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Ethendi - Der dunkle Pakt

von Michael S. V. Preis (Autor:in)
400 Seiten
Reihe: Ethendi, Band 2

Zusammenfassung

Der langjährige Krieg zwischen dem Westlichen Königreich und dem Inneren Reich scheint beendet. Doch der wackelige Frieden, den Elgorath im Begriff ist auszuhandeln, wird erneut auf die Probe gestellt. Verbliebene Parteien sowie neue Kräfte ringen um die Vorherrschaft. Zudem wirft eine längst vergessene Bedrohung ihre düsteren Schatten auf Neliah und Thamion. Und wie ist all dies mit Twingle und der geheimnisvollen Kraft der Ethendi verbunden? Auch der zweite Band von „Ethendi“ besticht einmal mehr durch eine mystische und düstere Geschichte, die sich nicht an gängigen Klischees orientiert, sondern eine realistische Fantasy-Welt erschafft. Dabei bleibt sich Michael S.V. Preis treu und entwickelt das von ihm erschaffene Universum mit authentischen Charakteren weiter. Er verwebt die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seiner Protagonisten erzählerisch und spannend zu einem Gesamtwerk, das es sich zu entdecken lohnt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

da sind wir wieder. Mittlerweile sind beinahe acht Jahre ins Land gezogen, seitdem ich das Vorwort zum ersten Ethendi-Roman geschrieben habe.

Acht Jahre! Eine wahnsinnige Zeitspanne, in der so vieles geschehen ist. In der sich mein Leben und sicherlich auch eures weiterentwickelt und in verschiedenster Hinsicht verändert hat.

Dabei haben die Arbeiten am zweiten Roman bereits sehr früh begonnen. Nachdem der erste Band 2011 in seiner ursprünglichen Fassung erschienen war und die Überarbeitung 2012 für die Neuauflage bei Projekt VielSeitig lief, begann ich bereits mit der Planung und Konzeption der Fortsetzung und dem Schreiben der ersten Kapitel. Als ich Ende 2013 den Erfolg vermelden konnte, dass ich mit dem ersten Schreibdurchgang abschließen konnte, war mir nicht bewusst, dass bis zum tatsächlichen Erscheinen von „Ethendi – Der dunkle Pakt“ doch noch ein so langer Weg folgen würde.

Die wohl größte und bedeutendste Veränderung trat 2015 in mein Leben und bereichert dieses bis heute. Mein Sohn wurde geboren. Ein Moment, in dem die Welt innehält und alles andere vergessen ist. In dem nur noch dieses kleine neue Leben zählt, welches jedes andere Projekt in den Hintergrund rückt. Zudem hatten meine Frau und ich uns kurz vor der Schwangerschaft dazu entschieden den Schritt zu wagen, uns ein kleines Stückchen Freiheit mit unserem eigenen Haus zu ermöglichen. So kam dann vieles zusammen: Renovierungen, unser kleiner Sonnenschein – der bis heute alles lieber tut als zu schlafen – und natürlich auch der alltägliche Wahnsinn im Berufsleben.

Alles Umstände, die dazu führten, dass mein Autorendasein
für einen beinahe zwei Jahre andauernden Zeitraum kaum noch existent war.

Letztlich ist aber das Wie und Warum egal – denn es ist geschafft! Ihr haltet den zweiten Band endlich in den Händen – und das macht mich unheimlich stolz. Und damit meine ich nicht einmal das überwältigende Gefühl, erneut ein eigenes Werk zu vollenden, sondern vielmehr bringe ich großen Dank auch euch entgegen, die ihr so lange warten musstet. Euer stetiges Feedback, sei es in den Sozialen Medien, auf Messen, bei Lesungen oder Vorführungen, es hat mir immer wieder die nötige Motivation gebracht, weiter zu schreiben. Und auch jetzt, nach so langer Zeit seid ihr noch da, und ich freue mich, euch endlich an dieser Geschichte weiter teilhaben zu lassen, die mich selbst bereits so lange begleitet.

An diese Stelle nutze ich diese Zeilen natürlich auch einmal mehr, um mich bei den Menschen zu bedanken, die mich bei diesem Buchprojekt unterstützt haben. Hier möchte ich mich an erster Stelle bei meinen beiden Testleserinnen Maike und Berna bedanken, die mir bereits zu einem frühen Zeitpunkt ein ausführliches Feedback gegeben haben, wodurch ich an vielen Stellen nachjustieren und Verbesserungen einbauen konnte.

Darüber hinaus geht ein sehr großes Lob an meine Lektorin Kata, die sicherlich nicht immer mit mir einer Meinung ist, aber doch an so mancher Stelle den Finger auf die Wunde legt und mir klarmacht, wo und wie ich noch Änderungen einbauen muss.

Natürlich sind auch wieder meine kreativen Begleiter zu nennen, die das Buch illustriert und ihm seine persönliche Note verliehen haben. Ich bin froh, auch in diesem Band wieder Inga an meiner Seite zu wissen, die zu jedem der drei Akte erneut ein tolles Bild angefertigt hat.

Holger, auch an dich ein ganz besonderer Dank – die erweiterte Weltkarte besitzt wieder einen ganz besonderen Charme mit viel Liebe zum Detail. Es ist schön, auch nach so langer Zeit noch einen guten Freund in dir zu wissen.

An dieser Stelle muss ich noch einmal etwas ausholen. Das Cover von „Ethendi – die Runenkriege“ hat sich in den letzten Jahren bereits einmal verändert. Damals war es eine Entscheidung, die darauf beruhte, dass ein Verlagswechsel stattfand. Doch hundert Prozent glücklich war ich mit diesem Entschluss nie. Daher habe ich gemeinsam mit meinem Verlag beschlossen, Ethendi ein hoffentlich letztes und finales Mal in ein neues Gewand zu hüllen. Und hier haben wir mit Stassia (Cottony Art) die perfekte Unterstützung gefunden. Sie hat dem Buch mit ihrer fantastischen Illustration und Neuinterpretation des Ethendi-Schriftzugs einen individuellen Charme verliehen.

Auch dieses Mal ist es mir ein großes Anliegen, meiner Mutter von Herzen zu danken. Einmal mehr hat sie sich die Zeit genommen, alle Texte noch einmal mit mir durchzugehen und mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Doch damit nicht genug, denn auch sonst unterstützt sie unsere kleine Familie, wo sie nur kann. Danke, dass du mir eine so tolle Mutter und deinem Enkel eine fürsorgliche Oma bist.

Doch genug der Danksagungen – ich schätze, es wird Zeit, euch endlich weiterziehen zu lassen, um in das nächste große Kapitel der Ethendi-Saga einzutauchen. Ich habe vor vielen Jahren einmal geschrieben, dass es Dinge geben wird, die sich weiterentwickelt haben, die ich heute anders schreiben würde als noch vor acht Jahren. Und sicherlich trifft diese Aussage heute zu. Denn wie am Anfang erwähnt hat sich so vieles in diesem Zeitraum verändert und weiterentwickelt. Ich würde sagen, ich bin ein Stückweit erwachsener geworden (auch, wenn ich dies wohl niemals vollkommen sein werde) und somit sind meine Texte dies auch. Und doch gilt, wie auch damals, ich würde es nicht ändern wollen. Denn das ist meine Entwicklung, mein Werdegang und so soll es bleiben.

Und jetzt wünsche ich euch viel Spaß!

Wir lesen uns.

Euer Michael S.V. Preis

Was bisher geschah...

Der sechzehnjährige Athul lebt bei seinem Großvater in einem Dorf am Meer. Während eines Ausflugs gelangt er in den Besitz eines Steins. Der unscheinbar wirkende Gegenstand entpuppt sich als ein altes Relikt mit ungeahnten Kräften. Ein Fremder namens Elgorath taucht im Dorf auf, warnt Athul vor der Macht des Steins und erzählt ihm von der Ethendi, einer unsichtbaren Kraft. Doch Athul ignoriert diese Warnung. Bei einem Ausflug mit einem Freund und seiner heimlichen Liebe Neliah kommt es zu einem Umfall und der Freund findet den Tod. Der Vater des verstorbenen Jungen macht Athul für die Geschehnisse verantwortlich. In seiner Verzweiflung verteidigt sich Athul erneut mit dem Stein und tötet dabei auch den Vater. Hin und hergerissen zwischen Macht und Schuld legt er den Stein beiseite. Erst als ein Streit mit Neliah entfacht und ein neuer Freund Eifersucht in ihm weckt, nimmt er den Stein wieder an sich. Athul gerät in einen Konflikt mit seinem Großvater, in welchem auch dieser das Leben verliert. Voller Panik, Angst und Schuld flüchtet Athul aus seinem Dorf.

Viele Jahre vergehen. Die Macht des Steins wächst und die Kraft der Runen, der Ethendi, wird stärker. Ein neuer Herrscher stürzt das Land in den Krieg, vernichtet das Südliche Reich und gründet das Innere Reich. Lediglich das westliche Königreich leistete Widerstand und gab sich nicht geschlagen.

Elgorath gründet einen Rat, mit dessen Unterstützung er die Nutzung der Runen einschränken will. Doch die Mitglieder sind schwach, und so muss er diese Aufgabe in die eigenen Hände nehmen. Er trifft schließlich auf Twingle, den missgebildeten Diener des Herrschers, welcher Elgorath zu seinem Herrn bringt. Während des Treffens erfährt Elgorath, dass der Herrscher auf der Suche nach einem Dorf ist, welches ihm fortwährend in seinen Träumen erscheint. Er gibt Elgorath den Befehl, dieses zu finden und zu zerstören. Elgorath, entsetzt von den Plänen des Herrschers, kehrt dem Inneren Reich den Rücken zu und reist, da ihm das beschriebene Dorf bekannt ist, direkt dorthin, um die Bewohner vor einem grausamen Schicksal zu bewahren. Dort angekommen trifft er auf Neliah, die inzwischen geheiratet hat. Der Herrscher, wohlwissentlich, hatte zuvor jedoch einen seiner engsten Vertrauten, den Kommandanten, auf Elgoraths Fährte angesetzt. Bei dem Versuch, Elgorath zu stellen, tötet der Kommandant Neliahs Mann. Elgorath und Neliah gelingt es zu fliehen. Während der Flucht erfährt Neliah vom Inneren Reich und dessen Herrscher, außerdem weiht Elgorath sie in sein Wissen um die Ethendi ein. Die beiden verstecken sich in der Höhle, in welcher Elgorath einst auch auf Athul traf, nachdem dieser aus seinem Fischerdorf geflohen war. Im Inneren der Höhle entdecken Elgorath und Neliah alte Runenzeichnungen an den Wänden. Neliah spürt eine Verbundenheit mit den mystischen Symbolen, empfindet gleichzeitig aber auch Angst. Nachdem Elgorath von den Bewohnern der Höhle überrascht und schwer verwundet wird, gelingt es Neliah, mit ihm zu entkommen. Die beiden treffen bald darauf auf das Volk der Alimanten, hochgewachsene, menschenähnliche Wesen mit breiten Flügeln, die sie mit in ihre Stadt in den Bergen nehmen. Neliah lernt dort Thamion kennen, einen jungen Soldaten, mit dessen Hilfe sie die Höhlenwesen töten soll, um einen Weg zu finden, den noch immer verwundeten Elgorath zu retten.

Währenddessen beginnt der Herrscher gnadenlos alle umliegenden Dörfer anzugreifen, da er ohne Elgoraths Hilfe das Dorf aus seinem Traum nicht finden kann. Twingle kann verhindern, dass sein Herr für diesen wahnsinnigen Plan sämtliche Truppen von der Front abzieht, was eine Niederlage im Krieg gegen das westliche Königreich zur Folge hätte. Hierzu ersinnt Twingle einen raffinierten Plan, bei dem er den amtierenden Heerführer seinem Herrn als Opfer präsentiert, woraufhin der Herrscher den Heerführer vor den Augen seiner Soldaten mit der Macht des Steins tötet.

Unruhen innerhalb des Heers auf Grund der immer radikaleren Befehle entstehen und es kommt zu einem Aufstand. Zusätzlich wird dieser von einem Fremden geschürt, der den Offizieren verspricht, ihnen einen neuen Herrscher zu präsentieren. Mit Twingles Hilfe kann der alte Herrscher rechtzeitig fliehen und wird so vor einem Attentat bewahrt. Während seiner Flucht verliert der Herrscher den Stein, der die bisherige Quelle seiner Macht darstellte, und es wird klar, dass es sich bei dem Tyrannen um den mittlerweile erwachsen gewordenen Athul handelt. Orientierungslos läuft dieser unbewusst zurück zu den Höhlen, aus deren Tiefe sich die bösartigen Wesen inzwischen befreien konnten. Neliah und Thamion erreichen die Höhle ebenfalls, machen die Wesen ausfindig und es kommt zum Kampf. Es gelingt ihnen, die Wesen zu töten. Trotz der jahrelangen Trennung erkennt Neliah sofort den dort verletzt am Boden liegenden Athul und geleitet ihn zu den Alimanten. Aufgrund seiner Vergangenheit wird Athul dort zunächst eingesperrt.

Elgorath kann geheilt werden. Er nimmt an den Ratssitzungen der Alimanten teil und auf sein Bitten hin wird Athul freigelassen. Dieser beginnt, sich mit Neliahs Hilfe an sein altes Leben zu erinnern. Mittels eines alten Spiegels aus den Kammern der Alimanten verschmelzen Athul und Neliah für einen Augenblick mit der reinen Ethendi. So trifft Athul auch auf seinen verstorbenen Großvater, der ihm verzeiht und ihn bittet, wieder auf den rechten Weg zurückzukehren. Neliah beginnt zu begreifen, dass Athul und sie eine besondere Verbindung zur Ethendi besitzen und dass ihre gemeinsame Verbundenheit kein Zufall ist. Kurz darauf wird den beiden offenbart, dass sich ein neuer Herrscher im Inneren Reich erhoben hat, dessen Ziel es ist, alles Leben mit der Macht der Ethendi zu unterwerfen. Gemeinsam mit den Alimanten begeben sich Athul und Neliah zur Festung, um den neuen Herrscher zu stürzen. Elgorath hingegen zieht es nach Westen. Dort will er die Hilfe des freien Königreichs für den bevorstehenden Kampf erbitten.

Währenddessen wird Twingle vom neuen Herrscher gefangen genommen. Durch eine List kann er entkommen und trifft auf den Kommandanten, der sich dem neuen Herrscher entsagt hat. Die beiden verbünden sich und beschließen ebenfalls, den unrechtmäßigen Throninhaber zu stürzen. Gemeinsam reisen sie ins Innere Reich, wo sie auf einen hilfsbereiten jungen Soldaten treffen. Sie gelangen in die Festung, doch der Weg zum Herrscher wird von dessen Diener versperrt. In einem verzweifelten Kampf kommen der Kommandant und der Soldat ums Leben, Twingle jedoch gelingt es, den Diener zu töten. Zur gleichen Zeit treffen Neliah, Athul, Thamion und die Armee der Alimanten in der Festung ein. Die daraufhin entbrennende Schlacht wird durch die Ankunft Elgoraths und der verbündeten Streitkräfte aus dem Westen siegreich entschieden. Neliah, Athul und Elgorath dringen ins Innere der Festung ein und begeben sich in die Gemächer des neuen Herrschers. Dieser hat seinen Körper mit Runen entstellt, die er tief in seine Haut geschnitten hat, um vollkommen mit der Ethendi zu verschmelzen. Es entbrennt ein ungleicher Kampf, bei dem Athul tödlich verwundet wird. Neliah gelingt es, durch ihre Verbindung mit der Ethendi die Schriftzeichen auf dem Körper des Herrschers gegen ihn zu benutzen und ihn zu töten.

Die Alimanten nehmen ihre Verhandlungen mit den Völkern wieder auf, in der Hoffnung, neuen Frieden herzustellen. Neliah hingegen reist mit Elgorath an ihrer Seite zurück in ihr Heimatdorf, um Athul dort zu begraben. Da es aber nichts mehr gibt, was sie hier halten kann, beschließt sie, in die Stadt der Alimanten zurückzukehren, wo sie erneut auf Thamion trifft, für den sie seit den vergangenen Erlebnissen eine tiefe freundschaftliche Zuneigung empfindet.

Prolog

Schwärze. Unendliche Leere.

Die Gedanken des jungen Mannes waren vollkommen erloschen. Die Angst war einer tauben Gleichgültigkeit gewichen. Seine anfänglichen Versuche, dem Grauen zu entgehen, waren nicht viel mehr als sinnlose Bemühungen gewesen. Auch der Wunsch, endlich sterben zu dürfen, hatte keinerlei Bedeutung mehr. Einfach nichts schien mehr von Bedeutung.

Das Surren in der Luft verriet das Herannahen einer neuerlichen schmerzhaften Welle aus Energie. Doch auch das hatte keine Bedeutung. Es schien eine Ewigkeit vergangen, seitdem es begonnen hatte. Die Wellen, die er anfänglich zählte, in der Hoffnung sie mögen ein Ende finden, waren nunmehr so oft an ihm vorbeigezogen, dass er es nicht zu sagen vermochte, wie viele er bereits ertragen hatte.

Zunächst zaghaft, dann immer wilder rissen Blitze grelle Löcher in das Dunkel. Die gewaltige, sich in feinen Verästelungen ausbreitende Energie, gab für wenige Lidschläge das Preis, was im unendlichen Schwarz verborgen lag: Ein Meer aus riesigen grauen Wolken, deren aufgequollene Leiber den jungen Mann umschlossen. Aus ihnen erwuchsen Ketten aus schwarzem Metall. Stramm gehalten bildeten sie vier Linien, die sich aus unterschiedlichen Richtungen durch die Leere zogen und sich alle an einem Ziel trafen: Beim in der Leere schwebenden, nackten Körper des dunkelhaarigen Mannes. Den Abschluss der Ketten bildeten gekrümmte, metallene Haken, die sich durch Hände und Füße des Mannes gebohrt hatten und seine Arme und Beine weit von ihm spreizten. Dunkle Krusten getrockneten Blutes an diesen Stellen zeugten von den unsäglichen Schmerzen, die der Mann bisher erlitten hatte.

Das andere Ende der schwarzen Ketten war nicht auszumachen. Es musste tief in den Wolkenbergen verborgen liegen.

Die feinen Muskelstränge, die sich deutlich unter der Haut des nackten Mannes abzeichneten, zuckten in unregelmäßigen Abständen, begleitet von den grellen Energieentladungen, die ihn mittlerweile erreicht hatten. Doch sie konnten ihm nichts mehr anhaben, hatte er es doch geschafft, sämtliche körperliche Empfindungen vollständig zu betäuben.

Allmählich wanderte die Welle weiter. Die Blitze, die noch vor wenigen Augenblicken seinen Körper peinigen wollten, waren an ihm vorübergezogen und gruben sich entlang der Ketten tief ins Innere der Wolkenberge. Diese, so wusste der junge Mann, würden nach und nach wieder vom Dunkel verschlungen werden, bis das Licht vollkommen vergangen war und das unendliche Nichts ihn wieder umschloss.

Ausdruckslos starrte er auf die immer schwächer werdenden Lichtblitze. Doch dann traf ihn die Erkenntnis: Etwas war anders. Eine Veränderung im immerwährenden Ablauf seiner Pein. So oft er den Weg der Energiewellen jetzt schon hatte durchleiden müssen, so hatte es niemals eine Abweichung gegeben. Doch dieses Mal schien die Welle zu verharren. Er versuchte sich aufzurichten, doch die Haken bohrten sich augenblicklich tiefer durch sein Fleisch. Schmerzvoll wurde ihm bewusst, dass all die Bemühungen, den Geist frei zu machen, um die Empfindungen sterben zu lassen, nicht von Dauer waren. Er kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe, um den stechenden Schmerz zu verdrängen, der sich von seinen Handflächen hinein in seinen Kopf bohrte.

Ihm lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als er die Augen öffnete und die zuckenden Verästelungen der Blitze näher kommen sah. Die Welle schien, entgegen der bisherigen, sich nicht damit zu begnügen, ihn einmal heimgesucht zu haben, sondern lenkte ihren Weg ein weiteres Mal auf ihn zu.

Hör auf zu denken! Panisch versuchte er, den Zustand der Gleichgültig zurückzuerlangen. Doch es war zu spät, er hatte sich einen kurzen Moment geöffnet und somit Raum für die Angst, die ihm so viele Qualen bereitet hatte, geöffnet. Er begann zu zittern. Tränen der Verzweiflung benetzten seine Augen.

Das Knistern wurde lauter und die ersten Energieentladungen zuckten wie hungrige Schlangen, die sich auf ihr Opfer stürzten, voran. Zunächst ein unangenehmes Kribbeln. Dann begannen alle Muskeln unkontrolliert zu zucken. Mit jeder Bewegung verursachten die Haken zusätzliche Schmerzen. Der Mund des jungen Mannes öffnete sich und Schreie tiefster Verzweiflung und grausamster Qualen entwichen ihm.

Am Höhepunkt des Martyriums, als er nicht mehr glaubte, dass es jemals ein Ende finden würde, gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Begleitet wurde dieser von einem grellen Lichtblitz, der seinen Körper vollkommen umschloss und ihn zwang, die Lider zu schließen. Dann spürte der junge Mann, wie er zu fallen begann. Panisch riss er die Augen auf, bereute es aber im gleichen Moment. Das Dunkel war einem unerträglichen Weiß gewichen, sodass er seine schmerzenden Augen wieder schließen musste.

