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Herzklopfen in Ostfriesland

Endstation Liebe Ostfriesland - Ostfriesen küssen anders - Süße Küsse in Ostfriesland

von Moa Graven (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Sammelband sind die drei Liebesromane "Endstation Liebe Ostfriesland" - "Ostfriesen küssen anders" - "Süße Küsse in Ostfriesland" der erfolgreichen Autorin Moa Graven enthalten, die sich bisher mit Kriminalromanen einen Namen gemacht hat. Doch eine Krimiautorin kann auch Liebesromane schreiben, lesen Sie selbst!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Herzklopfen in Ostfriesland

 

Drei Liebesromane von
Moa Graven

 

 

Impressum

Liebesromane aus Ostfriesland – Sammelband mit den Romanen „Endstation Liebe Ostfriesland“ – „Ostfriesen küssen anders“ – „Süße Küsse in Ostfriesland“

Liebesromanre von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

Krimihaus 3. Südwieke 128a in 26817 Rhauderfehn

April 2021

Covergestaltung: Moa Graven

Endstation liebe Ostfriesland

 

Ostfriesland Liebesroman von Moa Graven

Zum Inhalt

„Endstation Liebe Ostfriesland“ ist der dritte Band aus der neuen Reihe Liebesromane von Moa Graven.

Sebastian und Marina sind mit ihren Kindern Lotte und Erik wirklich eine Bilderbuchfamilie aus Leer. Er mit einem sicheren Job bei einer Bank in Oldenburg und sie mit der Hausarbeit rund um ihre kleine Welt völlig ausgelastet. Bis eines Tages der Wagen von Sebastian streikt und er in den Zug am Bahnhof in Leer steigt, um so nach Oldenburg zu kommen. Ein schicksalhafter Tag, denn er begegnet einer geheimnisvollen Frau, die ihn sofort in seinen Bann zieht.

Hindernisse

Morgens gegen halb acht herrschte bei Familie Fischer in Leer immer Chaos. Butterbrote wurden eingepackt, Schuhe gesucht und dazu laut gerufen.

„Mama“, quengelte Lotte, während sie in ihr leeres Glas sah, „wieso bekommt Erik immer mehr O-Saft als ich.“

Marina Fischer verdrehte die Augen. Sie war noch im Schlafanzug und hatte sich einen flauschigen roten Morgenmantel überzogen. Ihre langen blonden Haare hatte sie hinten am Kopf zusammengedreht und mit einer großen Klemme festgesteckt. Jetzt fiel ihr eine Strähne ins Gesicht, als sie sich zum Kühlschrank drehte, um Lotte noch einmal Saft nachzuschenken.

Sebastian sah ihr dabei zu. Er liebte seine Frau, wenn sie so war, wie sie war. Wie sie mit den Kindern umging, war einmalig. Nie geriet sie aus der Ruhe, egal, was passierte. Genauso eine Familie hatte er sich immer gewünscht. Und er liebte das Chaos am Morgen. Er wusste, dass Marina sich gleich, wenn alle endlich aus dem Haus waren, ein heißes Bad gönnte. Sie liebte dieses Ritual, wenn sie ganz alleine war. Und während er es sich ausmalte, stellte er sich vor, dass er heimlich wieder ins Haus zurückkäme und sie im Bad beobachtete. Ja, er hätte sie stundenlang dabei ansehen können, wenn sie sich zurechtmachte. Sie hatte dieses gewisse Etwas, um das viele Frauen sie beneideten. Und ausgerechnet in ihn hatte sie sich verliebt. Er war ein Glückspilz.

„Sebastian?“ Sie stand vor ihm. Er hatte es gar nicht bemerkt. „Hast du mal auf die Uhr gesehen? Ihr müsst jetzt los.“

„Oh.“

„Ja, oh. Wo warst du eigentlich mit deinen Gedanken?“ Sie wischte ihm mit dem Zeigefinger über die Nasenspitze.

Er griff um ihre Hüften und zog sie an sich.

„Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit“, tadelte sie und gab ihm einen Kuss auf die Nase. „Du hast ja noch nicht einmal eine Krawatte umgelegt. Soll ich dir schnell eine passende holen?“

„Ja, das wäre lieb.“ Er ließ sie los und im nächsten Moment war sie verschwunden.

Auf dem Flur kämpften Lotte und ihr Bruder Erik mit den Jacken. Sebastian kam dazu und half Lotte. Keine Frage, er hatte seine Tochter verwöhnt. Andere Achtjährige machten sich morgens alleine zurecht und auf den Schulweg. Doch so ein Vater wollte er nicht sein. Erik, fünf Jahre älter und am Beginn der Pubertät, nabelte sich langsam ab. Sebastian fragte sich manchmal, ob er nicht auch eifersüchtig auf Lotte war. Väter und ihre Töchter eben. Doch er hatte immer versucht, beiden gerecht zu werden.

„Geht schon mal ins Auto“, sagte Sebastian, „ich komm gleich nach.“

Die Tür flog auf und er drückte auf seinen Autoschlüssel, damit die beiden einsteigen konnten.

Marina kam mit einer dunkelblauen Krawatte und legte sie um seinen Hals.

„Was hast du heute eigentlich vor?“, fragte er, während er über ihre Haare strich, als sie einen Knoten band.

„Schon vergessen?“, fragte sie zurück. „Ich muss doch heute zu einem wichtigen Vorstellungsgespräch.“

„Ach ja, die neue Arztpraxis.“

„Wünsch mir Glück“, sagte sie und küsste ihn auf den Mund. Sie wusste, dass er es ganz und gar nicht vergessen hatte. Denn im Grunde war er dagegen, dass sie jetzt schon wieder arbeiten ging. Doch er konnte natürlich auch verstehen, dass sie mal was anderes als schmutziges Geschirr oder Wäsche sehen wollte.

„Es wird schon klappen“, erwiderte er. „Eine Mutter von zwei so gut geratenen Kindern ist doch so etwas wie ein Lottogewinn für einen Kinderpsychiater.“

Sie erwiderte darauf nichts. „Dann bis heute Abend“, sagte sie nur.

Sebastian nahm seine Aktentasche und ging zum Wagen. Marina stand in der Tür, um den Kindern nachzuwinken. Er stieg ein und nichts passierte. Nanu, dachte Marina, worauf wartet er denn? Dann stieg er wieder aus.

„Der Wagen springt nicht an.“

„Oh nein. Ausgerechnet. Du kannst meinen Wagen heute nicht mitnehmen, das weißt du.“

„Schon gut. Dann fahr du die Kinder zur Schule und ich nehme mir ein Taxi zum Bahnhof. Kein Problem.“

Marina sah an sich herab. „So?“

„Du musst doch nicht aussteigen“, stellte er fest. „Sie werden sowieso schon zu spät kommen. Bitte.“

„Hm, na gut“, murmelte Marina. Sie rannte doch noch schnell ins Schlafzimmer, um sich ihren Jogginganzug und passende Schuhe anzuziehen. Dann nahm sie ihren Wagenschlüssel vom Haken und ging zu ihrem Wagen, wo die anderen schon ungeduldig warteten. „Ich kann dich auch zum Bahnhof fahren, Sebastian. Das ist wirklich kein Problem.“

Also stiegen sie alle ein und es ging endlich los.

Regina

Fünfeinhalb Minuten. Keine Sekunde mehr oder weniger. Regina nahm das Ei mit einem Löffel aus dem brodelnden Wasser und schreckte es kurz unter dem laufenden Wasserhahn ab. Dann stellte sie es in den weißen Eierbecher und trug diesen ins Esszimmer, wo Georg bereits darauf wartete.

„Danke“, sagte er und begann sofort, das Ei oben mit dem Eierlöffel abzuklopfen.

Regina setzte sich an ihren Platz. Meistens trank sie morgens nur schwarzen Kaffee. Sie griff nach der Zeitung. Oder besser gesagt, nach dem Teil, den Georg ihr immer hinlegte, wenn er ihn gelesen hatte. Für ihn war es ein Graus, eine Zeitung zu lesen, wenn ein anderer sie bereits in der Hand gehalten hatte. Ihr war es egal. Im Grunde interessierte es sie auch nicht, was in Leer passierte. Und trotzdem las sie jetzt von politischen Ränkespielchen im Rathaus. Das fand sie ermüdend. Eigentlich war es egal, wen man wählte. Das Ergebnis war sowieso immer dasselbe. Sie legte die Zeitung beiseite und sah aus dem Fenster. Es schien ein schöner Tag zu werden. Um diese Zeit schien die Sonne immer ins Zimmer. Als sie das Haus gebaut hatten, hatte sie darauf bestanden, hier das Esszimmer anzusiedeln. Gerade die Morgensonne brauchte der Mensch doch, um mit guten Gedanken in den Tag zu starten, hatte sie gemeint. Georg hatte nicht verstanden, was sie sagte. Doch er hatte zugestimmt. Für ihn begann jeder Tag mit Pflichten, die erfüllt werden mussten. Sonne hin oder her.

Das Ei war gegessen und er schob den Becher zur Seite. Regina wusste, was jetzt kam. Er würde sich ein Weißbrot mit Käse schmieren. Dann zwei Tassen Kaffee dazu trinken. Jeweils mit zwei Würfeln Zucker und einem Hauch Milch dazu. Und sie wusste nicht, wie er es machte, aber wenn er mit der Zeitung fertig war, dann war auch das Brot und der Kaffee verzehrt.

„So, dann mache ich mich mal auf den Weg“, sagte er und schob sein benutztes Geschirr zusammen, damit sie es gleich leichter beim Abräumen hatte. Er stand auf, stellte den Stuhl unter den Tisch, wischte sich übers Gesicht und sah zu seiner Armbanduhr, so, als wüsste er nicht längst, wie spät es war. „Ich wünsche dir einen schönen Tag, Regina.“ Er beugte sich zu ihr herunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie nahm es hin, wie immer. Sie wusste, dass er nicht von ihr erwartete, dass sie auch etwas sagte oder tat.

Dann hörte sie die Haustür und kurz darauf seinen Wagen aus der Garage fahren. Es war ein schöner Moment und doch schämte sie sich dafür, dass sie sich freute, dass er weg war. Aber in dem Augenblick, wo der Wagen von der Auffahrt fuhr, da atmete sie immer auf. Sie reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Es war nicht so, dass Georg ihr irgendetwas tat oder sie gar unterdrückte. Nein, das war es nicht. Doch in seiner korrekten vorhersehbaren Art, da nahm er ihr manchmal die Luft zum Atmen. Nun stand sie auf und öffnete das Fenster. Ein milder Hauch schlug ihr entgegen. Georg mochte es nicht, wenn das Fenster beim Frühstück offenstand, weil er dann Zugluft in den Nacken bekam.

Regina sah die Katze vom Nachbarn auf ihrem Gartentisch liegen. Ein so schönes Bild, dass sich ihr Herz zusammenzog. Sie selber hätte auch gerne eine Katze gehabt, doch leider reagierte Georg auf alles allergisch, was Fell hatte oder staubte.

Die Katze hatte sie bemerkt und sah nun zu ihr herüber. Wahrscheinlich ahnte sie, was Regina dachte, denn es schien, als höbe sie jetzt eine Pfote, um ihr zuzuwinken.

Ich werde langsam verrückt, dachte Regina und musste schmunzeln. Sie begann damit, den Tisch abzuräumen und alles in die Geschirrspülmaschine zu stellen. Sie hatte es nicht eilig. Heute war Donnerstag. Und da hatte sie immer frei. Es war ein Angebot ihres Arbeitgebers gewesen, der angehalten war, Kapazitäten einzusparen. Also im Klartext Menschen, die nur unnötig Geld kosteten. Regina kam das indes sehr entgegen, da sie und Georg finanziell gut dastanden. Also hatte sie seit einem halben Jahr am Donnerstag frei. Das war zunächst komisch gewesen. Doch mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, einen Tag in der Woche langsam und genüsslich anzugehen. Und an diesem Donnerstag war sie mit ihrer langjährigen Freundin in Oldenburg verabredet. Das machten sie schon seit geraumer Zeit so, dass sie dann vormittags in einem Café frühstückten und anschließend durch die Geschäfte bummelten. Regina fuhr dann immer mit der Bahn, weil es praktisch war, denn der Bahnhof lag nur wenige Minuten mit dem Fahrrad von ihrem Haus entfernt. So konnte sie sich den stressigen Verkehr auf der Autobahn ersparen.

Der Zufall

„Es ist alles meine Schuld“, sagte Marina bestimmt zum hundertsten Mal, dachte Sebastian und sah durch das Fenster des Bahnhofscafés auf den Bahnsteig. „Hätte ich mich nicht doch noch umgezogen, dann hättest du den ersten Zug nicht verpasst.“

„Ist schon gut“, murmelte er. „Ich habe ja in der Bank angerufen. Es ist kein Problem, weil ich meinen ersten direkten Kunden erst am Nachmittag habe.“

Sebastian fragte sich, wohin die Menschen, die dort draußen auf den Zug warteten, wohl hinfuhren. Er selber fuhr eigentlich immer mit dem eigenen Wagen. Das war zum einen bequemer seiner Meinung nach und er konnte die Musik hören, die er mochte. Er bemerkte einen älteren Herrn in grauem Mantel mit einem ziemlich abgewetzten Lederkoffer. Bestimmt hatte er übers Wochenende seine Kinder besucht und fuhr jetzt zurück in die Einsamkeit. Ja, Sebastian war sich ziemlich sicher, dass er alleinstehend war. Vermutlich war seine Frau, die ihn sonst immer begleitet hatte, schon verstorben. Was würde er eines Tages machen, wenn Marina nicht mehr da war?

„Sebastian?“ Sie hatte ihn wohl nicht zum ersten Mal angesprochen, denn ihre Stimme klang leicht verwundert.

„Wie?“ Er sah verwirrt wieder zu ihr hin.

„Wenn ich pünktlich zu meinem Vorstellungsgespräch kommen möchte, dann sollte ich jetzt fahren.“

„Ja, ist gut. Ich bleibe noch ein wenig sitzen, es ist noch eine halbe Stunde Zeit, bis mein Zug fährt.“

„Okay. Ich zahl dann schon mal das Frühstück, dann kannst du direkt zum Bahnsteig gehen.“

„Das ist lieb.“

Sie standen jetzt beide auf und umarmten sich nochmal.

„Ich werde an dich denken und die Daumen drücken“, sagte er.

„Soll ich dich wieder hier abholen?“

„Hm. Ich weiß noch nicht genau, welchen Zug ich nehmen werde.“

„Dann ruf mich an, wenn du wieder in Leer bist“, schlug sie vor.

„Ja, mach ich.“

Noch ein Küsschen auf die Wange von ihr für ihn, dann ging sie los.

Sebastian setzte sich wieder hin und sah erneut auf den Bahnsteig. Er wusste selber nicht warum, aber plötzlich faszinierte ihn das Getümmel da draußen. Eine Schulklasse, wie es schien, balgte herum und einige der anderen Wartenden fühlten sich sichtlich gestört. Warum sagten Lehrer eigentlich nichts mehr dazu heutzutage? Er selber legte immer wert darauf, dass Lotte und Erik sich in der Öffentlichkeit zivilisiert benahmen und andere nicht belästigten.

Eine Frau kam ins Bild. Schmal und unscheinbar. Sie trug einen khakifarbenen Trenchcoat und hatte den Kragen hochgeschlagen. Es war deutlich zu sehen, dass es ihr zu kalt war. Als einer der Schüler sie von hinten anrempelte, drehte sie sich um und sah ihn verärgert an. Sie hatte ein schönes Gesicht, selbst in diesem Moment. Der Junge entschuldigte sich und sie lächelte. Es war ein hinreißendes Lächeln. Irgendwie musste Sebastian an Audrey Hepburn denken. Ja, sie hatte Ähnlichkeit in ihrer Erscheinung mit dieser Schauspielerin. Sebastian hatte die alten Filme immer bei seiner Großmutter gesehen. Jetzt drehte sie sich wieder um und lehnte sich an einen Pfeiler.

