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Von einer Volkswirtschaft der Lebensqualität

Warum sich eine hochwertige Versorgung mit Hilfsmitteln für eine Gesellschaft rechnen kann

von Pascal Escales (Autor:in)
85 Seiten

Zusammenfassung

Ist die Würde des Menschen wirklich unantastbar – oder ist die Umsetzung dieses im Grundgesetz festgeschriebenen Grundsatzes eine Frage des volkswirtschaftlichen Nutzens? Bei der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln kommt es in Deutschland immer wieder zu Konflikten mit den Kostenträgern. Interessenverbände, Wirtschaft und zunehmend auch die Politik kritisieren Einsparungen auf Kosten der Qualität und zu Lasten der Versicherten. Die negativen Auswirkungen mangelhafter Versorgung auf die Lebensqualität der Betroffenen sind zwar bekannt, empirisch jedoch bislang kaum nachgewiesen und nie in einem volkswirtschaftlichen Zusammenhang analysiert worden. Diese Studie zeigt auf, wie die Begriffe Lebensqualität und Hilfsmittelqualität für Menschen mit Handicap untrennbar miteinander verbunden sind, und analysiert die Möglichkeiten und Chancen einer bedingungslosen, unmittelbaren und hochwertigen Versorgung. Die gängige Praxis, Versorgungslösungen durch einen Preis zu begrenzen, verletzt nicht nur die Würde des Menschen, sondern verstößt möglicherweise auch gegen volkswirtschaftliche Interessen. Die im Rahmen dieser Studie gesammelten Ergebnisse stellen bisherige Versorgungspraktiken grundlegend in Frage und begründen das berechtigte Interesse an hochwertiger Versorgung auch aus volkswirtschaftlicher Sicht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zum Geleit

Geleitwort von Claus Peter Müller-Thurau, Dipl.-Psych. / Dozent an der Hochschule für Oekonomie und Management (FOM) u. a. im Fach Gesundheitsmanagement

Sind Kleinkinder Behinderte? Da möchte man mit seinen „funktionsbeeinträchtigten“ Lieben im Buggy ein Schwimmbad aufsuchen und dann wird man am Zutritt durch eine Treppe behindert. Behindert ist man nicht, behindert wird man! Das ist eine steile These, aber genau dieser Ansatz macht das vorliegende Buch sympathisch im Sinne humanistischer Werte. Ein verlorenes Bein darf einen Menschen nicht daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Der Verdienst dieses lesenswerten Titels besteht darin, den Zusammenhang von Lebensqualität und Hilfsmittelqualität sachkundig zu erörtern. Angehörige behinderter Menschen wissen oft wenig über die Möglichkeiten, den Betroffenen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Dabei geht es nicht nur um die Ansprüche auf Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz sondern um die Erschließung des öffentlichen Raumes und berufliche Teilhabe für Behinderte.

Vor diesem Hintergrund werden sachkundig Einsparungen an körperlich behinderten Menschen durch Kostenbegrenzungen von Hilfsmitteln hinterfragt und es wird untersucht, welche Wechselwirkungen zwischen Hilfsmittelqualität und Lebenszufriedenheit bestehen und welche Folgen eine mangelhafte Hilfsmittelversorgung für Gesellschaft und Wirtschaft haben kann. Sehr aufschlussreich widmet sich der Verfasser mit Blick auf die zu fördernde angestrebte Lebenszufriedenheit den Aspekten Gesundheit, Arbeit und Einkommen, Umwelt und Freizeit und soziale Kontakte und stellt zielführende Konzepte und Maßnahmen zur besseren Hilfsmittelversorgung vor.

Besonders interessant sind die Überlegungen zur Kompetenzmangelbehebung bei Versorgungsbeteiligten und die Schaffung neuer Anreize für Arbeitgeber wie zum Beispiel eine Lockerung des Kündigungsschutzes. Danach werden sehr gründlich Konzepte und Maßnahmen zu Erschließung des öffentlichen Raumes für Behinderte einschließlich einer Beseitigung von Barrieren durch Bewusstseinsänderung erörtert. Ein besonderer Mehrwert der vorliegenden Untersuchung besteht in aufwändigen und professionell analysierten Interviews mit Menschen, die seit mindestens fünf Jahren auf die tägliche Anwendung von Hilfsmitteln angewiesen sind.

Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen der Lebensqualität von Menschen mit Behinderung und der gegebenen Hilfsmittelqualität und wie lassen sich die einschlägigen Befunde in der Praxis umsetzen? Das vorliegende flüssig geschriebene Buch, das aus einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit hervorgegangen ist, gibt zu dieser komplexen Frage fundierte und pragmatische Antworten.

Hamburg, den 14. Februar 2021

1. Einleitung

1.1 Relevanz des Themas

Jeder Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied, und eine Steigerung der Lebensqualität ist ohne eigenes Zutun in der Regel nicht erreichbar. Doch was, wenn der Arm zum Schwingen des Hammers nicht benutzt werden kann? Was, wenn die Beine nicht genügend Kraft aufbringen, um aufrecht zu stehen? In diesem Fall ist – jenseits von nicht beeinflussbaren äußeren Faktoren und dem eigenen, subjektiven Empfinden – eine Steigerung der Lebensqualität meist nur mit Hilfsmitteln möglich. In Deutschland leben (Stand Ende 2017) 7,8 Millionen Menschen mit Behinderung, davon haben etwa 4,6 Millionen eine körperliche- oder Mehrfachbehinderung (Statistisches Bundesamt, 2018). Diese Menschen benötigen Hilfsmittel, die – so die gesetzliche Definition – verloren gegangene körperliche Funktionen kompensieren, ersetzen oder ausgleichen können (vgl. Kapitel 2.1). Welchen Einfluss die Qualität solcher Hilfsmittel auf die Lebensqualität hat, ist Gegenstand dieser Arbeit.

In der Wissenschaft gibt es im Bereich der Lebensqualitätsforschung viele Theorien und Faktoren, welche die Lebensqualität beeinflussen. Lebensqualitätssteigernde Faktoren setzen in der Regel ein aktives Handeln des Individuums und Interaktionen mit der Umwelt voraus. Liegen Körperbehinderungen vor, die nicht oder nur ungenügend durch entsprechende Hilfsmittel ausgeglichen werden, kann dieser Umstand ein entsprechendes Handeln erschweren oder unmöglich machen. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Lebensqualität ist also abhängig von der Frage, wie gut ein Hilfsmittel seiner gesetzlichen Definition entsprechend in der Praxis verloren gegangene Handlungsfähigkeit wiederherstellt.

Die große Bedeutung der Hilfsmittelqualität für die Lebenszufriedenheit wird deutlich, wenn man einen Blick auf zentrale Lebensqualitätsfaktoren wirft. Schon die Erfüllung überlebensrelevanter physiologischer Grundbedürfnisse kann – je nach Behinderung – von einem Hilfsmittel abhängen. Lebensqualität geht darüber hinaus einher mit Begriffen wie Freiheit, Glück und der Möglichkeit, autonom und selbstständig zu handeln (Noll, 2000, S. 3-6). Neben nicht beeinflussbaren Variablen wie Persönlichkeitseigenschaften oder gewissen äußeren Umweltfaktoren wirken sich vor allem die eigene Handlungsautonomie sowie die Möglichkeit, sich fortzubewegen und am sozialen Leben teilzuhaben, auf den Grad der Zufriedenheit aus. Grundbedürfnisse, Individualbedürfnisse und soziale Kontakte – in all diesen Bereichen schaffen Hilfsmittel den nötigen Rahmen und Möglichkeiten besserer Einflussnahme.