Ein harter Schlag auf die linke Seite schien seinen Fall abzufangen. Er spürte, wie er auf den Bauch rollte und seine Wange harten und zugleich kalten Boden berührte. Zögerlich wagte er es, seine Augen erneut zu öffnen. Das grelle Licht war erloschen. Unter sich konnte er die graue Struktur von Stein ausmachen.

„Vorsicht, mein Junge“, erklang eine Stimme unmittelbar neben ihm.

Erschrocken zuckte er zusammen. Dann spürte er eine Berührung an seiner Schulter.

„Habe keine Angst. Ich will dir helfen.“

Diese Stimme. Er kannte diese Stimme. War das denn überhaupt möglich?

Vorsichtig prüfte er mit einer Hand den Boden, dabei fiel sein Blick auf seinen Handrücken, der vollkommen unversehrt zu sein schien. Keine Wunde wies darauf hin, dass bis vor wenigen Augenblicken die Spitze eines Hakens durch ihn gebohrt gewesen war. War es wirklich vorbei? War er dem Martyrium entronnen? Verstört versuchte er sich aufzurichten, dabei drückte er sich vom Boden ab und ließ sich zur Seite rollen.

Seine Augen weiteten sich, als er das Gesicht der Person erkannte, die neben ihm kniete.

„Elgorath…?“

„Du erinnerst dich also noch an mich. Ich bin froh, dass du noch am Leben bist.“

„Ich verstehe nicht, wieso sollte ich mich nicht an Euch erinnern?“

„Ich weiß, dass du Angst hast. Aber du bist jetzt in Sicherheit. So viel Schlimmes ist geschehen. Und ich mache mir schwere Vorwürfe deswegen.“ Elgoraths Augen drückten tiefes Mitgefühl aus.

„Was ist denn geschehen? Elgorath, sagt mir was hier vor sich geht! Habt Ihr mich gerettet?“, wollte der junge Mann wissen, während er sich umschaute und ihm gewahr wurde, dass sie sich in einer Höhle befanden.

„Hier, nimm die Decke, sie wird dich wärmen. Dein Körper ist völlig ausgekühlt.“ Elgorath griff hinter sich und brachte eine braune Wolldecke zum Vorschein.

Mit einem Mal erschauderte der junge Mann. Er hatte diesen Augenblick schon einmal erlebt. Viele Jahre zuvor war er bereits an genau diesem Ort gewesen. Und auch damals war Elgorath an seine Seite gekommen und hatte ihn gerettet. Überhaupt war dies nicht der Elgorath, den er zuletzt gekannt hatte. Dieser war deutlich jünger, denn sein Haar war dunkel und wies nur vereinzelte graue Stellen auf, auch seine Gesichtszüge zeugten von einem deutlich jüngeren Alter.

„Was um alles...? Das kann nicht sein. Was geschieht nur mit mir?“ Der junge Mann griff sich mit den Händen an den Kopf und grub die Finger tiefer in sein dunkles Haar.

Sein Gegenüber hingegen schien diese Reaktion überhaupt nicht zu beachten, sondern wickelte den jungen Mann in die Decke und half ihm anschließend auf.

„Du musst mit mir kommen. Sie suchen nach dir.“ Eindringlich sah der jüngere Elgorath ihn an. „Ich werde mich deiner annehmen und für dich sorgen. Es ist meine Pflicht, nachdem ich dich mit deiner Bürde allein gelassen habe.“

Noch während der junge Mann versuchte, die neuen Eindrücke zu verstehen, drang eine weitere Stimme an sein Ohr. Zunächst nur als ein Flüstern, kaum verständlich, doch dann immer deutlicher vernahm er eine zaghafte weibliche Stimme: „... dir gesagt, dass es zu lange war. Wenn wir ihn verloren haben, war alles umsonst.“

„Du und deine ständige Angst widern mich an!“, hielt eine herrische Männerstimme dagegen. „Sieh doch nur“, fügte der Mann hinzu, „Er kommt zu sich. Los wach auf!“

Endlich schien er zu verstehen: Dies alles musste ein Traum sein. Die Wahrnehmung des jungen Mannes löste sich von Elgorath und die Höhle um ihn herum tauchte ins Dunkel ab.

Er folgte der Stimme, die ihn in die vermeintliche Wirklichkeit zurückführen sollte, und öffnete die Augen.

Sein Blick huschte verängstigt von einer Seite zur anderen. Er befand sich weder in der Höhle noch in der grausamen Leere. Um ihn herum waren Steinquader aufeinandergestapelt und bildeten das Mauerwerk mehrerer Wände, die einen Raum umschlossen. Er lag auf einer erhöhten Pritsche.

Die Stimmen gehörten zwei hochgewachsenen Personen, die beide, in weiße Gewänder gehüllt, an seiner Seite standen. Ihre Statur und ihre Gesichter wiesen eine deutliche Ähnlichkeit zum Volk der Alimanten auf. Doch es gab einen entscheidenden Unterschied: Sie besaßen keine Flügel. Stumm sahen die Personen ihn an.

„Wer, …wer seid ihr?“, brach er das Schweigen.

„Wir sind die, die dich gerettet und vor den Qualen der Ewigkeit bewahrt haben“, antwortete der Mann mit ernster Miene.

Die Frau an seiner Seite fügte hinzu: „Du bist in Sicherheit, Athul.“

1
Zeit der Ruhe

Neliahs nackte Füße tauchten in das kristallklare Bergwasser ein. Die Kälte ließ sie kurz die Luft anhalten, doch die anfänglichen Stiche in den Zehen wichen einem sanften Kribbeln. Die Sommertage waren heiß und die Abkühlung war wohltuend. Ihr Blick schweifte zur Seite über die grüne Landschaft. Die Bäume trugen gewaltige Kronen aus dichtem Laub und das satte Grün der Wiesen wurde durch ein Farbenmeer aus Blumen akzentuiert.

Mit den Armen stützte sie sich nach hinten ab und genoss, wie das weiche Gras ihre Finger umspielte. Sie wandte den Kopf zurück zu dem kleinen Bach, der unweit von ihr dem uralten Bergmassiv entsprang, welches weit in die Wolken ragte.

Sie betrachtete ihr verschwommenes Spiegelbild, das ihr entgegenglitzerte.

Ihre rotbraunen Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die zu beiden Seiten auf ihren Schultern lagen. Das helle Kleid hatte sich, trotz des weiten Schnittes, um ihren Bauch gespannt, der sich unübersehbar nach vorn wölbte. Behutsam hob sie den rechten Arm und fuhr mit der Hand über den Stoff. Fast, als bekäme sie eine eine Antwort auf diese Berührung, spürte sie eine leichte Bewegung unter ihrem Kleid. Ein kaum merklicher Tritt hatte ihre Bauchdecke angehoben und ihr signalisiert, dass das Leben, das in ihr heranwuchs, sie wahrnahm. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Viele Monate waren ins Land gezogen seit der Nacht, die sie mit Athul verbracht hatte. Eine Zeit, die viel Trauer und Kummer bereitgehalten hatte. Der schmerzliche Verlust ihres Geliebten hatte sie in tiefe Verzweiflung stürzen lassen. Doch das, was er ihr hinterlassen hatte, weckte Hoffnung in ihr. Ein Teil von Athul war der Welt geblieben und wuchs in ihr heran.

„Neliah“, riss eine Stimme sie aus den Gedanken.

Sie blickte auf und erkannte, dass Thamion zu ihr hinab glitt.

„Thamion. Und? Wart ihr erfolgreich?“, fragte sie neugierig.

„Mehr oder weniger. Die Verhandlungen erweisen sich weiterhin als sehr zäh. Ich befürchte, die Hoffnung auf eine rasche Einigung hat sich zerschlagen.“ Thamions Gesicht wirkte zerknirscht.

„Ich verstehe“, murmelte Neliah, während sie sich vorsichtig aufrichtete, darauf bedacht, das Ungeborene ruhig zu halten. „Ist Elgorath dort geblieben?“

Thamion nickte. „Er hatte Sorge, wenn er jetzt ginge, dass überhastete Entscheidungen getroffen würden. Allerdings bat er mich, nach dir zu schauen und dich wie vereinbart zurück nach Aluien zu begleiten.“

„Was würde ich dafür geben, dabei zu sein und ihn zu unterstützen.“ Sie seufzte.

„Du solltest dich in erster Linie schonen und dir nicht so viele Gedanken machen“, versuchte Thamion sie mit einem Lächeln auf den Lippen aufzumuntern.

„Ihr behandelt mich alle, als wäre ich krank. Ich kann schon gut auf mich alleine Acht geben“, gab sie trotzig zurück, fügte aber rasch hinzu: „Aber ich weiß ja, dass ihr es nur gut meint. Dann lass uns nach Hause fliegen, ich merke, dass das Frühstück schon eine Weile zurückliegt.“

Thamion quittierte dies mit einem Lächeln, umschlang behutsam ihre Taille und erhob sich mit ihr in die Luft.

2
Disziplin und Ordnung

Verdammt noch mal! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst diesen Mist wegräumen?“, herrschte der dickbäuchige Wirt den jungen Knaben vor ihm an, wobei er drohend die Hand hob.

Ängstlich zuckte der Bursche zusammen.

Twingle hatte sich in die hinterste Ecke der Taverne zurückgezogen und beobachtete die Züchtigung mit wachsendem Unbehagen.

Ein lautes Klatschen durchdrang das schwammige Gemurmel im Raum und der Junge rieb sich unter Tränen die rot anlaufende Wange.

Zornig ballte sich Twingles Faust, heftig stieß er den Tonkrug vor sich vom Tisch. Polternd stürzte das Gefäß zu Boden. Er richtete sich auf. Einen Moment musste er innehalten. Der hochprozentige Met machte sich bemerkbar. Dann wankte er auf den verdutzt dreinblickenden Wirt zu.

„Pasz maa auf!“, stieß Twingle erbost hervor, doch seine Worte formten sich nicht, wie er wollte. Die Zunge schien ihm einfach nicht gehorchen zu wollen. „Pasz.. pass auf! Meinscht du kannsch… den Jung so wie Viecher behandeln?“ Dabei hob er drohend die Faust.

Der Wirt schaute ihn zunächst erstaunt an. Jedoch änderte sich seine Miene rasch zu einem Grinsen. Twingle war trotz seines aktuellen Zustandes deutlich bewusst, dass er auf Grund seiner kleinen, missgebildeten Statur nicht unbedingt die Sorte Lyst war, vor der andere Angst hatten.

Eine kräftige Hand packte Twingle von hinten fest an der Schulter.

„Ich glaube, der Wicht hat wohl etwas zu sehr über den Durst getrunken und meint sich jetzt aufspielen zu müssen.“

Twingle wollte sich umdrehen, doch die Finger bohrten sich wie ein Schraubstock in sein Fleisch und drückten ihn nach vorn. Eine zweite Hand folgte und legte sich um seinen Brustkorb. Er wurde angehoben, vorbei am Wirt und dem Knaben. Wenige Schritte, dann hatte sein unbekannter Peiniger ihn durch die Eingangstür bugsiert. Die warme Nachtluft stieß ihm entgegen, doch ehe er sich besinnen konnte, spürte er, dass der Griff an Kraft verlor und er einen groben Stoß in den Rücken bekam. Er stolperte vorwärts und stürzte zu Boden.

Schmerzverzerrt rollte Twingle auf die Seite. Der Hüne, der ihn unsanft hinausbegleitet hatte, stellte sich über ihn. Er beugte sich hinab und riss an dem kleinen Lederbeutel, der an Twingles Gürtel hing. Es klimperte und sechs silberne Münzen rollten über das Straßenpflaster. Der Mann griff danach.

„Das sollte reichen, um dein Verhalten zu entschuldigen und deine Zeche zu begleichen. Und jetzt verschwinde, du armer Trottel!“ Ohne Twingle eines weiteren Blickes zu würdigen wandte er sich von ihm ab und schritt zurück in die Taverne.

Twingle blieb noch einen Moment liegen, dann richtete er sich mühsam auf.

Dummer Twingle, sagte er zu sich selbst. Warum mischzst du disch auch in allesch ei?

Er tat einige prüfende Schritte. Wankend entfernte er sich von der Taverne und steuerte die nächstgelegene Gasse an. Gegen die Häuserfassade gestützt ließ er sich hinein gleiten, bis die Lichter der Laternen kaum noch zu ihm drangen. Dann rutschte er zu Boden und kauerte sich in eine Ecke.

Welch elendes Leben, dachte er.

Alles hatte sich verändert. Von dem Tag an, als sein Meister mit ihm und dem Heer das Innere Reich verlassen hatten, war es schlimmer und schlimmer geworden. Nicht genug, dass man seinen Herrn gestürzt hatte. Nein, am Ende war Twingles kläglicher Versuch, seinem Herrn den Weg zurück auf den Thron zu ebnen, gnadenlos gescheitert. Der einstige Herrscher war tot. Sein zeitweiliger Verbündeter, der Kommandant, ebenfalls. Elgorath und das Mädchen, Neliah, hatten Twingle mit in die Stadt in den Bergen genommen. Zu den Alimanten. Man hatte versucht, ihm ein neues Leben zu ermöglichen, doch hatte er sich niemals wirklich einfügen können. Die Gesellschaft der geflügelten Wesen war so anders als das gewesen, was er bisher gekannt hatte. Ohne Frage, sie hatten ihn gut behandelt und doch, Twingle hatte es zurück ins Innere Reich gezogen. Dies war der Ort, an dem er sich sicher und geborgen gefühlt hatte, so viele Jahre.

So war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er den Wunsch geäußert hatte, man möge ihn hinabbegleiten. Er hatte sich von niemandem verabschiedet und war heimlich des Nachts mit einem Alimanten hinabgeflogen.

Doch das, was er erhofft hatte vorzufinden, war nicht mehr dort. Die Festung war besetzt von Alimanten und Vertretern des westlichen Königreichs. Das Innere Reich ein Spielball in der Hand der Mächtigen.

In der Verzweiflung hatte es Twingle auf die Straße getrieben. Seine Münzen verdiente er bettelnd, und seinen Kummer hatte er mehr und mehr im Alkohol ertränkt.

Sein Lebenswille war mittlerweile auf einen eisigen Tiefstand gesunken. Es kümmerte ihn nicht mehr, ob er sich selbst zu Grunde richtete.

Zusammengesunken in der Gasse bettete Twingle den Kopf auf den verschränkten Armen und schloss die Augen. Der Rausch des Mets hatte seine Sinne derart benebelt, dass es nicht lange dauerte, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel.

Ein merkwürdiges, schmatzendes Geräusch weckte Twingle zu Beginn des neuen Tages. Mühsam öffnete er ein Auge. Das helle Licht verriet einerseits, dass bereits der nächste Morgen angebrochen war, andererseits ließ es das wabernde Gefühl in seinem Kopf zu pochenden Schmerzen anschwellen. Er rieb sich mit der Hand über die Augen und blinzelte vorsichtig durch die halb geschlossenen Lider. Die Suche nach dem unergründlichen Schmatzen, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, wurde rasch belohnt. Unmittelbar vor ihm stand ein zotteliger Straßenköter. Sein schwarzweiß gemustertes Fell war stumpf und schmutzig. Seine haarige Schnauze glänzte vom Speichel, während er genüsslich ein großes Stück Schinken hinunterschlang. Twingle starrte verdutzt auf den Boden. Vor den Pfoten des Vierbeiners stand eine Schüssel. In dieser lagen die Überbleibsel des Schinkens, mittelgroße Käsekrümel und einige Brotreste. Twingle konnte sich nicht erklären, woher die Speisen stammten, doch ihm war bewusst, wenn er nicht schnell handelte, dann würde bald nichts mehr davon übrig bleiben. Rasch richtete er sich auf, wobei er die schnelle Bewegung augenblicklich bereute und diese mit stärker werdenden Kopfschmerzen bezahlte.

„Verschwinde, du Vieh!“, zischte er dem Hund entgegen. Mit einer ausladenden, etwas behäbigen Geste mit dem Arm versuchte Twingle, seine Worte zu unterstreichen.

Das Tier spitzte die Ohren und legte den Kopf schief. Sein Blick war auf Twingle gerichtet.

„Ich sagte, du sollst abhauen!“ Twingle kroch auf das Essen zu, dabei schlug er einige Male in Richtung des Hundes.

Dieser machte einen unsicheren Schritt rückwärts, ließ sein Gegenüber aber nicht aus den Augen.

Twingle indes hatte die Schüssel erreicht. Die Ausbeute war mehr als spärlich, sein Konkurrent am Fressnapf hatte bereits ganze Arbeit geleistet.

„Das ist ja zu erwarten gewesen, da habe ich das Glück, etwas zu Essen zu finden und dann frisst mir so ein verdammtes Fellvieh alles weg“, grummelte Twingle vor sich hin, während er die Schüssel auf den Schoß stellte und sich über die Reste hermachte.

Kauend wandte er seinen Blick zur Seite.

„Du bist ja immer noch da“, schnauzte er den unliebsamen Besucher an. „Ksssst! Pffffft!“, versuchte er erneut den Hund zu vertreiben. Dieser legte abermals den Kopf schief und starrte ihn aus großen braunen Augen an.

„Bist du schwer von Begriff? Hau ab sonst…“, Twingle suchte nach einer passenden Drohung, doch ehe er fündig wurde, zog ein Geräusch von herannahenden Schritten in der Gasse seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Hund schien diese ebenfalls bemerkt zu haben. Unvermittelt sprang er herum und hetzte in die entgegengesetzte Richtung davon.

Vehement umklammerte Twingle die Schüssel mit einer Hand, während er sich langsam aufrichtete und der auf ihn zu kommenden Person entgegen starrte.

3
Ränkespiele

„Schluss jetzt!“ Wutentbrannt hämmerte eine Faust auf den Tisch, begleitet vom Klirren der Trinkgefäße, die sich auf ihm befanden.

Der ältere Herr, der sich zu diesem Ausbruch hatte hinreißen lassen, kniff die Augen zusammen. Seinen Stuhl hatte er zurückgeschoben und stand mit breiten Beinen vor dem großen Tisch. Dabei starrte er in die verstummte Runde. Seine Erscheinung zeugte von Wohlstand. Er war von kräftiger Statur, wenn auch nicht dick, eingewickelt in feinste Seide.

Der Gesprächsrunde wohnten an diesem Abend ausschließlich ausgewählte Personen bei. Nach zähen Debatten hatten sie sich auf die dunkle Festung geeinigt, die als zentraler Verhandlungsort über die Zukunft des Inneren Reiches dienen sollte. Der Raum, in dem sie tagten, lag in den oberen Stockwerken und besaß eine ovale Tafel, an der die Männer reihum saßen. Sie war gedeckt mit Obst und Metallkelchen, letztere gefüllt mit kostbarem Wein.

Elgoraths Blick war fest auf den immer noch aufrecht stehenden Mann gerichtet. Dieser schien den richtigen Anschluss zu suchen, um den strengen Worten etwas hinzuzufügen. Sein Gesicht hatte eine rötliche Farbe angenommen, die trotz des dichten schwarzen Vollbarts deutlich zu erkennen war.

„Glaubt ihr wirklich, wir würden es einfach hinnehmen, dass ihr über unsere Köpfe hinweg entscheidet? Wir haben in den letzten Jahren bewiesen, welch wichtigen wirtschaftlichen Standpunkt wir in dieser Region innehaben und ich sehe nicht ein, dass wir auf unseren Anteil am Inneren Reich verzichten sollten.“

„Davon war nie die Rede, Lothar“, ergriff der Mann neben Elgorath das Wort, dessen silbrig-welliges Haar bis auf den weinroten Umhang fiel, welcher seine Schultern umhüllte. König Melenor saß, wie auch Elgorath, bereits seit Tagen mit am Verhandlungstisch. „Aber es steht außer Frage, dass das westliche Königreich am meisten unter den Kriegsjahren gelitten hat, zudem gehört unser Königshaus zum ursprünglichen Abkommen, das die Alimanten einst mit den Lysten trafen. Ich sehe es daher als meine Pflicht, zum Wohl des Volkes die Forderung aufzustellen, dass das Innere Reich an unser Reich angeschlossen wird.“

„Ihr seht es als Eure Pflicht, zum Wohl des Volkes“, äffte Lothar ihn nach. „Dann sehe ich es als meine Pflicht an, Euch mitzuteilen, dass wir das nicht zulassen werden.“

Elgorath hatte an diesem Abend noch nichts zu der kontroversen Diskussion beitragen können. Bereits die letzten Wochen hatten bewiesen, dass die Fronten derart verhärtet waren, dass es derzeit schwierig war, zu vermitteln. Er hatte lernen müssen, dass die Jahre des Krieges, in denen er das westliche Reich auf Grund seiner Treue zu Athul hatte meiden müssen, viele Veränderungen mit sich gebracht hatten. Die Lysten waren gen Westen aufgebrochen und hatten neues Land erschlossen, was dazu geführt hatte, dass das westliche Königreich nun zerstritten war. Neue Handelszweige und pulsierende Wirtschaftsknoten hatten neue Machthaber hervorgebracht, die ihre Chance gekommen sahen, sich vom Königshaus zu lösen und mit dem Inneren Reich als Verbündeten, diese Macht zu festigen. Zum Leid von Elgorath hatte sich sein Hoffnungsträger, König Melenor, als wenig kompromissbereit für eine gemeinsame Lösung gezeigt. Der zurückliegende Krieg und die drohende Teilung seines Reichs hatten den König misstrauisch werden lassen. Auch ein Blick über die weitestgehend an ihr eigenes Interesse denkenden Personen im Raum machte Elgorath einmal mehr bewusst, dass eine Einigung zum derzeitigen Verhandlungsstand kaum möglich war.