Sebastian sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann lief sein Zug ein. Also machte er sich auf den Weg zum Bahnsteig.

 

Ja, dachte Regina, das ist der Grund, warum es sicher besser ist, niemals Kinder zu haben. Der Lärm und dann dieser unverschämte Bengel, der ihr von hinten seinen Ellbogen in den Rücken rammte. Und zum Glück hatte auch Georg keinerlei Ambitionen, was mögliche Nachkommen betraf. Sie hatten das Thema ziemlich schnell geklärt, als sie sich vor fast zehn Jahren kennenlernten. Er ließ sich sterilisieren, obwohl sie dagegen war. Ich tue es doch für dich, hatte er argumentiert. Sie hatte erwidert, dass jede dritte Ehe mittlerweile geschieden würde und er sich ja nicht sicher sein könnte, dass er vielleicht in zehn oder fünfzehn Jahren nicht doch ganz anders denken würde über das Thema. Er hatte sie verwundert angesehen. Dann argwöhnisch. Ob sie jetzt schon über ein Ende ihrer Beziehung nachdenke, hatte er gefragt. Sie hatte verneint. Damals. Ob das heute noch so wäre, sie hätte es in diesem Moment, wo ihr all das wieder durch den Kopf ging, nicht mit Sicherheit bestätigen können.

Endlich lief der Zug ein. Es war ihr kalt. Hätte sie sich doch lieber für die festeren Schuhe entschieden. Natürlich drängelten sich die Jugendlichen an den Türen. Die älteren Fahrgäste schüttelten teils die Köpfe, einige schimpften murmelnd vor sich hin. Dann konnte auch Regina einsteigen. In Leer war der Zug meistens noch nicht so voll, also konnte sie sich einen Platz aussuchen. Und natürlich wählte sie ein Abteil ohne Geschrei. Sie saß gerne in Fahrtrichtung und entdeckte einen freien Sitzplatz am Fenster, der ihren Vorstellungen entgegenkam. Nur dahinter und daneben saßen noch andere Fahrgäste. Sie mochte es nicht, wenn man sie während der Fahrt ansprach. Sicher, es gab Menschen, die hatten das dringende Bedürfnis, sich zu unterhalten, selbst, wenn sie neben Fremden saßen. Regina hatte das nicht. Aber sie war auch nicht unhöflich und antwortete immer einsilbig oder nickte zum Gesagten. Sie stellte ihre Tasche auf den Sitz neben sich und knöpfte ihren Mantel auf. Das Abteil war gut geheizt und sie machte es sich gemütlich.

 

Sebastian hatte sich am Bahnhofskiosk noch eine Hannoversche Allgemeine gekauft und breitete diese nun vor und neben sich aus. Als Banker interessierte ihn zunächst immer der Wirtschaftsteil. Und am Nachmittag würde er einen großen Konzern beraten, der zu expandieren plante. Da war es gut, wenn man mit den Neuigkeiten am Markt vertraut war. Doch er war abgelenkt, denn er musste an Marina denken. Er hatte ihr viel Glück gewünscht für das Vorstellungsgespräch. Doch sie musste gemerkt haben, dass er nicht dahinter stand. Doch es war natürlich richtig, dass sie das tat, was sie für richtig hielt. Für die Kinder würde man eine Lösung finden. Und sie hatte nicht von ihm verlangt, dass er sich mehr einbrachte. Das hatte ihn eigentlich gewundert. Er selber hatte auch nichts in der Richtung vorgeschlagen, dass er seine Arbeitszeit reduzieren könnte. Und das nahm er sich selber übel. Heutzutage waren beide Elternteile für die Erziehung und Versorgung der Kinder zuständig. Sowas las man ja ständig in der Zeitung. Selbst in der Bank, in der er arbeitete, hatte man für die weiblichen Beschäftigten nach Lösungen gesucht, dass sie Arbeit und Familie besser miteinander verbinden konnten. Komisch war nur, dass solche Ideen gar nicht an die Männer herangetragen wurden. Ein Kollege hatte nachgehakt und arbeitete jetzt teilweise im Homeoffice. Eigentlich könnte ich das auch machen, dachte Sebastian, als die Tür zu seinem Abteil aufging und für einen Moment ohrenbetäubender Lärm zu ihm herüberdrang. Die Meute hatte sich immer noch nicht beruhigt und der Lehrer hielt sich wahrscheinlich tapfer die Ohren zu. Die Tür schloss sich wieder und es wurde stiller.

Sebastian ließ seinen Blick über die wenigen anderen Fahrgäste gleiten. Und dann sah er sie. Für den Hauch einer Sekunde stockte sein Atem. Sie saß am Fenster und hielt ein Buch in der Hand. Bücher interessierten ihn eigentlich nicht, wenn es keine Fachliteratur war. Doch bei ihr, da hätte er gerne gewusst, was sie da las. Einen Liebesroman? Oder doch eher einen Krimi? Es zuckte hin und wieder um ihre Mundwinkel, so, als lächelte sie nach innen. Also ging es wohl nicht um Mord.

Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre dichten dunklen Wimpern lagen wie ein samtiger Schleier über ihren gesenkten Augen. Ihre auf die Schultern wie weiche Flocken fallenden Haare glänzten im hereinscheinenden Sonnenlicht. Immer dann, wenn sich die Lücke zwischen den Bäumen bot, an denen der Zug jetzt vorbeiraste. Bestimmt hatte sie braune Augen. Das konnte gar nicht anders sein. Oder vielleicht grüne. Aber bestimmt nicht so leuchtend blaue Augen wie Marina.

Plötzlich sah sie von ihrem Buch auf und direkt in seine Richtung. Er fühlte sich ertappt und raschelte sofort wieder mit seiner Zeitung herum, als hätte es diesen magischen Moment gar nicht gegeben.

 

Beobachtet er mich etwa?, fragte sich Regina. Das fände sie wirklich sehr unverschämt. Automatisch zog sie ihren Kragen des Pullovers zurecht. Dann sah sie genauer hin, wer er war. Nein, er wirkte nicht wie einer von diesen plumpen Männern, die Frauen nachstellten. Er war gepflegt, trug einen teuren grauen Anzug und ein weißes Designerhemd. Sie kannte sich mit solchen Dingen aus, weil Georg sich ebenso ausstattete. Und ja, er sah gut aus. Seine dunkelblonden Haare waren modisch geschnitten. Aber dennoch fielen sie wie durch Zufall in seine Stirn. Er war bestimmt kein Angeber. Sein Gesicht hatte männliche und doch feine Züge um die schmale Nase.

Was mache ich hier eigentlich?, fragte sich Regina plötzlich und rief sich zur Ordnung. Sie räusperte sich und sah wieder in ihr Buch. Noch etwa fünfzehn Minuten, dann waren sie endlich in Oldenburg. Sie freute sich auf das Treffen mit ihrer Freundin.

Als der Zug schließlich hielt, wartete sie, bis der Fremde vor ihr aus dem Abteil gegangen war.

Das Schicksal

In Oldenburg verloren sich die einzelnen Menschen in der Menge und Regina hielt Ausschau nach ihrer Freundin. Zwei Arme wurden hochgerissen und jemand eilte auf sie zu. Das war natürlich Stefanie. Sie war so ganz anders als Regina. Meistens unbeherrscht und überschwänglich. Deshalb fiel sie Regina auch gleich um den Hals, als sich die beiden erreichten.

„Ich freue mich so“, sagte Stefanie und ließ Regina wieder frei. Eigentlich mochte diese keine Umarmungen, wenn man sich traf. Sie fand das meistens völlig übertrieben, wenn sie andere dabei sah, die taten, als hätten sie sich nach Jahrzehnten das erste Mal wiedergesehen, obwohl sie vermutlich nur zwei Tage ohne einander hatten auskommen müssen. Aber das war wohl die neue überbordende Emotionalität. Jeder sollte sehen, dass man jemanden hatte, der sich freute, einen zu treffen. Die Menschen klammerten sich in einer immer kälter werdenden Gesellschaft aneinander wie Ertrinkende.

„Ich freue mich auch“, sagte Regina.

„Du wirkst irgendwie abwesend. Ist was passiert?“

„Passiert? Nein, was sollte denn passiert sein?“ Sie wurde rot und ertappte sich dabei, dass sie Ausschau nach dem fremden Mann aus dem Zug hielt. Doch sicher war er schon längst ganz woanders und sie würde ihn nie wiedersehen.

„Dann komm“, sagte Stefanie fröhlich und hakte sich bei Regina ein.

 

„Das Meeting fängt gleich an, kommst du?“

Sebastian hatte nicht gemerkt, dass jemand in sein Büro gekommen war. Er war viel zu vertieft in seinen PC. Er hatte versucht herauszufinden, welches Buch die Unbekannte im Zug gelesen hatte. Der Umschlag war auffällig dunkel gewesen mit gelber Schrift. Sicher war es doch ein Krimi. Aber unter den aktuellen Neuerscheinungen hatte er bisher kein Glück gehabt.

„Sicher“, sagte er jetzt und klappte seinen Laptop zu. Er konnte ja später noch einmal weitersuchen.

Das Gespräch mit dem Geschäftsführer des expandierenden Unternehmens lief glatt über die Bühne. Und immer wieder schweiften Sebastians Gedanken ab. Was sie wohl gerade machte? Sie war ja auch in Oldenburg ausgestiegen. Aber er ging nicht davon aus, dass sie wie er hier arbeitete. Es war doch unmöglich, dass auch sie am Morgen den Zug verpasst hatte, so wie er. Wenn ja, dann wäre es Schicksal, dachte er, als er wieder vor seinem PC saß. Doch das Buch, das fand er nicht.

Er wusste, dass es nicht richtig war, doch er musste sie wiedersehen.

Zuhause

Marina hatte Sebastian am Bahnhof abgeholt, als er um achtzehn Uhr zwanzig wieder in Leer eintraf. Sie saßen gemeinsam mit ihren Kindern am Abendbrottisch und am meisten redete wie immer Lotte. Sie war ein überaus aufgewecktes wissbegieriges Mädchen. Wenn sie etwas machte oder dachte, dann ließ sie immer alle daran teilhaben. Ganz anders als Erik. Er war ein stiller Junge. Schon immer gewesen. Marina hatte sich damals gewundert, dass er so selten weinte oder schrie, wenn er Hunger hatte.

„Wie war dein Vorstellungsgespräch?“, fragte Sebastian an Marina gewandt.

„Ach, ich glaube, das wird nichts“, gab sie zu.

„Warum nicht?“

„Zuviel Schichtdienst. Und ich möchte ja lieber nur am Vormittag arbeiten wegen der Kinder.“

„Hm. Das tut mir leid.“ Dieses Mal meinte er es wirklich ehrlich.

„Schon gut. Es wird sich bestimmt etwas anderes finden. Zum Glück sind wir finanziell ja nicht darauf angewiesen, dass ich arbeiten gehe.“

„Nein, das sind wir nicht.“

Das Thema war damit wohl abgehandelt und Lotte übernahm wieder die Regie, indem sie in den buntesten Farben schilderte, wie sie im Kunstunterricht eine Riesenschlange in Regenbogenfarben gemalt hatte und dafür eine eins bekam.

„Das ist so schön, mein Schatz“, lobte Marina.

„Ich war die einzige, die eine eins bekommen hat“, sagte Lotte mit Stolz in der Stimme.

„Ach ja?“, fragte Sebastian nach, „waren die Bilder der anderen Kinder denn nicht so schön geworden?“

Lotte zog eine Schnute. „Doch, eigentlich schon.“

Das mochte er an seiner Tochter. Sie freute sich über gute Leistungen und Lob der Lehrerin, doch immer nahm sie auch die anderen Kinder aus ihrer Klasse mit. Sie freute sich nicht diebisch daran, die Beste zu sein. Für sie war es wohl einfach nur Glück, das sie gerne mit anderen teilte. Deshalb hatte sie auch viele Freunde in der Schule. Man mochte sie und neidete ihr nichts.

„Dann war dein Bild eben einfach das Schönste“, sagte Marina, „irgendein Bild muss ja immer das Schönste sein, oder nicht? Oder gibt es die Möglichkeit, dass mehrere Bilder die Schönsten sind?“ Sie richtete diese Frage an Sebastian.

Und dieser war froh, dass sie im Moment nicht seine Gedanken lesen konnte. Denn die fremde Frau spukte in seinem Kopf herum und er nahm ihre Frage zum Anlass, die beiden miteinander zu vergleichen. Wer war die Schönste? Marina seine Frau oder sie? Oder waren beide schön? Ja, das waren sie, jede auf ihre ganz besondere Art. Die Fremde hatte ebenso wie Marina dieses gewisse Etwas, dass es Männern unmöglich machte, sie zu ignorieren. War es der Augenaufschlag, die Haltung der Hände oder der Gang? Bei Marina war es eine Mischung aus allem. Und er hätte nicht sagen können, warum er nur mit ihr zusammen sein wollte. Sicher, es gab viele Frauen, die objektiv betrachtet bestimmt noch hübscher als Marina waren. Die gab es immer irgendwo. Doch bisher hatte er sich nicht mit anderen Frauen beschäftigt. Und er befürchtete, dass das nach dieser Begegnung im Zug nun irgendwie anders werden würde. Nein, das war es schon. Und das machte ihm in gewisser Weise auch Angst.

„Sebastian? Wo bist du mit deinen Gedanken?“, hakte sie nach, weil er nicht antwortete. Auch die Kinder sahen ihren Vater jetzt gespannt an.

„Wie?“, fragte er.

„Na, die Bilder. Ist es möglich, dass mehrere Bilder die Schönsten sein können? Oder kann es eigentlich eines, also das eine schönste Bild geben?“

„Ich glaube, es gibt mehrere Möglichkeiten“, sagte er, „jedes Bild ist auf seine ganz besondere Art schön.“

Lotte jauchzte. „Das werde ich morgen unserer Lehrerin sagen. Und dann möchte ich, dass alle eine eins bekommen. Nicht nur ich.“

„Du bist ein Schatz“, sagte Marina und drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange.

„Das hast du ihr beigebracht“, sagte Sebastian, „dass sie nicht nur an sich denkt. Du bist eine großartige Mutter.“ Er griff nach ihrer Hand.

„Wir beide haben das ganz gut hingekriegt“, erwiderte sie und bestätigte im Grunde damit genau das, was er gesagt hatte.

„Boah“, machte Erik und verzog gespielt das Gesicht, „kann ich jetzt auf mein Zimmer gehen. Das ist hier ja nicht mehr auszuhalten, diese ständige Selbstbeweihräucherung.“

„Du hast recht“, bestätigte Marina, „wir sind furchtbar. Aber ja, du kannst ruhig auf dein Zimmer gehen, ich denke, wir sind alle fertig. Oder Lotte?“

„Ja Mama. Ich bin fertig.“

Sie räumten alle zusammen ab. Auch das hatte Marina hinbekommen, dachte Sebastian anerkennend, als alle ohne zu murren mit anfassten. Er wusste von Kollegen, dass das ganz bestimmt nicht die Regel war. Andere Kinder waren aufsässig und frech. So etwas konnte er sich in seiner kleinen heilen Welt gar nicht vorstellen. Und war er jetzt auf dem besten Wege, das alles wegen einer fremden Frau zu zerstören? Das hatten Marina und die Kinder wirklich nicht verdient.

 

Regina war guter Laune, als sie nach Hause kam. Es war später Nachmittag und sie hatte noch gute zwei Stunden Zeit, um das Abendbrot für Georg vorzubereiten. Sie selber aß abends in der Regel nichts mehr. Sie war von jeher ein schlanker Typ gewesen und wollte es auch bleiben.