Nicht zuletzt haben auch Umweltfaktoren zur Freizeitgestaltung einen Einfluss auf die Lebensqualität. Park- und Grünflächen, Kinos, Kunst-, Kultur- oder Sportstätten, Gastronomie und Öffentlicher Nahverkehr – auch hier gibt es eine Vielzahl an Faktoren, die zur Steigerung der Lebensqualität beitragen können. Gerade in großen Städten ist das Freizeitangebot groß und vielfältig. Menschen mit körperlichen Behinderungen, allen voran Rollstuhlfahrer und Mobilitätseingeschränkte, können dieses Angebot aufgrund von Barrieren und fehlenden Hilfsmitteln aber oft nicht nutzen. Längst ist bekannt, dass Gesundheit in Form von physischem und psychischem Wohlbefinden ein wichtiger Erfolgsfaktor für Lebensqualität ist. Im Sozialgesetzbuch werden Hilfsmittel als Instrumente definiert, die unter anderem der Krankheitsvorbeugung dienen (vgl. Kapitel 2.1). Eine mangelhafte oder falsche Hilfsmittelversorgung kann somit schon per Definition schwerwiegende Symptome und Krankheitsbilder hervorrufen und negativen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit nehmen.

Auch der Faktor Arbeit hat in der Lebensqualitäts- und Zufriedenheitsforschung seinen Platz, wobei ein Zusammenhang zwischen Beschäftigung und psychischer Gesundheit besteht. Aufgrund mangelnder Zugänglichkeit und fehlender barrierefreier Arbeitsplatzgestaltung kommen viele Jobangebote für behinderte Menschen allerdings von vornherein nicht in Frage. Obwohl es bei vielen Tätigkeiten keine körperlichen Voraussetzungen gibt und Barrieren mit Hilfsmitteln behoben werden könnten, ist der Anteil an erwerbsfähigen arbeitslosen Schwerbehinderten im Vergleich zu demjenigen nicht behinderter Arbeitsloser überproportional hoch, und auch der Anteil qualifizierter Fachkräfte ist bei schwerbehinderten Arbeitslosen höher (Bundesagentur für Arbeit, 2018, S. 4, 10).

Bei der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln kommt es in Deutschland immer wieder zu Konflikten mit den Kostenträgern. Einsparungen auf Kosten der Qualität und zu Lasten der Versicherten werden von Interessensverbänden, der Wirtschaft und zunehmend auch von der Politik bemängelt. In den vergangenen Jahren wurden daher einige Gesetzesänderungen vorangetrieben, welche die Qualität stärker in den Fokus rücken sollten. Obwohl die Würde des Menschen einen übergeordneten Platz in der Verfassung einnimmt, wird diese in Versorgungsfragen jedoch nach wie vor oft durch einen preislichen Rahmen verletzt. In vielen Fällen trifft es dann Menschen, die ohnehin schon sozial oder vom Schicksal benachteiligt sind. Welchen Preis ein Mensch mit Behinderung in Form von Einbußen bei der Lebensqualität zahlt, wenn die Qualität eines Hilfsmittels kostenbedingt schlechter ist, als sie sein könnte, ist oftmals nicht bekannt und erscheint nachrangig. «

1.2 Problemstellung und Zielsetzung

Menschen mit Behinderung bilden einen nicht unerheblichen Anteil an der Bevölkerung. Die meisten Behinderungen erleiden Menschen unverschuldet, sie werden durch Unfälle und Krankheiten verursacht. Hilfsmittel, die Versicherten kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, sind in vielen Fällen standardisiert und insofern nicht vorrangig oder vollständig auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt. Hochwertigere und individuelle Hilfsmittel haben ihren Preis und sind oft nur gegen Zuzahlung erhältlich. Da die Kosten in der Regel hoch sind, können sich Betroffene diese oft nicht leisten. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden Einsparungen am Menschen durch Kostenbegrenzungen von Hilfsmitteln hinterfragt und es wird den Forschungsfragen nachgegangen, inwieweit eine Wechselwirkung zwischen Hilfsmittelqualität und Lebenszufriedenheit besteht, welche Relevanz kritischen Erfolgsfaktoren zukommt und welche Folgen eine mangelhafte Hilfsmittelversorgung für Gesellschaft und Wirtschaft haben kann. Im Fokus stehen dabei umfangbedingt vorrangig Hilfsmittel sowie die Lebensqualität von körperbehinderten Menschen, die mit entsprechenden Hilfsmitteln autonom handeln und leben können.

Wie fatal eine Qualitätsbegrenzung für die Lebensqualität dieser Betroffenen sein kann, wird durch Experteninterviews aufgezeigt, die für diese Arbeit geführt wurden. Dabei wurde nach Einflussfaktoren auf die Lebensqualität wie Gesundheit, Arbeit, Freizeit, soziale Kontakte, aber auch nach der Erfüllung von Grundbedürfnissen gefragt. Auch bei einem nur geringen Einfluss der Hilfsmittelqualität auf die Lebensqualität stand zu vermuten, dass die menschlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen nicht unerheblich sind. Vor allem würde ein Zusammenhang von Hilfsmittelqualität und Lebensqualität aber darauf hindeuten, dass durch eine Kostenbegrenzung im Hilfsmittelbereich die Würde des Menschen verletzt und damit die Basis unseres Grundgesetzes sowie die Werte der Gesellschaft in Frage gestellt würden.

Eine hochwertige und schnelle Hilfsmittelversorgung sollte daher keine Frage der Kosten für den Versicherten sein. Im Gegenteil könnte eine standardmäßig hochwertige Versorgung nicht nur ideelle, sondern auch materielle Vorteile für die Gesellschaft mit sich bringen. Mit sinkenden Behandlungskosten würden sich höhere Hilfsmittelkosten für die Krankenkassen bezahlt machen und zu einer Entlastung von Ärzten, Krankenhäusern und der Pflege beitragen, was der angespannten Situation im Gesundheitssektor dienlich wäre. Von der Bereitstellung von Hilfsmitteln, die zur Erschließung von Arbeitsplätzen beitragen, würden auch die freie Wirtschaft und der Staat profitieren. Mehr behinderte Arbeitnehmer könnten zu einer Senkung von Sozialausgaben führen, die Steuereinnahmen erhöhen und die Wirtschaft ankurbeln. «

1.3 Struktur der Arbeit

Um die Thematik dieser Arbeit fachgerecht aufzuarbeiten und nachvollziehbar zu gestalten, werden in Kapitel 2 zunächst wiederkehrende Begrifflichkeiten definiert, aktuelle Versorgungsgrundlagen beschrieben und mögliche theoretische Zusammenhänge zur Lebensqualität erläutert. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Hilfsmittel (Kapitel 2.1. bis 2.3.), das hier als entscheidender Einflussfaktor auf die Lebensqualität behinderter Menschen (Kapitel 2.6.) beschrieben wird. Schon die gesetzlichen Definitionen des Begriffs „Hilfsmittel“ legen einen theoretisch begründbaren Zusammenhang zwischen Hilfsmittelqualität und Lebensqualität nahe. In Anlehnung an offizielle Definitionen werden für diese Arbeit auch eigene Qualitätskriterien erarbeitet und begründet.

Da a priori grundlegende Fehler und Systemschwächen im Versorgungsprozess vermutet werden, wird dieser in Kapitel 2.4 detailliert beschrieben. Damit wird die Basis dafür gelegt, im weiteren Verlauf der Arbeit Probleme und Kontroversen bei der Umsetzung von Ansprüchen trotz guter Sozialrechtsbasis aufzuzeigen. Um das Verständnis der Thematik zu verdichten, wird im Kapitel 2.5 anschließend definiert, was eine Behinderung bedeutet. Anhand der Größe der betroffenen Bevölkerungsgruppe wird deren Relevanz für den Arbeitsmarkt und insbesondere deren Potenzial bei guter Hilfsmittel-Versorgung erörtert.