Neben Lothar, dem schärfsten Kritiker Melenors und selbst ernannten Grafen von Velmar, einer beachtlich gewachsenen Region im Westen, saßen noch Melenors Sohn, Kronprinz Maran, sowie Herzog Roham und Herzog Warumir, die beide zum offiziell aufgelösten Rat des Inneren Reichs gehört hatten, um die Tafel. Als Vertreter der Alimanten hatten sich Lorandel und Infimir eingefunden, hohe Mitglieder des Ältestenrats.

„Was sagen denn die Herren Abgeordneten dazu?“, richtete Melenor sein Wort an die beiden Alimanten.

Lorandel räusperte sich. „Wie ich bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht habe, ist den Alimanten nicht daran gelegen, in irgendeiner Weise Gebiete der Lysten einzunehmen. Wir verlangen lediglich, dass wir, wie bereits in früheren Tagen, wieder an den politischen Geschicken im Land teilhaben können, damit sich Dinge, wie sie in den letzten Jahren geschehen sind, nicht wiederholen.“

„Seid mir nicht böse, werter Lorandel“, stieß Melenor hervor. „Sind die Dinge nicht derart aus dem Ruder gelaufen, während Ihr in unseren Königshäusern wart? Und habt ihr Euch nicht zurückgezogen, als es schwierig wurde? Ich sehe nicht, dass wir unser derzeitiges System aufbrechen werden, um unsere Entscheidungen in Zukunft durch Euch absegnen zu lassen.“

Elgorath schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich kann nicht glauben, diese Worte aus Eurem Mund zu hören. Ich hatte wirklich angenommen, dass Ihr verstanden hättet, dass es hier nicht um Euer Reich geht. Oder um das Innere Reich oder um sonst irgendein Reich. Wir haben die einmalige Chance, etwas Neues, Besseres zu erreichen: Einen Zusammenschluss aller Provinzen, Ländereien, Königreiche und Herzogtümer. Ein großes Ganzes.“

„Ihr seid ein hoffnungsloser Träumer werter Elgorath. Die Zeiten haben sich nun einmal geändert. Es sind Zeiten, in denen Herrscher sich selbst ernennen.“ Melenors Blick wanderte zu Lothar, der sich mittlerweile wieder auf seinen Platz niedergelassen hatte und fügte zynisch hinzu: „Und in denen Lysten sich selbst in den Stand eines Grafen erheben, um Anspruch über Ländereien zu erklären.“

„Ihr vergreift Euch im Ton!“, polterte es unvermittelt von der anderen Tischseite. Die Adern auf Lothars Schläfen traten deutlich hervor, während er seinen Stuhl wütend nach hinten stieß und abermals aufstand. Doch dieses Mal blieb er nicht am Tisch, sondern wandte sich ab und stapfte auf die Tür zu. „Es reicht, die Gespräche sind beendet, ich lasse mich doch nicht beleidigen!“

„Lasst Euch doch nicht derart provozieren von einem selbstverliebten Egozentriker!“, ergriff Herzog Roham das Wort. „Das westliche Königreich hat in meinen Augen jeden Anspruch auf das Innere Reich verloren, als es unsere Soldaten abschlachtete und unsere Dörfer niederbrannte.“

„Was erlaubt Ihr Euch?“, auch Melenor richtete sich auf.

Sein Sohn, ein Jüngling im Alter von einundzwanzig Jahren, der bisher eher amüsiert den Ausführungen gefolgt hatte, schaute verdutzt zu seinem Vater, entschloss sich dann aber, mit ihm gleichzuziehen: „Ihr habt meinen Vater gehört! Ihr solltet froh sein, dass man Euch überhaupt hier duldet, Verräterpack!“

Das darauf folgende Wortgefecht war für Elgorath nicht mehr zu verfolgen. Es schwoll zu einem unerträglichen Lärm an, in welchem eine Hasstirade die nächste jagte, mit dem Ergebnis, dass alle, bis auf Elgorath und den beiden Alimanten, den Raum binnen kurzer Zeit aufgebracht verließen.

Elgorath fuhr sich durch das graue Haar. „Diese Entwicklung ist äußerst gefährlich“, sagte er an die beiden Alimanten gerichtet. „Die Fronten verhärten sich zunehmend. Und der heutige Abend beweist, dass wir kurz vor dem Scheitern der Verhandlungen stehen.“

Lorandel nickte. „Das ist mir durchaus bewusst. Umso wichtiger ist es, dass wir gemeinsam handeln und weiter das Gespräch suchen.“

Seufzend blickte Elgorath ihn an. Er wusste, dass sein alter Vertrauter Recht hatte, so schwer es ihm fiel, Kraft für das Aufrechterhalten der Verhandlungen aufzubringen.

Infimir beugte sich zu den beiden hinüber und senkte die Stimme. „Ich habe es vor unserem heutigen Treffen nicht mehr geschafft, mit Euch zu sprechen. Aber es hat sich noch ein weiteres Problem ergeben“, er machte eine kurze Pause und wischte sich eine Strähne seines langen Haares aus dem Gesicht. „Wie mir zugetragen wurde, hat man einen Boten beobachtet, der Nachrichten zwischen dem Grafen und den Herzögen überbracht hat.“

Beide schauten ihn fragend an.

„Anscheinend hat ein geheimer Austausch zwischen ihnen stattgefunden.“

„Das ist mehr als bedenklich“, stimmte Elgorath ihm zu. „Ich hatte Euch gewarnt, dass man den Herzögen nicht trauen kann. Der Rat hat schon zu Zeiten von Athul nur nach eigenem Wohl gehandelt.“

„Und doch hatten wir keine andere Wahl“, erinnerte Lorandel ihn. „Ihr wisst so gut wie ich, dass sie sich bereiterklärt hatten, über die Geheimnisse der Ethendi Stillschweigen zu bewahren, wenn wir ihnen im Gegenzug Straffreiheit und ein Mitspracherecht bei den Verhandlungen einräumen.“

„Jetzt hat es aber den Anschein, als ob sie nicht so ehrenhaft handeln, wie wir es uns gewünscht haben“, erwiderte Elgorath. „Konnte Euer Informant in Erfahrung bringen, welche Nachrichten der Bote überbracht hat?“

Infimir schüttelte den Kopf.

„Wir müssen äußerst vorsichtig sein. Wenn die Ethendi zum Gegenstand der Verhandlung wird, dann war alles umsonst“, mahnte Elgorath.

Infimirs Blick drückte tiefe Besorgnis aus. „Ich will ehrlich sein. Ich glaube kaum noch daran, dass sich ein erneuter Krieg vermeiden lässt. Wie Ihr schon festgestellt habt, sind die Fronten verhärtet. Niemand will von seiner Position ablassen. Die Zeichen stehen nicht gut.“

„Nun lasst die Hoffnung nicht schwinden“, ermahnte Lorandel seinen Nebenmann. „Ich sehe auch, dass wir sehr vorsichtig handeln müssen, aber noch ist es nicht zu spät. Ich denke, es ist an der Zeit noch einmal Einzelgespräche zu führen. Wir müssen deutlich machen, dass es nur einen gemeinsamen Weg geben kann, wenn wir Frieden haben wollen. Und dass es im Interesse aller Vertreter ist, wenn wir diesen langfristig sichern. Insbesondere die beiden Herzöge müssen an unser Abkommen erinnert werden.“

Infimir zuckte mit den Achseln. „Wir werden sehen.“ Resigniert schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. „Ich darf mich für heute verabschieden. Ich muss ein wenig Kraft tanken für weitere Gespräche, sofern es diese geben wird, nach dem heutigen Tag.“

Als der Alimant den Raum verlassen hatte, ließ Elgorath den Kopf seufzend auf die Arme sinken. Er spürte, dass er einfach nicht mehr die Kraft besaß, die ihn in jungen Jahren ausgezeichnet hatte. Ein Umstand, den er normalerweise nicht gegenüber einer anderen Person offenbaren würde. Doch der ebenfalls im Raum gebliebene Lorandel stellte eine Ausnahme dar. Eine tiefe und ehrliche Freundschaft verband die beiden.

„Glaubt Ihr wirklich, dass die Verhandlungen noch zu retten sind?“, fragte er den Alimanten mit müder Stimme.

„Ihr müsst Vertrauen haben, Elgorath. Wenn es einen Weg der Einigung geben wird, dann nur, indem wir an ihn glauben. Es ist leicht, sich auf Missgunst, Neid und das eigene Interesse zu konzentrieren. Kompromisse und einen gemeinsamen Weg finden, ist hingegen deutlich schwieriger.“

„Und doch muss ich gestehen, dass es mir zunehmend schwerer fällt, immer wieder gegen diesen einfachen Weg der Provokation und der Machtspiele ankämpfen zu müssen, den anscheinend immer mehr an diesem Tisch einschlagen wollen.“ Elgorath hob den Kopf und schaute seinen Freund an. „Selbst Euer Begleiter scheint mehr und mehr aus den Augen zu verlieren, wie wichtig es ist, dass wir eine Einigung erzielen.“

„Infimir ist noch jung. Seht es ihm nach. Er hat noch nicht die Erfahrung und die Weitsicht, um zu erkennen, dass es manchmal sinnvoller ist, durchzuhalten und den beschwerlichen Weg zu gehen.“

„Ihr habt Recht. Ich danke Euch für Eure Worte, alter Freund. Es beschämt mich, dass ich selbst die Weitsicht nicht immer behalten kann.“

Lorandel lächelte. „Glaubt mir, Elgorath. Ich bin ebenso dankbar, dass ich Euch an meiner Seite weiß. Denn es ist wichtig, nicht allein zu sein, in diesen Tagen, um nicht in den eigenen Gedanken zu versinken und dabei das Ziel aus den Augen zu verlieren.“

Elgorath spürte, dass die Worte seines Freundes ihm neue Kraft verliehen hatten. Er erhob sich und legte Lorandel eine Hand auf die Schulter.

„Dann lasst uns zusehen, dass wir die zerstrittenen Parteien zurück an den Tisch holen und ihnen eben dieses Ziel noch einmal bewusst machen.“

4
Auf das Füreinander kommt es an

Die Hände noch immer um die Schüssel geschlossen, ließ Twingle den Neuankömmling nicht aus den Augen. Dieser war kaum noch zwanzig Schritte von Twingle entfernt und dem ehemaligen Diener Athuls wurde gewahr, dass er den Burschen, der auf ihn zukam, schon einmal gesehen hatte. Es war der Junge, den er am gestrigen Abend vor dem Übergriff des Wirts hatte retten wollen. Auch wenn Twingles Erinnerungen daran getrübt waren, sah er das schmerzverzerrte Gesicht des Burschen noch deutlich vor seinem inneren Auge.

Die Schritte des Jungen verlangsamten sich. Unsicher schaute er Twingle an, der wiederum selbst nicht wusste, wie er diese Begegnung einzuordnen hatte.

Schweigend standen sie sich gegenüber. Twingle hatte dadurch etwas Zeit, den Burschen genauer zu betrachten: Das dunkelbraune Haar des schmächtigen Jungen war schulterlang, ungekämmt und zerzaust. Dabei zeichnete sich ein lockiger Ansatz ab. Sein Gesicht war knabenhaft, und wäre die deutliche Schwellung unter dem linken Auge nicht gewesen, hätte man ihn als ansehnlich bezeichnen können. Seine Kleidung schmälerte das Gesamtbild weiter, denn sie wies deutliche Risse und Flicken auf.

Jedoch war sich Twingle bewusst, dass seine eigene Erscheinung weitaus schlimmer auf sein Gegenüber wirken durfte. Immerhin hatte er seit gut und gerne einer Woche kein Wasser mehr gesehen.

„Was macht deine Wange?“, durchbrach Twingle das Schweigen.

Der Junge strich zögernd über die Schwellung. „Halb so schlimm.“

„Mhm. Gut. Solltest dir das nicht bieten lassen.“ Twingles Haltung entspannte sich ein wenig.

„Ist doch egal. Wen kümmert‘s schon? Mein Vater ist ein Idiot. Der behandelt jeden wie Dreck.“

„Der Kerl ist dein Vater?“, stellte Twingle verwundert fest, „Sollte sich was schämen. Vor den versammelten Gästen dich so zu demütigen.“

Der Bursche zuckte nur mit den Schultern.

„Hat es dir geschmeckt?“, fragte er mit einem Fingerzeig auf die Schüssel in Twingles Händen.

„Das kam von dir?“, ungläubig schaute dieser ihn an. „Wie komme ich zu der Ehre?“

„Hab mich rausgeschlichen und nachgeschaut, ob Relik dir Schlimmeres angetan hat.“

„Relik? Meinst du den großen Bullen, der mich hinausbefördert hat?“

„Genau den. Wenn mein Vater sich die Hände nicht schmutzig machen will, hat er den groben Klotz, der ungebetene Gäste verhaut. Aber bei dir scheint er ja noch umsichtig gewesen zu sein.“

„Da habe ich wohl nochmal Glück gehabt. Na, dann danke für das Essen, auch wenn dieser blöde Köter… ach vergiss es. Danke.“

Ein wenig verwirrt schaute der Junge ihn an. Dann lächelte der braunhaarige Bursche und nickte.

„Kein Problem. Hab die Reste aus der Küche stibitzt und durch den Hinterausgang gebracht. Nachdem ich Relik mit meinem Vater belauscht habe war mir klar, dass du deine Zeche etwas üppiger entlohnen musstest. Und weil du mir helfen wolltest, naja…“

„Schon gut“, unterbrach Twingle den Erklärungsversuch. „Ich mag es einfach nicht, mit anzusehen, wenn ein Stärkerer auf einem Schwächeren rumtrampelt.“

Langsam näherte sich der Junge.

„Ist es wahr?“, neugierig musterte er Twingle. „Warst du der Diener des Herrschers? Als du weg warst, habe ich einige Männer belauscht, die über dich geredet haben.“

„So, haben sie das?“ Twingles Blick drückte Argwohn aus. Bisher hatte er aus Höflichkeit und als Dank für das Essen versucht, nett zu dem Jungen zu sein. Doch hatte er keine große Lust, über seine Vergangenheit zu sprechen. „Ich danke dir für das Essen, aber ich werde jetzt weiterziehen.“

Er fuhr ein letztes Mal mit der Hand durch die Schüssel und sammelte die verbliebenen Krümel und Wurstreste auf, um sie sich hastig in den Mund zu stopfen, bevor er dem verdutzten Jungen die leere Schale in die Hand drückte.

„Mein Name ist übrigens Josha“, sagte dieser eilig.

Twingle hielt inne und schaute den Burschen an.

„Wenn du mal einen Platz für die Nacht brauchst“, fuhr Josha fort, „direkt hinter dem Gasthaus liegt ein alter Lagerraum. Mein Vater nutzt ihn nicht mehr. Und ich verstecke mich dort manchmal, wenn ich es nicht mehr aushalte. Würde mich freuen, dich mal wieder zu sehen.“

Twingle nickte. Dann verschwand er wortlos.

5
Begegnungen

Die Begegnung mit Josha lag bereits einige Stunden zurück. Twingle, der beinahe fluchtartig aus der Gasse verschwunden war, um weiteren Fragen zu seinem früheren Leben zu entgehen, war seitdem ziellos umhergestreift.

Das leise Knurren seines Magens verriet, dass das Frühstück, was ihm der Straßenköter übriggelassen hatte, nicht dem entsprochen hatte, was er benötigte. Mit einer Hand strich er über das kleine lederne Bündel an seinem Gürtel. Es war leicht – zu leicht. Die wenigen Silbermünzen, die er noch besessen hatte, waren ihm gestern Abend genommen worden.

Er stoppte seinen Gang und versuchte sich zu orientieren. Die Häusergasse, in der er sich befand, war mit einem groben Kopfsteinpflaster ausgelegt und verlief leicht bergauf. Dünne Holz- und Metallschilder an den Fassaden wiesen auf Gasthäuser, Krämerläden und verschiedenste Geschäfte hin. Er setzte sich wieder in Bewegung und folgte der Straße. Sie verlief quer durch die umliegenden Häuserschluchten, bis sie sich im Zentrum der Stadt öffnete. Dort lag der imposante Berg, auf dessen Plateau sich die gewaltige Festung seines einstigen Herrn wie ein dunkler Schatten über allem erhob. Doch Twingle vergeudete keinen Gedanken an die Vergangenheit und betrat den gut gefüllten Platz, der sich zum Fuße des Berges erstreckte. Dort reihten sich Marktstände eng aneinander. Von überall wehte ihm ein herrlicher Duft verschiedenster Speisen entgegen.

„Köstliches Obst, seltene Früchte aus dem weiten Westen!“, schrie ein stämmiger Kerl in die Menge, in der Hoffnung Kundschaft anzulocken.

„Gepökeltes Schweinefleisch, frisch und lecker! Jetzt zugreifen!“, hallte es von der anderen Seite.

Twingle beleckte sich die Zähne, während er sich in das Gedränge stürzte. Wie gerne würde er etwas von den Köstlichkeiten ergattern. Er zupfte sein Leinenhemd zurecht, ließ die Handflächen über den dreckigen Boden gleiten und rieb sich den Schmutz ins Gesicht. Nur zur Sicherheit, dachte Twingle, der sich denken konnte, dass seine Erscheinung wohl auch so schon jämmerlich genug aussah.

Er öffnete seine Hand und steuerte die nächstbeste Person an.

„Münzen, Taler, eine milde Gabe für einen armen Krüppel!“, krächzte er dem Fremden entgegen.

Angewidert drehte dieser sich weg und beachtete Twingle nicht weiter.

„Münzen, Taler, eine milde Gabe für einen armen Krüppel!“, versuchte er es bei einer weiteren Person.

Doch auch dieses Mal war die Reaktion alles andere als glücklich. Ein angeekelter Gesichtsausdruck und ein „Verschwinde!“ waren alles, was er als Lohn erhielt.

Er hasste es, betteln zu müssen. Die Blicke, die ihm zugeworfen wurden, waren erfüllt von Abscheu und Ekel. Nicht selten wurde er beschimpft oder gar bespuckt. All das machte ihm schmerzhaft bewusst, wer er wirklich war. Er hatte sich in den letzten Jahren an der Seite seines Herrn lediglich etwas vorgemacht. Dort hatte er stets das Gefühl verspürt, wichtig zu sein. Für jemand anderen wichtig zu sein. Doch er hatte sich selbst belogen. Er war ein Nichts, ein elender Krüppel, verhasst und angespien von der Gesellschaft.

Die Sonne war inzwischen nur noch als zarter Schimmer hinter dunklen Wolken zu erkennen. Sie hatte die Spitzen der Häuser erreicht und war im Begriff, gänzlich von ihnen verschluckt zu werden. Ein weiterer Tag in Twingles sinnloser Existenz neigte sich dem Ende zu.

Traurig blickte er auf die vier silbernen Münzen, die er hatte ergattern können. Die meisten Läden und Stände waren bereits geschlossen. Rasch eilte sich Twingle, um noch etwas Essbares zu erhaschen.

„He, habt Ihr noch Reste, die Ihr für die Hälfte anbieten könnt?“, fragte er eine ältere Dame, die gerade dabei war, ihre Waren in Kisten zu verstauen.

Sie musterte Twingle einen Moment, dann nickte sie.

„Die Äpfel da kannst du für drei Silberstücke haben. Und die Trauben dort kannst du so mitnehmen.“

Twingle überlegte nicht lang, legte ihr drei Münzen auf die Holztheke und griff sich die Fruchtreste.

„Habt vielen Dank.“ Eine kurze Verbeugung, dann wandte er sich ab und verließ den Markt.

Zwischen den Häuserecken ließ er sich nieder und machte sich über seine Beute her. Die Trauben waren bereits eingefallen und wiesen matschige Stellen auf. Auch um die Apfelreste stand es nicht zum Besten. Teilweise hatten sich große braune Löcher im Fruchtfleisch aufgetan.

Doch der Hunger ließ ihn nicht lange darüber nachdenken, so schlang er alles hinunter.

Während er die letzten Bissen zermahlte, traf ihn ein kalter Tropfen dicht gefolgt von einem zweiten. Bald setzte ein monotones Rauschen ein. Der Himmel hatte seine Pforten geöffnet und schickte Regen hinab. Twingle richtete sich auf und suchte nach einer Möglichkeit sich unterzustellen, doch die Häuserwände waren glatt und die Dächer schlossen eben mit ihnen ab. So eilte er weiter durch die Gassen. Die Nässe hatte sich mittlerweile erbarmungslos durch seine Kleidung gefressen und er spürte, wie sein Körper auskühlte. Die dünnen Schuhe, die er an den Füßen trug, waren bereits nach wenigen Schritten vollkommen aufgeweicht und zu allem Überfluss lösten sich am rechten Schuh die Riemen. Twingle spannte den Fuß an, um das Lederwerk nicht zu verlieren. Allerdings musste er einsehen, dass es so keinen Sinn hatte, weiterzulaufen. Immer wieder glitt der Schuh von seinem Fuß. Als wäre dies noch nicht genug, löste sich auch am anderen der Riemen und mit ihm die Sohle. Twingle fluchte, griff nach den Schuhen, hob sie auf und schmiss sie in die nächste Häuserecke.