Sie ging ins Schlafzimmer, um das neue Kostüm noch einmal anzuziehen, das sie sich in einem sündhaft teuren Laden in Oldenburg gekauft hatte. Eigentlich brauchte sie es nicht. Doch ihre Freundin hatte sie ermuntert, es doch einfach mal anzuprobieren, weil es ihr im Schaufenster so gut gefallen hatte. Die geschäftstüchtige Verkäuferin setzte dann das I-Tüpfelchen und schon landete das dunkelblaue Kostüm aus feinstem Samt in einer Einkaufstasche.

Regina fuhr jetzt mit ihrer flachen Hand über den geschmeidigen Stoff. Es fühlte sich sinnlich an. Und sie hätte nicht sagen können, warum, doch plötzlich hatte sie sein Gesicht vor Augen. Wie er sie angesehen hatte im Zug. Sie hatte ihn ertappt, als sie plötzlich aufgesehen hatte. Eher durch Zufall in seine Richtung. Aber irgendwie hatte sie gespürt, dass ein Augenpaar auf ihr geruht hatte. Sie fand, dass der blaue Samt vergleichbar mit der Farbe seiner Augen war. Sein Blick war irgendwie melancholisch gewesen. Verletzlich hatte er gewirkt. Ja, das war es gewesen, warum sie jetzt wieder an ihn denken musste. Bestimmt war er ein sehr gefühlvoller Mann. So anders als Georg. Wie sein Name wohl war? Sie fand ja, dass er einen schönen Namen haben musste, so, wie er aussah. Vielleicht Viktor? Nein, das klang irgendwie zu hart. Sein Name war weicher im Klang. Er sah nicht wie ein Rudolf aus und schon gar nicht wie ein Georg. Sie kam zu keinem Ergebnis. Und eigentlich wollte sie ja auch gar nicht an ihn denken. Sie hängte das Kostüm auf einen Bügel, ohne es noch einmal anzuziehen, und tat es in den Kleiderschrank.

Um auf andere Gedanken zu kommen, ging sie schließlich in die Küche, um den Kartoffelauflauf, den Georg sich für heute gewünscht hatte, vorzubereiten. Wichtig war dabei, dass sie feste Kartoffeln nahm, damit sie noch Biss hatten, wenn sie auf den Tisch kamen. Einmal, da hatte sie tatsächlich weichkochende Kartoffeln genommen, einfach, weil keine anderen mehr da waren. Georg hatte nach dem ersten Bissen, den er ihr zuliebe noch genommen hatte, obwohl er sah, wie verkocht schon alles aussah, den Teller wortlos zur Seite geschoben und sich ein Brot geschmiert.

Dieses Mal hatte sie auf jeden Fall die richtigen Kartoffeln und mechanisch bereitete sie alles vor, um die Form dann in den Backofen zu schieben. Dann sah sie zur Uhr. Eine gute Stunde würde es dauern, bis sie das Essen herausnehmen konnte.

Also Zeit genug, um noch ein Bad zu nehmen, dachte sie bei sich. Irgendwie brauchte sie jetzt Wärme um sich herum.

Die Suche

Seit vier Uhr in der Frühe hatte Sebastian sich im Bett hin und her gewälzt und als Marinas Wecker klingelte, ging er als erstes ins Bad.

„Lass nur“, hatte er gesagt, als seine Frau wie sonst auch aufstehen wollte, nachdem sie den Wecker gestoppt hatte. Sie war es immer, die das Frühstück für alle zubereitete.

„Wenn du meinst“, sagte sie schlaftrunken und kroch wieder unter die Decke.

Sebastian fühlte sich schlecht, als er unter der Dusche stand. Schlecht und gemein. Denn Marina wusste ja nicht, dass er nicht einfach nur nett sein wollte. Nein, er hatte nicht schlafen können, weil er ständig an sie denken musste. Die Frau im Zug. Eine Wildfremde. Und er bekam sie einfach nicht aus seinem Kopf. Auch, wenn er es in manchem Moment gerne gewollt hätte. Doch die Erinnerung an diesen Blick, den sie ihm geschenkt hatte. Er wirkte wie ein süßes Gift, das sich immer weiter in seinen Körper fraß. Und er konnte nichts dagegen tun. Ob die Zeit darüber hinweghalf, dachte er, als er sich abtrocknete und in den Spiegel sah. Er würde sie ja sowieso nie wiedersehen. Er fuhr nie mit der Bahn. Und schon gar nicht so spät am Vormittag. Also entschied im Grunde genommen das Pragmatische für ihn. Wie sollte er ihr begegnen, wenn er immer mit dem Wagen fuhr? Das leuchtete ihm ein und er sah sich zufrieden im Spiegel lächeln. Es war alles nur eine kurze Episode, die ihn aus der Bahn geworfen hatte. Für einen Augenblick.

Arme schlangen sich von hinten um ihn.

„Wieso bist du denn noch nicht in der Küche?“, flüsterte Marina ihm ins Ohr.

Er drehte sich zu ihr um. Sie roch so weich und nach Schlaf. Langsam schob er die Träger ihres seidenen Nachthemds zur Seite. Sie wehrte sich nicht. Dann stöhnte sie auf, als er sie überall küsste.

„Das geht nicht“, sagte sie mit belegter Stimme. „Die Kinder müssen doch zur Schule.“

Da hatte sie recht.

Er kam wieder hoch und sie sahen sich an.

„Ich liebe dich“, sagte er.

Sie küsste ihn lange auf den Mund. Dann ging sie unter die Dusche.

 

Es dauerte natürlich länger, bis das Frühstück fertig auf dem Tisch stand, weil Sebastian gar nicht wusste, wo alles verstaut war in den Schränken.

„Papa“, tadelte Lotte, als sie zu ihm kam. „Ich nehme doch nur die fettarme Milch in meine Cornflakes.“

„Oh“, sagte er ertappt. „Dann esse ich sie und mache dir eine neue Schale.“

„Schon gut“, sagte sie und klang wie eine Erwachsene, indem sie ihre Mutter imitierte, „das kann ja jedem mal passieren. Ich esse sie natürlich.“

Er musste schmunzeln. Sie war so ein Mädchen, das später den Männern den Kopf verdrehen würde. So, wie ihre Mutter. Sie hatte ihre strahlend blauen Augen geerbt und sah damit einfach hinreißend aus. Schon jetzt bekam sie dauernd WhatsApp Nachrichten von Jungen aus der Schule auf ihr Handy. Sebastian gefiel das zwar nicht, weil er der Ansicht war, dass so ein Gerät nichts für Kinder in ihrem Alter war. Doch da alle Kinder ein Handy hatten und auch die Lehrer darüber mit ihnen kommunizierten, war er mit seiner Ansicht machtlos gegen die technische Entwicklung im Kinderzimmer.

Erik gesellte sich zu ihnen und setzte sich wortlos an seinen Platz.

„Möchtest du auch Cornflakes?“, fragte Sebastian seinen Sohn.

„Hm.“

„Also ja?“

„Ja, okay.“

„Geht es dir nicht gut?“

„Wieso?“

„Naja, du wirkst noch sehr müde.“

„Das bin ich doch immer morgens, Papa.“

Sicher hätte seine Mutter das gewusst, dachte Sebastian. Aber er selber führte sich hier auf wie ein neues Kindermädchen. Ich werde mich mehr mit meinen Kindern beschäftigen, nahm er sich vor. Dann kam endlich Marina in die Küche und alles konnte seinen gewohnten Gang nehmen.

Als Sebastian später mit den Kindern in seinem Wagen saß und sie Marina, die im Bademantel in der Tür stand, zuwinkten, da bedauerte er, dass die Werkstatt so schnell gearbeitet hatte. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als die Kinder zur Schule und selber weiter zur Arbeit zu fahren. Auf dem Weg zur Autobahn dachte er für den Bruchteil einer Sekunde daran, einfach zum Bahnhof zu fahren und auf den nächsten Zug zu warten. Ob sie heute wohl wieder nach Oldenburg fuhr? Doch er beherrschte sich und war schließlich auf der Autobahn angekommen.

 

Regina saß alleine in der Küche und löffelte ihre Grapefruit gedankenverloren aus. Georg war bereits aus dem Haus gegangen. Er war wie immer. Doch mit ihr, da stimmte etwas nicht. Als sie heute Morgen sein Ei gekocht hatte, da hatte sie ein Lächeln auf den Lippen gehabt. So wie jetzt auch. Sie dachte an ihn. Den schönen Unbekannten. Was er jetzt wohl gerade machte? Ob er wieder den Vormittagszug nach Oldenburg nahm? Wo er wohl hinfuhr? Schon, als sie aufgewacht war, hatte sie an ihn gedacht. Sie musste heute nicht zur Arbeit, weil sie ihren Chef gestern noch angerufen hatte, um zu fragen, ob sie auch am Freitag noch frei machen könnte. Sie hätte noch so viele Überstunden. Er hatte nichts dagegen. Und deshalb hatte sie nun nichts weiter vor.

Und plötzlich hatte sie eine Idee. Sicher, es war verrückt. Und vielleicht machte sie es gerade deshalb. Sie ging ins Bad und machte sich fertig. Danach fuhr sie zum Einkaufen, was sie sonst am Freitagnachmittag erledigte. Und anschließend fuhr sie zum Bahnhof. Einfach so. Warum denn nicht, dachte sie bei sich. Was sollte schon passieren?

Sie setzte sich ins Bahnhofscafé in die hinterste Ecke, von wo aus sie den Bahnsteig im Blick hatte und auch die Gäste, die sich an die anderen Tische setzten. Bei jedem Mann, der in ihr Gesichtsfeld trat, schlug ihr Herz ein wenig schneller. Solange, bis sie erkannte, dass er es nicht war. Und überhaupt, welcher Mann fuhr schon am späten Vormittag zur Arbeit. Er hatte in der Zeitung geblättert und sich besonders für den Wirtschaftsteil interessiert. Das hatte sie an den Titelzeilen sehen können, wenn er umblätterte. Ob er selbständig war mit einer eigenen Firma? Dann konnte er es sich bestimmt erlauben, später anzukommen. Aber jeden Tag?

Wieder ein Mann mit ähnlicher Statur. Als er sich zu ihr drehte, da war er es nicht. Auch draußen auf dem Bahnsteig war nichts von ihm zu sehen. Nach einer Stunde schließlich, als es schon auf die Mittagszeit zuging, zahlte sie und verließ das Café.

Um sich abzulenken, bummelte sie noch ein wenig in der Leeraner Fußgängerzone, doch im Grunde nahm sie gar nicht wahr, was sie da sah. Ich verrenne mich da gerade in etwas, das es gar nicht gibt. Das muss aufhören.

Als Regina schließlich wieder zuhause eintraf, schlüpfte sie ernüchtert wieder in ihr altes Leben mit Georg zurück. Er war ja auch nicht immer so gewesen. So kalt und berechnend. Sie beschloss, ihm heute Abend etwas ganz Besonderes zu kochen, schließlich war ja Wochenende. Den Freitagabend verbrachten sie in der Regel mit einem Glas Rotwein vor dem Fernseher. Meistens ging sie zuerst zu Bett. Am Samstag verlief es ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass er dann ebenfalls den Fernseher ausschaltete, wenn sie müde wurde. Einmal die Woche hatten sie noch Sex. Jeden Samstag. Es hatte sich so eingespielt. Gehörte zum Programm. Doch Regina fühlte schon lange nichts mehr dabei. Ob es ihm bewusst war? Vielleicht. Aber dieses Vielleicht, das wollte sie jetzt nicht mehr so im Raum stehen lassen, dachte sie. Und deshalb würde sie heute etwas Schönes kochen. Dazu einen Nachtisch mit Sekt und Erdbeeren. Und dann würde sie versuchen, ihn zu verführen, so, wie sie es früher gemacht hatte. Da war er noch empfänglich für ihre leidenschaftlichen Anwandlungen gewesen. Mit der Zeit allerdings hatte er vorgeschoben, dass er am nächsten Tag früh raus musste. Und so hatte sich ihr Leidenschaft auf den Samstag eingependelt, wo er am Sonntag ausschlafen konnte. Bisher hatte Regina mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit ihrer Freundin, die ein außerordentlich lasterhaftes Sexualleben führte, wenn man ihren Ausführungen Glauben schenken konnte. Und genau das wollte Regina jetzt auch wieder haben. Leidenschaft, heiße Küsse und begehrt werden. Keine Maschine, die man am Samstagabend anwarf.

Und als sie dann in der Küche stand, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen, da wusste sie im nächsten Moment, dass es alles sinnlos war. Georg war Georg. Und alle leidenschaftlichen Wünsche fixierten sich wieder auf den fremden Mann, der sie für einen Moment zu lange angesehen hatte.

 

Der Freitag verlief in der Bank meistens mäßig aufregend. So hatte Sebastian jede Menge Zeit, sich mit Dingen zu beschäftigen, die er lieber aus dem Kopf bekommen wollte. Doch nun ertappte er sich schon wieder dabei, wie er an sie dachte. Ob sie jetzt auch in Oldenburg war? Ob sie den Zug genommen hatte? Wäre ich doch nur noch zum Bahnhof gefahren, dachte er frustriert und kaute auf seinem Kugelschreiber herum. Nun stand ein langes Wochenende bevor, wo er garantiert nicht die Chance hätte, sie wiederzutreffen. Morgen am Samstag wollten er und Marina mit den Kindern zu einem Freizeitpark fahren. Sicher kämen sie erst spät am Abend zurück. Die Kinder todmüde. Lotte jedenfalls. Und Erik in seiner üblichen Art gelangweilt dreinguckend. Sicher, er kam nun in ein Alter, wo er sich nicht mehr unbedingt in einem Kinderkarussell wohlfühlte. Die meiste Zeit verbrachte er auf seinem Zimmer vor dem Computer. Was genau er da machte, das wusste Sebastian nicht. Es war nicht mehr so leicht, Erik etwas zu fragen, ohne, dass dieser sich ausgehorcht und bewacht fühlte. Wann hatte er die Verbindung zu seinem Sohn verloren? War es schleichend gegangen? Oder lag es einfach daran, dass er sich nicht genug mit ihm beschäftigt hatte? Er nahm sich vor, am Abend noch einmal mit Marina darüber zu sprechen. Er wollte ein guter Vater sein. Ein guter Ehemann. Ja, er wollte es wirklich. Und trotzdem klickte er sich jetzt in den Fahrplan der Bahn für den kommenden Montag, obwohl er wusste, dass der Zug natürlich wieder fuhr. Er fuhr jeden Tag. Und dann ging plötzlich die Fantasie mit ihm durch. Er sah sie und sich selber in dem Abteil sitzen. Sie waren alleine. Er las in der Zeitung, sie in ihrem Buch. Dann sah sie auf. Sie sahen sich an. Sie kam zu ihm. Einfach so. Setzte sich neben ihn. Er nahm ihren Duft auf. Süßlich und verlockend. Sie sah ihn an mit ihren großen braunen Augen in dem zarten Gesicht. Sie rückte näher an ihn heran, so dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spürte.

„Sebastian? Schläfst du?“

Eine harte Stimme holte ihn zurück. Sein Kollege, mit dem er mittags immer etwas in der Innenstadt aß.

„Oh, ist es schon so spät?“

„Ja, ist es“, lachte der Kollege, „und ich möchte gleich beim Essen jedes Detail erfahren.“

„Detail?“

„Klar. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du gerade an deine Frau gedacht hast, oder?“

„Blödmann.“ Sebastian schüttelte mit dem Kopf und nahm seine Jacke.