Zusammenhänge von Hilfsmittel- und Lebensqualität wurden, wie in Kapitel 2.6 dargelegt wird, in vielen Bereichen bereits untersucht und konnten empirisch nachgewiesen werden. Im Fokus der Betrachtung stehen dabei Faktoren wie Gesundheit, Arbeit und Einkommen sowie Freizeit und Umwelt. Anhand von Beispielen wird gezeigt, wie entscheidend ein Hilfsmittel sich in Abhängigkeit bestimmter Qualitätsmerkmale auf den Erfolg oder Misserfolg bzw. auf das Erreichen von Lebensqualität auswirken kann. In Kapitel 2.7 wird anschließend das Hilfsmittel als entscheidender Faktor für die Herstellung von Handlungsbereitschaft und Motivation behinderter Menschen erörtert, der unabdingbar für die Erfüllung von Grundbedürfnissen ist. Begrenzungen der Hilfsmittelqualität werden auf dieser Basis als Einschränkung von Grundbedürfnissen interpretiert, die Handlungen erschweren oder unterbinden kann.

In Kapitel 3 werden auf Basis der theoretischen Erkenntnisse sodann Konzepte, Maßnahmen und Potenziale einer umfassenderen und hochwertigeren Hilfsmittelversorgung vorgestellt. Nachdem im einleitenden Kapitel 3.1 zunächst deutlich gemacht wird, dass Lebenszufriedenheit nicht von den Kosten eines Hilfsmittels abhängig gemacht werden sollte, wird in Kapitel 3.2 gezeigt, welche Chancen sich aus einer bedingungslosen und unbürokratischeren Hilfsmittelversorgung ergeben und welche finanziellen Vorteile den höheren Hilfsmittelausgaben infolge einer hochwertigeren Versorgung entgegenzusetzen wären. Kapitel 3.3 zeigt anschließend auf, wie fehleranfällig, ineffizient und kostspielig bisherige Prüfmechanismen und Verfahren bei der Hilfsmittelversorgung sein können. In Anbetracht hoher Fehlentscheidungsraten, unrechtmäßiger Ablehnungen sowie immenser Verwaltungs- und Folgekosten durch mangelnde Versorgung wird hier schließlich empfohlen, sich im Versorgungsprozess auf wesentliche Entscheidungsträger (Betroffener, Arzt und Versorger) zu begrenzen.

Auch die Arbeitswelt scheint durchdrungen von Vorurteilen und dem überholten Bild eines hilflosen und beschränkten behinderten Menschen. Arbeit und Einkommen sind jedoch in unserer Gesellschaft ein Schlüsselfaktor für eine hochwertige Versorgung und somit für mehr Lebensqualität. In Kapitel 3.4 werden mögliche Strategien betrachtet, die zu mehr Aufklärung und Offenheit der Arbeitgeber im Hinblick auf die Beschäftigung behinderter Menschen führen können. Wie im Bereich der Arbeit, so stehen auch im öffentlichen Raum nach wie vor viele Barrieren der Lebensqualität behinderter Menschen im Weg. Kapitel 3.5 zeigt auf, dass ein barrierefreier Ausbau finanzierbar und rentabel sein kann, sofern die Planung optimiert und Fehlerquellen in Zukunft behoben werden. Verschiedene Ansätze zielen dabei u.a. auf eine Sensibilisierung von Folgegenerationen sowie eine striktere Anwendung bestehender Gesetze zur Barrierefreiheit ab. Welche Bedeutung eine bessere Hilfsmittelqualität speziell für die Gesundheit der Betroffenen hat, wird in Kapitel 3.6 erläutert. Kapitel 3.7 befasst sich schließlich mit den Chancen und Möglichkeiten einer Hilfsmittelversicherung.

Um die in Kapitel 2 erarbeiteten theoretischen Zusammenhänge zu bestätigen und die in Kapitel 3 aufgeführten Problematiken und Lösungsansätze zu stärken, wurden Experteninterviews mit Betroffenen durchgeführt. In Kapitel 4 wird das Vorgehen bei der Durchführung dieser Experteninterviews beschrieben. Die Auswertung der Interviewdaten konnte die theoretischen Zusammenhänge zwischen Hilfsmittelversorgung und Lebenszufriedenheit bestätigen und ergab darüber hinaus etliche neue Aspekte, die im Fazit mit den besonders relevanten Erkenntnissen aus dieser Studie zusammengefasst werden. Aufgrund der hohen Relevanz des Themas in Bezug auf Menschenrechte und finanzielle Chancen wird hier dringend empfohlen, im Hinblick auf die Ergebnisse dieser Arbeit weitere Forschungsarbeit zu leisten. Dies betrifft insbesondere die Kostenberechnungen des Versorgungsprozesses, der als grundsätzlich reformbedürftig eingestuft wird. «

2. Begrifflichkeiten und theoretischer Hintergrund

2.1 Definition des Begriffs „Hilfsmittel“

Laut Sozialgesetzbuch sind Hilfsmittel „Körperersatzstücke sowie orthopädische und andere Hilfsmittel“ (§ 47 Absatz 1  SGB V), die dem Ausgleich und der Vorbeugung einer Behinderung dienen und bzw. oder bei der Prävention und Behandlung von Krankheiten helfen. Im elften Sozialgesetzbuch wird zwischen Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln differenziert (§ 40 Absatz 1-5 SGB XI). Bei letzteren handelt es sich um Geräte oder Sachmittel, die vor allem pflegende Angehörige bei ihren Aufgaben unterstützen. Auch Pflegehilfsmittel können dazu beitragen, autonomes Handeln des Pflegebedürftigen zu ermöglichen. Ein Unterschied zum Hilfsmittel ist jedoch insofern gegeben, als eine Pflege- oder Betreuungskraft stets notwendig ist und es kein Hilfsmittel gibt, welches das Pflegehilfsmittel dauerhaft ersetzen könnte. «

2.2 Hilfsmittelverzeichnis

Das Hilfsmittelverzeichnis ist ein Produktverzeichnis der deutschen gesetzlichen Krankenkassen, welches Auskunft über indikationsbasierte Versorgungsansprüche der Versicherten sowie über Qualitätsanforderungen der Produkte und Dienstleistungen gibt (GKV-Spitzenverband, 2019 A). Je nach Indikation variieren Art und Umfang der Beschreibung stark. Insbesondere bei Hygiene-Produkten sind ausführliche Qualitätsanforderungen aufgrund von Hygienebestimmungen vorzufinden. Grundvoraussetzung für die Kostenübernahme eines Hilfsmittels ist der Eintrag im Hilfsmittelverzeichnis. Hersteller und Dienstleister müssen dabei umfangreiche Qualitätsnachweise erbringen, die durch den Spitzenverband geprüft werden, damit eine angemessene Versorgung gewährleistet ist. «

2.3 Hilfsmittelqualität

„Hilfsmittelqualität“ ist ein zentraler Begriff dieser Arbeit, da ein Zusammenhang zur Lebensqualität vermutet wird. Qualitätsanforderungen an einzelne Hilfsmittelgruppen werden detailliert im Hilfsmittelverzeichnis beschrieben und variieren je nach Produkt und Indikation (vgl. Kapitel 2.2). Allgemeine Qualitätsanforderungen sind im Sozialgesetzbuch festgeschrieben (§ 139 Absatz 2 SGB V). Aufgrund der Vielzahl an Anforderungen im Hilfsmittelverzeichnis werden im Folgenden allgemeingültige Qualitätsmerkmale auf Basis bestehender Qualitätsanforderungen aus dem Sozialgesetzbuch in leicht abgewandelter Form verwendet und beschrieben. Zusätzlich werden in Anlehnung an die im Sozialgesetzbuch beschriebene Zweckmäßigkeit von Hilfsmitteln und die damit verbundenen Rechte behinderter Menschen weitere allgemeine Qualitätskriterien abgeleitet (vgl. Kapitel 2.4).