„Verdammt nochmal! Das kann doch alles nicht wahr sein!“

Niedergeschlagen hockte er sich hin und vergrub den Kopf zwischen den Beinen.

Der stete Regen trommelte auf seinen Hinterkopf und die hinablaufenden Rinnsale vermischten sich mit Tränen.

Es war nicht Twingles Art, sich derart offener Verzweiflung hinzugeben, doch er spürte, dass der anhaltende Hunger der letzten Tage, die Perspektivlosigkeit und all die Rückschläge seine Belastbarkeit arg geschmälert hatten. Sein Körper sehnte sich nach Ruhe, einer Möglichkeit endlich wieder durchatmen zu können und nicht Angst vor dem Morgen haben zu müssen.

Die tiefen Sehnsüchte nach Geborgenheit, einem Platz zu dem er gehörte und einem Lebensziel hatten eine schmerzende Leere in seinem Herzen hinterlassen.

Langsam beruhigte sich Twingle wieder. Mit einem leisen Schluchzen unterdrückte er seine letzten Tränen.

Den Kopf noch immer nach unten gerichtet, vernahm er ein platschendes Geräusch. Es mischte sich unter das Rauschen des Regens.

Zögernd richtete Twingle den Blick in die Gasse. Die graue Wand aus Regen machte es ihm schwer, etwas zu erkennen. Er kniff die Augen zusammen und hielt die flache Hand schützend vor sein Gesicht.

Im Dunkel der Gassen konnte er die Silhouetten mehrerer Personen erkennen.

„Ha, siehste, hab ich doch gesagt, der ist hier lang“, erklang die raue Stimme eines Mannes.

Die Personen kamen näher und Twingle schwante nichts Gutes.

„Na, Twingle?“ Der Mann, der gesprochen hatte, trat aus dem Grau heraus und Twingle erkannte einen hochgewachsenen, kräftig gebauten Kerl, dessen linke Hälfte des Gesichts von einer ledernen Maske verdeckt war und unter deren Rand tiefe Narben zum Vorschein kamen, die sich weit über die frei liegende Gesichtshälfte zogen. Twingle starrte gebannt in das entstellte Gesicht. Die Augen, die Mundpartie. Das konnte nicht sein…

„Dann stimmt es also doch! Die Hure des Herrschers, zurück im Inneren Reich.“ Der Mann lachte.

Twingle drückte sich an der Mauer hoch, sein Blick glitt auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit zur Seite.

„Bist du verwundert mich zu sehen?“ Der Mann tat einen weiteren Schritt auf ihn zu.

Twingle sah, dass zwei weitere Personen hinter ihm standen. Er kannte sie nicht. In ihren Händen hielten sie Holzschlägel.

„Du sagst ja gar nichts. Oder erkennst du deinen alten Freund nicht mehr?“ Begleitet von einem hämischen Grinsen griff der Breitschultrige nach seiner Maske und löste den Riemen hinter seinem Kopf.

Entsetzen breitete sich in Twingle aus. Doch war es weniger der grausame Anblick des aufgedunsenen roten Fleisches, oder das kalte tote Auge, das beinahe gänzlich weiß zu sein schien, das ihm einen Schauer den Rücken hinab laufen ließ. Er war sich nun vollkommen sicher: Die Person, die vor ihm stand, war niemand geringeres als der der einstige Heerführer. Die Person, die er seinem Herrn als Opferlamm vorgeführt hatte. Die dafür hatte büßen müssen, dass Twingle sich dem Befehl seines Meisters widersetzt hatte.

Wie konnte das nur sein? Twingle hatte ihn sterben sehen. Sein Herr hatte den Heerführer mit Hilfe des dunklen Steines und der unheilvollen Runen gerichtet. Ihm im erbarmungslosen Kampf zuckender Blitze das Leben ausgetrieben. Doch wenn Twingle es recht bedachte, hatten sie den vermeintlichen Leichnam zurückgelassen und sich nicht weiter um dessen Verbleib geschert.

„Ja!“, erklang die Stimme des Heerführers. „Jetzt erinnerst du dich wieder, nicht wahr?“

Die beiden Männer, die bislang hinter ihm gestanden hatten, stellten sich zu beiden Seiten auf und versperrten Twingle jegliche Möglichkeit zur Flucht.

„Du dreckige Ratte, hast es tatsächlich gewagt mich töten zu wollen! Aber ich gebe dir einen guten Rat! Schau das nächste Mal nach, ob dein Opfer wirklich tot ist.“ Das anfängliche grausame Lachen des früheren Heerführers war verklungen und seine Stimme war erfüllt von blankem Hass.

Twingle war sich sicher. Den Rat, den er gerade erteilt bekommen hatte, würde er bald am eigenen Leib zu spüren bekommen. Vielleicht war es die gerechte Strafe für ihn. Er würde sich nicht wehren. Wie auch, seine Kraft würde wohl nicht einmal für einen dieser drei Männer reichen.

„Dann vermute ich mal, Ihr seid hier, um Euch an mir zu rächen…“, gab Twingle leise als Antwort.

„Oh, ich werde mich an dir rächen. Sieh dir an, was du mir angetan hast!“ Mit diesen Worten öffnete er die Knöpfe des Lederwamses und präsentierte Twingle das verbrannte Fleisch, das seinen gesamten Oberkörper entstellte.

„Nun, Ihr habt schon vorher die Frauen zwingen müssen, Euch in Eurer Kammer zu dienen, was macht es da für einen Unterschied?“, kam es Twingle unerwartet flapsig über die Lippen. Und er konnte sich das Lachen nicht verkneifen.

Die Augen des Heerführers weiteten sich und er packte Twingles Kehle. Mit Wucht prallte Twingles Rücken gegen die kalte Häuserwand. Die rauen Hände des Heerführers waren wie ein Schraubstock, der jedes Atmen unmöglich machte.

Ehe Twingle realisiert hatte, was mit ihm geschah, landete bereits die Rechte des Angreifers in seiner Magengegend. Dafür löste sich die Hand um die Kehle. Twingle würgte und keuchte.

„Ich werde dich vernichten!“, schrie der einstige Heerführer ihn an.

Ein kräftiger Schlag erwischte Twingle an der Schulter, unmittelbar gefolgt von einem weiteren, der an seinem Kopf vorbeistrich. Anscheinend war der Heerführer derart in Raserei geraten, dass er unkontrolliert auf Twingle einschlug und nur jeder dritte Schlag tatsächlich traf, was den Schmerzen und dem sicheren Gefühl, dies nicht zu überleben, keinen Abbruch tat.

Twingle spürte, wie er zu Boden stürzte. Die Pfütze, in die sein Gesichte tauchte, färbte sich rasch rot. Immer wieder zuckte sein Körper unter den Tritten und Schlägen seines Peinigers. So makaber es auch war, das Blut, das aus seinem Körper drang, fühlte sich warm an und schien die Kälte der Nacht und des Regens fortzuwaschen.

Seine Augen waren geschlossen. Er wartete auf den Moment vollkommener Leere, in welchem er endlich abschließen konnte und die grausame Zeit ein für alle Mal ein Ende finden würde.

Mit einem Mal erklang ein Knurren, ein Bellen, wildes Geschrei. Ein Stiefel traf Twingle im Gesicht, allerdings ohne Wucht. Twingle blinzelte durch die angeschwollenen Lider. Das Schuhwerk war von ihm weggerichtet und die Person bewegte sich hektisch hin und her. Zwischen deren Beinen konnte Twingle ein graues zotteliges Etwas ausmachen, das wild umher sprang. Wieder machte der Mann vor ihm einen unkoordinierten Schritt, dabei bewegte er sich rückwärts. Twingle hörte noch einen lauten Aufschrei, begleitet von heftigem Knurren, als der schwere Stiefel des Mannes erneut Twingles Gesicht traf, sein Kopf in die Pfütze tauchte und auf den harten Pflasterstein aufschlug. Dann setzte die lang ersehnte Leere ein.

6
Eine Allianz zerbricht

Elgoraths Körper zitterte. Ihm war schlecht. Alles drehte sich.

„Hilfe! Ich brauche Hilfe! Bitte…!“, seine Stimme war voll von Verzweiflung.

Er taumelte entlang der Gemächer, die eigens für wichtige Besucher und Gäste eingerichtet worden waren. Die siebte Ebene war der Ort, an dem die Parteien, die an den Verhandlungen teilnahmen, untergebracht waren. Doch niemand schien hier zu sein. Die Gänge waren wie ausgestorben. Die Zimmer verschlossen.

Er stolperte weiter vorwärts. Dabei stützte er sich immer wieder mit den Händen an der Wand ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Aus den Augenwinkeln konnte er die roten Stellen erkennen, die er dabei hinterließ.

Noch immer glitzerte das Blut an seinen zitternden Händen. Das grausame Bild, das er vor wenigen Augenblicken hatte ertragen müssen, hatte sich tief in seinen Kopf eingebrannt. Es brachte ihn immer weiter an den Rand des Wahnsinns.

Elgorath erreichte den im Zentrum der Festung direkt über dem Thronsaal liegenden Treppensaal. Ein runder, mehrere Etagen hoher Raum, durchtrennt von einer mittigen massiven Treppe, die in die unteren Ebenen führte. Elgorath hastete die weiten Stufen hinab, hinein in eine Halle mit vielen Türen zu beiden Seiten. Hier befanden sich die Unterkünfte der Dienstboten.

„Hilfe! Bitte helft mir!“, schrie er erneut mit heiserer Stimme.

Tatsächlich öffneten sich nach und nach mehrere Türen.

„Herr Elgorath. Was ist mit Euch geschehen?“ Eine junge Frau eilte auf ihn zu. Sie hatte ihr dunkelblondes Haar hochgesteckt. Augenscheinlich deutete sie die Situation völlig falsch. „Ihr blutet!“

„Nein, nein, ich bin in Ordnung. Ich meine, mir fehlt nichts.“ Elgorath holte tief Luft und versuchte sich zu sammeln. „Mein Freund. Lorandel. Das hohe Ratsmitglied der Alimanten. Es ist sein Blut. Ich brauche dringend einen Arzt. Bitte, eilt Euch.“

Die junge Dame, er kannte sie unter dem Namen Magd Helana, schien zu verstehen und nickte. „Ein Arzt! Holt Erem her! Schnell! Und etwas Wasser!“, gab sie Anweisungen. „Kommt Herr Elgorath, setzt Euch erst einmal.“

Er spürte eine sanfte Berührung an der Seite. Die Magd führte ihn zu einem Stuhl, den ein weiterer Bediensteter, den Elgorath nur vom Sehen kannte, herangetragen hatte.

Mit wackeligen Knien ließ Elgorath sich nieder. Er spürte, wie sein Körper noch immer zitterte. Sein Blick war abwesend auf den Boden gerichtet. Um Fassung ringend schloss er die Augen und atmete tief ein.

„Was ist geschehen?“, hallte eine Stimme durch den Raum, begleitet von eiligen Schritten.

Elgorath riss die Augen auf und sprang vom Stuhl. Die wenigen Augenblicke der Ruhe hatten ihm gut getan. Er spürte, dass seine rationale Wahrnehmung langsam aber sicher wieder die Oberhand gewann und der aufwallenden Panik entgegenwirkte.

„Doktor Erem! Bitte, eilt Euch. Ich werde Euch alles Nähere auf dem Weg erzählen“, rief er dem herannahenden Arzt entgegen.

Gemeinsam liefen sie die Treppen hinauf, zurück in die darüber liegende Ebene.

„Überfallen sagt Ihr?“, Entsetzen zeichnete sich auf dem Gesicht des Arztes ab.

Elgorath nickte. „Das waren seine Worte. Ich kann nur hoffen, dass es noch nicht zu spät ist!“

Nur noch wenige Schritte trennten die beiden vom Zimmer, in dem Lorandel untergebracht war. Die Tür stand offen.

Elgorath ließ Doktor Erem als ersten hineineilen, folgte ihm aber umgehend.

Sein Blick traf die rote Blutlache, die mittlerweile eine erschreckende Größe angenommen hatte. Der Doktor hatte, ohne weiter darauf zu achten, ein Knie in die rote Pfütze getaucht und hockte vornübergebeugt über dem leblosen Körper des alten Alimanten.

Elgorath spürte bei dem Anblick unwillkürlich, wie das flaue Gefühl zurückkam und seine Beine erneut schwach wurden. Zögernd wankte er auf die beiden am Boden befindlichen Personen zu. Dann ließ er sich ebenfalls hinab auf seine Knie sinken. Die Augen seines Freundes waren leicht geöffnet. Ein stetes Zucken der Lider zeigte, dass noch Leben in ihm war. Doch seine Hautfarbe hatte eine durchscheinende Blässe angenommen und der zitternde Atem bedeutete, dass es nicht gut um ihn stand.

Elgorath griff nach der Hand seines Freundes und drückte sie fest an seine Brust.

„Doktor?“, war alles, was Elgoraths zittrige Stimme hervorbrachte.

Betreten ließ Doktor Erem seinen Kopf sinken. „Ich fürchte, wir kommen zu spät. Seine Verletzung ist zu tief und er hat zu viel Blut verloren.“

„Lorandel, mein treuer Freund. Es tut mir so unendlich leid“, hauchte Elgorath erschüttert.

Ein Husten erklang. Die Lippen des alten Alimanten benetzte Blut. In einem dünnen Rinnsal lief es seinen Mundwinkel hinab. Sein gesamter Körper bebte im Todeskampf, während er Elgorath näher zu sich zog.

„… mein Freund…“, er unterbach sich, schloss die Augen und mühte sich weiter zu sprechen. „…die Verhandlun… sie… sie dürfen nicht schei… scheitern … es… gibt… Verräter….“ Die letzten Worte erstarben zu einem unverständlichen Wispern.

„Wer hat Euch das angetan? Was für ein Verräter?“, flehte Elgorath seinen Freund an. Doch es war zu spät.

Die Augen des alten Alimanten verloren sich im Nichts. Die Anspannung seines Gesichts war gewichen und sein Körper erschlaffte.

Elgorath spürte, wie ihm brennende Tränen in die Augen stiegen und ein Gefühl von Enge seine Kehle ergriff. Behutsam ließ er die Hand seines geliebten Freundes los und schloss dessen Augen.

Die Stimme des Arztes erklang. Elgorath vernahm eine Frage nach seinem Wohlbefinden, doch drang sie nicht weiter in seinen Verstand vor. Er fühlte sich leer. Unendlich leer. Der Alimant war seit so vielen Jahren sein Freund gewesen. Hatte ihm Vertrauen geschenkt, wie niemals zuvor ein Alimant es einem Lysten gegenüber getan hatte. Ihn in Geheimnisse eingeweiht. Elgorath hatte immer gefühlt, dass zwischen ihnen eine Seelenverwandtschaft existiert hatte. Doch jetzt war sie zerbrochen. Jemand hatte die Verbindung durchtrennt und seinen Freund aus dem Leben gerissen.

Eine Berührung an Elgoraths Schulter riss ihn aus seiner Benommenheit. Leises Stimmengewirr ließ ihn allmählich in die Wirklichkeit zurückkehren. Vorsichtig blickte er sich um.

Im Raum hatten sich mittlerweile weitere Personen eingefunden.

Magd Helana stand unmittelbar an Elgoraths Seite. Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter. Mit traurigem Ausdruck auf dem Gesicht beugte sie sich zum ihm hinab. Wortlos reichte sie ihm einen Becher gefüllt mit Wasser.

Elgoraths zitternde Finger umschlossen den Tonkrug. Er atmete tief ein und wieder aus, dann nahm er einen großen Schluck. Das Wasser beruhigte ihn ein wenig und half gegen das Schwindelgefühl.

Erneut schaute er zu Lorandel und legte die Hände auf dessen Brust.

„Es war mir eine Ehre, im Leben dein Freund zu sein. Und es wird mir eine Ehre sein, diese Freundschaft auch nach deinem Tod für immer in meinem Herzen zu bewahren.“ Elgorath wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Schwermütig erhob er sich.

Die betretenen Gesichter um ihn herum drückten tiefes Mitgefühl aus.

An Helana gewandt sagte er: „Ich danke Euch. Würdet Ihr dafür Sorge tragen, dass man sich um meinen Freund kümmert? Bahrt ihn in der Halle der Toten auf. So, dass wir uns von ihm gebührend verabschieden können.“

Die Magd nickte. „Selbstverständlich, Herr Elgorath.“

Dankend senkte er den Kopf und schritt langsam, vorbei an den Lysten, hinaus auf den Gang. Während er diese passierte, erkannte er Herzog Warumir, das zweite Mitglied des ehemaligen Rates unter ihnen. Ausdruckslos starrte Elgorath ihn an. Das tiefe Misstrauen, das Elgorath dieser Person bisher entgegengebracht hatte, nährte einen unbändigen Hass in ihm. Doch war Elgorath kein Mann, der leichtfertig urteilen wollte. Selbst in diesem Moment versuchte er, sich auf seine eigenen Werte von Vertrauen, Liebe und Zuversicht zu besinnen.

Doch hielt er es für notwendig eine Warnung auszusprechen. Wer sie hörte, sollte wissen, dass Elgorath diesen Tag nicht vergessen würde. Er drehte sich noch einmal herum und blickte vorbei an den Personen, die ihn weiterhin beobachteten.

„Eines will ich Euch, meinem treuen Freund, noch versprechen: Wer auch immer dafür verantwortlich ist, was heute geschehen ist, den werde ich zur Rechenschaft ziehen. Doch eines soll dieser jemand wissen. Nicht Groll soll seine Strafe sein. Nein! Sein Versuch, die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen, durch eine derart abscheuliche Tat, wird nicht gelingen! Ich werde niemals vergessen, was Ihr mich lehrtet: Wir alle sind Teil eines großen Ganzen. Und dies gilt es zu bewahren!“

Nach diesen Worten, die fest – fast feierlich – über seine Lippen gekommen waren, wandte er sich ab und richtete seinen Blick nach vorne, um sich zu seinem Schlafgemach zu begeben.

„Herr Elgorath“, holte ihn eine Stimme ein. Es war Warumir, der an seine Seite geeilt war. „Verzeiht mir, Euch in diesem schrecklichen Augenblick anzusprechen. Aber ich möchte Euch mein tiefes Bedauern über den tragischen Verlust Eures Freundes aussprechen.“

Elgorath funkelte das ehemalige Ratsmitglied aus den Augenwinkeln heraus an. Das Gesicht des Mannes war schwer zu deuten. Doch hatte er das Gefühl, dass die Worte des Herzogs ernst gemeint waren. So oft hatte Warumir Elgorath im Rat abgeschmettert. Unter geheucheltem Bedauern hatte er Elgoraths Bedenken gegen die Verbreitung der Runenschrift und ihrer Nutzung zu Unrecht ad absurdum geführt. Doch dieses eine Mal erkannte Elgorath etwas im Blick des Mannes, das er zuvor nicht gesehen hatte. Er bildete sich ein, Scham in Warumirs Blick zu erkennen.

Elgorath blieb stehen. „Warumir, bitte, wenn Ihr etwas wisst über das, was hier geschah…?“, flehte er ihn an. Dabei blickte er dem Mann tief in die Augen.

Wie ertappt schaute sein Gegenüber zur Seite.

„Das habe ich mit keinem Wort gesagt!“, versuchte Warumir die Frage abzuweisen.

Doch ehe Elgorath eine weitere Frage stellen konnte, erklang eine laute Stimme.

„Was ist hier geschehen?“ Infimir, der zweite Alimant des Ältestenrats, kam aufgeregt den Gang hinabgerannt.

Warumir nutzte die Gunst der Stunde und machte sich von dannen. Elgorath wandte sich dem Alimanten zu.

„Es ist etwas Schreckliches geschehen. Man hat Lorandel überfallen.“ Er machte eine kurze Pause, um seine Stimme zu festigen. „Er wurde ermordet.“

Die Augen des Alimanten weiteten sich.

7
Misstrauen

„Ermordet?“ Infimir schloss die Tür von Elgoraths Schlafgemach hinter sich.

Dieser hatte sich auf der Bettkante niedergelassen und versuchte die richtigen Worte zu finden.