Montag

Nichts war passiert. Oder doch. Es war nur nichts anderes passiert. Das Wochenende war vorbei und Regina nahm das Ei aus dem brodelnden Wasser und schreckte es ab. Georg hatte von ihrer inneren Zerrissenheit nicht das Geringste gespürt. Er hatte sich sehr gefreut über das Essen am Freitag. Es hatte aber keinen Sekt und keine Erdbeeren gegeben.

Und am Samstag hatte sie das Zubettgehen so lange hinausgezögert, bis er auch er todmüde war. Er hatte nicht einmal gefragt, warum sie länger aufblieb. Vielleicht war es ihm sogar ganz recht gewesen. Er war noch vor ihr eingeschlafen.

Sie hatte sich wieder aus dem Bett geschlichen und war in das zweite Schlafzimmer gegangen, das im Grunde nur als Gästezimmer diente. Sie konnte unter diesen Umständen einfach nicht neben ihm liegenbleiben. Denn sie dachte an Montag. Sie würde wieder zum Bahnhof gehen. Egal, wie lange es auch dauerte, bis sie ihn wiedertraf. Die Sehnsucht nach Nähe war so stark in ihr herangewachsen, dass sie fürchtete, Georg könnte von ihrem keuchenden Atem wach werden. Und deshalb war sie ins andere Zimmer gewechselt. Und während sie sich selber streichelte, dachte sie an den anderen Mann. Ob er sie begehrenswert fand? Sie jedenfalls begehrte ihn, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte. Dieser eine Augenblick, er hatte alles in ihrem Leben verändert. Er hatte sie wachgeküsst mit seinen blauen Augen.

Nun stand sie also am Montagmorgen ratlos vor ihrem Kleiderschrank, nachdem Georg das Haus verlassen hatte. Sollte sie das neue blaue Kostüm anziehen? Nein, dachte sie, als sie es sich vorhielt und in den großen Ankleidespiegel sah. Das wirkte viel zu förmlich. Wohlerzogen und ganz bestimmt nicht nahbar. Also doch einfach eine Jeans und einen schwarzen Pullover? Dazu ein Trenchcoat, wie sonst auch? Sicher war das am besten. So würde er sie wiedererkennen. Natürlich, das war die Lösung. Sie würde sich für die Arbeit eine Ausrede einfallen lassen, warum sie gegen zehn unbedingt wegmusste. Ein Zahnarzttermin war da immer gut. Meistens fragte da auch keiner nach, weil niemand gerne dorthin ging und sich einen Bohrer und nach hinten gelehnte Behandlungsstühle vorstellte.

Kurz darauf stieg Regina voller Zuversicht in ihren Wagen.

 

Sie hatten sich an diesem Wochenende zweimal geliebt und auch jetzt schmiegte sich Marina an ihn, als der Wecker geklingelt hatte.

„Es wird Zeit“, flüsterte er in ihr langes blondes Haar.

„Es war schön“, erwiderte sie.

„Ja.“

„Ich meine alles. Die Ausflüge mit den Kindern und ...“.

Bevor sie weitersprach, küsste er sie leidenschaftlich auf den Mund. Es war wichtig für ihn gewesen, sich zu beweisen, dass er sie noch liebte. So richtig liebte und sie körperlich begehrte und befriedigen konnte. Dann war doch alles noch in Ordnung, oder? Doch er belog sich selber. Es war Montag. Und eben, als der Wecker klingelte, war das erste, woran er gedacht hatte, der Bahnhof. Er konnte nicht anders. Er würde gleich wie immer aus dem Haus gehen, die Kinder zur Schule fahren und dann würde er zum Bahnhof fahren. Es war wie ein innerer Zwang. Eine Kraft, die er nicht mehr kontrollieren konnte, hatte Besitz von ihm ergriffen.

„Ich steh dann mal auf“, sagte Marina und löste sich aus seiner Umarmung.

„Ist gut. Ich komme auch gleich“, erwiderte er und natürlich beschlich ihn wieder das schlechte Gewissen. Es fühlte sich an, als betrüge er sie. Und dabei war er doch nur mit den Gedanken woanders gewesen. Zählte das schon als Betrug? Nun, hätte er Marina die Frage gestellt, dann konnte er sich denken, was sie sagen würde. Im Scherz gingen sie manchmal darauf ein, dass es auch andere schöne Frauen gab neben ihr. Sie war in dieser Hinsicht sehr großzügig. Und wenn es mal zu Trennungen deshalb im näheren Umfeld kam, weil einer der Partner den anderen betrogen hatte, dann plädierte sie immer dafür, nicht gleich das Handtuch zu werfen. Gerade, wenn Kinder im Spiel waren. Ob sie in eigener Sache auch so großzügig sein würde?

Er hörte Lotte singend aus ihrem Kinderzimmer kommen und ins Bad gehen. Ein Stich ins Herz. Nein, er konnte seiner Tochter niemals wehtun. Und er wollte auch nicht ohne sie sein. In diesem Moment, da nahm er sich fest vor, wie gewohnt auf die Autobahn Richtung Oldenburg zu fahren. Er musste diese andere Frau einfach vergessen.

 

Pünktlich um kurz vor zehn Uhr saß Regina wieder auf ihrem Platz im Bahnhofscafé. Es war kein Problem gewesen, die Kollegen wegen eines Termins anzulügen. Und es würde ja auch nur maximal eine Stunde dauern, hatte sie versichert. Und jetzt lief also die Zeit. Sie hatte sich ein Frühstück zusammenstellen lassen und rührte davon doch nichts an. Aber wenn sie hier eine Stunde herumsaß, dann konnte sie sich unmöglich nur einen Kaffee bestellen. Immer wieder sah sie nach draußen zum Bahnsteig. Dann wieder zum Eingang des Cafés. Vielleicht war er ja heute früher dran und machte es wie sie und trank noch einen Kaffee.

 

„Bis heute Abend“, rief Marina und winkte schon, als die Kinder sich noch in die Sitze drückten und anschnallten.

Sebastian küsste sie wie üblich zum Abschied auf die Wange. „Ich wünsche dir einen schönen Tag“, sagte er.

„Den wünsche ich dir auch.“

Er ging zum Wagen und stieg ein. Im Rückspiegel sah er seine Frau in der Tür stehen. Sie winkte noch immer, weil jetzt auch Lotte wild mit den Armen wedelte und Tschüss Mama rief. Sollte er es wirklich wagen, dieses Glück für einen Moment der Leidenschaft zu zerstören? Hatte er überhaupt das Recht dazu? Er startete den Wagen und fuhr los.

Die Kinder stiegen bei der Schule aus und er fuhr wieder an. Seine Hände klammerten sich um das Lenkrad. Du musst jetzt zur Autobahn fahren, beschwor er sich. Alles andere wäre ein großer Fehler. Du würdest die Menschen, die du liebst sehr unglücklich machen. Das darfst du nicht tun. Du darfst es einfach nicht.

Und doch fuhr sein Wagen dann wie von selbst zum Bahnhof. Es war noch viel zu früh, das wusste er. Wenn sie wie immer den Zug um fünfzehn Minuten nach zehn nahm, dann hatte er noch über zwei Stunden Zeit. Zeit genug, um wieder zur Vernunft zu kommen. Immer wieder sah er auf die Uhr. Sollte er nicht doch lieber losfahren? Er war doch kein pubertierender Teenager mehr. Er war ein erwachsener Mann mit Verantwortung. Für seine Kinder und seine Frau. Eine Frau, die er wahnsinnig liebte. Fast wie am ersten Tag. Natürlich, wenn man sich über fünfzehn Jahre kannte, dann war es nicht mehr wie am ersten Tag, wenn man sich küsste oder liebte. Man hatte sich aneinander gewöhnt. Wusste, was man sagen würde oder wie man reagierte. Das war nicht schlimm. Das ging allen anderen Paaren doch auch so. War er etwa schon in der Midlife-Crisis mit Ende dreißig? Bildete er sich Dinge ein, die gar nicht da waren, weil er sich in einer Eintönigkeit gefangen fühlte, für die weder er noch Marina etwas konnten? Sehnte er sich insgeheim nach einer leidenschaftlicheren Frau? Solche Gedanken waren sicher nicht strafbar. Und wer wusste, wie Marina über all das dachte. Vielleicht träumte sie sich hin und wieder auch zu anderen Männern hin. Aber würde sie so weit gehen, ihn zu betrügen? Es war nicht das erste Mal, dass er darüber nachdachte. Doch bisher war es eher eine Art von Eifersucht gewesen, dass es so sein könnte, weil er sie so liebte. Und da sie so großzügig mit ihm war, wer sagte ihm denn, dass sie es nicht auch war, weil sie sich selber durchaus gewisse Freiheiten herausnahm. Vielleicht traf sie sich schon längst mit einem anderen, ohne, dass er es überhaupt ahnte. Sie war den ganzen Tag alleine zuhause. Oder zumindest, bis die Kinder gegen vierzehn Uhr nach Hause kamen. Eine Menge Zeit, um sich ein Abenteuer zu gönnen.

Zweimal hatte er es dann sogar geschafft, den Wagen zu starten und wieder Richtung Autobahn zu fahren. Und jedes Mal war er wieder umgedreht. Als es dann immer später geworden war, hatte er direkt in der Nähe des Bahnhofseingangs geparkt. So konnte er ganz sicher sein, dass er jeden Menschen sah, der ins Gebäude ging. Und dann war sie gekommen. Es war wie Blitzeinschlag gewesen, der ihn mit aller Wucht traf. Sie schien es eilig zu haben, ins Bahnhofsgebäude zu kommen. Und doch sah sie sich immer wieder unsicher um. Sie trug wieder den Mantel vom letzten Mal. Die Haare offen und einen hellen Schal um den Hals gewickelt. Die Art, wie sie ging. Es war, als sehe er ein Wesen aus einer anderen Welt. Er stieg aus dem Wagen und folgte ihr ins Gebäude, immer auf der Hut, dass sie ihn nicht sah. Dann verschwand sie im Bahnhofscafé und bestellte sich etwas am Tresen. Ein Frühstück? Er wunderte sich darüber. Wollte sie gleich nicht mit dem Zug fahren?

Er verfolgte sie mit seinem Blick, als sie gezahlt hatte. Sie setzte sich an den Platz in der Ecke am Fenster. Dorthin, wo auch er gesessen hatte, als er am Donnerstag mit Marina darauf gewartet hatte, bis der Zug fuhr. Und dort hatte er sie auch das erste Mal gesehen, als ein schlimmer Bengel sie draußen angerempelt hatte. Alles lief noch einmal wie ein innerer Film vor ihm ab.

 

Regina hatte einen Schluck Kaffee getrunken und dann doch zum Käsebrötchen gegriffen. Sie sah aus dem Fenster. Es schien wohl aussichtslos zu sein. Er würde heute nicht kommen. Und auch die anderen Tage nicht. Sie würde ihn nie mehr wiedersehen. Da konnte sie jetzt auch was essen.

„Darf ich mich setzen?“

Sie zuckte zusammen. Sie hatte nicht gemerkt, dass jemand an ihren Tisch gekommen war. Sie sah zu ihm auf. Ihre Blicke trafen sich. Es war genauso wie beim letzten Mal.

„Ja“, sagte sie, „ich bin alleine.“ Im selben Moment war es ihr peinlich, weil sie an das Bad denken musste, dass sie am Wochenende genommen hatte. Da hatte sie an ihn gedacht. Doch das konnte er ja nicht wissen. Und doch hatte sie das Gefühl, als läse er es in ihren Augen.

Er zog sich einen Stuhl zurück und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

„Ich bin Sebastian.“

Seine blauen Augen raubten ihr fast den Atem.

„Regina. Ich heiße Regina.“

Er konnte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden. Ihr Mund war schön geschwungen, die Lippen nicht zu üppig, aber sehr sinnlich, wenn sie etwas sagte. Und dann die Augen. Dunkel und tiefgründig. Er war sich sicher, dass sie viele Geheimnisse vor anderen verbarg.

Es war sonderbar. Sie saßen da. Zwei fremde Menschen an einem Tisch im Bahnhofscafé, als sei es das selbstverständlichste von der Welt. Sie wussten jetzt, wie sie heißen. Doch es schien, als würden sie sich schon eine Ewigkeit kennen.

„Fahren Sie öfter mit dem Zug nach Oldenburg?“, fragte er und sie erschrak beinahe, weil sie so in seinen Blick, der auf sie gerichtet war, vertieft war.

„Manchmal“, sagte sie, „oder nein, eigentlich immer donnerstags.“

„Ach ja?“

Sicher, er wunderte sich. Schließlich war heute Montag. Also fragte er sich natürlich, was sie hier machte.

„Und Sie?“, fragte sie zurück, um den Fokus von sich zu lenken.

„Nein, eigentlich nie.“

Sie zog die Brauen hoch. Er wusste, was sie jetzt dachte. Was wollte er dann hier?

„Nur am letzten Donnerstag, weil mein Wagen nicht ansprang“, erklärte er.

Das ist Schicksal, dachte sie. Wir sollten uns treffen. Und ihm musste doch jetzt auch klar sein, warum sie hier saß.

Sie weiß es, dachte er. Sie weiß, dass ich sie gesucht habe und deshalb hier zum Bahnhof gekommen bin. Was sollte ich sonst hier machen, wenn ich nie mit der Bahn fahre?

„Wollen Sie auch einen Kaffee trinken?“, fragte sie.

Er sah sich um zum Tresen. „Sicher, warum nicht. Ich hole mir einen. Möchten Sie auch noch etwas?“

„Nein.“

„Gut. Ich bin dann gleich zurück.“

Sie sah ihm nach. War das wirklich gerade passiert? Es war wie ein Wunder. Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Sie wusste es nicht. Aber eines wusste sie ganz gewiss. Sie wollte in seiner Nähe sein. Sie wollte sein Lächeln sehen und seine schöne Stimme hören. All das wirkte auf sie wie eine Dosis pures Glück, direkt aus einer großen Schale auf sie herabgegossen. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Alles wurde dann ganz leicht. Und in seinen Augen las sie, dass er genauso dachte. Er hatte sie gesucht und auch gefunden. Oh Gott, dachte sie, als sie zur Uhr sah. Sie müsste eigentlich längst zurück ins Büro. Sie würde es erklären müssen, was an einem Zahnarztbesuch so lange dauern konnte. Und vor allem, warum man dann mit einem Lächeln im Gesicht zurückkehrte, als hätte man in Honig gebadet.

Sebastian nahm einen Latte Macchiato und wartete darauf, während die Maschine ihn in einen großen Becher hustete. Passierte das hier alles wirklich?, fragte er sich und sah in den großen Spiegel beim Tresen. Darin konnte er sie sehen, schemenhaft. Regina. Es war der schönste Name, den er je gehört hatte. Aus ihrem Mund hatte er wie ein helles Glockenspiel geklungen aus einer silbernen Spieluhr. Ihre Stimme alleine löste schon ein Kribbeln in seiner Magengrube aus. Er wusste, dass er hier gerade ein großes Risiko einging. Es gab viele Menschen in Leer, die ihn und Marina kannten. Was, wenn nun einer von ihnen hier zufällig beim Bahnhof war und ihn mit einer fremden Frau sah? Das wäre sicher noch nicht so ungewöhnlich, da er viele Geschäftskontakte pflegte in seinem Beruf als Finanzberater. Aber wenn Marina durch Zufall davon hörte, dass er seine Termine neuerdings im Bahnhofscafé abhielt, dann müsste er einiges erklären. Das alles wusste er. Und doch konnte er einfach nicht anders. Er war so froh, dass er sie wiedergefunden hatte. Er wollte nur noch in ihrer Nähe sein. Sie ansehen. Ihr zuhören, wenn sie von sich erzählte. Oder einfach mit ihr schweigen. Noch nie hatte er sich jemandem so verbunden gefühlt. Und wie sie ihn ansah mit ihren braunen Augen. So, als dringe sie ganz tief in sein Herz ein. Ja, er wollte alles über sie wissen. Dafür ging er jedes Risiko ein. Die Angestellte hielt ihm jetzt den Becher hin und er nahm ihn an. Dann ging er wieder zu ihrem Tisch zurück.