Ein Hilfsmittel sollte nach Möglichkeit so beschaffen sein, dass es während des Gebrauchs stets intakt bleibt, also das Kriterium der Langlebigkeit erfüllt. Ein Ausfall des Hilfsmittels hätte den Verlust seiner Zweckmäßigkeit zur Folge. Da diese Zweckmäßigkeit u.a. in der Wiederherstellung oder dem Ersatz von Körperfunktionen liegt, soll mit dem Kriterium der Langlebigkeit sichergestellt werden, dass ein Individuum stets seine Autonomie bewahrt und im Rahmen medizinisch-technischer Möglichkeiten handlungsbereit bleibt. Eine auf intakten Hilfsmitteln beruhende Handlungsbereitschaft ist gerade im Hinblick auf ohnehin schon Beschränkungen unterliegende Lebensqualitätsfaktoren von großer Bedeutung (vgl. Kapitel 2.6 und 2.7).

In Anlehnung an die gesetzlichen Definitionen (vgl. Kapitel 2.1) und die daraus abgeleiteten Qualitätsansprüche wird im Folgenden „Hilfsmittelqualität“ mit „Handlungskompetenz“ gleichgesetzt. Bedeutet das Nichtvorhandensein von Hilfsmitteln den totalen Verlust von Handlungsmöglichkeiten, dann ist anzunehmen, dass durch Unterschiede in der Qualität Einschränkungen gegenüber einem möglichen Idealzustand vorliegen. Wie in Kapitel 2.6 und 2.7 gezeigt wird, können Einschränkungen im Bereich der Handlungskompetenz fatale Folgen für das Individuum haben. Aus den Interviews (vgl. digitale Anhänge 1-3) wird sich eine Tendenz mit Handlungsempfehlungen auch im Hinblick auf weiteren Forschungsbedarf ergeben (vgl. Kapitel 5). «

2.3.1 Zweckmäßigkeit – Laut Sozialgesetzbuch müssen Hilfsmittel zweckmäßig im Hinblick auf bestimmte Indikationen sein (§ 139 Absatz 2, § 70 Absatz 1 SGB V). Laut der in Kapitel 2.1 beschriebenen Hilfsmittel-Definition besteht der Zweck im Ausgleich oder in der Vorbeugung einer Behinderung, wobei das Hilfsmittel die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen oder wiederherstellen soll (vgl. hierzu Kapitel 2.4). Der gesetzliche Anspruch auf Wiederherstellung von Handlungsbereitschaft des zu Versorgenden ist hier impliziert. Der Zweckmäßigkeit kommt im Kontext dieser Arbeit eine hohe Bedeutung zu, daher soll sie als Qualitätskriterium übernommen werden. «

2.3.2 Langlebigkeit – Des Weiteren besteht ein gesetzlicher Qualitätsanspruch hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit eines Hilfsmittels. Je nach Hilfsmittelart sollte eine ausreichend lange Nutzungsdauer gewährleistet bzw. eine Wiederverwendbarkeit für andere Versicherte möglich sein (§ 139 Absatz 2 SGB V). Die Wiederverwendbarkeit stellt ein nachvollziehbares Wirtschaftlichkeitsprinzip dar: Bei sich ändernden Indikationen können nicht mehr gebrauchte Hilfsmittel weitergegeben, gewartet und auf diese Weise sinnvoll Geldmittel eingespart werden. Was genau unter einer „ausreichend langen“ Nutzungsdauer zu verstehen ist, wird jedoch nicht weiter definiert. Ansprüche an verwendete Materialien bzw. an die Verarbeitung werden nicht gestellt.

Da bei Hilfsmittel-Ausschreibungen in der Vergangenheit oft über den Preis entschieden wurde, steht zu vermuten, dass im Hilfsmittelverzeichnis gelistete Hilfsmittel im Vergleich zu teureren Produkten oder Anbietern weniger langlebig sind. Mögliche Gründe könnten Einsparungen beim Material und der Verarbeitung sein. Eine Wirtschaftlichkeitsuntersuchung wäre hier angebracht, die allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Die Langlebigkeit soll dennoch als wichtiges Qualitätskriterium aufgenommen werden. Hilfsmitteldefekte, die einen Verlust der Zweckmäßigkeit bedeuten, sollten – korrekte Wartung vorausgesetzt – im besten Fall ausgeschlossen sein, was langfristig zu einer Kostensenkung bei den Krankenkassen beitragen würde, da die Produkte länger im Gebrauch wären als vergleichbare mit niedrigerer Qualität. Insgesamt würden bei hoher Qualität also die Kosten für Neuanschaffungen sinken. «

2.3.3 Ersetzbarkeit – Die Bedeutung der Ersetzbarkeit eines Hilfsmittels lässt sich am Beispiel des Rollstuhls festmachen, der die verloren gegangene Funktionalität der Beine kompensieren und das eigenständige Fortbewegen einer Person ermöglichen soll. Wie bei allen technischen und oder elektronischen Geräten kann eine uneingeschränkte Langlebigkeit des Rollstuhls nicht garantiert werden, selbst dann nicht, wenn hochwertige Materialen verarbeitet wurden und das Produkt regelmäßig gewartet wurde. Aus dem Anspruch des Versicherten auf die Versorgungsleistung an sich (den Rollstuhl) und aus der nicht zu gewährleistenden Langlebigkeit wird daher der Qualitätsanspruch der Ersetzbarkeit abgeleitet.

Die Ersetzbarkeit soll eine lückenlose Versorgung und schnellst mögliche Erstversorgung gewährleisten. So sollten Hilfsmittel in der vom Versicherten benötigten Art stets innerhalb von 24 Stunden ersetzbar sein. Qualität wird somit auch über die zeitliche Frage definiert, wie schnell eine Versorgung erfolgen kann. Oft dauern Ersatz- oder Erstlieferungen von Hilfsmitteln zu lange (vgl. Kapitel 2.4). Vermeidbare Folgeschäden für Wirtschaft (Arbeitnehmer fehlt) und Staat (Lohnfortzahlung, Grundsicherung, ggf. Krankheit) sind die Folge. Da sich viele Versicherte solche Ersatzgeräte teilen können, wären die Kosten von Überproduktionen überschaubar. In den meisten Fällen sind vergleichbare Hilfsmittel sogar verfügbar, Engpässe kommen jedoch durch den hohen bürokratischen Aufwand zustande. «