„Nach unserer Unterredung und dem Eklat im Ausschuss habe ich lange überlegt, wie wir weiter vorgehen sollen, um die Parteien erneut an einen gemeinsamen Tisch zu bringen“, begann Elgorath die Schilderung der Ereignisse mit zittriger Stimme. „Ich halte es nach wie vor für richtig, was Lorandel gesagt hat. Wir müssen das Gespräch suchen, um klarzumachen, wie wichtig ein gemeinsames Vorgehen ist. Ich befürchtete also, dass es ein Fehler wäre, zu lange zu warten. So verließ ich mein Gemach, um zumindest mit meinem langjährigen Freund Melenor zu sprechen. Er ist für mich in diesem Konflikt ein wichtiges Zünglein an der Waage.“ Elgorath machte eine kurze Pause, da ihm die Ausführungen sichtliche Mühen abverlangten. „Leider musste ich feststellen, dass er nicht auf seinem Zimmer war. Noch bevor ich überlegen konnte, wie ich weiter vorgehen sollte, hörte ich lautes Poltern. Ich ging zurück auf den Flur und sah, dass die Tür zu Lorandels Unterkunft offen stand. Als ich den Raum betrat, lag Lorandel bereits auf dem Boden. Überall war Blut…“, Elgorath schüttelte den Kopf, in der Hoffnung die Bilder zu verdrängen, die sich vor ihm aufbauten, „… es war zu spät. Ich versuchte meine Kenntnisse auf dem Gebiet der Heilung zu nutzen… aber es wollte mir nicht gelingen die Blutung zu stillen.“

Infimir fuhr sich mit der Hand durch sein Haar und dann über sein Gesicht. „Das ist entsetzlich“, hauchte er, gewann aber rasch wieder Fassung. „Hat er noch etwas zu Euch gesagt? Hat er den Angreifer erkennen können?“

„Es ging alles so schnell. Ich bin losgerannt, um Hilfe zu holen. Ich glaube, er wollte mir noch etwas mitteilen. Bevor er starb, hat er etwas von einem Verräter gesagt. Aber er kam nicht mehr dazu, mir zu sagen, wen er gemeint hat. Warum habe ich ihm nicht helfen können…?“ Verzweiflung breitete sich erneut in Elgorath aus.

„Ich bin sicher, er war froh, Euch in diesem Augenblick an seiner Seite gewusst zu haben. Damit habt Ihr ihm einen wertvollen Dienst erwiesen.“ Infimirs Worte waren nur ein schwacher Trost.

„Ich werde Euch etwas Ruhe gönnen.“

Elgorath blickte auf, als Infimir sich daran machte, den Raum zu verlassen. Er kannte den Alimanten bereits seit vielen Jademonden, doch hatte er ihn nie wirklich einzuschätzen vermocht. Auch in diesem Moment wirkte das jüngste Mitglied des Ältestenrates sehr gefasst.

„Verzeiht mir die Frage, Infimir. Wo wart Ihr heute Abend?“

Der Alimant drehte sich auf dem Türabsatz um.

„Entschuldigt?“, fragend hob er eine Braue.

„Missversteht meine Frage bitte nicht. Mich hatte nur gewundert, dass außer mir und Lorandel niemand anwesend gewesen ist.“

Infimir lächelte. Es war ein ausdruckloses Lächeln.

„Ich habe Liandra verabschiedet. Sie ist heute zurück nach Aluien gereist.“

„Die junge Alimantin? Aber haben wir nicht erst vor einigen Umläufen Thamion zurückentsandt?“

„Herr Elgorath, ich möchte Euch bitten, die Entscheidungen des Ältestenrats nicht in Frage zu stellen. Wir hielten es nicht weiter erforderlich, unsere Soldaten im Inneren Reich zu halten. Wir haben hier mehr als genug Lysten, die für unsere Sicherheit sorgen.“ Ihm war anzusehen, dass seine letzten Worte in Anbetracht der aktuellen Situation mehr als unpassend waren.

„Sicherheit?“ Elgorath war aufgestanden. „Und wo waren die Soldaten, als Lorandel ermordet wurde? Hat er dem Entschluss zugestimmt?“

„Jetzt beruhigt Euch bitte. Selbstverständlich war Lorandel mit dieser Entscheidung einverstanden, oder unterstellt Ihr mir eigenmächtiges Handeln?“ Infimir machte einen Schritt zurück in den Raum, auf Elgorath zu.

Dieser überlegte, ob es sinnvoll wäre, weiter zu reden. Vielleicht war es die Trauer um seinen Freund, die ihn nicht mehr Richtig von Falsch unterscheiden ließ.

In diesem Moment klopfte es an der Tür.

Infimir drehte sich herum und öffnete sie.

Elgorath erkannte einen Soldaten auf dem Flur.

„Entschuldigt die Störung werter Gesandter, Infimir“, erklang seine Stimme. „Man sagte mir, dass ich Euch hier antreffen würde.“

„Was gibt es, Kommandant?“, fragte der Alimant.

„Es scheint, dass meine Männer den Mörder des Gesandten Lorandel gefasst haben.“

Elgoraths Augen weiteten sich und er eilte an Infimirs Seite. „Wer ist es?“

„Herr Elgorath“, begrüßte er ihn, begleitet von einem Nicken der Höflichkeit. „Er gab sich als Kronprinz Maran zu erkennen.“

Elgorath spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

„Melenors Sohn? Das kann unmöglich Euer Ernst sein?“

„Nun, er war über und über mit Blut besudelt. Dazu betrunken und wir haben das hier bei ihm gefunden.“ Der Kommandant griff unter seinen Mantel und holte ein mit Blut verschmiertes Messer zum Vorschein. „Meine Soldaten haben ihn in ein Verlies gesperrt. Wenn Ihr Euch mir anschließen wollt, führe ich Euch zu ihm. Unterwegs berichte ich alles Weitere.“

8
Eine unheilvolle Botschaft

Ruckartige Stöße, begleitet von knurrenden Lauten rissen Twingle langsam zurück in die Wirklichkeit. Unter Schmerzen öffnete er die Augen. Seine Sicht war deutlich eingeschränkt. Nicht nur, dass die Dunkelheit lediglich vom schwachen Laternenlicht durchbrochen wurde, er spürte zudem eine schmerzende dicke Schwellung unter dem linken Auge. Dennoch konnte er erkennen, was für das Zerren und das grummelnde Geräusch verantwortlich war. Der zottelige Straßenköter, der Twingle am Vortag das Essen streitig gemacht hatte, hatte das Maul um sein Hosenbein geschlossen und zog ihn Stück für Stück über die harten Pflastersteine.

Twingle, der noch immer zu benommen war, um agieren zu können, drehte den Kopf zur Seite. Ein schmerzhafter Stich in seinem Brustkorb nahm ihm die Luft und er biss sich auf die Lippen.

Der Hund musste ihn bereits ein ganzes Stück gezogen haben, denn er konnte die Stelle, an der man ihn überfallen hatte, nicht mehr ausmachen.

Twingles Blick fiel auf die rote Färbung des Bodens, die sie bis hierhin zurückgelassen hatten. Im Schein der Laternen konnte er sehen, wie der schwächer werdende Regen das Rot zwischen die Pflastersteine zog, wo das Blut-Regen-Gemisch feine Rinnsale bildete.

Mit aufeinandergepressten Lippen schaute Twingle an seinem Körper hinab. Er konnte keine offene Wunde erkennen, das Blut, das aus seiner Nase gelaufen war, schien getrocknet. Sein Blick wanderte weiter, seine Beine hinab und über das Fell des vierbeinigen Helfers. Durch den Regen war dessen zotteliges Fell arg zusammengefallen und der Hund wirkte deutlich magerer. Im glänzenden Nass des Regens wäre es Twingle beinahe nicht aufgefallen, doch auf der linken Seite des Hundes schien das Fell besonders verklebt. Twingle mühte sich seinen Kopf oben zu behalten, dann erkannte er das dunkle Blut, das von dort aus unaufhörlich auf den Boden tropfte.

„He…“, kam es ihm schwach über die Lippen. „Du da. Hund!“

Doch der Vierbeiner schien ihn entweder nicht zu hören, oder er ignorierte ihn. Unbeirrt zog er Twingle weiter.

Unter großer Anstrengung bewegte Twingle sein Bein und zog den Hund dadurch am Maul.

Das zottelige Tier wurde langsamer, öffnete das Maul und wandte den Kopf. Ein Ausdruck unsäglichen Schmerzes lag in seinem Blick.

„Was haben sie mit dir gemacht?“

Twingle rollte sich zur Seite und krabbelte näher auf den Hund zu.

Erst jetzt erkannte er, dass in der Seite des Tiers ein großes gesplittertes Holzstück steckte.

„Das sieht nicht gut aus.“ Vorsichtig tastete Twingle die Wunde ab, dabei quoll weiteres Blut aus ihr hervor. Der Hund hielt ganz still. „Bist ein tapferer Kerl“, erkannte Twingle an. „Was machen wir denn jetzt bloß? Du wirst mir hier noch verbluten.“

Suchend schaute Twingle sich um. Er erkannte die Gasse, in der sie sich befanden. Sie lag nicht weit von dem Ort entfernt, in welchem er die letzte Nacht verbracht hatte.

Denk nach, denk nach.

„Der Junge! Hund, der Junge kann dir vielleicht helfen!“, sagte er mehr zu sich selbst.

Mühsam richtete Twingle sich auf. Dabei spürte er, dass er Schmerzen an beinahe jeder Körperstelle empfand. Doch der Drang, seinem Retter ebenfalls helfen zu können, spornte ihn an.

Mit dem Hund an seiner Seite kämpfte er sich vorwärts.

Wenige Abzweigungen lagen zwischen ihnen und der Taverne, als Twingles Begleiter immer langsamer wurde, bis er letztlich stehen blieb und sich niederließ.

„Nein! Verdammt! Steh auf!“ Twingle stützte sich neben dem Hund auf die Knie und zerrte am Fell des Tiers. „Komm schon, du kannst doch jetzt nicht aufgeben, wir haben es doch fast geschafft.“

Hilfe holen. Twingle, du musst Hilfe holen!

Entschlossen richtete er sich auf und zog sich allein entlang der Häuserfassaden, durch die letzten Wege bis hinein in die ihm bekannte Gasse. Er passierte sie und bog nach links in die Straße ein, die auf die Taverne zusteuerte.

Je näher er dem Eingang kam, desto mehr wurde ihm bewusst, dass die Nacht bereits deutlich fortgeschritten war. Die Lichter
im Innenraum waren erloschen und der vergebliche Versuch, die Tür zu öffnen, machte ihm klar, dass die Gaststätte bereits geschlossen war.

Das darf doch nicht wahr sein… Was soll denn noch alles schief gehen?

Twingle griff sich an den Kopf. Er konnte seinen vierbeinigen Freund doch nicht einfach sterben lassen. Der Hund hatte ihn gerettet. Ihm verdankte er sein Leben. Gab es denn nichts, was er noch tun konnte?

Natürlich! Das Lagerhaus! Dass du da nicht gleich drauf gekommen bist!

Rasch eilte Twingle in die Seitengasse, eine Hand gegen den Schmerz auf die Brust gepresst.

Eine Holztür! Hoffen wir, dass es die richtige ist.

Laut hämmerte Twingle dagegen.

Nichts.

Auf ein weiteres Mal verzichte er. Stattdessen prüfte er die Klinke. Die Tür war offen. Er schob sie ganz auf und blinzelte in das Dunkel.

Twingle verzichtete auf jede Art der Vorsicht und stürmte in das Dunkel. Er ignorierte das Rumpeln einiger Holzkisten, die er mit seinem Schienbein rammte und humpelte durch den Raum.

„Junge? Bist du hier?“, rief Twingle ins Ungewisse.

Eine Antwort blieb aus.

Suchend blieb sein Blick an einem schmalen Lichtspalt hängen.

Er näherte sich ihm und tastete die vermeintliche Wand ab. Seine Hände spürten rundliches Metall. Ein Türknauf. Twingle drehte ihn, doch wie vermutet war die Tür verschlossen.

Er hielt inne. Auf der anderen Seite der Tür waren Schritte zu vernehmen.

Er ging zur Seite, weg von der Tür.

Der Lichtschein, der durch den Spalt unten schien, wurde unterbrochen und das Klappern eines Schlüssels war zu hören.

Die Tür öffnete sich und dämmriges Licht fiel in den Raum.

Ein Kopf schob sich hinein und Twingle erkannte den Jungen.

„Ein Glück!“, entfuhr es ihm. „Ich habe dich gefunden.“

Verdutzt schaute der Bursche in seine Richtung, dann lächelte er, als ihm gewahr wurde, wer dort im Halbdunkel stand.

„Habe ich doch richtig gehört. Hast aber Glück, dass mein Vater das nicht…“, weiter kam er nicht, da Twingle ihm ins Wort fiel.

„Ja, ja, schon gut. Bitte, ich brauche ganz dringend deine Hilfe! Mein… ich meine, ein Hund! Er ist verletzt. Tücher, Nähzeug, was auch immer. Wir müssen ihn herbringen und ihm helfen, Junge!“, platzte es aus Twingle heraus.

„Josha!“, erinnerte der Bursche Twingle an seinen Namen. „Ich habe nicht alles verstanden, aber es scheint wichtig zu sein“, antwortete der Junge verwundert.

Josha schlüpfte in den Raum, verschwand im hinteren Dunkel, kam aber rasch mit einer großen Wolldecke und zwei Handtüchern zurück.

„Dann los. Wo ist dein Hund?“, wollte er wissen.

„Es ist eigentlich nicht mein…“, setzte Twingle zur Erklärung an. „Vergiss es, folg mir einfach.“

Sie verließen den Lagerraum und eilten über die Straßen. Der Regen hatte aufgehört.

„Was ist denn geschehen?“, fragte Josha, dem im Schein der Laternen wohl aufgefallen war, dass auch Twingle nicht gut aussah und humpelte.

„Ich wurde überfallen. Lange Geschichte. Lass uns jetzt nicht davon anfangen“, wehrte dieser die Frage ab. „Da vorne. Da ist er!“ Er deutete auf den Hund, der sich nicht von der Stelle bewegt hatte.

Josha kniete sich neben den Hund und schaute auf die Wunde.

„Das ist aber ein ordentliches Stück, was da drin steckt“, bemerkte er.

Twingle nickte.

„So können wir ihn nicht transportieren. Wir müssen es heraus ziehen“, gab Josha zu bedenken.

„Gib mir die Tücher. Du entfernst das Holz. Das schaffe ich mit meiner Rippe nicht“, wies Twingle ihn an, während er sich schmerzverzerrt über den Brustkorb fuhr.

„Alles klar. Auf drei. Eins, zwei… drei!“

Kurz heulte das verletzte Tier auf. Josha hatte das Stück mit einem kräftigen Ruck herausgezogen. Es war lang und wies viele spitze Zacken auf.

Twingle ließ keine Zeit verstreichen und presste augenblicklich die Tücher auf die Wunde, um die Blutung zu stillen.

So verharrten sie, bis er feststellte, dass die Tücher auf der Wunde kleben blieben und kein neues Blut unter ihnen hervortrat.

„Ich hoffe, das reicht aus“, sagte er an Josha gerichtet. „Wir sollten versuchen, ihn zum Lagerraum zu bringen.“

Sie konnten ein leises Winseln vernehmen, als sie den Hund in die Decke wickelten. Gemeinsam stemmten sie das Bündel in die Höhe.

Twingle mobilisierte noch einmal alle Kraft und ignorierte die eigenen Schmerzen. Stur nach vorne blickend setzte er sich in Bewegung.

Noch ein kleines Stück. Noch ein kleines Stück. Noch ein…

Endlich hatten sie es geschafft. Sie legten die Decke samt Inhalt vor die Tür. Josha öffnete diese und gemeinsam brachten sie den Hund in den Innenraum.

„Warte kurz, ich besorge uns etwas Licht.“ Mit diesen Worten, verschwand der Junge durch die hintere Tür, die noch immer offen stand.

Twingle hockte sich neben den Hund und legte ihm eine Hand auf die Seite.

„Das wird schon wieder. Wirst sehen. Wird alles wieder gut.“

Twingle musste nicht lange warten. Flackernder Schein einer Öllampe erhellte schon bald den Raum. Josha stellte sie auf eine Holzkiste. In der anderen Hand hielt er Nadel und Faden.

„Habe ich noch gefunden. Kannst du damit umgehen?“

„Ist schon eine Weile her. Aber ich denke, ich bekomme das noch hin.“ Twingle nahm das Nähzeug entgegen.

Aufmerksam fädelte er das dünne Garn durch die Öse der Nadel. Dann beugte er sich über die Wunde, entfernte die Tücher und begann sie zu schließen. Obwohl Twingle deutlich untertrieben hatte und es mehr als nur eine Weile zurück lag, hatte er das Handwerk des Nähens nicht verlernt. Seine Mutter hatte es ihm einst beigebracht, eine der wenigen guten Erinnerungen, die er an sie noch hatte.

Josha hatte den Kopf des Hundes auf den Schoß gelegt und sprach ihm beruhigend zu.

„Josha?“ Die laute Stimme eines Mannes erklang.

Beide schreckten auf.

„Das ist mein Vater. Verdammt. Er darf euch hier nicht entdecken, sonst rastet er aus. Ich versuche ihn abzufangen.“

Erneut entschwand der Bursche durch die Tür in die Taverne. Die Lampe ließ er zurück.

Twingle hatte die Wunde mittlerweile weitestgehend versorgt. Er beugte sich hinab, durchtrennte mit seinen Zähnen den Faden und verknotete das Ende.

Dieses Mal dauerte es erheblich länger, bis Josha zurückkehrte. Twingle hatte bereits befürchtet, der Junge würde nicht wiederkommen.

„Entschuldige. Mein Vater hat Geräusche gehört und gesehen, dass ich nicht in meinem Bett liege. Ich konnte ihn davon überzeugen, dass ich mir nur etwas zu trinken holen wollte“, erklärte er. „Aber ich muss jetzt schnell zurück. Ich kenne ihn, er wird sicherlich gleich noch einmal nachsehen, ob ich wirklich in meinem Zimmer bin. Ich lasse dir die Tür auf, dann kannst du deinem Freund noch etwas Wasser holen.“

„Ich danke dir, Josha“, sagte Twingle aus vollem Herzen.

„Vielleicht sehen wir uns morgen früh kurz. Gute Nacht, und meine Gedanken sind bei deinem Freund!“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Josha.

Twingle ließ einige Zeit verstreichen, um sicher zu gehen, dass wieder Ruhe im Gasthaus eingekehrt war. Zeit, in der er seine eigenen Verletzungen begutachten konnte. Er stand auf und ging näher an die Öllampe heran. In ihrem flackernden Schein hob er das Hemd an und untersuchte seinen Körper. Neben kleineren Rötungen und blauen Flecken machte ihm eine Stelle besonders Sorgen. Direkt am unteren Rippenansatz der rechten Seite zeigte sich eine große flächige Verfärbung. Kreisrund wurde sie bis zum Mittelpunkt immer dunkler. Das Zentrum war tiefschwarz. Twingle hatte bereits gespürt, dass etwas nicht stimmte. Sobald er tief einatmete quälte ihn ein schmerzhaftes Stechen. Vorsichtig tastete er über die Verletzung. Sofort zuckten die Finger zurück und sein Körper verspannte sich.

Das sieht nicht gut aus…, gar nicht gut, dachte er.

Er ließ das Hemd wieder sinken und versuchte den Schmerz zu ignorieren.

„Wasser ist vielleicht keine so schlechte Idee, nicht wahr mein Junge?“, murmelte Twingle, der sich an die letzten Worte von Josha erinnerte.

Er hockte sich neben den Vierbeiner und streichelte über dessen Kopf. „Kann ich dich alleine lassen?“

Prüfend warf er einen letzten Blick auf die vernähte Wunde, anschließend richtete er sich auf.

„Ich bin gleich zurück.“

Er durchquerte die Tür zur Taverne. Dahinter lag eine Küche. Kochnische, Ablage, Spülbottich. Alles lag im matten Schein der Straßenlaterne, der durch das Seitenfenster fiel.

Er näherte sich der Anrichte. Zwischen allerlei Geschirr befand sich eine bratpfannengroße Schüssel mit zwei Tragegriffen. Er hob sie hinab und trug sie zum Spülbottich. Das Wasser darin glitzerte im schummrigen Laternenlicht. Twingle starrte in das klare Nass. Es machte den Anschein, als wäre es bereits gewechselt worden. Frisches Wasser für den morgigen Tag und somit ebenfalls am heutigen Abend genießbar für ihn und seinen Begleiter.

Er tauchte die Schüssel hinein in die kühle Flüssigkeit. Beim Anheben biss er die Zähne aufeinander, da das neuerliche Gewicht seine Muskeln im Brustbereich anspannte und damit einen unmittelbaren Schmerz im Zentrum des dunklen Flecks hervorrief. Twingle hielt einen Moment inne und stellte die Schüssel auf dem Rand des Bottichs ab.

Das Stechen schwächte zu einem Pochen ab und er wagte wieder einzuatmen.

Ehe er die Schüssel wieder aufgenommen hatte, vernahm er Stimmen. Er lauschte. Beruhigt stellte er fest, dass sie von der Straße kamen. Ein Blick durch das Fenster verriet, dass drei Personen im Schatten der Nacht über die Straße wankten.

Wahrscheinlich zu viel gefeiert, schoss es Twingle durch den Kopf.

Doch dann verfinsterte sich seine Miene.

Das konnte nicht wahr sein. Die Personen hatten sich bis auf wenige Schritte der Gaststätte genähert und das Licht der Straßenlaterne zeichnete deutlich ihre Gesichter aus dem Dunkel heraus.

„Der Heerführer…“, entfuhr es Twingle entgeistert. „Was um alles in der Welt macht der denn hier?“

Vorsichtig stellte Twingle die Schüssel auf den Boden, trat an die Tür zum Schankraum heran, drückte diese einen Spalt weit auf und spähte hindurch. Die Tür war mit einem Klappmechanismus versehen, der sie zurückschwingen ließ, sobald er sie los ließ.

