenarien? Kennt auch er die Programmierung jeder einzelnen Orange-Button-Stufe? Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken und längst überwunden geglaubte Ängste ließen ihre Pupillen zu kreisrunden Flecken mutieren. Ist das alles nur ein Albtraum oder grausame Realität?

Und dann brach der Boden rings um sie auf und ließ sie alle Zweifel beiseite wischen wie lästige Fliegen auf der Haut.

Bérénice Savoy nahm mit ihrer Linken die Lasersichel, mit der Rechten den Pulser und jagte schon die ersten Geschosse in die Löcher, als die Käfer darin noch nicht einmal ihre Köpfe zeigten. Sie hörte die schmatzenden und knisternden Geräusche, wenn deren Körper zerrissen wurden. Sie hörte aber auch, wie es dahinter oder daneben erneut raschelte, kratzte und Erdbrocken beiseite rutschten, um neue Gegner an die Oberfläche gelangen zu lassen.

Mehrfach hatte sie den Eindruck, sich in einer Zeitschleife zu befinden, als die Anzeige ihrer Waffen in rasendem Tempo der null zustrebten.

Das ist kein Déjà-vu. Ich erlebe es wirklich … und das ist einfach unmöglich!

Entweder lag es daran, dass sie sich nicht inmitten der steinigen Steppe befand oder daran, dass sie dieses Mal von einer der perfektesten Kampfmaschinen der Terranischen Föderation beschützt wurde: Die Käfer ließen irgendwann davon ab, die einsame Frau als Futter für ihre Nachkommen zu betrachten.

Dennoch stand Bérénice schwer atmend inmitten von zu Matsch gewordenen Käfer-Kadavern und verbuchte grimmig, dass sie nicht einen einzigen Stachel im Leib verspürte. Mit nicht wenig Verwunderung registrierte sie, dass ihre beiden modernen Waffen zu ihren Füßen lagen und sie das vor Schleim triefende Katana in Händen hielt. Wann sie die leergeschossenen Handwaffen gegen das Schwert eingetauscht hatte, wusste sie nicht mehr. Sie war schweißgebadet und in ihrem Kopf drehten sich die verrücktesten Gedanken.

Nur Freitag stand wie ein Fels und würdigte die rauchenden Ausstoßöffnungen seiner Waffenarme weder mit einem Blick noch mit einer Bemerkung. Dafür schien ihn etwas anderes zu beschäftigen.

»Wir sollten uns entweder in den Wald zurückziehen oder für Sie ein stabileres Nachtlager errichten. Ich kenne diese Spezies nicht und kann daher nicht beurteilen, ob diese Insekten auch nachts angreifen könnten. Meine Munitionsvorräte wurden bedenklich dezimiert. Sollte eine ähnliche Zahl dieser Insekten angreifen, könnte der Vorrat möglicherweise nicht ausreichen. Ich schlage also vor, dass wir uns von der Steppe so weit als möglich entfernen. Wenn Sie zu erschöpft sind, kann ich Sie und die gesamte Ausrüstung tragen. Allerdings wäre dann die Einsatzfähigkeit meiner Waffenarme eingeschränkt.«

Bérénice nickte müde, schüttelte aber anschließend ihren Kopf. »Ich kann marschieren, Freitag. Wir gehen in den Wald zurück und errichten dort eine Hütte, groß genug, dass ich darin schlafen kann.«

Ohne auf eine Antwort des Roboters zu warten, nahm sie ihre Sachen auf und wandte sich dem fernen Waldrand zu. Als sie endlich im Wald standen, war sie zu erschöpft, um dem BEHEMOTH beim Nachtlager zu helfen oder mit ihm die Unmöglichkeit der Situation zu diskutieren. Sie sah ihm mit bleiernen Gliedern zu, wie er in kürzester Zeit aus kräftigen Stämmen einen Verschlag fabrizierte, in den sie sich niedersinken ließ und sofort einschlief.

Trotz ihrer Müdigkeit erwachte Bérénice bei den ersten Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach und die Ritzen ihrer Behausung auf ihr Gesicht fielen. Sie hatte eine Nacht mit unruhigem Schlaf und mehrfachem Aufschrecken hinter sich gebracht, fühlte sich wie gerädert und unwohl, da sie es hasste, wenn sie nach Schweiß roch. Sie rappelte sich hoch und trat aus der kleinen aber stabilen Hütte ins Freie. Freitag stand unmittelbar davor und hielt ihr Wasser und Nahrung entgegen.