2.3.4 Barrierefreiheit – Unter Barrierefreiheit versteht man die Möglichkeit, mit seiner Umwelt zu interagieren, ohne dass eine körperliche oder geistige Behinderung dabei eine Rolle spielt. Der gesetzlichen Definition folgend bezieht sich der Begriff auf „bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche“ (§ 4 Absatz 1 BGG), die, sofern sie das Kriterium der Barrierefreiheit erfüllen, von Menschen mit Behinderung genutzt werden können. Die Barrierefreiheit wird in dieser Arbeit als Qualitätsfaktor der Hilfsmittelqualität verwendet, da Barrierefreiheit auch durch Verwendung eines Hilfsmittels erreicht werden kann (BIH Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, 2018, S. 106). Einrichtungen oder Systeme müssen, dieser Definition folgend, in ihrem Ursprung nicht zwingend behindertengerecht konzipiert worden sein. Barrierefreiheit kann in den meisten Fällen auch nachträglich, durch die Verwendung von Hilfsmitteln, erreicht werden. Das Vorhandensein von Hilfsmitteln ist hier oft der entscheidende Faktor. Ein Gebäude mit Stufen kann als barrierefrei eingestuft werden, wenn es durch eine Rampe zugänglich gemacht wird und ein Aufzug oder Treppenlift das Erreichen oberer Etagen ermöglicht. Aufzug und Rampe sind damit als Hilfsmittel zu betrachten, die im Rahmen der unter 2.3.1 beschriebenen und auf der gesetzlichen Definition beruhenden Zweckmäßigkeit eine Behinderung ausgleichen. In Kapitel 2.6 und 2.7 wird verdeutlicht, dass in vielen Fällen das Fehlen dieser Hilfen zu mangelnder Barrierefreiheit führt, wodurch die Lebenszufriedenheit beeinträchtigt wird. «

2.4 Gesetzliche Grundlagen der Hilfsmittelversorgung

Die Ansprüche deutscher Staatsangehöriger auf eine Versorgung mit Hilfsmitteln sind im fünften Buch des Sozialgesetzbuches (§ 33 Absatz 1 SGB V) geregelt. Laut Gesetzestext hat jeder Versicherte „Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen“. Versicherte haben laut Gesetz keine Kosten zu tragen, „soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen“ sind oder auf persönlichen Wunsch Eigenschaften enthalten, die dem oben beschriebenen Ausgleich der Behinderung oder der Gesundheitsprävention nicht weiter dienlich sind. Weitere Ansprüche werden im neunten Sozialgesetzbuch (§ 47 Absatz 1-4 SGB IX) geregelt. In beiden Büchern wird das Recht auf Instandhaltung, Anpassung und Ersatz des Hilfsmittels beschrieben. Ansprüche der Versicherten auf eine bestimmte Hilfsmittelversorgung ergeben sich zusätzlich aus dem Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (§ 1 SGB IX und §§ 1, 10 SGB I) sowie aus dem Recht auf berufliche Teilhabe (§§ 49, 154, 164 SGB IX). Die Kosten für die Hilfsmittelversorgung liegen anteilig an den Gesamtkosten der Krankenkassen in Deutschland bei 3,73 Prozent (GKV-Spitzenverband, 2019 B). «

2.4.1 Der Versorgungsprozess – Wird ein Hilfsmittel benötigt, müssen bestimmte Schritte vorgenommen werden, um eine Kostenübernahme zu gewährleisten. Über das korrekte Vorgehen informiert unter anderem die Verbraucherzentrale (2018). Voraussetzung einer Kostenübernahme ist immer die ärztliche Verordnung (Rezept) und die Listung des verschriebenen Hilfsmittels im Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenkassen. Zusätzlich muss ein Kostenvoranschlag für das Hilfsmittel vorliegen, welcher durch einen Vertragspartner des Kostenträgers oder einen lokalen Anbieter erstellt wird. Das Rezept gilt es schließlich zusammen mit dem Kostenvoranschlag beim zuständigen Kostenträger einzureichen. Empfohlen wird außerdem, eine Stellungnahme beizufügen, in der die persönliche Notwendigkeit unabhängig von der vom Arzt beschriebenen Indikation formuliert wird. Je nachdem wofür das Hilfsmittel benötigt wird, „kann neben der Krankenkasse die Rentenversicherung, die Unfallversicherung, die Arbeitsagentur, das Jugendamt, die Pflegekasse oder das Sozialamt die Kosten übernehmen“, so die Verbraucherzentrale. Der Antrag muss innerhalb von drei Wochen bearbeitet sein. Erfolgt innerhalb dieser Frist keine Bearbeitung, gilt der Antrag als angenommen, der Versicherte kann sich das Hilfsmittel dann kaufen und der Krankenkasse in Rechnung stellen. Im Falle einer Ablehnung kann Widerspruch eingelegt werden. Oftmals muss dann der Rechtsweg bestritten werden, bei dem sich die Versorgung teilweise um Jahre in die Länge ziehen kann. In keinem Fall sollte das Hilfsmittel vor Verstreichen der Antwortfrist von drei Wochen gekauft werden, da die Kosten selbst bei festgestelltem Bedarf dann i.d.R. nicht übernommen werden. «

2.4.2 Kritik am Ausschreibungsverfahren – Trotz klarer Regelungen und rechtlicher Ansprüche gab und gibt es immer wieder Kritik am Versorgungssystem. Ein Hauptkritikpunkt war in der Vergangenheit das Ausschreibungsverfahren für Hilfsmittel. Im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens wurden durch die Versorgungsträger für bestimmte Hilfsmittel bestimmte Leistungserbringer festgelegt. Der Versicherte durfte ausschließlich auf Produkte dieser Vertragspartner zugreifen. Ausgenommen waren Hilfsmittel mit hoher individueller Anpassung (§ 127 SGB V). Unzureichende Qualitätsregelungen und ein Zuschlagsverfahren, das unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes vor allem den Preis berücksichtigte, führten zu Fehlversorgungen mit fatalen Folgen (Sozialverband VDK). Zuschläge gingen i.d.R. an Billiganbieter, was sich negativ auf die Qualität der Hilfsmittel auswirkte. Kritik erfolgte aus allen Bereichen des Gesundheitssektors, weshalb die Bundesregierung im April 2017 das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) auf den Weg brachte. «

2.4.3 Kritik am HHVG – Mit dem HHVG wurde unter anderem geregelt, dass bei der Ausschreibung und Wahl des Hilfsmittels künftig nicht mehr primär nach dem Preis entschieden werden sollte (Bundesministerium für Gesundheit, 2017). Die Qualität wurde als wichtiges Auswahlkriterium bei der Vergabe von Versorgungsverträgen hinzugenommen. Zudem wurde festgeschrieben, dass Versicherte das Recht haben müssen, zwischen verschiedenen aufzahlungsfreien Hilfsmitteln zu wählen und dass mehr Beratung durch Kostenträger und Leistungserbringer erfolgen muss. Auswahlmöglichkeiten und Beratung sollten nun eine passende und qualitativ angemessene Versorgung gewährleisten (§ 127 Absatz 1-5 SGB V). Trotz der neuen Vorgaben änderte sich an der kritisierten Praxis allerdings kaum etwas. Leistungserbringer konnten sich weiterhin vorrangig über den Preis durchsetzen. Qualitätsansprüche hatten ebenso wenig Auswirkung wie gesetzliche Kontrollen zu deren Einhaltung. Betroffene, Fachleute und Interessenverbände kritisierten die Wirkungslosigkeit des Versorgungsgesetzes und zeigten teilweise menschenunwürdige Bedingungen bei den Betroffenen auf (Götz & Schröder, 2018). Insbesondere Geringverdiener, die sich keine Aufzahlungen für bessere Hilfsmittel leisten konnten, litten weiterhin unter der Zwei-Klassen-Versorgung. «