Twingles schlimmste Befürchtung schien sich zu bewahrheiten. Die Silhouette der drei Männer schimmerte durch das geriffelte Glas in der Eingangstür.

Laut hämmerte es von außen gegen den Holzrahmen.

„Wirt!“, erklang die laute Stimme des Heerführers. „Wirt! Aufmachen!“

Es dauert nicht lange und Schritte erklangen. Sie kamen aus dem hinteren Bereich des Gasthauses, in welchem eine Treppe in die oberen Räume und die dort liegenden Schlafgemächer führte.

„Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Wer macht da solch einen Krach?“, polterte der Wirt den Störenfrieden entgegen. In seiner Hand konnte Twingle ein massives Kantholz erkennen.

Twingle ließ die Tür ein weiteres Stück zurückfallen, gerade soweit, das der Spalt genug Raum bot, um den Blick auf die Eingangstür nicht zu verlieren. Er spürte wie sein Herz raste. Sollten der Heerführer und seine Schergen ihn aufgespürt haben?

„Was gibt es?“, raunzte der Wirt die nächtlichen Besucher an, während er die Tür öffnete. Das Holz hielt er schlagbereit in der Rechten.

„Quatscht nicht! Lasst uns rein! Ich muss mit Eurem Gast sprechen!“, gab der einstige Heerführer genervt zurück.

„Um diese Zeit gibt es in meinem Haus keinen Besuch!“, energisch stellte sich der Wirt ihm in den Weg.

„Ich bin heute nicht in der Stimmung für so einen Mist!“ Der frühere Heerführer fackelte nicht lang und stieß dem Wirt vor die Brust.

Dieser taumelte einige Schritte zurück, fing sich aber wieder.

„Was fällt Euch ein, ich werde Euch Manieren beibringen!“ Er ließ das Holz mehrere Male drohend in der Luft kreisen.

„Lasst gut sein.“, hallte es aus Richtung der Treppe.

„Ich habe hier klare Regeln. Und dazu gehört auch die Nachtruhe“, unterstrich der Wirt seine Forderung.

„Mein lieber Herr Komrad, es soll Euer Schaden nicht sein, wenn Ihr Eure Regeln für diese Nacht brecht“, versuchte die Stimme aus der hinteren Wirtsstube die Situation zu entschärfen.

Twingle kannte die Stimme, doch er konnte sie nicht zuordnen. Nachdenklich beobachtete er weiter.

„Lasst die drei Herren heute Nacht meine Gäste sein. Eine ausgiebige Entlohnung zur Morgenstunde sollte angemessen sein.“

Zähneknirschend ließ der Wirt das Kantholz sinken. „Aber das bleibt eine Ausnahme! Ich habe harte Tage, da brauche ich nicht auch noch Ärger in der Nacht!“

„Gewiss, mein Herr“, bekräftigte die Stimme.

Erneut setzten Schritte ein. Der Mann, der bisher außer Sichtweite von Twingle gestanden hatte, näherte sich den umherstehenden Personen.

Der Wirt hingegen knurrte noch einige unverständliche Worte und verließ die Gesellschaft.

Twingle versuchte zu erkennen, wer der Fremde war, der jetzt beim einstigen Heerführer stand. Doch der Unbekannte hatte ihm den Rücken zugewandt. Der wohlgenährte Leib war in einen Mantel gehüllt, der die darunter liegende Schlafkleidung bis zu den Waden bedeckte. Die Ränder des Mantels glitzerten im Halbdunkel.

Unvermittelt hob der Fremde die Hand und ohrfeigte den Heerführer.

„Habt ihr den Verstand verloren?“, fuhr er die drei Personen an. „So ein Aufruhr mitten in der Nacht. Hängt doch gleich einen Zettel mit meinem Gesicht und dem Hinweis auf meine Anwesenheit draußen auf!"

Twingle spürte förmlich die Anstrengung, mit der der frühere Heerführer seinen Zorn über diese Erniedrigung unterdrückte. Doch schien der Respekt seinem Peiniger gegenüber stärker zu sein.

„Es haben sich Komplikationen ergeben“, sagte der Heerführer kleinlaut.

„Komplikationen? Was für Komplikationen rechtfertigen Euer Auftreten, Koron?“

Koron? Twingle hatte sich nie Gedanken um den Namen des Heerführers gemacht. Als er selbst zu seinem Herrn gestoßen war, hatte dieser bereits die wichtigsten Ränge und Posten mit den ihm geeignet erscheinenden Personen besetzt. Ein funktionierendes militärisches System, in welchem Namen nur noch untergeordnete Rollen gespielt hatten. Wichtig war nicht die Person gewesen, sondern nur ihre Funktion im Ganzen.

„Er war nicht allein. Er hatte einen dummen Köter bei sich“, erklärte der frühere Heerführer.

Twingle stockte das Herz. Diese Worte waren kaum misszuverstehen. Koron meinte ihn.

„Somar hat es ganz schön erwischt“, fügte er mit einem Deut auf die Person neben sich hinzu.

Erst jetzt fiel Twingle das deutlich blassere Gesicht des Mannes auf. Dessen Kleidung glänzte rot und er hatte sichtbar gelitten.

„Ihr wollt mir erzählen, dass ihr es nicht geschafft habt, einen versoffenen Krüppel zu stellen? Sondern habt euch auch noch von ihm fertig machen lassen?“ Der Mann im Mantel griff sich an den Kopf. „Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich Euch damals aufgenommen habe und zusammenflicken ließ! Ihr und Eure Männer seid nicht mehr als ein Haufen hirnloser Trottel!“

Korons Augen verengten sich und seine Wangen bebten durch die angespannten Kiefermuskeln. Es war ihm anzusehen, dass nicht mehr viel fehlte, und er würde sein Gegenüber einfach niederschlagen.

„Aber was soll‘s. Wenn mein Plan aufgeht, wird es egal sein, ob er mich gestern Abend hier gesehen hat, oder nicht. In seinem Zustand wird er wohl eh keinem davon erzählen. Vergeuden wir nicht noch weitere Zeit. Ich hoffe, ihr habt wenigstens alles übermittelt was ich Euch aufgetragen habe?“

„Alles wie besprochen. Die Dinge sind angelaufen. Ein Spitzel sollte bereits in Aluien eingetroffen sein“, bestätigte Koron.

Was um alles in der Welt geht hier vor sich? Vor Twingles innerem Auge drehte sich alles.

„Ausgezeichnet. Dann kümmern wir uns um Elgorath und keiner kann uns mehr aufhalten.“ Ein gehässiges Grinsen huschte über das Gesicht des Fremden, während er den Kopf zur Seite nahm.

Herzog Roham! Ich wusste doch, dass ich diese Stimme kenne, schoss es Twingle durch den Kopf, als er das Mitglied des einstigen Rates des Inneren Reichs erkannte.

„Übrigens. Er schaut wirklich nicht gut aus“, entfuhr es dem Herzog unvermittelt.

Kaum hatte er den Satz beendet, knickte dem angesprochenen Mann das rechte Bein zur Seite und er stürzte der Länge nach vorn. Anstatt den Fall aufzufangen, machte Roham einen Schritt zur Seite, sodass der Verletzte mit der Schulter voran, unmittelbar gefolgt vom Gesicht, auf den Boden prallte.

„Packt euren Freund und dann verschwindet. Ich will euch hier nicht mehr sehen. Wir treffen uns morgen an vereinbarter Stelle.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sich Roham ab und ließ die drei Männer zurück.

„Du wirst noch merken, wie sehr ich dir hörig bin“, grummelte Koron als der Herzog außer Hörweite war. Dann hievte er den am Boden Liegenden mit seinem Kompagnon hoch.

„Lass uns verschwinden.“ Der einstige Heerführer warf sich den leblosen Körper über die Schulter und verließ mit seinem Begleiter die Gaststätte.

Twingle ließ seine Hand langsam von der Tür gleiten. Lautlos schwang diese zurück in ihre Ursprungsposition.

Was hatte das alles zu bedeuten? Vor allem, was bedeutete es für ihn? Das Gespräch ergab weder einen logischen Zusammenhang, noch hatte es erklärt, was genau geplant war. Und dennoch schien es, als stünde ein erneutes Ränkespiel um die Macht kurz bevor.

Aber was geht mich das an? Sollen die sich doch die Köpfe einschlagen. Mir doch egal.

Doch wenn Twingle ehrlich zu sich selbst war, wusste er, dass dem nicht so war. Tief in seinem Innern spürte er ein Feuer auflodern. Ein Gefühl, das er lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Was auch immer vor sich ging, es lag in seiner Hand, die Geschicke in eine andere Richtung zu lenken. Er wurde gebraucht. Elgorath. Die Alimanten. Ja! Sie brauchten Twingle.

Heerführer, Ihr habt eure Rechnung einmal mehr ohne mich gemacht!

9
Echo aus dem Schatten

Wie versprochen hatte Thamion Neliah zurück nach Aluien gebracht, in die majestätische Stadt hoch in den Bergen. Im Verborgenen gehalten durch Wolkenformationen gigantischen Ausmaßes, welche die Spitzen des Gebirges umklammerten.

So sehr Neliah die Fürsorge, mit der sie von allen Seiten bedacht wurde, auch schätzte, so spürte sie noch immer den Drang, an den Geschicken der Welt und besonders an denen um Elgorath mitzuwirken.

Ihr war bewusst, dass eine weite Reise nicht zu verantworten wäre. Dennoch war die Untätigkeit, zu der man sie verdammt hatte, alles andere als in ihrem Sinn.

Seitdem sie und Elgorath nach Aluien zurückgekehrt waren, hatte sich einiges verändert.

Elgorath hatte sich in den letzten Monaten kaum noch in Aluien aufgehalten. Sein diplomatisches Geschick und die Beziehungen aus der Zeit vor Athuls Machtergreifung waren sehr gefragt. Die erste Zeit hatte er damit verbracht, all seine Kontakte wieder aufleben zu lassen. Er war mit Vertretern der Alimanten in den Westen gereist, hatte Gespräche geführt und die verschiedenen Parteien an einen Tisch gebracht.

Neliah, deren größter Wunsch es gewesen war, ihn zu begleiten, hatte von alledem immer nur aus Erzählungen erfahren. Zunächst hatte es Elgorath als ratsamer erachtet, die Vorgespräche allein zu führen. Als die eigentlichen Verhandlungen begannen, hatte die Schwangerschaft verhindert, dass Neliah an Elgoraths Seite reisen durfte.

So waren die Wochen und letztlich sogar Monate verstrichen, in denen die Abenteuer des letzten Jahres verklangen und Neliah in ein normales und ruhiges Leben zurückkehrte. Zum Glück war ihr Thamion geblieben. Man hatte ihn zum Gardehauptmann ernannt und ihm zu Ehren eine feierliche Zeremonie abgehalten. Mit allem Glanz und Gloria, die einem Alimanten zustanden, der in solch einen bedeutsamen Rang erhoben wurde. Sein neuer Rang zeigte sich auch in seiner Kleidung: einem Umhang aus feinstem roten Stoff, bestickt mit goldenem Saum und dunkelblauen Ornamenten. Dazu eine silberne Brustplatte und lederne Armschienen, deren dunkelbraune Oberfläche das Wappen von Aluien zierte: ein stilisierter Berg mit der Silhouette der Stadt. Den Abschluss bildete ein Schwert, das bereits seit Generationen an die Gardehauptmänner gereicht wurde. Seine dunkelblaue, sanft schimmernde Oberfläche verdankte es dem blau leuchtenden Gestein, das aus den Adern der Bergketten herausgearbeitet und zu einem widerstandsfähigen und besonders harten Metall verarbeitet worden war. Wie Neliah erfahren hatte, war die Kunst, dieses Material zu schmieden, kaum verbreitet. Dies machte die Waffe umso wertvoller.

Trotz der vielen Verpflichtungen, die dieser ehrenvolle und ruhmreiche Rang mit sich führte, hatte Thamion jede Gelegenheit genutzt, für Neliah da zu sein.

Er hatte ihr zur Seite gestanden, als sie um Athul getrauert hatte.

Zunächst war sie im Hause von Elarion geblieben, der ihr schon bei ihrem ersten Aufenthalt sein Heim angeboten hatte. Doch Elarion, so gern sie ihn hatte, war nicht der Richtige gewesen, um ihr in der schweren Zeit Trost zu schenken. So hatte es sie immer häufiger zu Thamions Haus gezogen, das auf der anderen Seite der Stadt gelegen war. Die Gespräche zwischen ihnen hatten teils bis weit in die Nacht gereicht. In der ersten Zeit hatte Thamion Neliah jedes Mal nach Hause begleitet, was bedeutete, dass ihm nur wenige Stunden Schlaf vergönnt gewesen waren. Und so kam es bald, dass er Neliah anbot, in einem Nebenraum bei ihm im Haus zu übernachten, wenn sie sich trafen. Dies verfolgten sie einige Tage, bis Neliah, Elarion und Thamion sich einig waren, dass es einfacher wäre, wenn sie ganz bei Thamion einziehen würde.

So kam es, dass Neliah seit mehreren Monaten bei Thamion lebte. Ihr Verhältnis zueinander hatte sich dadurch nicht verändert. Es gab eine tiefe Vertrautheit zwischen ihnen, eine innige Freundschaft. Darüber hinaus, da waren sie sich einig, sollte ihre Beziehung aber nicht erwachsen. Zudem hatte Thamion vor einigen Tagen eine junge Alimantin im Inneren Reich kennen gelernt. Neliah gegenüber hatte er auf dem Rückflug nach Aluien nur Andeutungen fallen lassen. Doch die Art, wie er die Begegnung heruntergespielt hatte und die wenigen Worte, mit der er die Unbekannte bedacht hatte, ließen Neliahs Neugierde wachsen. Bisher hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, Näheres in Erfahrung zu bringen, doch der heutige Morgen schien perfekt. So nutze sie die Gelegenheit beim Frühstück.

Gemeinsam saßen sie in der kleinen Küche, die unmittelbar an den Wohnraum anschloss, getrennt durch einen hölzernen Rundbogen.

„Und? Wie ist sie so?“, fragte Neliah Thamion breit grinsend, während sie in die Brotschale griff.

Verdutzt schaute Thamion sie an.

„Wen meinst du?“

„Na, wen wohl? Die junge Dame, die du auf unserem Rückflug erwähnt hast“, versuchte Neliah seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

„Ich weiß nicht wovon du redest“, gab er amüsiert zurück und biss ein großes Stück vom Käsebrot ab.

„Ach, komm schon. Ist sie nett? Wie sieht sie aus?“, bohrte sie weiter.

„Du lässt nicht locker, oder?“, Thamion seufzte herzzerreißend.

Neliah schüttelte den Kopf.

„Ich habe nur einige Worte mit ihr gewechselt, während wir auf die Rückkehr von Elgorath gewartet haben.“ Er unterbrach sich und nahm einen weiteren Bissen.

„Und weiter?“ Sie deutete mit einem Schwenk der rechten Hand an, dass ihr die Antwort noch längst nicht genügte.

„Nichts weiter. Sie hat einen netten Eindruck gemacht und wenn sie in einigen Wochen zurück in Aluien ist, dann werden wir uns treffen.“

„So, so. Das sind doch mal erfreuliche Nachrichten.“ Neliah lächelte.

„Du bist eindeutig zu neugierig“, bemerkte Thamion.

„Was bleibt mir auch anderes? Die wenigen Neuigkeiten, die bis zu mir durchdringen, reichen meistens nur vom aktuellen Brotpreis bis zum neu eröffneten Marktstand. Also lass mir meine Neugierde!“

Thamion lächelte verständnisvoll.

Ehe sie ihr Gespräch weiterführen konnten, klopfte es energisch an der Tür.

Beide wechselten einen kurzen Blick, dann erhob sich Thamion und verließ die Küche.

Neliah, die an der gegenüberliegenden Wand der Küche saß, stand ebenfalls auf. Dabei musste sie sich am Stuhl abstützen, um leicht nach hinten gebeugt das Gewicht ihres Bauches auszupendeln. Sie näherte sich dem Holzbogen, der zum Wohnraum und der Eingangstür führte.

„…in Ordnung, tretet einen Moment ein. Ich mache mich unverzüglich fertig“, hörte sie Thamion sagen.

Ihr Blick huschte in den Wohnraum. Sie sah, dass Thamion die Tür offen ließ und sich anschickte in den hinteren Flur zu gelangen, von dem aus es in zwei Schlaf- und ein Arbeitszimmer führte. Thamions Gesichtsausdruck wirkte angespannt, als er an Neliah vorüberschritt.

Neliah schaute erneut zur Tür. Dort hatte ein junger Alimant den Eingang betreten. Sie kannte ihn nicht, doch sein Äußeres wies ihn klar als Soldaten aus. Als er sie entdeckte lächelte er ihr kurz zu, nahm dann aber rasch wieder Haltung an.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Thamion zurückkehrte, eingehüllt in seine Uniform. Vor Neliah blieb er stehen, beugte sich zu ihr und sprach mit ruhiger Stimme.

„Der Soldat wurde vom Rat geschickt. Anscheinend ist heute Nacht jemand in das Spiegelverlies eingedrungen. Die Wache, die ich dort habe postieren lassen, wurde niedergeschlagen.“

„Warte!“, entfuhr es ihr, als Thamion sich ohne ein weiteres Wort abwandte. „Ich will mitkommen!“

Er hielt inne und schaute sie an.

„Ich werde dich informieren, sobald ich mehr weiß.“ Ohne eine Widerrede zu dulden schloss er sich dem Soldaten an und verließ das Haus.

Selten hatte Neliah Thamion so erlebt. Sie überlegte, ob es wohl Sinn machen würde, hinter ihm herzulaufen. Sie könnte auch auf eigene Faust zu der Höhle laufen, in der der Spiegel aufbewahrt wurde. Immerhin gehörte sie zu dem kleinen Kreis, der wusste, wo er aufbewahrt wurde. Doch jetzt schien es so, als habe sich diese Riege erweitert. Jemand war in die Höhle eingedrungen. Was hatte er dort gewollt? Hatte er die Kräfte der Ethendi herausgefordert, wie einst Athul und sie es getan hatten? Sie hatte sich nicht mehr in die Nähe des Spiegels gewagt, auch wenn sie in manch einsamer Nacht mit dem Gedanken gespielt hatte. Der Spiegel hatte ihnen deutlich gezeigt, dass die unsichtbare Lebensform unter der Verwendung der Runen litt und so war entschieden worden, die Forschungen zur Nutzung der Ethendi nicht weiter zu verfolgen.

Hatte jemand gegen diesen klaren Entschluss des Rates verstoßen? War es gar jemand aus den eigenen Reihen?

Neliah wurde zunehmend unruhiger. Darauf zu warten, erst in den späten Abendstunden spärliche Informationen zu erhalten, trieb sie fast in den Wahnsinn.

So fasste sie einen Entschluss: Sie musste herausfinden was vor sich ging. Rasch huschte sie in den Flur, auf dessen linker Seite sich ihr Zimmer befand. Dort angekommen warf sie sich ein helles Kleid über, schlang sich einen Mantel um und verknotete die Riemen ihres festen Schuhwerks. Die Kombination aus leichtem Stoff und dickem Leder war ganz und gar nicht damenhaft, doch Neliah legte auf derlei Äußerlichkeiten zumeist keinen besonderen Wert.

Nachdem sie das Haus verlassen hatte, blickte sie sich eilig um, konnte Thamion aber nicht mehr ausfindig machen. Weder am Himmel noch auf den Brücken war er zu erkennen.

Sie folgte dem Weg über den breiten Vorplatz, der direkt an das Haus angrenzte. Thamions Haus lag alleinstehend etwas außerhalb auf einer höher gelegenen Ebene. Lediglich eine schmale Treppe mit rund achtzig Stufen führte von hier hinab auf das nächstgelegene große Plateau. Dort gab es viele Häuser und kleinere Geschäfte. Am Rand führten zwei leicht nach oben gewölbte Brücken zum Hauptplatz. Diesen wiederum verbanden verschiedenste Wege, Treppen und weitere Brücken mit allen Teilen der Stadt. Von dort aus war es ein Leichtes in die verschiedenen Ebenen und Regionen der Stadt zu gelangen. Doch bis dorthin musste Neliah ein gutes Stück zurücklegen. Im zügigen Tempo kam sie zunächst gut voran, musste aber bald einsehen, dass sie sich überschätzt hatte. Der rasche Gang hätte normalerweise kein Problem für sie dargestellt, doch die Schwangerschaft, so wenig sie es sich eingestehen wollte, schränkte sie ein.

Bereits nach den Treppenstufen spürte sie, wie ihre Wangen heiß wurden und Schweißperlen sich auf ihrer Stirn ausbreiteten. Sie ignorierte es und eilte weiter. Doch wie schon öfter in den letzten Wochen merkte sie, dass ihr das Atmen schwerer fiel, umso weiter sie vorankam. Neliah spürte, dass ihr die Beine schwer wurden. Begleitet von immer stärker werdenden Hitzewallungen verschwamm die Umgebung vor ihren Augen, wie in einem Nebel. Sie nahm nur noch schemenhafte Schatten wahr. Während sie versuchte, dagegen anzukämpfen, zeichnete sich aus dem verschwommenen Einerlei eine Person ab. Die Konturen wurden schärfer und Neliah schreckte zurück.