„Das sieht gut aus“, sagte Regina, nur, um überhaupt etwas zu sagen.

Er sah sie an und nickte. „Ja.“ Dann rührte er um.

„Wollten Sie hier jemanden treffen?“, fragte sie, weil sie es endlich geklärt haben wollte.

Er nickte.

„Oh, dann hat man Sie wohl versetzt?“

Er schüttelte mit dem Kopf.

Sie stutzte. Und doch wusste sie die Antwort längst.

„Ich wollte Sie wiedersehen“, sagte er offen.

„Mich?“ Sie errötete leicht und konnte doch ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Ja, Sie. Wir haben uns am letzten Donnerstag im Zug getroffen, aber nur kurz. Ich kann seitdem nicht mehr aufhören, an Sie zu denken.“

Sie schluckte. Sie musste jetzt mit den Spielchen aufhören.

„Das geht mir genauso“, gab sie zu.

Sie sahen sich an. Dann wich sie seinem Blick wieder aus. Sie verschränkte ihre Finger ineinander und sah jetzt auf ihre Hände.

„Eigentlich müsste ich jetzt in Oldenburg sein“, sagte er.

„Und ich im Büro“, gab sie zu.

„Sind Sie wegen mir hierhergekommen?“

Sie nickte, ohne ihn anzusehen.

„Aber was machen wir jetzt?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht. Aber ich finde es schön, hier mit Ihnen zu sitzen.“

„Ich auch.“ Jetzt sah sie ihn wieder an. „Ich bin verheiratet.“ Es half ja nichts. Sie musste es einfach sagen. Denn sie spürte, dass hier etwas ganz Großartiges begann. Und vermutlich würde es sehr tragisch enden, weil sie ja mit Georg verheiratet war. Sie durfte hier nicht sein.

„Ich bin auch verheiratet“, erwiderte er. „Deshalb ist es wirklich verrückt, dass ich hier mit Ihnen sitze.“

„Das stimmt. Wir sollten jetzt gehen.“

„Das kann ich nicht.“

„Aber wir müssen es“, sagte sie eindringlich. „Wir dürfen uns nicht mehr treffen.“

„Ich will es aber.“ Er fuhr mit seiner Hand zu ihren Händen und sein Zeigefinger berührte leicht ihren Handrücken. „Ich weiß nicht, was es ist, aber ich fühle mich einfach zu dir hingezogen“, ging er nun zum Du über. „Als du von deinem Buch aufgesehen hast und sich unsere Blicke trafen, ich ...“.

„Du hattest mich beobachtet, oder?“

„Naja, irgendwie schon. Das tut mir leid.“

„Schon gut. Aber was machen wir jetzt nur.“ Sie trank von ihrem Kaffee, der schon längst kalt geworden war.

„Ehrlich gesagt muss ich jetzt wirklich nach Oldenburg fahren, ich habe gleich einen Geschäftstermin.“

Fast erleichtert atmete sie aus. „Dann musst du jetzt gehen.“

Er nickte. „Aber ich möchte dich wiedersehen.“

„Ja.“

„Wann?“

„Ich weiß es nicht ...“.

Er zog etwas aus seiner Jackentasche. „Das ist meine Karte.“ Er legte sie vor sie auf den Tisch. „Du sagtest, dass du am Donnerstag wieder nach Oldenburg fahren wirst?“

„Das stimmt. Aber ganz sicher ist das noch nicht. Ich treffe mich dann immer mit meiner Freundin, wenn wir uns verabreden. Manchmal kann sie auch nicht.“

„Dann sehen wir uns Donnerstag. Regina, ich werde wieder hier auf dich warten.“

Sie sah ihn nur an. Dann auf seine Karte.

„Ich gehe jetzt“, sagte er.

Sie sah wieder zu ihm auf.

Er ging nicht.

„Du musst jetzt gehen“, sagte sie.

Dann endlich drehte er sich um und ging davon. Erst an der Ausgangstür blieb er stehen und drehte sich noch einmal zu ihr um. Dann ging er endgültig.

Wie erstarrt saß Regina da. Zwischen ihren Fingern die Karte mit seinem Namen. Sebastian Fischer. Finanzberater in einer großen Bank in Oldenburg. War es wirklich vernünftig, sich am Donnerstag hier wieder mit ihm zu treffen? Sie wusste, dass es natürlich nicht so war. Und doch würde sie wieder hier sein. Sie konnte einfach nicht anders. Sie steckte seine Karte in ihr Portemonnaie und machte sich auf den Weg zurück ins Büro.

Gewissensbisse

Seine Kinder waren immer gut für eine Ausrede, wenn er sich verspätete. So auch an diesem Tag. Plötzliche Zahnschmerzen von Erik schob er vor und schämte sich im selben Moment dafür, seine Kinder für seine Lügen zu gebrauchen. Aber es ging nicht anders. Und zum Termin hatte er es ja zum Glück noch rechtzeitig geschafft.

Nun saß Sebastian an seinem Schreibtisch und fragte sich, ob das am Vormittag in Leer wirklich geschehen sein konnte. Oder hatte er nur einen schönen Traum gehabt? Regina. Wie eine Endlosschleife geisterte ihr Name durch seinen Kopf. Und am Donnerstag erst würde er sie wiedersehen. Eine endlose Zeit bis dahin, so schien es ihm. Wie sollte er das bloß aushalten?

Er checkte seinen Terminkalender für die nächsten Tage. Zum Glück hatte er eine Menge zu tun. Die Menschen horteten so viel Geld und wollten nun von ihm wissen, wie sie es am besten anlegten. Den Donnerstagvormittag hatte er sich wohl einer Eingebung folgend freigehalten. Er war kurz versucht, Regina dort einzutragen. Aber das war zu riskant. Denn sein Kalender war mit seinem Handy gekoppelt und hin und wieder sah auch Marina dort nach, wenn sie ihn für eine Sache mit den Kindern einplanen wollte. Marina. Er rief sich ihr Gesicht in Erinnerung. Dann sah er auf das Bild auf seinem Schreibtisch. Sie lachte in die Kamera. Er wusste noch genau, wann er das Foto von ihr gemacht hatte. Da war Lotte gerade ein Jahr alt geworden und Marina war überglücklich. Sie hatte sich immer eine Tochter gewünscht und verwöhnte das Mädchen nach allen Regeln der Kunst. Er hatte sie zu einem Essen in ein Sternerestaurant eingeladen, mit Übernachtung. Und für das Foto hatte sie dann so bezaubernd gelächelt. Er hatte sich das Bild ausdrucken lassen und gerahmt auf den Schreibtisch gestellt. Sieben Jahre war das nun schon her. Und eigentlich, so fand er, sah Marina noch immer genauso aus wie auf dem Bild. Oder vielleicht nur ein wenig reifer geworden. Doch das tat ihrer Schönheit wirklich keinen Abbruch. Sie achtete sehr auf ihre Figur und trieb regelmäßig Ausdauersport.

Meistens walkte sie mit ein paar Nachbarinnen ein paar Mal die Woche. Nebenher joggte sie auch alleine auf dem Ostfrieslandwanderweg. Oder sie ging schwimmen mit den Kindern. Im Sommer fuhr sie gerne mit ihrem Rennrad viele Kilometer am Deich entlang. Wie oft hatte sie ihn gefragt, ob er nicht mitkommen wollte. Doch er hatte immer abgewinkt, weil er einfach ein Sportmuffel war. Zum Glück hatte er die Statur seines Vaters geerbt. Er war nicht gertenschlank, eher stämmig, aber nicht dick. Und essen konnte er auch, was er wollte. Er nahm nicht sonderlich zu. Darum beneidete Marina ihn oft, wenn sie sich auf ihrem Fahrrad wieder einmal abgemüht hatte.

Ach, Marina, dachte er. Was tue ich dir da bloß an.

 

Regina hatte ein betont gequältes Gesicht gemacht, als sie zu ihren Kollegen zurückkehrte. Unterwegs hatte sie sich noch ein paar Wattebäusche gekauft und diese in den Mund gesteckt. So sah es wirklich sehr nach einem fiesen Zahnarztbesuch aus und keiner bohrte weiter nach.

Nach Feierabend kaufte sie noch etwas fürs Abendessen ein, einfach, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Und irgendwie wollte sie auch den Zeitpunkt hinausschieben, wo sie Georg wieder unter die Augen trat. Sie trug jetzt das Foto eines fremden Mannes in ihrem Portemonnaie. Doch selbst, wenn Georg es entdecken würde, schöpfte er sicher keinen Verdacht. Nein, vermutlich würde er ihren Entschluss, sich endlich um die eigenen Finanzen zu kümmern, sogar begrüßen.

Sie entschied sich für eine Käseauswahl und dazu nahm sie noch ein Kaviarbrot und etwas vom besten Öl mit. Außerdem Oliven und Antipasti. Heute Abend würde sie Georg damit überraschen, dass sie sich einmal zu ihm gesellte und mit ihm aß. Pfunde hin oder her. Sie konnte es sich ja leisten.

Er war noch nicht da, als sie schließlich die Haustür aufschloss und alles hineintrug. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich daran. Sie ließ die Tasche einfach auf den Boden gleiten und rief sich noch einmal das schöne Gefühl in Erinnerung, als er direkt auf sie zugekommen war im Bahnhofscafé. Da hatte sie im ersten Moment noch gedacht, dass sie es sich nur einbildete, weil sie ihn ja so sehr herbeigesehnt hatte. Sie roch noch immer seinen Duft. Noch nie hatte ein Mann so gut gerochen wie Sebastian. Man sagte ja immer, dass man den anderen wortwörtlich gut riechen können musste, um sich zu verlieben. Und ja, bei Sebastian war das wirklich der Fall.

Von einem Geräusch wurde sie aufgeschreckt. Georg kam schon zurück. Oder war es schon so spät? Sie hatte keine Ahnung. Viel zu lange hatte sie im Supermarkt herumgetrödelt und das rächte sich jetzt. Schnell nahm sie die Tasche wieder auf und trug sie in die Küche.

„Nanu“, sagte er kurz darauf, „du kommst auch gerade erst zurück?“

„Ja“, antwortete sie ausweichend, „ich dachte ich besorge uns für heute Abend mal eine Käseauswahl, wenn es dir recht ist.“

„Oh ja“, freute er sich tatsächlich, „du weißt ja, wie gerne ich guten Käse esse.“

„Dann gehe ich noch eben schnell unter die Dusche und bereite dann alles vor.“

„Es eilt nicht, ich muss noch ein paar Sachen für morgen vorbereiten“, sagte er und ging in sein Arbeitszimmer.

Reginas Herz schlug bis zum Hals. Nur gut, dass sie es sich schon lange abgewöhnt hatten, sich zur Begrüßung zu umarmen oder gar zu küssen. Sie hätte ihm ihren Zustand unmöglich erklären können.

Dienstag

Regina hatte in der Nacht kaum schlafen können und so war sie wieder in das zweite Schlafzimmer gegangen, als sie Georgs gleichmäßigen Atem neben sich vernommen hatte.

Nun schlug er auf sein Ei. Wie immer eigentlich. Doch dieses Mal lief das Eiweiß praktisch noch flüssig über den Rand der Schale und schlängelte sich über den Löffel hin bis zu seinem Finger. Und er war nicht in der Lage, seine Hand zurückzuziehen, so schockiert war er in dem Moment.

„Was ist das?“, fragte er trocken.

Erst da bemerkte Regina, dass etwas nicht stimmte. Seinem Blick folgend sah auch sie das Dilemma.

„Oh. Ich glaube, ich habe mich in der Garzeit geirrt, das tut mir leid.“

Sie war bereits im Begriff, aufzustehen, um das Malheur verschwinden zu lassen.

„Lass nur“, sagte er jetzt schon milder gestimmt. Weil sie gestern noch mit ihm geschlafen hatte, war er nicht so schlecht gelaunt wie sonst. Erst der Käse, dazu der Rotwein und dann das I-Tüpfelchen. Und alles an einem Montagabend. Da hatte sie wohl was gut bei ihm.

Wenn du wüsstest, dachte sie nun, als sie ihm dabei zusah, wie er umständlich mit den Wischtüchern über den Tisch rieb.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte er, als er sich wieder setzte. „Du siehst schon ein wenig blass aus.“

„Findest du?“, fragte sie. „Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich mich heute lieber krankmelden.“

„Ich könnte dich zum Arzt fahren“, schlug er vor.

„Nein nein, es ist sicher nur eine Magenverstimmung oder so.“

„Aber der Käse gestern war doch ausgezeichnet“, sagte er und lächelte sie dabei verschwörerisch an. Ja, er glaubte tatsächlich, dass sie sich wieder besonders um ihn bemühte, und das schien ihm zu gefallen.

„Am Käse liegt es wohl auch nicht. Ich habe gestern Mittag mit einer Kollegin noch ein Fischbrötchen gegessen“, log sie, „vermutlich ist es das.“

„Da sollte man wirklich genau hinsehen, wo man die isst“, bestätigte er ihre Vermutung. „Du hast recht, ruf deinen Arbeitgeber an und entschuldige dich lieber. Oder soll ich das für dich tun?“

„Nein, das mache ich schon.“ Sie setzte ein betont krankes Gesicht auf und ließ ihre Mundwinkel hängen.

„Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich muss dich jetzt alleine lassen“, sagte Georg und legte seine Serviette, mit der er sich eben noch den Mund abgewischt hatte, auf den Frühstücksteller.

„Schon gut“, seufzte Regina, „ich komme zurecht. Ich wünsche dir einen schönen Tag.“

Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, nachdem er aufgestanden war. „Kümmere dich heute bitte nicht um mein Abendessen, sondern ruhe dich lieber aus. Ich werde einfach in der Mittagszeit etwas essen gehen.“

„Danke.“ Sie sah mit einem betont traurig wirkenden Augenaufschlag zu ihm hin.

Dann verließ Georg das Haus.

Regina räumte den Tisch ab und rief dann bei ihrem Arbeitgeber an. Es läge wohl an der Zahnbehandlung, quengelte sie in den Hörer. Sowas könne ja in seltenen Fällen auch Komplikationen nach sich ziehen. Sie meldete sich gleich bis einschließlich Mittwoch ab. Ihr Chef hatte Verständnis und wünschte ihr gute Besserung.

Eigentlich ist es ja gar nicht gelogen, dachte sie, als sie aufgelegt hatte. Ich fühle mich schlecht. Eben nur nicht wegen meiner Zähne.

Sie ging ins Bad und ließ eine Wanne einlaufen. Der ganze Tag lag mit seinen vielen quälenden Stunden noch vor ihr. Es dauerte noch so lange, bis es endlich wieder Donnerstag war. Bevor sie in die Wanne stieg, nahm sie noch einmal seine Karte aus ihrem Portemonnaie und sah auf das Foto von Sebastian. Endlich lächelte sie wieder. Sie schätzte, dass es vor gut fünf Jahren aufgenommen worden war. Er wirkte da noch jungenhafter. Sie wusste zwar nicht, wie alt er war, doch sie nahm an, dass er auf die vierzig zuging. Also gute fünf Jahre älter war als sie. Ob er schon immer in Leer gewohnt hatte? Der Altersunterschied konnte dann erklären, warum sie sich bisher noch nie über den Weg gelaufen waren. Ach, es gab so vieles, das sie ihn jetzt gerne gefragt hätte. Banale Sachen, aber doch machten sie eben seine ganze Persönlichkeit aus. Er war verheiratet und Regina fragte sich, ob seine Frau ein ähnlicher Typ war wie sie. Doch in der Regel waren Geliebte ja so ganz anders als die eigene Ehefrau. Also stellte sie sich seine Frau blond und bildhübsch vor. Das würde zu einem Mann wie ihm passen. Sie waren das perfekte Paar und hatten sicher ebenso schöne Kinder in die Welt gesetzt, um die sie sich mit Hingabe kümmerten. Wieso gehe ich davon aus, dass er Kinder hat?, fragte sie sich. Es lag wohl daran, dass es selten solche Paare gab sie wie und Georg, die sich nicht ein schönes Familienleben wünschten, sondern einfach vor sich hinlebten und arbeiteten. Für ein schönes Haus, zwei Luxuswagen und dreimal Urlaub in fernen Ländern im Jahr. Sie hatte das alles so satt. Doch sie konnte es Georg einfach nicht sagen.