»Sie sollten sich stärken, Agent Savoy, bevor wir weiterziehen. Ich schlage einen Kurswechsel vor. Die Steinsteppe könnte zur Gänze das Revier dieser Insekten sein. Um unsere Kräfte und Munitionsvorräte zu schonen, sollten wir im Wald bleiben, bis wir die Steppe umgangen haben.«

Bérénice hatte wie eine Ertrinkende nach dem Wasser gegriffen, die Flasche in einem Zug fast geleert und kaute mit Eifer auf ihrem Frühstück herum. Während sie aß, nickte sie und spülte dann mit dem letzten Schluck die Krümel hinunter.

»Einverstanden, mein Freund. Aber zuerst muss ich dir sagen, was gestern passiert ist.«

Der BEHEMOTH schien für den Bruchteil einer Sekunde verwirrt zu sein, dann antwortete er: »Ich war dabei, Agent Savoy. Sie müssen mir den Kampf nicht schildern.«

Seine gestrige Aussage, dass er die Käfer nicht kenne und die aktuelle Reaktion zeigten Bérénice, dass zumindest eine ihrer Befürchtungen grundlos war. Mit deutlich befreiter Stimme begann sie zu sprechen.

»Bevor wir uns kennenlernten und auch lange Zeit danach, Freitag, herrschte in meinem Gehirn ein ziemliches Durcheinander. Zum Teil waren es Erinnerungen an diverse Orange-Button-Übungen meiner Agenten-Ausbildung. Andere sonderbare Störungen wurden durch Medikamente und Drogen ausgelöst.«

Bérénice verzichtete darauf, ihm zu offenbaren, dass diese Manipulationen ihres Gehirns von Mazzar und Menschen in sie gepflanzt worden waren. Alter Zorn wallte in ihr für eine Sekunde auf, verschwand dann aber wieder genauso rasch. Sie senkte ihre Stimme und sah Freitag direkt in die elektronischen Augen.

»Ein fast identischer Kampf gegen diese Käfer war Bestandteil eines dieser Flashbacks! Nun glaube ich wirklich nicht, dass es die zugegeben cleveren Schöpfer dieser Übungen geschafft haben, eine Spezies aus dem Nexus in das Orange-Button-Programm einzubauen.«

»Nachdem wir erst durch die Slide-Wesen und die Trutt Zugang zu dieser Dimension erlangt haben, Agent Savoy, und Ihre Ausbildung Jahre zuvor erfolgte, stimme ich Ihren Ausführungen zu 100 % zu. Sie haben schon mehrfach ausgesagt, dass Sie unter Visionen leiden. Ich kann hierzu nichts Konkretes erwidern. Aber vielleicht war dieser damalige Flashback gar keiner, sondern auch eine Vision … vielleicht sogar Ihre erste überhaupt. Ich konnte verfolgen, wie Sie mit Naya, Enya und Connor über die Natur Ihrer mentalen Begabung diskutiert haben. Ich empfehle die Konsultation dieses Personenkreises, sobald wir wieder in den Einsteinraum zurückgekehrt sind oder die eines professionellen Psychotherapeuten …«

»Vergiss es, Blechschädel! Du solltest längst wissen, dass ich solchen Profis nicht den Dreck unter ihren eigenen Fingernägeln abkaufen würde, geschweige denn, die Analyse meines wohl immer noch kranken Gehirns. Wenn, dann können mir nur die Rigelianer helfen … oder die Trutt.«

»Ich möchte Sie dazu auffordern, wieder mehr Optimismus zu üben, Agent Savoy. Auch wenn ich es nicht nachvollziehen kann: Die seelische Stabilität eines im Kampf befindlichen Menschen unterstützt seine Chancen auf Überleben. Ich empfehle Ihnen daher, Ihr Gehirn nicht als krank einzustufen, sondern als außergewöhnlich.«

Autor

  • Werner Karl (Autor:in)

Werner Karl, geb. in Nürnberg, schreibt im Bereich der phantastischen Literatur. Besonders haben es ihm die Genres Dark-/History-Fantasy und Science-Fiction angetan. Bislang liegen 9 Romane vor. Mehrere seiner Storys finden sich in Anthologien des ARCANUM-, NOEL- und ATLANTIS-Verlages. Der Autor ist Mitglied der „Coburger Autorengemeinschaft Schreibsand“ und des „AVF - Autorenverband Franken e. V.“. Er arbeitet im Hauptberuf in der Druckindustrie und lebt mit seiner Familie in Franken.
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Titel: Nexus