„Athul…“, entfuhr es ihr. „Das kann nicht sein, was…“

Neliah war bewusst, dass dies unmöglich war, ihr Verstand schien ihr einen Streich zu spielen. Doch sie sah ihn nun ganz deutlich vor sich. Ihr Geliebter stand nur wenige Meter von ihr entfernt, er schien etwas sagen zu wollen. Doch ehe es dazu kam, verwischte Athuls Bild. Es zerstob wie Nebel, der vom Wind aufgewühlt wurde und löste sich auf.

„Kann ich dir helfen?“, klang eine leise Stimme an ihr Ohr.

Vor ihr tauchte eine junge Alimantin auf, die ihr eine Hand reichte.

Verwirrt starrte Neliah die Alimantin an. Augenblicklich spürte Neliah, wie ihre Beine nachgaben und ihr drohte schwarz vor Augen zu werden. Dankbar griff Neliah nach der Hand und ließ sich gestützt zu einem kleinen Brunnen führen. Dort setzte sich sich auf den Rand. Aus den Augenwinkeln konnte Neliah beobachten, dass die junge Alimantin das Tuch um ihren Hals löste und es in den Brunnen tauchte. Anschließend legte sie es Neliah auf die Stirn. Das kühle Nass war wohltuend und langsam klarte Neliahs Verstand auf. Umso bewusster wurde ihr, dass der kurze Moment, in dem sie Athul zu sehen geglaubt hatte, eine Einbildung gewesen sein musste.

Aufmerksam schaute sie ihre Wohltäterin an. Das wallende blonde Haar der Alimantin war schulterlang. Es glitzerte seidig und umrahmte ihr zartes Gesicht. Es war eben und glatt und versprühte einen jugendlichen Charme. In den tiefbraunen Augen ihres Gegenübers erkannte Neliah ein abenteuerlustiges Funkeln. Die Alimantin war in enges gegerbtes Wildleder gekleidet, dessen raue Oberfläche von Nieten und Manschetten zusammengehalten wurde. Die Fremde vermittelte durch ihren Anblick ein Gefühl rauen Abenteuerlebens.

„Geht es dir wieder besser?“, wollte die Alimantin wissen.

Neliah nickte. „Ja, danke. Ich weiß gar nicht, was auf einmal mit mir los war.“

Ein sanftmütiges Lächeln legte sich auf die Lippen ihrer Helferin. „Wann ist es denn soweit?“, fragte sie, während ihre Augen Neliahs Bauch fixierten.

Neliah strich behutsam mit der Hand über diesen.

„Der Doktor rechnet im kommenden Umlauf mit der Geburt.“

„Schon so bald? Dann solltet du gut auf dich Acht geben.“

Neliah, die diesen Hinweis nicht zum ersten Mal hörte, atmete tief durch, beließ es aber bei einem freundlichen Nicken.

„Ja, du hast Recht. Ich habe mich wohl überschätzt“, gab sie kleinlaut zu.

„Ich hoffe, ich kann dich allein lassen?“, forschte die Alimatin nach und fügte erklärend hinzu: „Ich muss leider weiter.“

„Es geht schon wieder. Hab vielen Dank für deine Hilfe.“ Sorgsam richtete sie sich auf. „Ich heiße übrigens Neliah.“

Die Alimantin griff nach der Hand, die Neliah ihr entgegen gestreckt hielt.

„Angenehm. Ich bin Liandra. Vielleicht läuft man sich noch Mal über den Weg. Dann mit deinem Kind.“

Sie winkte zum Abschied und entfernte sich raschen Schrittes.

Neliah blickte ihr hinterher, bis sie sie aus den Augen verlor. Noch immer etwas wackelig auf den Beinen, machte sie einige prüfende Schritte. Ihr Vorhaben zur Spiegelhöhle zu gelangen, schien nicht von Erfolg gekrönt und so sah sie ein, dass sie wohl weiterhin zum Nichtstun verdammt sein würde.

„Ach, mein Kleines“, sagte sie, mit einer Hand auf dem Bauch ruhend. „Was mute ich dir zu? Deine Mutter sollte sich lieber ausruhen und dir jene Kraft zukommen lassen, die sie auf der Suche nach Abenteuern vergibt.“

Langsamen Schrittes wandte sie sich vom Brunnen ab und machte sich auf den Rückweg.

Dieses Mal hatte sie jede Stufe mit Bedacht genommen, sich mehrere Pausen gegönnt und dennoch spürte sie, dass ihr kleiner Ausflug sie viel Kraft gekostet hatte. An Thamions Haus angekommen, hielt sie einige Augenblicke inne, atmete tief ein und aus, wobei sie ihre Hände in den Rücken stemmte und diesen langsam durchstreckte. Anschließend wandte sie sich der Tür zu. Etwas Weißes blitzte unter dem Absatz hervor.

Mühsam ging Neliah in die Hocke und griff danach. Ein sorgsam gefalteter Brief kam zum Vorschein. Auf dessen Oberfläche konnte sie, in schön geschwungener Schrift, den Namen Thamion lesen.

Suchend blickte sie sich um, doch vom Nachrichtenüberbringer war keine Spur mehr zu entdecken.

Nachdenklich öffnete sie die Tür und betrat das Haus. Sie legte den Brief auf den kleinen Tisch, der, zur Rechten des Eingangs, zusammen mit vier Sesseln eine gemütliche Wohnecke bildete.

Ihr weiterer Weg führte sie in die Küche. Dort füllte sie etwas Wasser aus einer Karaffe in ein Glas, welches sie mit in ihr Zimmer nahm. Sie nahm zwei Schlucke, stellte es auf einer kleinen Kommode ab, bevor sie sich in ihr Bett kuschelte.

10
Wichtige Aufgaben

Twingle schaute den drei Gestalten durch das Fenster der Küche hinterher. Als das Dunkel der Nacht sie verschluckt hatte, atmete er erleichtert durch.

Er entfernte sich von der Küchenanrichte und wäre beinahe über die mit Wasser gefüllte Schüssel gestolpert. Die neuerliche Entwicklung hatte ihn seine eigentliche Aufgabe beinahe vergessen lassen. Vorsichtig beugte er sich hinab. Mit aufeinandergepressten Lippen hob er das schwere Gefäß an und trug es in die Kammer.

Beruhigt stellte er fest, dass sein vierbeiniger Freund noch immer ruhig atmend auf der Decke lag.

„Schau mal, was ich uns mitgebracht habe.“

Twingle stellte die Schüssel ab, tauchte seine Hände in das kalte Nass und schöpfte sich einige Schlucke Wasser ab, bevor er sie dem Hund vor die Nase schob.

„Na los, trink schon!“, forderte er ihn auf.

Zögerlich hob dieser den Kopf und tunkte seine Zunge einige Male in die klare Flüssigkeit.

„Na, siehst du. Das tut gut, nicht wahr?“ Fürsorglich tätschelte Twingle den Rücken des Hundes. Anschließend setzte Twingle sich neben das gebeutelte Tier und vergrub die Hände in dessen Fell.

„Was mach ich denn nur?“ Den Entschluss, in die Geschehnisse einzugreifen, stellte er immer mehr in Zweifel. „Würde ich Elgorath warnen wollen, wie sollte ich ihn erreichen? Ich weiß nicht einmal mehr, ob er noch in der Festung ist. Und selbst wenn… wie soll ich da hineinkommen?“

Der zottelige Kopf seines Freundes hatte sich zu ihm gedreht und dessen dunkle Knopfaugen glitzerten Twingle aus dem Halbdunkel an.

„Tja, du wirst mir wohl auch nicht sagen können, was ich jetzt tun soll. Früher, weißt du, früher wäre es kein Problem gewesen in die Festung zu gelangen. Ich hatte Schlüssel zu fast jedem Raum. Aber ich musste sie ja verlieren. Hatte sie sogar schon wieder bekommen. Aber dann….“

Twingle erinnerte sich noch gut an den Tag. Sein kühner Plan, Raskal und seine Männer hinab in die Tiefen der Festung zu führen. Sie im Labyrinth der Gänge zu verwirren. Bei dem Gedanken daran, wie die Falle zugeschnappt war, breitete sich auf seinen Lippen ein Schmunzeln aus. Die vielen Ratten, die ihm letztlich zur Flucht verholfen hatten. Kurz davor hatte er seinen geliebten Schlüsselbund von Raskal zurückerhalten. Doch der Wasserstrom, der Twingle in den Felsen gerissen hatte und die nachfolgenden quälenden Augenblicke, ohne zu wissen, ob er die Flucht überleben würde, hatten alle Gedanken an seinen kostbaren Schatz gelöscht. Dies war der Augenblick an dem er ihn verloren haben musste. Im rauschenden Tosen des Wasserfalls in der Grotte. Hinabgesunken auf den Grund des unterirdischen Sees.

Twingle seufzte. Er spürte, dass ihn allmählich die Müdigkeit übermannte. Er kuschelte sich näher an seinen Freund heran. Einen Arm um ihn gelegt schloss er die Augen. Er fiel in einen unruhigen Schlaf.

Wüste Träume suchten Twingle in dieser Nacht heim. Er sah den ehemaligen Heerführer, der ihn laut lachend verspottete. Eingekerkert in dem Inneren der dunklen Festung, war Twingle unfähig ihm etwas zu erwidern. Neben Twingle hing Elgoraths geschundener Körper in schweren Ketten. Twingle drückte sich näher an die Wand heran, als sich die Hand des Heerführers nach ihm ausstreckte. Mit einem Mal begann dessen Körper zu beben. Wie eine brodelnde heiße Flüssigkeit waberte das Bildnis des Heerführers und barst auseinander. Überall kämpften sich Ratten ihren Weg aus dem aufgeplatzten Leib. Sie krabbelten auf Twingle zu und begannen an ihm zu nagen. Er wollte schreien, doch er bekam keinen Ton über die Lippen. Das Licht im Raum begann zu flackern und eine vertraute Stimme drang an sein Ohr.

Twingle riss die Augen auf. Er brauchte einen Moment, bis er sicher war, dass die grausamen Bilder nur seiner Fantasie entsprungen waren. Er lag noch immer an den Hund gekauert im Lagerraum der Taverne.

„Twingle“, erklang erneut eine Stimme. Erschrocken richtete er sich auf. Sein Blick erfasste die Öllampe, die wild flackerte.

Ein leises Knurren mischte sich in die Stille des Raumes.

Angst erfüllte Twingle, als er die dämmrige Szenerie nach dem Ursprung der Stimme durchsuchte.

„Bitte, hab keine Angst“, sprach diese erneut.

Dieser Klang. Twingle erfasste eine Gänsehaut. Das konnte nicht sein. Er musste noch immer träumen.

Er rieb sich über die Augen, dann sah er die dunkle Gestalt, die sich im Schatten verborgen näherte.

„Wer… wer ist da?“ brachte er sichtlich nervös hervor.

„Du weißt, wer ich bin. Und ich bin mir sicher, dass du dich fürchtest. Aber bitte höre mich an. Ich kann dir alles erklären.“ Die unheimliche Person tat einen weiteren Schritt nach vorn und das flackernde Licht traf auf ihr Gesicht.

Twingle riss die Augen auf und rutschte zugleich nach hinten.

„Das ist nicht möglich!“, entfuhr es ihm.

Die Gestalt vor ihm war deutlich zu erkennen.

Es war sein Herr und Meister. Athul!

„Aber Ihr seid tot! Was ist das für ein bösartiger Zauber?“

Der Hund an Twingles Seite hatte die Lefzen hochgezogen und sein Knurren war bedrohlich angeschwollen.

„Es tut mir leid, dich so zu erschrecken, mein alter Freund. Aber ich brauche deine Hilfe.“ Die geisterhafte Gestalt ging in die Hocke.

„Ich verstehe nicht…!“, stammelte Twingle.

„Lass es mich dir erklären“, versuchte Athuls Erscheinung ihn zu beruhigen. „Als meine körperliche Hülle starb, ging mein Geist seinen eigenen Weg. Ich wurde gefangen in einer Zwischenwelt. Dort existiere ich noch immer.“

„Und doch seid Ihr jetzt hier und sprecht zu mir“, entgegnete Twingle.

„Ich habe einen Weg gefunden, Kontakt zu dir herzustellen. Doch ist dies, was du jetzt siehst, nicht mein wahres Ich. Nicht meine fleischliche Hülle, sondern nur ein Abbild meiner Erinnerung an mich selbst…“, Athul unterbrach sich. Dabei begann das Licht der Lampe erneut wild zu flackern und das Bildnis vor Twingles Augen schien für einen Moment zu verschwinden. „Du siehst, es erfordert viel Willenskraft, um diese Erscheinung aufrecht zu erhalten. Und doch hoffe ich, dass ich genug Zeit habe, um dir zu beweisen, dass es immer noch ich bin, den du vor dir siehst.“

Twingle starrte die Erscheinung an. Er konnte es einfach nicht glauben. Seine Erfahrungen mit übernatürlichen Kräften waren schon oft an die Grenzen dessen geraten, was er für richtig hielt. So waren all die Ereignisse, die sich um die Runen und die geheimnisvolle Kraft der Ethendi rankten, für ihn nie wirklich greifbar gewesen. Doch hatte er lernen müssen, dass es Mächte gab, die er nicht einzuschätzen vermochte – die aber dennoch existierten. Und so war er geneigt, der Stimme seines alten Meisters Glauben zu schenken. Wenn auch mit einer gehörigen Portion Skepsis.

Twingle legte eine Hand auf den Rücken des immer noch knurrenden Vierbeiners und versuchte diesen zunächst vergeblich zu beruhigen.

„Wenn es wahr ist, und Ihr mein Meister seid, so will ich alles in meiner Macht stehende tun, Euch zu dienen. Aber woher soll ich wissen, dass Ihr es wirklich seid?“

„Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung?“, wollte die Erscheinung wissen.

Twingle nickte.

„Wir haben nie ein Wort darüber verlauten lassen, wo ich dich das erste Mal traf. Ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen. Ich war noch ein junger Bursche. Elgorath hatte mich zu sich genommen, nach der Flucht aus meinem Dorf. An dem Tag habe ich die Gassen des mittleren Königreichs auf der Suche nach einem Sinn in meinem verlorenen Dasein durchstreift.“ Erneut unterbrach sich die Gestalt von Athul. Ihr Antlitz verschwamm und kurz glaubte Twingle, sie würde verschwinden. „Ich muss mich eilen. Meine Kraft schwindet. Ich entdeckte einen Schausteller, der mit Absurditäten aus aller Welt prahlte. Unter anderem versprach er, das Grauen einer unentdeckten Spezies in einen Käfig gesperrt zu haben. Neben ihm befand sich ein alter Karren, auf dessen Ladefläche ein verhüllter Kasten stand. Er ließ sich Zeit mit seinen Ausführungen und sammelte Münze um Münze, bis genug Schaulustige anwesend waren.“

Twingle starrte ausdrucklos auf den Boden. In seinem Inneren verspürte er einen brennenden Schmerz, der nicht von seiner Verletzung herrührte. Es war, als ob sich eine klauenbesetzte Bestie durch seine Eingeweide grub, denn dies waren Erinnerungen an ein Leben, die er niemals wieder hatte hervorholen wollen.

Doch die Stimme erzählte weiter.

„Unter den Augen der Anwesenden enthüllte er das große Geheimnis der Bestie. Unter lautem Gejubel riss er das Tuch hinunter und entblößte den Käfig. Und in diesem Moment sah ich dich zum ersten Mal. Angsterfüllt hast du in die Menge gestarrt, bis der Widerling mit seinem Metallstab gegen dein Gefängnis schlug, immer und immer wieder. Die Leute kreischten und jubelten. Doch ich habe in diesem Moment jeden Schlag an mir selbst gespürt. Ich konnte genau verstehen, was du in dir fühltest, denn auch ich war ein Ausgestoßener und allein.“

Twingle, der bis zum Schluss seine Fassung bewahrt hatte, konnte eine Träne nicht verbergen. Langsam rann sie seine Wange hinab. Zu schlimm waren die Erinnerungen an diese Zeit. „Ihr… Ihr seid es wirklich“, stammelte er.

„Ja, mein alter Freund. Ich bin es. Und ich brauche deine Hilfe, um meinem Leiden ein Ende zu bereiten. Denn wie einst du, sitze auch ich nun in einem Käfig. Gefangen in der Zwischenwelt, ohne eine Chance aus eigener Kraft herauszukommen.“

„Was kann ich tun, um Euch zu helfen?“ Twingle war nun fest entschlossen.

„Du musst etwas für mich besorgen“, antwortete Athul. „Es ist lange her, aber hat der Kommandant dir einen Schlüssel anvertraut? Einen kleinen unscheinbaren Schlüssel?“

Twingle überlegte. Er hatte so viele Schlüssel besessen. Doch etwas, tief in seiner Erinnerung verborgen, kämpfte sich zu Tage.

„Ja, es fällt mir wieder ein.“ Twingle erfüllte ein Gefühl der Freude, so als ob er seinen Herrn bereits befreit hätte. „Es hat mich damals sehr verwundert, weil der Kommandant mir nicht hatte sagen wollen, wofür der Schlüssel sei. Er hat mich nur ermahnt, ihn bei mir zu tragen und auf ihn aufzupassen. Ich erinnere mich sogar noch daran, dass ich ihn einige Male getestet habe, aber irgendwann aufgab, da er zu nichts in der Festung zu passen schien.“

Die letzten Worte bereute Twingle bereits, da er fürchtete, damit etwas Unrechtes getan zu haben, doch sein Gegenüber ging nicht darauf ein.

„Fabelhaft!“, die Gestalt vor Twingle klatschte in die Hände. Für einen kurzen Moment starrte Twingle seinen Herrn verwirrt an. Eine derartig emotionale Geste hatte er an ihm nie zuvor gesehen.

„Du musst mit diesem Schlüssel in die Festung.“ Athul schien seine Fassung zurück erlangt zu haben. „Der geheime Raum, der unter dem Thronsaal liegt. Dort befindet sich eine kleine versteckte Vertiefung in der Wand, in der du eine Schatulle finden wirst. Diese wirst du für mich holen.“

Twingle wollte etwas sagen, doch Athul war noch nicht fertig.

„Lass mich zu Ende reden. Es ist von größter Wichtigkeit, dass du die Schatulle nicht öffnest! Wenn du sie gefunden hast, werde ich wieder zu dir kommen. Erst wenn ich es dir sage, darfst du sie mit dem Schlüssel öffnen. Hast du das verstanden?“ Die Stimme Athuls war energisch geworden.

„Es gibt noch ein Problem“, gab Twingle kleinlaut zu bedenken.

„Was meinst du?“

„Ich besitze den Schlüssel nicht mehr….“ Zähneknirschend senkte Twingle seinen Blick zu Boden.

Schweigen trat ein. Die Enttäuschung war Athul ins Gesicht geschrieben. Sein Blick verfinsterte sich.

„Was heißt, du hast ihn nicht mehr?“, wollte er wissen.

„Ich habe ihn in einer Grotte unter der Festung vor langer Zeit verloren.“ Twingle versuchte es nicht schönzureden. Betrübt schaute er seinen Herrn an.

Dieser strich sich verzweifelt durchs Haar. „Der Schlüssel ist alles, was noch von Belang ist. Er ist der einzige Weg mich zu retten. Du musst ihn finden! Koste es, was es wolle!“ Das schneller werdende Aufflackern der Erscheinung Athuls ließ vermuten, dass dessen Kräfte langsam zu Neige gingen.

„Ich werde es versuchen. Das verspreche ich Euch!“ Twingle ballte seine Hände zu Fäusten.

„Ich muss gehen, mein Freund. Ich danke dir für alles und wünsche mir so sehr, dass du Erfolg hast. Ich komme wieder sobald es mir möglich ist. Bitte enttäusche mich nicht….“

Mit diesen Worten begann das Bildnis von Athul zu verschwimmen. In wenigen Lidschlägen löste sich Twingles einstiger Herr in einem verwirbelten Nebel auf, bis auch dieser verschwunden war.

Das Licht der Öllampe beruhigte sich und Stille setzte ein.

Twingle, der nicht fassen konnte, was gerade geschehen war, starrte noch immer auf die Stelle, an der Athul gestanden hatte.

Zögerlich hob Twingle die Hände und klopfte sich auf die Wangen. Er war wach! Das, was er gerade erlebt hatte, war real gewesen.

Sein Blick glitt zu dem verletzten Hund an seiner Seite, der wieder ruhig atmend schlief. Durch das Fenster des kleinen Lagerraumes nahm er die einsetzende Dämmerung wahr. An Schlaf war kaum noch zu denken, aber um die Bitte seines Herrn zu erfüllen brauchte er seine ganze Kraft. Und so dämmerte er noch eine Weile an der Seite seines treuen Vierbeiners mit geschlossenen Augen, doch Schlaf fand er nicht mehr.

11
Szenen der Vergangenheit

„He! Was machst du da?“, erklang eine junge Männerstimme.

Erschrocken zuckte Athul zusammen.

Desorientiert ließ er den Blick umherschweifen.

„Ja, du! Oder siehst du hier noch jemanden?“ Erneut polterte die Stimme los.