Sie ging ins Bad zurück und stellte das Wasser ab. Dann ließ sie ihren seidenen Bademantel zu Boden gleiten und stieg zuerst mit dem linken Fuß ins Wasser. Es war angenehm temperiert und so ging sie ganz hinein.

 

Weniger ruhig ging es in der Küche von Sebastian zu. Das übliche Chaos am Morgen eben. Und irgendwie war er dankbar dafür. Denn als er gestern Abend alleine mit Marina vor dem Fernseher gesessen hatte, da fühlte er sich unsicher. Sah sie es ihm sicher schon an, dass er an eine andere dachte, wenn er ihre Hand hielt. Sie machten das immer gerne, den anderen spüren. Doch in dem Moment, da war es ihm unangenehm gewesen, doch er durfte sich ja nichts anmerken lassen. Er war nicht fair zu ihr. Und er war auf dem besten Wege, sie zu hintergehen. Wenn er es nicht schon längst tat. Dachte er darüber nach, mit Regina mehr anzufangen, als sich nur zu unterhalten? Nein, im Moment war er einfach nur von ihr fasziniert. Sie wirkte so zerbrechlich. Marina war bestimmt nicht übergewichtig, aber sie war sehr muskulös, weil sie soviel Sport trieb. Regina wirkte, wenn er ehrlich war, tatsächlich weiblicher auf ihn. So hatte er das noch nie gesehen gehabt. Nein, im Gegenteil, Marinas Eifer, ihren Körper zu straffen und an den Muskeln zu arbeiten, das hatte ihm immer imponiert, weil er selber so ein Bewegungsmuffel war. Konnte es sein, dass er plötzlich einen ganz anderen Typ von Frau anziehend fand? Offenbar war es so.

Lotte beschwerte sich gerade wieder über Unzulänglichkeiten, was ihre Pausenbrotdose betraf und Marina hörte sich alles mit einer Engelsgeduld an und änderte ein paar Kleinigkeiten. Erik saß an seinem Platz und aß seine Cornflakes. Heute hatte er sich seine Musik in die Ohren gesteckt und bekam sicher nur wenig von den Gesprächen mit. Irgendwie beneidete ihn Sebastian. Und im nächsten Moment überkam ihn das Bedürfnis, etwas mit seinem Sohn zu teilen.

„Erik“, sprach er ihn an. Doch dieser reagierte nicht. „Erik!“, wiederholte Sebastian deshalb etwas lauter und tippte dem Jungen auf den Arm.

Erstaunt sah dieser ihn an. Sebastian bat ihn nonverbal, die Stöpsel aus den Ohren zu nehmen. Der Junge tat es nur widerwillig.

„Was ist?“

„Erik, was hältst du davon, wenn wir am Wochenende mal wieder auf den Sportplatz gehen. Germania Leer bietet ein interessantes Spiel. Das haben wir so lange nicht mehr gemacht.“

„Hä? Nein, danke.“ Er steckte sich die Musik wieder auf die Ohren.

Wieso komme ich nicht mehr an meinen eigenen Sohn heran?, fragte sich Sebastian nicht zum ersten Mal.

„Lass ihn, er meint es nicht so.“ Marina hatte es mitbekommen und versuchte nun, ihren Mann, der ein wenig enttäuscht wirkte, zu trösten. „Er hat jetzt andere Interessen.“

„Aber welche?“, fragte Sebastian, „ich kenne mich bei ihm nicht mehr aus.“

„Das gibt sich schon wieder. Er versucht ja nur, sich jetzt ein wenig abzunabeln und sich selbst zu finden. Hast du schon vergessen, wie du in diesem Alter warst?“

„Ein Riesenarschloch“, sagte Sebastian und lachte.

„Ach was?“ Das war Erik.

„Du bekommst also doch alles mit, was wir so besprechen“, meinte Sebastian, „das freut mich zu hören.“

„Ich geh dann schon mal nach draußen.“ Der Junge schob seinen Stuhl nach hinten und nahm sich seine Brotdose, die Marina ihm hingestellt hatte.

„Papa“, meldete sich jetzt Lotte zu Wort, da sie sich nun der ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer Eltern gewiss war, „warst du wirklich mal ein Riesenarschloch?“

„Lotte“, tadelte Marina, „solche Wörter sagt man nicht.“

„Und Papa?“

„Der darf das eigentlich auch nicht.“

„Aber er hat es gesagt.“

„Du hast recht, Lotte“, mischte sich nun Sebastian ein, „ich habe Riesenarschloch gesagt, aber eigentlich darf man das nicht.“

Lotte kicherte und hielt sich eine Hand vor den Mund und flüsterte: „Riesenarschloch.“ Dann kicherte sie wieder.

Marina verdrehte die Augen. „Wirklich, Sebastian, du solltest bei der Wortwahl am Frühstückstisch an deinem Stil feilen.“

„Tut mir leid“, erwiderte er, „kommt nicht wieder vor. Aber trotzdem finde ich es schade, dass Erik nicht mit mir zum Sportplatz gehen möchte.“

„Das kommt aber auch irgendwie plötzlich“, meinte Marina, „das letzte Mal, dass du mit Erik dort warst, ist bestimmt fünf Jahre her.“

„So lange ...“. Sebastian konnte es gar nicht glauben. Hatte er wirklich so viel Zeit mit seinem Sohn verpasst? „Naja, ich denke, wir sollten uns jetzt auf den Weg machen.“

Kurz darauf saßen alle im Wagen und Marina stand wie immer in der Tür und winkte ihnen nach.

Endlich Donnerstag

Die Stunden hatten sich quälend dahingezogen und hin und wieder bereute Regina, sich krankgemeldet zu haben. Auf der anderen Seite hatte sie so ihre Ruhe vor Georg und konnte sich in Gedanken überwiegend mit Sebastian befassen. Das war auf der einen Seite schön, auf der anderen Seite wusste sie, dass es kein gutes Ende nehmen würde, wenn sie sich weiterhin mit ihm traf.

Endlich war es Donnerstag.

Georg war bereits aus dem Haus gegangen und so konnte Regina aufstehen. Schon seit Stunden hatte sie keinen Schlaf mehr finden können. Sie schwankte zwischen unbändiger Freude und dem nagenden schlechten Gewissen. Doch als sie im Bad unter der Dusche stand, da wusste sie, dass es keinen anderen Weg für sie gab. Sie musste zum Bahnhof fahren. Sebastian endlich wiedersehen. Sie hatte sich tatsächlich mit ihrer Freundin in Oldenburg wie üblich verabredet. Wenigstens das war die Wahrheit. Das war legitim. So konnte sie Georg am Abend von ihrer überraschenden Genesung berichten und dass sie sich sogar dazu hatte aufraffen können, nach Oldenburg zu fahren. Sicher würde er sich darüber freuen. Denn sie wusste, dass es ihm im Grunde genommen zuwider war, sich selber das Frühstück zu machen. Vom Abendbrot mal ganz zu schweigen.

Im Schlafzimmer stellte sie ihren Kleiderschrank praktisch auf den Kopf. Nichts schien plötzlich mehr passend zu sein für ein richtiges Date. Aber war es das wirklich? Sie hielt sich gerade einen schwarzweiß gemusterten Pullover vor die Brust und sah in den Spiegel. Nein, darin sehe ich zu alt aus, dachte sie, und legte ihn beiseite. Eine graue Bluse, zu dramatisch. Ein hellblaues Kleid, zu naiv. Eine Jeans oder doch lieber eine schwarze schlichte Hose mit einer weißen Bluse? Ein ganzer Berg Kleidung lag plötzlich auf ihrem Bett und sie musste über sich selber lachen. Schlussendlich zog sie wieder das an, worin Sebastian sie kennen gelernt hatte.

Und in einer Jeans mit schwarzem Pulli und dazu der Trenchcoat, darin fühlte sie sich selber ja auch am wohlsten. Und vermutlich war es ihm auch gar nicht wichtig, was sie anhatte.

Sie schminkte sich dezent mit Kajal und Wimperntusche. Auf die Lippen nur der Hauch einer pflegenden Creme.

Regina stand nun in der Küche und wartete darauf, dass es endlich spät genug war, um losgehen zu können. Sie war so nervös, dass sie nicht mal einen Kaffee trinken konnte. An essen war schon gar nicht zu denken. Immer wieder ging sie ins Bad, um noch einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen. Und sie kam sich reichlich albern vor. Doch ja, sie freute sich auf ihn.

 

Sebastian hatte sich die letzten beiden Tage derart in Arbeit gestürzt, dass er gar keine Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, was er seiner Frau und seinen Kindern antat. Er wusste, dass er schuldig war, wenn er an Regina dachte. Und das tat er ständig, während er am PC Kundendaten bearbeitete, Telefonate erledigte und Verträge vorbereitete. Er machte Überstunden und fiel abends regelrecht erschossen ins Bett. Marina gegenüber erklärte er sein Verhalten mit Veränderungen am Markt. Das reichte meistens schon aus, damit sie nicht weiter nachfragte. Ihr waren solche Dinge fremd und sie hatte keine Lust, sich mit Wirtschaftsthemen zu beschäftigen.

Als der Wecker am Donnerstag endlich klingelte, war es Sebastian, der sofort regelrecht aus dem Bett sprang.

„Ich mach das Frühstück“, sagte er zu seiner Frau, die ihm schlaftrunken nachsah.

Erst im Badezimmer fühlte er sich sicher und ließ seinen Gefühlen der Vorfreude freien Lauf. Heute endlich würde er sie wiedersehen. Regina. Sie war die letzten Tage in seinem Kopf herumgegeistert, so, als sei er ein verliebter Teenager. Das war absurd, wo er doch einen Sohn in dem Alter hatte, der sich bestimmt gerade das erste Mal im Leben so richtig verliebte. Und da spielte sein Vater plötzlich verrückt. Ja, es war verrückt, dachte Sebastian. Und doch konnte er nichts dagegen tun. Er freute sich darauf, sie wiederzusehen. Und wenn es das Letzte wäre, was er tat, er konnte nichts dagegen machen.

Das Frühstück verlief turbulent wie immer und auch Erik blieb sich selber treu, indem er alles teilnahmslos an sich vorüberziehen ließ.

Endlich konnten sie dann aufbrechen und als Sebastian in den Rückspiegel sah und Marina ihm nachwinkte, da fühlte er sich wie ein Schwerverbrecher.

Er lieferte die Kinder bei der Schule ab. Es war da aber noch viel zu früh, um sich schon am Bahnhof einzufinden. Was sollte er nur so lange machen? Er konnte ja schlecht nach Hause zurück fahren. Also suchte er sich einen abgelegenen Platz beim Sportplatz am Westerhammrich und klappte seinen Laptop auf, um die Zeit des Wartens einigermaßen sinnvoll zu nutzen. Bei der Arbeit wussten sie Bescheid, dass er erst gegen Mittag eintreffen würde, weil er angeblich mit seinem Sohn zum Orthopäden musste. Wieder einmal hatten die Kinder für seine Lügen geradestehen müssen. Das war nicht gut.

Gegen halb zehn schließlich machte er sich auf den Weg zum Bahnhof. Er parkte seinen Wagen im nahegelegenen Parkhaus und lief dann zu Fuß zum Café. Der Tisch hinten in der Ecke, er war noch frei. Meistens füllten sich die Plätze hier erst ab elf Uhr so richtig. Er bestellte sich am Tresen einen Kaffee und ein Croissant. Damit setzte er sich dann an den freien Tisch, um auf sie zu warten.

Regina konnte kaum ohne ein Zittern einen Fuß vor den anderen setzen, als sie aus dem Wagen stieg. Sie hatte beim Zollhaus geparkt und lief nun Richtung Bahnhofsgebäude. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Noch konnte sie umkehren und einfach wieder nach Hause fahren. Sie könnte ihre Freundin anrufen und ihr sagen, dass sich ihr Zustand nun doch wieder verschlechtert hätte. Alles wäre so einfach gewesen. Doch sie wählte den steinigen Weg, der süße Verheißung hieß. Sebastian. Endlich würde sie ihn wiedersehen. Die Visitenkarte, die er ihr gegeben hatte, war schon ganz abgegriffen, weil sie sie ständig wieder aus dem Portemonnaie gezogen hatte.

Nur noch wenige Meter, dann musste sie die Stufen nehmen. Fast wäre sie gestolpert, weil sie zu hastig gewesen war. Dann endlich öffnete sich die automatische Tür und sie gelangte ins Warme. Es wimmelte von Menschen und sie bahnte sich einen Weg zum Café. Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie hineinging. Ihr erster Blick ging zu ihrem Tisch. Er saß dort. Ihre Knie wurden weich. Ich falle gleich einfach um, dachte sie und ging weiter, ohne sich etwas am Tresen zu bestellen.

Er sah sie bereits kommen und lächelte sie an. Plötzlich wurde alles ganz leicht. Auf einmal fühlte es sich richtig an.

„Hallo Regina“, sagte er und stand auf.

„Hallo Sebastian.“

„Setz dich doch bitte“, bot er an, „soll ich dir etwas vom Tresen holen?“

Sie schüttelte mit dem Kopf. „Nein, danke.“

Sie setzten sich beide.

Was nun? Regina wusste es nicht. Sie genoss einfach das Gefühl, das sich jetzt in ihrer Magengegend ausbreitete. Nun fühlte sie sich wieder ganz.

Sebastian hatte sich so viel zurechtgelegt, worüber man sprechen könnte, doch in dem Moment, wo er sie gesehen hatte, da war alles wie aus seinem Kopf gefegt worden.

„Es war schlimm“, sagte sie zaghaft, „ich meine, die letzten Tage, bis es endlich ...“.

„Das ging mir genauso. Ich habe viele Überstunden gemacht, um nicht ...“.

„Ich war krankgeschrieben.“

Sein Blick erfüllte sich sofort mit Sorge.

„Ich war aber nicht krank. Ich meine, nicht so, wie man das eigentlich meint, aber ich konnte einfach nicht ...“.

„Schon gut“, sagte er und fuhr mit seiner Hand über den Tisch, bis er ihre sachte berührte.

„Glaubst du, dass es richtig ist, was wir tun?“ Sie sah ihn unsicher an.

„Nein“, antwortete er, „aber möchtest du, dass wir jetzt einfach gehen? Jeder wieder in sein altes Leben zurück?“

„Ich könnte das nicht.“

„Ich auch nicht. Also lass uns einfach nicht darüber nachdenken. Wir haben nur diese kurze Zeit gemeinsam. Unser Zug fährt gleich.“

„Meine Freundin wird in Oldenburg am Bahnhof auf mich warten“, sagte Regina fast entschuldigend, „ich dachte, dann habe ich in der Hinsicht wenigstens nicht gelogen, wenn mein Mann ...“. Sie brach ab, weil sie wusste, dass er jetzt nicht über Georg sprechen wollte.