2.4.4 Das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) Mit dem TSVG, das am 1. Mai 2019 in Kraft trat, wurde ein gesetzlicher Rahmen geschaffen, der wichtige Verbesserungen im Bereich der Pflege sowie der Patienten- und Hilfsmittelversorgung auf den Weg brachte. Ausschreibungen und die damit verbundene Gefahr von Qualitätseinbußen wurden verboten (Bundesministerium für Gesundheit, 2019). Die Absätze 1, 1a und 1b im fünften Sozialgesetzbuch § 127 wurden dementsprechend gestrichen. In der neuen Fassung des ersten Absatzes wurden Kassen verpflichtet, Versorgungsverträge mit lokalen Anbietern zu schließen. Qualitätsansprüche gemäß § 33 und § 139 im fünften Sozialgesetzbuch sind einzuhalten. Zusätzlich sollen ausreichend zuzahlungsfreie Alternativen angeboten werden (TSVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. Mai 2019, BGBl. I S. 670). Sozialverbände wie der VDK begrüßten das neue Gesetz, insbesondere die lokale Versorgung, das Verbot von Ausschreibungen sowie die gesteigerte Wahlfreiheit bei Hilfsmitteln. In einem Statement wurde jedoch auf mögliche Probleme gerade im Bereich der Patientenversorgung hingewiesen (Sozialverband VdK, 2019). Inwieweit die Änderungen im Bereich der Hilfsmittelversorgung im Endeffekt greifen, wird die Zeit zeigen und gilt es abzuwarten. «

2.5 Behinderung

In der Fachwelt gibt es keine allgemein anerkannte Definition des Begriffes Behinderung. Wie facettenreich Beschreibungsansätze sein können, macht Jörg Michael Kastl in seiner Einführung in die Soziologie der Behinderung (2017, S. 87 ff) deutlich. Physische, kognitive, subjektive wie auch Umweltfaktoren und deren Wechselwirkungen nehmen je nach Theorie mehr oder weniger Einfluss auf die Beschreibung des Konstrukts „Behinderung“. Dieser Umstand verdeutlicht, wie relational Begrifflichkeiten wie „Barriere“ oder „Behinderung“ sind. Insbesondere die Frage, ob eine Barriere eine Barriere ist, sei immer auch abhängig vom Auge des Betrachters (Kastl, S. 95 ff). Einer ähnlichen Definition geht Michael Maschke in seiner Studie zur Behindertenpolitik in der Europäischen Union (2008, S. 30 ff) nach, wo er „Behinderung“ in Anlehnung an die WHO „als die Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem (ICD) und ihren Kontextfaktoren […], die sich auf ihre Funktionsfähigkeit, ihre Aktivitäten und ihre Teilhabe auswirkt“ beschreibt (S. 47).

In dieser Arbeit werden wir, wie schon bei den in Kapitel 2.1 behandelten Hilfsmitteln, der im deutschen Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Definition folgen, die sich an der Behindertenrechtskonvention orientiert und in vergleichbarer Form auch auf europäischer Ebene in vielen Staaten Anwendung findet. Eine gesetzesnahe Definition ist vor allem dann vorteilhaft, wenn es darum geht, Denkanstöße und Argumentationen für Veränderungen zu finden oder Missstände aufzudecken, die entstehen, weil diese in der Praxis keine Anwendung findet. Schließlich bildet das Sozialgesetz auch die Grundlage bei Fragen und Ansprüchen rund um die Versorgung. Die Begriffsbestimmung erfolgt im neunten Sozialgesetzbuch. Laut Gesetz liegt eine Behinderung bei Menschen dann vor, wenn diese „körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Absatz 1 SGB IX). Eine Beurteilung der Höhe des Behinderungsgrades erfolgt unter Berücksichtigung einer altersbedingten Norm. Diese wird als „für das Lebensalter typischer Zustand“ beschrieben und bezieht sich somit auf eine altersgemäß durchschnittliche körperliche und geistige Verfassung. Weicht die Verfassung erheblich von der Norm ab, können Umweltbarrieren nicht oder nur teilweise überwunden werden. Eine Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern ist dann erschwert bis unmöglich.

Wie hoch die Abweichung von der Norm und damit die Höhe der Einschränkung ist, wird auf Antrag geprüft und im neunten Sozialgesetzbuch beschrieben (§ 152 SGB IX). Der sogenannte „Grad der Behinderung (GdB)“ wird von zuständigen Ämtern festgestellt und in Zehnerschritten erhoben. Die geringste Einstufung liegt bei 20 und der höchste Wert bei 100 (Absatz 1). Nach Einstufung wird ein amtlicher Behindertenausweis ausgestellt, welcher als Nachweis für Leistungen zum Nachteilsausgleich dient (Absatz 5). Damit bildet er eine wichtige Grundlage bei Fragen der Kostenübernahme für den Versicherten. «

2.5.1 Behinderte Menschen in Deutschland – Statistiken und Zahlen über die Bevölkerung und die Anzahl behinderter Menschen liefert das Statistische Bundesamt (DeStatis). In Deutschland leben etwa 83 Millionen Menschen, darunter 7,8 Millionen (9,4 Prozent) Schwerbehinderte (Statistisches Bundesamt, 2018). Etwa 3,25 Millionen (42 Prozent) davon befinden sich im erwerbsfähigen Alter. Über 25 Prozent der Schwerbehinderten sind in der Altersgruppe über 65 Jahre zu finden. Bei fast 4,6 Millionen Menschen (5,5 Prozent) liegen Körperbehinderungen vor, geistige, seelische und sonstige Behinderungen bilden den Rest. Hauptgrund für das Eintreten von Behinderungen sind Krankheiten, welche laut Amt bei ca. 6,85 Millionen (87,8%) Menschen ursächlich sind. Es wird davon ausgegangen, dass die tatsächliche Anzahl behinderter Menschen in Deutschland höher ist als statistisch verzeichnet. Zum einen sind Antragstellung und Prüfung mit Mühen verbunden, zum anderen befürchten viele Betroffene Nachteile, wenn sie offiziell als behindert eingestuft werden. «

2.5.2 Ausbildung und Beschäftigung behinderter Menschen in Deutschland – Die Bundesagentur für Arbeit hat Zahlen zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen in Deutschland im Zeitraum 2007 bis 2016 ausgewertet und die Beschäftigungsverhältnisse mit denjenigen nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer verglichen. Dank umfangreicher Förder-, Integrations- und Weiterbildungsmaßnahmen zur Steigerung der Erwerbstätigkeit schwerbehinderter Menschen in Deutschland konnte die Zahl beschäftigter schwerbehinderter Arbeitnehmer in den vergangen Jahren kontinuierlich gesteigert werden „und hat stärker zugenommen als die Zahl der schwerbehinderten Menschen in der Bevölkerung“ (Bundesagentur für Arbeit, 2018, S. 4)

Von 2007 bis 2016 stieg die Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten um „245.000 (30 Prozent) auf 1,05 Millionen“ (S. 8). Seit Verabschiedung des Schwerbehindertengesetzes im Jahr 1974 sind Betriebe mit einer bestimmten Anzahl an Beschäftigten verpflichtet, auch schwerbehinderte Arbeitnehmer einzustellen. Die Regelungen hierzu finden sich im neunten Sozialgesetzbuch. Sie verpflichten Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigen, mindestens 5 Prozent schwerbehinderte Arbeitnehmer einzustellen (§ 154 Absatz 1). Wer dieser Pflicht nicht nachkommt, muss Ausgleichsabgaben zahlen (§ 160 Absatz 1-2). In der Privatwirtschaft liegt die derzeitige Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen bei 4,1 Prozent, im öffentlichen Dienst bei 6,6 Prozent. Diese Zahlen blieben in den vergangenen vier Jahren unverändert. Trotz der gestiegenen Beschäftigungsrate Schwerbehinderter und einer im Vergleich mit Nichtbehinderten höheren Qualifikation ist deren Stellung auf dem Arbeitsmarkt erheblich schlechter als diejenige nicht behinderter Arbeitnehmer. Von den 3,3 Millionen Schwerbehinderten im erwerbsfähigen Alter befinden sich 45,1 Prozent in einem Beschäftigungsverhältnis. Bei Nichtbehinderten der gleichen Altersspanne liegt die Anzahl Beschäftigter mit 77,4 Prozent signifikant höher (Bundesagentur für Arbeit, 2018, S. 7). Arbeitslose Behinderte sind im Vergleich zu Nichtbehinderten auch länger von Arbeitslosigkeit betroffen.