Noch immer verwirrt erfasste Athul die Gestalt, die nur wenige Schritte von ihm entfernt stand. Ein hochgewachsener Gardist baute sich vor ihm auf. Der Soldat hatte seine Rechte auf dem Griff eines Schwerts liegen. Seine silbern funkelnde Rüstung ließ seine Statur breit und bedrohlich wirken. Das lange schwarze Haar hatte er zu einem Zopf gebunden.

„Ich habe gefragt, was du hier machst. Dieses Gebiet gehört zum Königshof und Zivilisten ist der Zutritt untersagt!“

Athul musterte den Soldaten und rasch wurde ihm bewusst, dass er die Person vor sich kannte. Athul schaute zur Seite und sichtete die Umgebung.

Vor ihm befand sich ein Metallzaun. Dieser maß mindestens das Doppelte von Athuls Größe. Auf dem Rand saßen lange, spitze Zacken, die deutlich machten, dass ein Überqueren sowohl nicht erwünscht, als auch zwecklos sein würde.

Zwischen den massiven Metallstangen hindurch konnte er ein weites Gelände ausmachen. Ein großer Garten, durchzogen von gepflegten Kieswegen, gesäumt von akkurat geschnittenen Büschen, grenzte an ein prunkvolles Schloss.

Die Erinnerungen an diesen Ort waren Athul noch immer sehr präsent, obwohl es bereits eine Ewigkeit zurücklag, dass es hier so ausgesehen hatte.

Was auch immer vor sich ging, all das, was um Athul lag, war vor vielen Jademonden zerstört worden.

Was geschah nur mit ihm? Erst die Begegnung mit Elgorath und jetzt dieser Ort. Athuls Zeitgefühl war praktisch erloschen. Es kam ihm so vor, als lag es erst wenige Augenblicke zurück, dass man ihn aus der schrecklichen Leere befreit hatte. Die beiden hochgewachsenen Fremden hatten ihm erklärt, dass sie ihn gerettet hatten. Er versuchte sich zu erinnern, was danach geschehen war. Sie hatten keine seiner Fragen beantwortet, ihn beschwichtigt und gebeten, sich erst einmal auszuruhen. Sie würden ihm alles erklären, wenn er wieder bei Kräften wäre. Anschließend hatten sie den Raum verlassen und ihn allein gelassen. Er hatte keine Erinnerung daran, was dann geschehen war.

Athul wandte sich wieder dem jungen Gardisten zu. Dieser war kaum älter als fünfundzwanzig. Das Alter, in dem sie sich das erste Mal gegenübergestanden hatten. Eben an diesem Ort und in dieser Situation.

„Entschuldigt, mein Herr. Ich habe mich verlaufen“, hörte sich Athul zaghaft antworten – er schien keinerlei Einfluss darauf zu haben, was hier geschah. Er war stiller Beobachter seiner eigenen Erinnerungen.

„Du solltest lieber zusehen, dass du Land gewinnst. Ich habe den Befehl, Streuner und Landfriedensbrecher einzusperren!“, drohte der Soldat.

„Ich möchte keinen Ärger“, beschwichtigend hob Athul die Arme. Zögernd drehte er sich um und machte sich daran zu gehen.

„Wo musst du denn hin?“, setzte die Stimme des Gardisten erneut ein. „Ich meine, wenn du dich verlaufen hast, wäre doch ein guter Ratschlag für die Richtung nicht verkehrt.“

Athul wandte sich erneut dem hochgewachsenen Mann zu.

„Wir wohnen seit kurzem im Händlerviertel.“

„Das ist nicht weit von hier. Ich werde dich ein paar Schritte begleiten.“

„Das ist wirklich nicht nötig“, versuchte Athul abzuwiegeln.

Doch der Gardist ließ nicht mit sich reden – sei es aus Hilfsbereitschaft, oder um sicher zu gehen, dass der Bursche auch wirklich vom Gelände verschwand.

„Wo kommst du denn ursprünglich her?“, wollte der Mann wissen, während sie den Weg entlang des Palastes hinabschritten.

Athul, der die Situation noch immer befremdlich fand, antwortete nur knapp. „Aus einem kleinen Fischerdorf im Osten.“

„Und wieso hat es euch hierher verschlagen? Haben deine Eltern hier Arbeit gefunden?“

„Meine Eltern sind tot“, entfuhr es dem Jungen unvermittelt.

Der Gardist ließ den Kopf sinken. „Entschuldige.“

„Schon gut. Ist lange her.“ Athul schob jegliche Gedanken daran beiseite.

„Und wer kümmert sich jetzt um dich? Hast du noch Verwandte?“

„Keine Verwandten… mein Großvater… er … ich….“ Auf einmal verschwamm Athul die Sicht. Tränen waren in seine Augen getreten. Seine letzte Antwort und die damit verbundenen Erinnerungen an seinen Großvater und die schreckliche Schuld, die er auf sich geladen hatte, hatten sein junges Ich eiskalt erwischt. Athul konnte sich noch gut an die damalige Zeit erinnern. Nachdem Elgorath ihn aufgenommen hatte, hatte er sich im Verdrängen geübt und dies bis zu diesem Zeitpunkt gut hinbekommen. Warum es ihn ausgerechnet in diesem Moment derart kalt erwischt hatte, war ihm bis heute nicht klar geworden.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte der Mann an seiner Seite.

Athul rieb sich mit dem Ärmel über die Augen. „Nein,… alles gut. Es ist nichts.“

Der Dunkelhaarige blieb stehen und packte ihn am Arm. „Es
geht mich nichts an, und du kennst mich nicht. Aber wenn du mit jemandem reden willst – manchmal hilft es, einen Fremden ins Vertrauen zu ziehen, der dich nicht kennt und keine vorgefasste Meinung hat.“

Athul schüttelte den Kopf.

„In Ordnung.“ Der Gardist ließ Athuls Arm wieder los und machte sich daran, weiterzugehen.

„Mein Großvater war der Grund, warum wir das Dorf verlassen haben“, entfuhr es Athul plötzlich. Erneut spürte er, wie sich seine Brust zusammenzog – es war ein tiefer innerer Schmerz. „Er wurde ermordet.“

„Das ist schrecklich….“

„Es war meine Schuld. Wäre ich nicht gewesen…. Er hat nur versucht, mich zu beschützen.“ Erneut traten Tränen hervor, doch waren es dieses Mal Tränen der Wut, Wut auf sich selbst.

„Du darfst dir nicht die Schuld geben.“

„Ihr habt keine Ahnung. Wie Ihr schon sagtet, Ihr kennt mich nicht. Ihr wisst nicht, was geschehen ist. Es ist ein Fehler gewesen, davon anzufangen.“ Athul schüttelte den Kopf.

Athul war bewusst, dass die Geschichte, die sein junges Ich erzählt hatte, ihre Wirkung nicht verfehlt hatte und aus der heutigen Sicht wunderte ihn dies nicht. Hatte der Mann doch selbst seine Familie in jungen Jahren verloren, wie Athul später erfahren sollte.

Während Athul darüber nachdachte, was als nächstes geschehen würde, fiel ihm etwas ins Auge. Er ließ den Blick vom Gardisten ab und blinzelte zwischen den Metallstangen hindurch. Den Garten vor dem Schloss zierten allerlei Büsche und Bäume, wohl geformt und gut gepflegt. Doch war es weniger das Grün, das Athuls Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Er hatte eine Gestalt wahrgenommen. Nur für einen kurzen Moment und nur aus den Augenwinkeln. Und doch war er sich sicher, sie gesehen zu haben. Als er sich nach ihr umschaute, war sie jedoch verschwunden. Ein Unbehagen breitete sich in ihm aus. All dies, was hier geschah war eine Szene seiner Vergangenheit. Doch wurde er das Gefühl nicht los, dass diese Gestalt nicht zu diesen Erinnerungen gehörte.

Athul grübelte noch immer über die seltsame Erscheinung, als die Szenerie zu verschwimmen begann. Wie ein Strudel drehte sich das Bild vor Athul. Die Farben mischten sich und er musste die Augen schließen, damit ihm nicht übel wurde.

„Hier ist es?“, drang die Frage des Soldaten an sein Ohr.

Vorsichtig blinzelte Athul. Verwirrt stellte er fest, dass sie nicht mehr am Vorplatz des Schlosses standen. Sie hatten die Straßen des Mittleren Reichs durchquert und standen nicht weit von dem Haus entfernt, in dem er mit Elgorath gelebt hatte.

„Habt vielen Dank.“ Abermals kommentierte sein junges Ich die Situation.

„Ich bringe dich noch zur Tür“, ließ der Soldat verlauten. Augenscheinlich wollte er sichergehen, ob auch alles in Ordnung war und die Geschichte, die ihm Athul aufgetischt hatte, tatsächlich stimmte.

Athul ging auf die Tür zu und klopfte zaghaft gegen das Holz.

Aus dem Inneren erklangen Schritte. Die Tür öffnete sich und Elgorath stand im Rahmen. Verdutzt schaute er zunächst Athul, dann den Gardisten an.

„Ich grüße Euch, werter Herr. Gab es Ärger mit dem Jungen?“, wollte er wissen.

„Ich habe ihn im Regierungsviertel aufgegriffen. Ich denke, ich muss Euch nicht auf die strenge Sperre für Zivilisten aufmerksam machen, die in der Nähe des Königpalastes gilt?“ Dem zunächst ernsten Blick des Mannes folgte ein Lächeln. „Keine Sorge. Er hatte sich verlaufen. Und angesichts der Tatsache, dass er noch nicht allzu lang hier wohnt, hielt ich es für angebracht ihn zu begleiten. Gebt nur demnächst etwas mehr Acht auf Euren Jungen.“

„Ich danke Euch vielmals, mein Herr. Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, die er Euch bereitet hat.“ Bereitwillig deutete Elgorath eine Verbeugung an.

„Schon in Ordnung. Ich weiß selbst, wie hart das Leben in seinem Alter sein kann“, beschwichtigte der Gardist.

„Und dennoch, dass Ihr Euch die Mühe gemacht habt, ehrt Euch. Dann komm mal herein, Athul.“

„Hey Bursche“, rief der Soldat.

Athul, der sich gerade daran gemacht hatte, an Elgorath vorbei ins Haus zu gehen, drehte sich um.

„Es tut mir sehr leid, was dir widerfahren ist. Wenn du mal wieder in Schwierigkeiten steckst, frag nach mir. Mein Name ist Leander.“

Leander! Diesen Namen hatte Athul beinahe vergessen. So lange Zeit kannten sie einander, hatten Seite an Seite gekämpft, doch ihre Namen hatten sie irgendwann abgelegt, für das höhere gemeinsame Ziel. Mein Kommandant, es war mir eine Ehre Euch noch einmal treffen zu dürfen. Wehmut breitete sich in Athul aus bei dem Gedanken, dass sein einstiger Freund in der Gegenwart den Tod gefunden hatte.

Athul hörte sich mit Dank von dem jungen Gardisten verabschieden. Dann drehte er sich um und blickte in die ernste Miene Elgoraths.

Dieser wartete noch, bis die Tür geschlossen war, dann polterte es aus ihm heraus: „Du wohnst also noch nicht allzu lang hier?“ Elgorath tat einen energischen Schritt auf Athul zu. „Wir sind mittlerweile seit vielen Umläufen im mittleren Königreich. Und da verläufst du dich? Noch dazu in der Nähe des Königspalastes?“

„Ich…“, wollte Athul die Situation erklären.

„Ich bin noch nicht fertig, Athul! Du weißt, ich habe viel Verständnis für dich aufgebracht. Aber in der letzten Zeit nimmst du dir einiges heraus. Was hast du dort getrieben?“

„Was geht es Euch an? Ihr interessiert Euch ohnehin nur für Eure Forschungen!“ Athuls Stimme klang trotzig.

Du Sturkopf, schalt Athul sich selbst. Es war nie seine Stärke gewesen, mit Konflikten umgehen zu können. Im Gegenteil, zumeist hatten diese Dinge in einer Katastrophe geendet.

„Jetzt reicht es, du gehst augenblicklich auf dein Zimmer. Wenn du darüber nachgedacht hast, welcher Tonfall mir gegenüber angebracht ist, können wir weiter sprechen!“

Wütend rannte Athul an ihm vorbei und knallte die Zimmertür hinter sich zu. Dann warf er sich auf sein Bett.

Ein Glück, dass zu diesem Zeitpunkt mein Stein noch in Elgoraths Besitz war, schoss es Athul durch den Kopf. Wer weiß, wie dies sonst alles geendet hätte. Wobei das, was als nächstes geschehen sollte, sein Leben nicht unbedingt einfacher gemacht hatte.

Erneut begann die Welt vor Athuls Augen zu verschwimmen. Alles um ihn herum wurde dunkel. Doch dieses Mal war Athul darauf vorbereitet und ließ es einfach über sich ergehen, bis die Welt um ihn herum wieder Konturen bekam. Er befand sich noch immer in seinem Zimmer. Ein Blick zum Fenster verriet, dass es Nacht war.

Ein fein klingendes Geräusch drang vom Fenster an sein Ohr. Der junge Athul schreckte hoch - hatte da jemand etwas gegen die Schreibe geworfen? Er ging hinüber und spähte hinaus. Rasch öffnete er das Fenster, als er die Person erkannte, die für die nächtliche Störung verantwortlich war.

„Samuel, was machst du hier?“

„Athul, mein Lieber. Reg dich nicht auf“, entgegnete die Person vor dem Fenster. Ein hagerer Bursche Anfang zwanzig. Trotz seiner hageren Statur wirkte er agil und sportlich. Seine Gesichtszüge waren beinahe weiblich, so weich zeichneten sie sich im fahlen Licht der Laternen ab. Das schwarze Haar war im Dämmerlicht der Nacht nur zu erahnen, doch Athul hatte es noch klar vor Augen. Was hingegen deutlich zu erkennen war, selbst bei den gegebenen Lichtverhältnissen, waren die strahlend hellblauen Augen seines Gegenübers. Auch jetzt konnte Athul sich noch gut an die beinahe magische Wirkung erinnern, mit der der junge Mann nicht nur Frauen in seinen Bann gezogen hatte.

Doch dies alles änderte nichts an dem, was Athul heutzutage ihm gegenüber empfand: Du mieser Verräter! hätte er Samuel am liebsten an den Kopf geworfen. Doch noch immer hatte er keinen Einfluss auf das, was sich vor ihm abspielte.

„Und? Hast du etwas rausfinden können?“, wollte Samuel wissen.

„Ich wurde gestört“, entgegnete Athul.

„Du hast dich doch nicht erwischen lassen?“ Misstrauisch funkelte der Blauäugige ihn an.

„Irgendwie schon. Aber keine Sorge, es ist alles gut gegangen. Ich habe meinen Trumpf ausgespielt und etwas Mitleid erregt. Es sollte also keinen Verdacht geben.“

„Das will ich dir auch raten! Du weißt genau, dass ziemlich viel auf dem Spiel steht.“

„Schon klar“, gab Athul kleinlaut zurück.

„Und hast du bei deinem Gelehrten etwas erreichen können? Weißt du wo er dein Schmuckstück aufbewahrt?“

„Noch nicht. Er ist derzeit auch nicht allzu gut auf mich zu sprechen. Ich denke, meine Schonfrist ist allmählich vorbei. Er spielt sich auf, als ob er ein verdammter Vaterersatz sein will.“

„Allzu lange wirst du das Ganze nicht mehr ertragen müssen. Wenn du erstmal wieder im Besitz deiner Waffe bist, können wir alles erreichen.“

Hättest du ihm nur nie von dem Stein erzählt und dich von ihm ferngehalten, dann…

Jäh riss Athuls Gedanke ab. Da war sie wieder! Die Person aus dem Garten. Gebannt starrte er auf die weiß leuchtende Gestalt auf der anderen Straßenseite. Zwischen zwei Häuserfassaden entglitt sie seinem Blick. Ein unbändiger Drang erwuchs in seinem Inneren, herauszufinden, wer dieser Beobachter war und mit einem Mal spürte Athul, wie die Welt um ihn herum zu beben begann. Er verkrampfte sich, bildete sich ein, einen Schmerz zu spüren. Allerdings war dieser weniger physischer Natur. Es war ihm, als würde er das behütete Heim gegen eine lebensfeindliche fremde Welt tauschen. Sein Geist klammerte sich an die Erinnerung, die er durchlebte, und schien nicht zulassen zu wollen, dass er sich von ihr löste. Doch dann ging alles ganz schnell. Eben noch sah er Samuel vor sich und das Zimmer um ihn herum, da wirbelten die Bilder wie ein unersättlicher Strudel und im nächsten Augenblick fand er sich auf der Straße unweit der Häusergasse wieder, in der die Lichtgestalt entschwunden war.

Vorsichtig tastete er sich an die Ecke des linken Hauses heran und spähte in die leere Gasse. Eine Sackgasse. Keine zehn Fuß vor ihm ragte eine kahle Wand in die Höhe. Enttäuscht wandte er sich ab. Dann, wie vom Blitz getroffen, taumelte er zurück. Unmittelbar vor ihm stand eine junge bildhübsche Frau. Ihre Haut war beinahe weiß. Ihr Haar ebenfalls. Er sah, dass sie ihren linken Arm hob, der von einem schimmernden weißen Gewand umhüllt war, und den Zeigefinger an ihre Lippen legte. Im gleichen Moment riss das Bild vor ihm ab. Er spürte wie sein Körper zurückgeworfen wurde und er in ein tiefes Nichts stürzte.

12
Zottel

„Nein. Hier ist auch nichts.“ Missmutig warf Josha seinen Kopf in den Nacken, drückte die Arme in die Seiten und streckte den Rücken durch. Ein lautes Knacken erklang. Deutliche Schweißperlen benetzten seine Stirn. Obwohl die Sonne mittlerweile ihren höchsten Punkt verlassen hatte, war es noch immer sehr warm, was die Suche erschwerte.

Twingle, der nur wenige Meter neben ihm die Hände tief in den Schlick gesteckt hatte, blickte ihn an.

„Josha. Nicht aufgeben. Wir müssen diese verdammten Schlüssel finden. Es ist wirklich sehr wichtig für mich!“

Josha seufzte und ließ den Blick wieder gen Boden sinken.

Meister, was habt Ihr mir da für eine schwere Bürde auferlegt. Ich weiß nicht einmal, ob der Schlüssel überhaupt noch existiert. Geschweige denn wo, dachte Twingle. Dabei ließ er die Finger immer wieder durch den matschigen Boden gleiten.

Er hatte vor drei Tagen alleine mit der Suche begonnen. Drei Tage, die kein Ergebnis gebracht hatten. Zunächst hatte er die Grotte abgesucht. Jene Grotte, in die es ihn einst bei der wilden Flucht tief aus den Eingeweiden der dunklen Festung getrieben hatte. Mitgerissen von dem Wasserstrom, der weit unten in den verzweigten Höhlensystemen in einen unterirdischen See mündete. Aber es war zwecklos. Nicht nur, dass es dort unten wenig Licht gab, die Höhle war groß und die Versuche in dem eiskalten Bergwasser zu tauchen, ließen Twingle schnell an seine Grenzen stoßen. Zudem beeinträchtigte ihn noch immer die Verletzung, die er aus dem heimtückischen Angriff des einstigen Heerführers davongetragen hatte.

In seiner Verzweiflung hatte er letztlich Josha gebeten, ihm zu helfen. Dabei wollte er sich dieses Mal auf die Außenbereiche konzentrieren. Das Wasser der Grotte verließ die Höhle durch einen breiten Tunnel, an dessen Ende zwei große Schleusentore standen.

Diese alten und maroden Bauwerke stammten noch aus der Zeit des freien mittleren Königreichs. Seit der Gründung des Inneren Reichs durch seinen Herrn wurden sie nicht mehr genutzt.

Twingle näherte sich dem äußeren Schleusentor. Durch die alte rissige Struktur des Bauwerks hatte sich an vielen Stellen das Wasser der Grotte seinen Weg hinausgebahnt und bildete einen kleinen Bachlauf. Das Ufer war zu beiden Seiten stark abschüssig, sodass Twingles Suche nur mühsam voranschritt.

Ein Knacken ließ ihn aufschrecken. Er drehte den Kopf zur Seite und blickte die Böschung hinauf. Aus dem hohen Gras der Umgebung zeichneten sich zwei graue Ohren ab, gefolgt von dunklen Knopfaugen und einer gräulichen Schnauze, deren Zottelfell mit allerlei Gras und Gestrüpp bespickt war.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783945310151
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Zauber Macht Krieg Magie geheimnisvoll realistisch Abenteuer Fantasy episch Episch High Fantasy

Autor

  • Michael S. V. Preis (Autor:in)

Der Wunsch Eigenes zu schaffen begleitet mich sehr lang. Bereits im Kindesalter habe ich Welten erdacht und sie für meine Freunde erlebbar gemacht. Das Spielen in diesen Welten hat mich immer beflügelt. Auch wenn Spielzeug im Laufe der Jahre wich, so entwickelten sich andere Formen, den kreativen Gedanken Raum zu geben. Der Antrieb, Dinge nicht als gegeben hinzunehmen, sondern sie zu verbessern und schlussendlich meine eigenen Ideen zu verwirklichen, ist immer vorhanden gewesen.
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Titel: Ethendi - Der dunkle Pakt