„Ich werde ja auch zur Arbeit gehen“, erwiderte er, „komm, wir gehen jetzt zum Bahnsteig.“

Sie nickte und ging hinter ihm her, als er sein Tablett auf den Wagen gestellt hatte. Sie fühlte sich wie in geheimer Mission. Niemand durfte wissen, dass sie hier mit Sebastian war. Dass er der Grund war, warum sie nicht mehr schlafen oder essen konnte. Dass sie immer nur an ihn dachte. Jeden wachen Moment. Und im Traum schlich er sich in ihre Gedanken, die zu einem wilden Gebilde wurden aus Schuld und Sehnsucht.

Draußen wurden sie dann von der Menge verschluckt und er griff zaghaft nach ihrer Hand. Sie ließ es geschehen. Hin und wieder trafen sich ihre Blicke, die sie über die anderen fahren ließen und doch nur von ihrem Glück benebelt sich selber sahen.

Der Zug lief ein. Sebastian ging voraus und hielt immer noch Reginas Hand. Sie suchten sich einen Platz im hinteren Bereich und Regina saß am Fenster, als die Fahrt losging. Und noch immer hielt Sebastian ihre Hand. Einfach nur dasitzen, und diesen einen Moment genießen, auf den sie so lange gewartet hatten. Keiner von beiden wagte etwas zu sagen, bis sie schließlich Westerstede erreichten.

„Ich finde es schön, hier mit dir zu sitzen“, sagte sie.

„Ich auch“, entgegnete er und sah sie mit seinen blauen Augen strahlend an.

„Die Fahrt dauert jetzt gar nicht mehr so lange.“

„Nein. Das ist schade.“

„Ja, finde ich auch.“ Sie atmete hörbar aus und es klang wie ein tragischer Seufzer.

„Wir könnten nächsten Donnerstag wieder zusammen fahren, wenn du magst ...“, schlug er vor.

„Das wäre schön.“

„Um dieselbe Zeit?“

„Wenn es dir nichts ausmacht ...“.

Er nickte zur Bestätigung.

„Welches Buch hast du eigentlich gelesen, als ich dich das erste Mal im Zug gesehen habe?“

Sie runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Ist es wichtig?“

Er lächelte. „Nein, eigentlich nicht. Aber du hast so süß ausgesehen beim Lesen. Deshalb hätte es mich interessiert, um welche Art von Buch es sich gehandelt hat.“

„Oh. Es war auf jeden Fall ein Liebesroman.“ Sie wurde rot.

„Du bist also eine leidenschaftliche Frau?“

„Vielleicht.“ Sie schluckte und fühlte seinen Blick auf ihren Lippen haften.

„Das gefällt mir.“

Aus dem Lautsprecher wurde als nächster Halt der Oldenburger Bahnhof durchgegeben. Ihre Finger umklammerten einander, so, als hieße es nun, für immer Abschied zu nehmen. Die ersten Fahrgäste erhoben sich bereits von ihren Plätzen, so, als gäbe es irgendetwas zu gewinnen, wenn man schneller war als der andere. Doch Regina und Sebastian, sie hatten es nicht eilig. Denn wenn sie ausstiegen, dann würden sich ihre Wege wieder trennen.

„Wir müssen jetzt aussteigen“, sagte Regina als Erste, „sonst fahren wir gleich weiter nach Bremen.“

„Ja, komm ...“.

Sebastian ging wieder voraus und erst, als sie in der Tür standen, ließ er ihre Hand wieder los. Sie hatte ihn darum gebeten, damit ihre Freundin sie ja nicht dabei entdeckte, wie sie mit einem anderen Mann zusammen war.

„Bis nächsten Donnerstag“, sagte er, als er sich noch einmal nach ihr umdrehte, als sie ausgestiegen waren.

„Bis nächsten Donnerstag“, bestätigte sie und es klang wie ein heiliges Versprechen.

Er ging in Richtung Ausgang, während sie sich nach ihrer Freundin umsah. Schließlich entdeckte sie sie und Sebastian war verschwunden, als sei es nur ein schöner Traum gewesen.

Erik

Erik hatte es sich abgewöhnt, sich noch einmal umzudrehen und zu winken, wenn sein Vater ihn an der Schule abgesetzt hatte. Erstens war er kein Mädchen und zum Zweiten für so etwas wohl schon lange ein bisschen zu alt.

Sein Vater respektierte das wenigstens und nörgelte deshalb nicht herum. Das rechnete er ihm hoch an. Ganz anders seine Mutter. Wenn Marina ihn mal hier absetzte, dann versuchte sie sogar immer noch, ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken oder wenigstens noch einmal Kontakt zu seiner Hand aufzunehmen. Einfach nur peinlich.

An diesem Donnerstag hatte Erik in den ersten beiden Stunden Kunstunterricht. Den mochte er gerne. Sein Lehrer lobte ihn immer für seine Zeichnungen, die ihm nach seiner Ansicht mit viel Liebe zum Detail ganz gut gelängen. Danach war Sport dran. Und wenn Erik eins hasste, dann war es Sport. Er konnte sich weder für das alberne Geturne auf irgendwelchen Foltergeräten begeistern, noch für jegliche Art von Mannschaftssport, wo man sich Bälle zuwarf oder gegenseitig verprügelte.

Und so hatte er sich gleich nach dem Kunstunterricht auf den Weg gemacht in die Leeraner Innenstadt. Einfach irgendwo abhängen, bis die nächsten beiden Stunden vorbei waren. Es war jetzt schon die dritte Woche in Folge und sicher würde der Sportlehrer bald seine Eltern kontaktieren. Also musste Erik sich etwas einfallen lassen. Es gab einfach keinen triftigen Grund, warum er vom Sportunterricht befreit werden könnte. Weder hatte er ein körperliches Leiden, noch fehlten ihm Gliedmaßen. Irgendwann also würde er wohl doch wieder in den sauren Apfel beißen müssen, dachte er frustriert. Nur eben nicht heute. Er trat nach einem leeren Kaffeepappbecher, den jemand achtlos weggeworfen hatte.

Und das Wetter war auch viel zu schön, um sich mit anderen verschwitzten Körpern von Klassenkameraden herumzubalgen. Er empfand besonders die Berührungen der Mädchen als sehr unangenehm. Und einige nutzten die Gelegenheiten regelrecht aus und fassten ihm an den Hintern, wenn sie so taten, als griffen sie nach dem Ball, den er gerade hatte. Das war wirklich widerlich. Vermutlich versuchten sie so, sein Interesse zu wecken. Doch ihm waren Mädchen in seinem Alter ziemlich egal. In seine Deutschlehrerin allerdings war er heimlich verliebt. Sie war eine junge Aspirantin und hatte für dieses Halbjahr den Unterricht von einem Lehrer übernommen, der sich einen schweren Bandscheibenschaden zugezogen hatte. Was für ein Glück für mich, hatte Erik gedacht, als sie sich der Klasse vorgestellt hatte. Und er war natürlich nicht der einzige Schüler, der seitdem feuchte Träume hatte.

Erik war in der Mühlenstraße. Um diese Zeit war in der Innenstadt noch nicht so viel los. Geld hatte er kaum noch, so dass er sich auch nicht in ein Café setzen konnte, um in einem Buch zu lesen. Denn das war seine zweite Leidenschaft gleich neben dem Zeichnen. Bücher. Und hier besonders Kriminalromane, die einen geschichtlichen Bezug hatten. Daraus konnte man so viel erfahren.

Er sah sich um. Ob er sich einfach bei Leffers auf ein Sofa, das eigentlich für Kunden gedacht war, setzen sollte? Der Laden war groß und meistens gut besucht. Sicher fiele er gar nicht weiter auf. Also ging er auf den Eingang zu. Doch auch hier war die Anzahl der Kunden noch überschaubar. Also verwarf er seinen Plan.

Dann fiel sein Blick auf das Parkhaus. Klar, dachte er, warum nicht. Da war es warm und meistens still. Gute Voraussetzungen, um weitere Kapitel zu lesen. Er ging auf das Gebäude zu und verschwand dann im Treppenhaus.

Und plötzlich hatte er eine Idee. Was war, wenn er einen Wagen fand, der nicht verschlossen war. Er würde sich einfach hineinsetzen in die weichen Polster. Und wenn der Besitzer ihn erwischte, dann würde er einfach sagen, dass er sich wohl geirrt hätte und glaubte, den Fahrer zu kennen. Er würde sich mehrfach entschuldigen und anbieten, den Wagen am Wochenende zu waschen. Er musste grinsen. Seiner Fantasie war jedenfalls keine Grenze gesetzt.

Er ging also ins Parkhaus und schlenderte wie zufällig an den Wagen vorbei. Sein Blick fiel auf einen schicken Sportwagen. Das wäre doch mal was, dachte Erik und sah sich noch einmal um, bevor er die Tür probierte. So ein Mist, der Fahrer hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Also schlenderte Erik weiter. Und plötzlich stutzte er. War das nicht der Wagen seines Vaters? Wieso stand der hier im Parkhaus? Eigentlich wollte sein Vater doch nach Oldenburg zur Arbeit fahren. Oder hatte er beim Frühstück etwas von einem Arzttermin oder so gesagt? Erik wusste es nicht, weil er meistens abschaltete, wenn die restliche Familie sich unterhielt, wobei seine Schwester Lotte immer am lautesten war. Nein, er hatte sich bestimmt keine Schwester gewünscht, als seine Mutter schwanger wurde. Und schon gar keine wie Lotte, diese vorlaute Göre. Immer musste sie im Mittelpunkt stehen. Die ganze Welt drehte sich praktisch um sie.

Erik sah sich um. Noch immer war er alleine im Parkhaus. Und bevor sein Vater ihn hier erwischte, wenn er gleich zurückkam, machte er sich lieber auf den Weg nach draußen. Das wäre nun wirklich das Letzte, was er als Schulschwänzer gebrauchen konnte.

Erwischt

Regina sang leise vor sich hin, als sie das Essen für Georg vorbereitete. Noch immer spürte sie Sebastians Finger auf ihrer Hand. Der Geruch seines Rasierwassers hing noch an ihr, als sie mit ihrer Hand unter ihrer Nase entlangfuhr.

Auch die Stunden mit ihrer Freundin waren schön gewesen und diese hatte sie sogar gefragt, was mit ihr los sei, weil sie so fröhlich war. Regina hatte es auf den kommenden Frühling geschoben. Es stimmte ja auch, sie liebte die Natur, die Blumen, einfach alles, was sich darbot, wenn der dunkle Winter sich endlich verabschiedete.

Sie hörte, wie Georg ins Haus kam. Er steckte seinen Kopf zur Küchentür herein.

„Ich bin wieder da.“

„Das passt genau“, sagte sie und drehte sich zu ihm um, „das Essen ist gerade fertig. Ich bringe es gleich auf den Tisch.“

Er ging weiter zu seinem Arbeitszimmer, wo er immer zuerst seine Aktentasche abstellte und sein Jackett über den Stuhl hing. Dort zog er auch immer seine Schuhe aus, diese stellte er aber im Flur ab, nachdem er in seine Pantoffeln geschlüpft war. Jeden Abend dasselbe Ritual. Doch an diesem Tag konnte es Regina nicht wie sonst erreichen. Sie aß heute sogar wieder mit.

Das wunderte Georg, als er ins Esszimmer kam, doch er sagte zunächst nichts dazu. Vielmehr schnitt er ein ganz anderes Thema an, das Regina kalt erwischte.

„Ich habe heute bei unserem Zahnarzt angerufen“, sagte er.

Fast hätte Regina die Gabel fallen gelassen.

„Und man sagte mir“, fuhr er fort, „dass du dort gar nicht am Montag gewesen seist.“ Mit lauerndem Blick sah er sie nun an.

„Oh“, erwiderte sie, als sie sich wieder gefangen hatte. „Ich habe zu einem anderen gewechselt. Hatte ich das gar nicht erzählt?“ Sie versuchte, gelassen zu klingen. Es gelang ihr nur mäßig.

„Nein, das hast du nicht. Aber warum? Was war mit unserem Zahnarzt denn nicht mehr in Ordnung?“

„So ist es nicht“, fuhr sie mit ihrer Ausrede fort und sie merkte, dass sie sich in immer mehr Lügen zu verstricken drohte. Doch was sollte sie machen. „Es war nur so, dass eine Kollegin gemeint hat, dass der andere Zahnarzt, also, es ist eine Frau, dass diese noch etwas moderner ausgerichtet sei.“

„Moderner? Was das heißt, haben wir ja gesehen. Du warst anschließend drei Tage krank.“ Er stieß mit seiner Gabel in eine Kartoffel und Regina hatte das Gefühl, er träfe ihre Hand. Sie zuckte automatisch zurück.

„Ja“, lenkte sie ein, „du hast vollkommen recht. Wahrscheinlich war es ziemlich dumm von mir. Ich werde in Zukunft wieder zu unserem alten Zahnarzt gehen.“

„Es ist natürlich deine Entscheidung“, sagte er und klang versöhnlicher. Wenn er etwas verabscheute, dann waren es Veränderungen.

„Schon gut, ich sehe meinen Fehler ein“, bekräftigte sie. „Lass uns das jetzt einfach vergessen und das Essen genießen. Es ist frischer Mangold, ich hoffe, es schmeckt dir.“

„Wie immer ganz hervorragend“, lobte er und klang wie jeden anderen Abend auch.

Und so konnte Regina wieder aufatmen und sich wohlig in ihren Erinnerungen zurücklehnen. Sebastian. Eine ganze Woche sollte es jetzt dauern, bis sie ihn wiedersah. Eine endlos lange Zeit. Sie kam ihr wie eine Ewigkeit vor.

„Wir könnten am Wochenende mal etwas unternehmen und wegfahren“, riss Georg sie aus ihren Träumen, „was meinst du?“

„Wegfahren?“, wiederholte sie und ahnte, dass sie nicht gerade begeistert geklungen hatte. „Nun, woran hast du denn gedacht?“, schob sie schnell ein paar Töne höher nach.

„Hm, vielleicht mal an die Ostsee, nach Lübeck oder so. Da gibt es doch dieses wunderbare Restaurant, in dem wir mal vor Jahren gegessen haben. Was meinst du?“, antwortete er und stocherte weiter in dem Gemüse herum, so als schmecke es ihm doch nicht.

„Lübeck?“, fragte sie, als hätte er gerade vorgeschlagen, sie an den Nordpol zu verbannen.

„Das hat dir sonst doch immer ganz gut gefallen dort oben.“ Nun sah er sie an.

„Ja, du hast recht“, bestätigte sie, „es ist nur so plötzlich. Aber ja, die Idee an sich ist gut.“

„Schön. Dann werde ich morgen mal ein Hotel für uns buchen von Freitag bis Montag.“

„Bis Montag?“

„Du kannst dir doch sicher freinehmen, oder?“

„Naja, ich war gerade erst drei Tage krankgeschrieben, ich weiß nicht ...“.

„Du machst das schon“, beharrte er auf seiner Idee.

Sicher, dachte Regina. Denn eigentlich war das mit der Arbeit überhaupt kein Problem. Sie wusste schon lange, dass man gut und gerne auch ohne sie zurechtgekommen wäre. Es war nur ein Entgegenkommen Ihres Chefs, dass er sie noch nicht für eine jüngere Auszubildende auf die Straße gesetzt hatte, weil sie von Anfang nach ihrer Ausbildung in der Firma arbeitete. Und er kannte Georg.

Viel schlimmer als das Problem mit der Arbeit war allerdings der Gedanke, Georg ganze drei Tage komplett ausgeliefert zu sein. Wie sollte sie das Wochenende nur überstehen? Sonst zog er es doch auch vor, sich schon am Samstag gleich nach dem Frühstück in sein Arbeitszimmer zu verkriechen und nur zu den Mahlzeiten rauszukommen. Warum also zum Teufel wollte er ausgerechnet jetzt mit ihr wegfahren? Drei Tage mit Georg, das hieß auch, dreimal Sex. Das gehörte für ihn als Pflichtübung zu Urlaubstagen und Wochenendausflügen dazu. Es graute ihr jetzt schon vor dem Gedanken, dass er sie alleine nur mit seinen Händen berührte. Von anderen Dingen ganz zu schweigen.