In Deutschland sind Integrationsämter für die Vermittlung von Arbeitsplätzen an und Hilfen in Form von Eingliederungsmaßnahmen für behinderte Menschen zuständig. Die Aufgaben umfassen dabei Leistungen für Schwerbehinderte in Form von Ausbildungs-, Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen (BIH Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, 2018, S. 14ff). Zu den Aufgaben der Integrationsämter gehören auch Beratungs- und Finanzierungsangebote für Arbeitgeber, wenn es um das Einrichten eines behindertengerechten Arbeitsplatzes geht. Zu diesem Zweck stehen den Ämtern die Ausgleichsabgaben zur Verfügung, welche von Betrieben gezahlt werden, die ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommen können oder wollen. 2017 beliefen sich die Einnahmen der zweckgebundenen Mittel auf 643 Millionen Euro (S. 14).

Die aufgeführten Arbeitsmarktzahlen belegen ein hohes Potenzial, zeigen jedoch auch, dass die Einstellung vieler Unternehmen gegenüber Behinderten möglicherweise noch vorurteilsbehaftet ist. Schließlich werden Kosten, die bei der Einrichtung von Arbeitsplätzen für Behinderte entstehen, von den Ämtern in aller Regel übernommen. Auch was die Leistungsfähigkeit angeht, besteht oft kein wesentlicher Grund, keine Schwerbehinderten einzustellen: „Häufig sind schwerbehinderte Menschen in ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Leistungsfähigkeit überhaupt nicht eingeschränkt, wenn ihr Arbeitsplatz behinderungsgerecht ausgestattet ist“ (BIH Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, 2018, S. 15). Weitere Gründe der zögerlichen Haltung bei der Einstellung Schwerbehinderter könnten der besondere Kündigungsschutz und ggf. Umfeld-Barrieren sein. Letztere lassen sich jedoch in der Regel mithilfe finanzieller Mittel aus Förderprogrammen der Integrationsämter beseitigen. «

2.6 Lebenszufriedenheitund Lebensqualität

Lebensqualität oder auch Lebenszufriedenheit wird von vielen Fachbereichen unter unterschiedlichen Aspekten betrachtet und untersucht. Aufgrund vielfältiger Einflussfaktoren und möglicher Wechselwirkungen gibt es kaum einheitliche Definitionen dieses Konstrukts in der Fachwelt (Ebbinghaus, Noll, Bahle, Wendt & Scheuer, 2007, S. 3). Eine punktgenaue, alle Eventualitäten abdeckende Definition ist kaum möglich und bis heute nicht gelungen. Laut Meindl (2012, S. 15-16) ist Lebensqualität „ein multidimensionaler wie auch multidisziplinärer Begriff, dessen zusammensetzende Determinanten sich im Laufe des Lebens aus Perspektive des Individuums wie auch vor veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus Perspektive des Kollektivs verändern (können)“.

Wie der Begriff „verändern“ in dieser Definition nahelegt, ist es schwierig, eine Momentaufnahme von Lebensqualität zu machen, denn die Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren ändern sich stetig. Dennoch gibt es zentrale und gut untersuchte Einflussfaktoren, die unabhängig von einer möglichen anderen Gewichtung durch einzelne Individuen und andere Kulturkreise in ihrer Gesamtheit Einfluss auf die Lebensqualität nehmen können. Dazu gehören „Einkommen, Wohnverhältnisse, Arbeitsbedingungen, Familienbeziehungen und soziale Kontakte, Gesundheit, soziale und politische Beteiligung“ (Kovács, Kipke & Lutz, 2016, S. 18). Die Möglichkeiten der Einflussnahme auf jeden dieser Faktoren sind bei Menschen mit Behinderungen begrenzter als bei Menschen ohne Behinderungen, wie sich schon aus der Definition von Behinderung ergibt (vgl. Kapitel 2.5.). Bevor einige dieser zentralen Einflussfaktoren vorgestellt werden, muss zunächst auf die kontextbezogene Verwendung von Begrifflichkeiten eingegangen werden, die im Zusammenhang mit der Lebenszufriedenheit stehen und in dieser Arbeit als Synonyme dafür verwendet werden. Je nach Quelle finden sich in der Literatur häufig keine klaren Begriffsabgrenzungen. So wird Lebenszufriedenheit häufig mit Qualität, Wohlbefinden und Glück gleichgesetzt (Hajek, 2013). Entsprechende Untersuchungen und Beschreibungen finden sich gleichermaßen unter den Titeln Lebensqualität wie auch Lebenszufriedenheit, doch ähneln sich diese stark, und Theorien zur Lebenszufriedenheit lassen sich ebenso auf die Lebensqualität anwenden und umgekehrt (Meindl, 2012). Auch wenn eine abgrenzende Betrachtung dieser Begriffe im Prinzip empfehlenswert scheint, sollen sie daher im Rahmen dieser Arbeit synonym verwendet werden. Trotz der Schwierigkeiten im Hinblick auf eine genaue Begriffsbestimmung gibt es diverse Einflussfaktoren, welche der empirischen Forschung zufolge nachweislich Einfluss auf die Zufriedenheit von Menschen nehmen. Auch die Lebenszufriedenheit von Menschen mit Behinderung wurde schon im Hinblick auf verschiedene Einflussfaktoren untersucht. Am weitesten verbreitet sind Untersuchungen über die Zufriedenheit geistig behinderter Menschen.

Aber auch allgemeine Daten zur Zufriedenheit behinderter Menschen finden sich in der Literatur. Durch empirische Analysen von Daten des ESS (European Social Survey), BHPS (British Household Panel Survey) und SOEP (Sozio-oekonomisches Panel) konnte so beispielsweise festgestellt werden, dass eine Behinderung unabhängig von der Behinderungsart signifikant zur Verschlechterung von Lebenszufriedenheit führt (Rambausek, 2016). Zu den Auswirkungen von Behinderung gehören dabei u.a. eine Abnahme der Zufriedenheit bei den Themen Gesundheit, Arbeit und Einkommen, soziale Kontakte sowie der Umwelt- und Freizeitnutzung (Hajek, 2013, S. 177, 178, 222 ff).

Betrachtet man mögliche Gründe für die Abnahme der Lebenszufriedenheit behinderter Menschen in den o.g. Bereichen, so wird der Stellenwert deutlich, der in diesem Zusammenhang den Hilfsmitteln zukommt. Die Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, soziale Kontakte zu pflegen oder öffentliche Freizeitangebote zu nutzen, ergeben sich vorrangig aus den körperlichen oder psychischen Einschränkungen und den entsprechend eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten: Es bleibt weniger Spielraum, um Bedürfnissen oder Wünschen nachzugehen. Defizite in diesen lebensqualitätsbedingenden Bereichen können sich dabei auch auf die Gesundheit auswirken (vgl. Kapitel 2.6.1). Gehen wir davon aus, dass Hilfsmittel dem Ausgleich einer Behinderung dienen, sollte es definitionsgemäß eigentlich überhaupt nicht zu den erwähnten Schwierigkeiten kommen, sofern adäquate Hilfsmittel vorhanden sind. Aber auch wenn eine definitionsnahe Erwartungshaltung an die hundertprozentige Zweckerfüllung eines Hilfsmittels nicht realistisch ist, können doch stufenweise Bewertungen hinsichtlich des Umfangs der Zweckbestimmung vorgenommen werden. Man kann also nicht nur beschreiben, wie gut ein Hilfsmittel für einen Ausgleich sorgt, sondern auch im Vergleich verschiedener Hilfsmittel feststellen, wie gut das eine und wie gut das andere seinen Zweck erfüllt. Unter der Annahme, dass Menschen mit Behinderung bereits bestmöglich versorgt sind, wäre die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Hilfsmittelqualität und Lebenszufriedenheit irrelevant und lediglich abhängig vom medizinischen und technischen Fortschritt. Dass dies jedoch nicht der Fall ist, wird in den folgenden Kapiteln ersichtlich. Nach wie vor ist hochwertige Versorgung eine Frage der Kosten, und auch unsere Umwelt bietet an den meisten Stellen noch keinen Platz für ein gleichberechtigtes Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten. Fortschritt gibt es stetig und in vielen Bereichen, oftmals kommt dieser jedoch nicht bei den Menschen an. Doch medizinische und technische Erneuerungen bedeuten, dass ein Mehr an Wechselwirkungsmöglichkeiten mit der Umwelt geschaffen und ein Mehr an Lebensqualität überhaupt erst erreicht werden kann. «

2.6.1 Gesundheit – Über den engen Zusammenhang von Gesundheit und Lebensqualität herrscht in der Fachwelt weitestgehend Einigkeit. Spricht man im medizinischen Sinne von gesundheitsbezogener Lebensqualität, werden physische und psychische Gesundheitsfaktoren unter Berücksichtigung des subjektiven Empfindens herangezogen (Kovács, Kipke & Lutz, 2016). Objektiv gilt ein Zustand als gesund, wenn keinerlei Einschränkungen „körperlicher, psychischer, sozialer, mentaler und funktionaler“ (S. 175) Art vorliegen. Zwar macht diese Definition Bewertungen über den Gesundheitszustand und den davon abhängigen Grad an Lebensqualität möglich (Knecht, 2010), doch ist sie ohne Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung nicht zuverlässig. Unabhängig von objektiven Faktoren können zuverlässige Aussagen über die gesundheitsbezogene Lebensqualität abschließend immer „nur aus der Perspektive des einzelnen Patienten beurteilt werden“ (Kovács, Kipke & Lutz, 2016, S. 223). Dennoch sind gesundheitliche Einschränkungen, wie auch Behinderungen, die körperliche Einschränkungen mit sich bringen, ein wichtiger Indikator für Lebensqualität, der Vorhersagen über das Empfinden derselben möglich macht. Denn statistisch gesehen sinkt die empfundene Lebensqualität in Abhängigkeit von Gesundheit und Umfang der Einschränkung. So hat die Auswertungen von BHPS-Daten ergeben, dass eine Behinderung in vielen Fällen zu einer Verschlechterung der Zufriedenheit mit der Gesundheit führt (Hajek, 2013, S. 177, 223 ff). Zu erwarten ist, dass hier hauptsächlich die Einschränkung für eine Abnahme der Zufriedenheit verantwortlich ist, schließlich sind behinderte Menschen nicht krank. Der Unterschied zwischen einer Behinderung und einer Krankheit liegt in der Dauerhaftigkeit (Maschke, 2008, S. 42). In beiden Fällen liegen aber Einschränkungen vor. Während eine Krankheit irgendwann behandelt und der Mensch damit wieder intakt ist, bleibt die Behinderung in Form von Einschränkungen bestehen. Entsprechend der Bedeutung von Hilfsmitteln (vgl. Kapitel 2.1 und 2.3) können diese Einschränkungen in manchen Fällen ausgeglichen und der zufriedenheitsmindernde Faktor entfernt werden.

Auch mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen kann somit eine hohe gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Menschen mit Behinderung vorliegen. „Gesund“ ist in diesem Zusammenhang nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit dem Vorliegen eines physischen Idealzustands. Adaptionsfähigkeiten und Coping-Strategien können ausschlaggebend für eine gesunde Anpassung sein. Gemeint sind damit Fähigkeiten, die dazu beitragen, sich mit den einschränkenden Umständen abzufinden oder Möglichkeiten zu finden, diese zu kompensieren. Hilfsmittel können bei der Adaption maßgeblichen Einfluss nehmen. In vielen Fällen können Betroffene sich so an die neuen Lebensumstände gewöhnen und sich trotz Einschränkungen gesund fühlen. Je nach Behinderung werden Dinge durch Hilfsmittel einfach anders gemacht als vorher. Die Handlung an sich kann dennoch vollzogen werden. Behinderung wird erst dann zu einem Gesundheitsproblem, wenn als Folge der Behinderung Teilhabeeinschränkungen entstehen (Rambausek, 2016, S. 115) – also erst dann, wenn Hilfsmittel die Einschränkungen nicht ausgleichen können. Behinderung kann sich dann negativ auf die empfundene Gesundheit auswirken.

Deutlich wird die Bedeutung des Hilfsmittels in diesem Zusammenhang u.a. an signifikant höheren gesundheitsbezogenen Ausgaben behinderter Menschen (Rambausek, 2016, S. 161 ff). Betrachtet man die Verteilung der Krankenkassenausgaben, so fällt jedoch auf, dass Aufwendungen für Hilfsmittel gerade einmal 3,73 Prozent aller Aufwendungen ausmachen (GKV-Spitzenverband, 2019 B). Angesichts der hohen Betroffenenzahl (vgl. Kapitel 2.5.1) scheinen diese Aufwendungen im Vergleich zu anderen Bereichen sehr gering und hohe Eigenleistungen der Betroffenen damit wahrscheinlich. Auch kann in dem geringen Gesamtkostenanteil ein Indiz vorliegen, das auf zu große Versorgungshürden hinweist, da die rechtlichen Rahmenbedingungen in vielen Fällen eigentlich für eine umfassendere kostenfreie Versorgung sprechen. Auch ein direkter Zusammenhang zwischen Gesundheit und Hilfsmittelqualität kann in vielen Fällen nachgewiesen werden. Einen solchen Zusammenhang legt schon die gesetzliche Definition nahe, die das Hilfsmittel als Mittel der Gesundheitsprävention beschreibt. Dokumentiert sind zahlreiche Fälle, in denen durch Fehlversorgung schwerwiegende Krankheiten entstanden sind (Robert Koch-Institut, 2002). Eine solche Fehlversorgung kann zum einen in einer falschen oder qualitativ mangelhaften Ausstattung des Hilfsmittels begründet liegen, zum anderen auch durch eine nicht unmittelbare Versorgung im Rahmen einer zu langen Zeitkomponente entstehen. Als Beispiel kann die mangelhafte Versorgung mit Dekubitus-Hilfsmitteln herangezogen werden. Im Bericht des Robert Koch-Institutes (2002) wird von bis zu 400.000 Dekubitus-Erkrankungen pro Jahr gesprochen.

Autor

  • Pascal Escales (Autor:in)

Pascal Escales ist 1990 in Bonn geboren und hat im Jahr 2020 sein Studium, im Fach Wirtschaftspsychologie, in Hamburg abgeschlossen. Seit 2019 ist er Geschäftsführer des, seit fast 40 Jahren bestehenden, Escales Verlages, Fachbuchautor und Herausgeber der Zeitschrift "Rollstuhl-Kurier" für Menschen mit Handicap.
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Titel: Von einer Volkswirtschaft der Lebensqualität