„Ich bin fertig“, sagte er und sie schrak auf. „Sehr köstlich ...“.

Er stand auf und verschwand im Schlafzimmer, wo er sich bestimmt neue Unterwäsche holte, um sich zu duschen und umzuziehen. Den Tag abwaschen, nannte er es. Ja, Regina hätte sich dem gerne angeschlossen und ihr bisheriges Leben in dem Abfluss verschwinden lassen.

 

Sebastian war, ohne entdeckt zu werden, am Abend wieder bei seinem Wagen im Parkhaus angekommen. In Oldenburg war er mit dem Taxi gefahren, was keinem von den Kollegen aufgefallen war. Das musste nicht immer so bleiben, doch im Moment wiegte er sich in Sicherheit. Und es wäre ja auch immer nur der Donnerstag. Immer. Dachte er, als er den Wagen startete. Das fühlte sich so an, als sei es von nun an sein Leben, das er führen würde. Den gestohlenen Donnerstag mit Regina. Mit ihrer Nähe. Ihre Hand in seiner. Wann würde er mehr von ihr wollen? Wäre das nicht das Normalste auf der Welt, dass er sie irgendwann auch küssen möchte? Oder gar mehr? Und wie würde sie darauf reagieren? Oder dachte sie bereits jetzt daran und wartete nur darauf, dass er die Initiative ergriff? Nein, dachte er, so eine Frau war Regina nicht. Sie las Liebesromane. Bücher, die davon erzählten, was Leidenschaft wirklich bedeutete. So jedenfalls hatte sie es beschrieben. Und damit hatte durchgeklungen, dass sie diese in ihrem Alltag nur aus Büchern kannte. Er hätte zu gerne nachgefragt, was sie mit ihrem Mann für eine Ehe führte. Doch dafür war es eindeutig noch zu früh. Es ging ihn im Grunde auch nichts an. Nein, er würde ihr die Zeit geben, bis sie sich ihm öffnete.

Zuhause stand das Abendbrot bereits auf dem Tisch und Lotte saß auf ihrem Platz und malte in ein Bilderbuch.

„Papa“, rief sie aus, als Sebastian hereinkam. Sie sprang von ihrem Stuhl und lief in seine Arme.

„Mein Schatz“, sagte er und drückte seine Tochter an sich. Dieses kleine Bündel Mensch, das er in die Welt gesetzt hatte und für das er die Verantwortung trug. Sie hatte ein Recht darauf, geliebt zu werden und fröhlich zu sein. Er durfte ihre kleine Welt nicht zerstören.

„Hallo Schatz“, sagte Marina, als sie in die Küche kam. Sie war im Esszimmer gewesen, um nach einer bestimmten Vase Ausschau zu halten. Sie hatte sie aber nicht gefunden.

„Marina“, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf den Mund, während Lotte noch in seinen Armen baumelte.

„Wir können gleich essen. Holst du Erik bitte?“

„Sicher“, sagte er und setzte Lotte ab. „Setz dich schon mal an deinen Platz, mein Schatz, ich hole deinen Bruder.“

Sebastian ging auf den Flur und schluckte hart. Er wunderte sich über sich selber, dass er noch in der Lage war, seiner Frau so unverblümt in die Augen zu sehen. Oder sah sie es ihm schon an, dass er sie betrog? Ahnte sie, dass etwas nicht stimmte, weil er sich anders benahm? Aber machte er das wirklich? Er dachte einen Moment angestrengt nach. Nein, bestätigte er sich dann selber, sie kann es nicht wissen. Und eigentlich benimmt sie sich ja auch wie immer. Ich bin es, der jetzt ein Problem hat. Er hängte sein Jackett an die Garderobe und krempelte die Ärmel seines Hemds hoch. Dann knöpfte er den obersten Knopf auf. Dabei fuhr seine Hand unter seiner Nase entlang und er roch den Duft von Reginas Parfum. So sinnlich und weich. Atemberaubend, aber in diesem Moment nicht tragbar, entschied er und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Ausgiebig und gründlich, damit nichts von der verbotenen Tat mehr an ihm haftete. Nicht hier in diesem Haus. Wenigstens das war er seiner Familie schuldig.

„Erik? Kommst du zum Essen?“, rief er dann, als er im Flur an der Treppe stand. Er wartete, bis sich die Tür zum Zimmer des Jungen öffnete und ging dann in die Küche zurück. „Das sieht ja lecker aus“, lobte er, „aber ich hätte gerne auch mitgeholfen, den Tisch zu decken.“

„Ach ja?“ Marina lachte. „Das sind ja ganz neue Anwandlungen. Hast du etwa ein schlechtes Gewissen?“ Lotte kicherte dazu.

Ups. Erwischt, dachte Sebastian. Er half eigentlich nur am Wochenende in der Küche mit, wenn überhaupt. Ja, er war ein Faulpelz geworden, was das anbelangte. Aber Marina machte es ihm auch leicht, seit sie mit den Kindern ganztags zuhause geblieben war.

„He“, sagte sie jetzt, weil er nichts erwiderte, „das war ein Scherz. Ich mache das wirklich gerne. Und du hast ja deinen Job, der dich voll auslastet. Das passt schon.“

„Aber sobald du wieder eine Stelle gefunden hast, dann wird es anders“, beeilte Sebastian sich zu sagen. „Ich weiß, dass ich dich mit allem ziemlich alleine lasse. Das tut mir leid, ehrlich.“

Sie sah ihn forschend an. Es war wirklich besser, dass er langsam wieder so wurde, wie vor der Begegnung mit Regina. Zum Glück kam Erik in die Küche. So lenkte sich für einen Moment die ganze Aufmerksamkeit auf den Jungen.

„Schon wieder Käse“, murmelte Erik und zeigte mit langem Zeigefinger auf den Teller, auf dem der Käse von Marina liebevoll angerichtet worden war.

„Aber du magst doch Käse“, erwiderte seine Mutter.

„Ist ja auch so.“ Erik lümmelte sich auf seinen Stuhl.

Sebastian fiel auf, dass er gar nicht wie sonst üblich seine Ohrstöpsel trug. Und außerdem hatte er ihm einen ziemlich vieldeutigen Blick zugeworfen, als er sich gesetzt hatte. Was hatte das zu bedeuten? Wollte er sich plötzlich an der Familienkonversation beteiligen? Das wäre ja wirklich schön.

„Hast du es dir noch einmal überlegt?“, wandte sich Sebastian nun an seinen Sohn, der ihn fragend ansah. „Ich meine wegen des Fußballspiels am Wochenende.“

„Hm“, machte Erik, „kein Bock.“

„Schade. Das wäre mal wieder etwas gewesen, dass wir beide ganz alleine unternehmen könnten.“

„Ich denk drüber nach.“

Ich denk drüber nach? Sebastian fand seine Vermutung, dass etwas mit seinem Sohn nicht stimmte, bestätigt. Hatte er vielleicht eine Arbeit in Mathe verhauen und versuchte so, die Eltern für sich einzunehmen, damit es kein Donnerwetter gab? Aber eigentlich war er ganz gut geworden in Mathe im letzten halben Jahr. Und auch die anderen Fächer lagen ihm. In Kunst hatte er sogar immer eine eins. Das bewunderte Sebastian am meisten an seinem Sohn, dass er so begabt war. Er selber hatte diese Gabe nicht. Er arbeitete am liebsten mit Zahlen. Doch für ein Mathematikstudium hatten seine Bemühungen nicht ausgereicht. Das bedauerte er Immer noch, denn er wäre gerne Lehrer geworden.

Lotte übernahm nun wie gewohnt die Gesprächsführung und erzählte in bunten Farben von ihrem aufregenden Tag in der Schule. Sie hatte schon wieder drei neue Freundinnen gefunden, die ganz in der Nähe wohnten. Sie waren nur eine Klasse weiter als sie selber. Marina schmunzelte und Sebastian schwoll das Herz an vor so viel Glück. Seine Familie war einfach perfekt. Nun ja, oder fast. Kleine Ecken und Kanten gab es ja in jedem Haus. Und er hatte jetzt ein Geheimnis, das niemals an die Oberfläche gelangen durfte.

Erik indes wunderte sich, dass sein Vater gar nichts von seinem Tag erzählte. Er hätte wirklich zu gerne gehört, warum sein Wagen in Leer im Parkhaus gestanden hatte am Vormittag. Doch nichts dergleichen geschah. Mein Vater hat also ein Geheimnis dachte er, genau wie ich. Denn selber konnte Erik das Thema ja auch nicht anschneiden, weil er die Schule geschwänzt hatte. Es war besser, wenn seine Eltern das niemals erfuhren.

Chaostage

Sie wusste, dass es sich nicht aufhalten ließ. Und schließlich saß Regina neben Georg im Wagen und er fuhr los Richtung „schönes langes Wochenende“, wie er es genannt hatte. Aus der Traum von Nächten im Zweitschlafzimmer, wo sie sich Sebastian ins Gedächtnis rufen konnte. Wenn sie mit Georg zusammen war, dann musste sie sich zusammenreißen. Er durfte nicht merken, was mit ihr los war. Nämlich, dass sie bis über beide Ohren verliebt war wie ein junges Ding. Und diese Gefühle, die hatte sie selbst in der Anfangszeit mit Georg nicht gehabt. Vielleicht war sie da auch einfach noch zu jung gewesen mit Anfang zwanzig. Ziemlich naiv war sie in die Ehe mit ihm geschlittert, weil er so erfahren und männlich auf sie gewirkt hatte. Er war damals schon fast dreißig Jahre alt und stand mit beiden Beinen sicher im Berufsleben. Und zwar ziemlich erfolgreich. Er hatte sich da schon einen Namen als IT-Fachmann gemacht und arbeitete nun in einem erfolgreichen Unternehmen in führender Position.

Sicher, Georg war kein schlechter Mensch. Er war eben Georg. Er sah ein Ziel und verfolgte es solange, bis er es erreicht hatte. Er sah weder nach rechts noch nach links. Bei ihm ging immer alles geradeaus. Da war kein Platz für Fantasie.

Regina hingegen war schon damals eine Tagträumerin gewesen. Sie hatte nach dem Abitur einiges ausprobiert und war schließlich als Auszubildende zur Versicherungskauffrau über gute Kontakte ihrer Eltern gerade noch untergekommen. Sie hatte die Schule einfach nicht ernst genug genommen und einen ziemlich schlechten Notendurchschnitt gehabt. Nun hatte sie den Salat. Georg hatte sich schon von Anfang an als ihr Retter aufgespielt. Er wollte auch, dass sie aufhörte zu arbeiten. Doch da sie keine Kinder planten, hatte sie sich standhaft dagegen gewehrt.

Wie immer fuhr Georg viel zu schnell über die Autobahn. Regina krallte ihre Finger in den Sitz. Wie oft hatte sie ihn schon gebeten, doch etwas vom Tempo zu gehen. Ihr zuliebe. Und jedes Mal, wenn sie es ansprach, dann tat er ihr den Gefallen. Allerdings widerwillig. Deshalb sprach sie es jetzt erst gar nicht mehr an. Wenn es zu brenzligen Situationen kam, wenn er zu schnell und viel zu dicht auffuhr, dann schloss sie zusätzlich die Augen. Was war, wenn sie jetzt einen tödlichen Unfall wegen Georg erlitt? Was sollte Sebastian denken, wenn sie am nächsten Donnerstag nicht zum Bahnhof kam? Dass sie es sich anders überlegt hatte? Dass sie ihn einfach ohne ein weiteres Wort sitzen ließ?

„Georg!“, rief sie plötzlich zu ihrer eigenen Verwunderung aus, „kannst du bitte etwas vom Gas gehen.“

Irritiert sah er sie von der Seite an und begann zu bremsen. „War ich wieder zu schnell für dich?“

Sie atmete aus, als er wieder auf die rechte Spur fuhr und langsamer wurde.

„Ja“, sagte sie zurückhaltender, „ich hatte einfach Angst, verstehst du.“

„Schon gut. Ich hab ja immer gesagt, du sollst es sagen, wenn mit mir wieder mal die Pferde durchgehen. Du kennst mich ja.“

Allerdings, dachte sie. Doch wenigstens fuhren sie jetzt nicht mehr schneller als 140 Stundenkilometer, bis sie schließlich in Lübeck ankamen.

Georg checkte für sie ein und dann gingen sie aufs Zimmer, um sich frischzumachen. Er hatte für Samstagabend einen Tisch im Wullenwever bestellt. Und heute wollten sie sich einfach mal treiben lassen und noch in die Stadt gehen, um am Abend direkt im Hotel zu speisen. Denn auch hier war die Karte ganz hervorragend, wie er betonte, als er sich geduscht hatte und ein frisches Hemd überstreifte.

Regina hatte währenddessen auf dem Bett gelegen und an die Decke gestarrt. Sie hatte keine Lust, mit Georg in Lübeck herumzulaufen. Sich mit ihm zu unterhalten. Oder besser gesagt, ihm stundenlang zuzuhören, wenn er begeistert von den neuesten Errungenschaften im IT-Bereich referierte. Es hatte ihn noch nie gestört, wenn sie dann immer nur „Hm“ oder „Aha“ sagte, wenn es gerade passend schien. Für sie waren Computer dazu da, um nach Dingen zu suchen, für die man sich interessierte. Zum Beispiel nach Büchern oder Rezepten. Wie diese Geräte funktionierten, das wollte sie gar nicht wissen. Doch es gab kein Entkommen. Sie kannte mittlerweile sogar Fachbegriffe aus der Branche, die sie vermutlich nicht einmal buchstabieren konnte.

Sie streiften Hand in Hand durch schmale Gassen und es stimmte ja auch, musste sie dann doch zugeben. Die schönen Hinterhöfe der Altstadt von Lübeck waren sogar zum Weltnaturerbe ernannt worden. Lübeck hatte zauberhafte Ecken mit alten gepflasterten Straßen und kleinen Häuschen sowie Cafés und Weinstuben. Eigentlich war es töricht von ihr, die Zeit hier nicht zu genießen. Also beschloss sie, ein wenig mehr Interesse zu zeigen und sich an Georgs Vorträgen, wie sie es insgeheim nannte, zu beteiligen. Wahrscheinlich gingen die Stunden, bis sie endlich wieder nach Hause fuhren, so auch viel schneller vorbei.

Als sie nach dem zweiten Glas Rotwein schließlich ins Hotel zurückkehrten, um dort an ihrem Tisch im Restaurant Platz zu nehmen, war sogar Georg lockerer geworden und legte seine Krawatte ab und knöpfte sein Hemd auf. Und wenn er so war wie jetzt, so nahbar, weil der Wein seinen harten Unterton etwas abmilderte, wenn er etwas sagte, ja, dann erinnerte sich Regina sogar daran, warum sie sich einmal vor langer Zeit in ihn verliebt hatte. Er war ja nicht immer so herrisch wie heute gewesen. In der Anfangszeit ihrer Verliebtheit, da hatte er wirklich nichts unversucht gelassen, um ihr Herz zu erobern. Er führte sie in teure Restaurants, schickte ihr Blumen nach Hause mit kleinen Kärtchen und rief manchmal mitten in der Nacht an, wenn er auf Geschäftsreisen war, weil er ihre Stimme hören wollte.

Ich verdanke ihm viel, dachte sie jetzt mit schlechtem Gewissen. Er fuhr sich gerade mit beiden Händen durch die vollen leicht angegrauten Haare und sah danach aus wie ein Lausebengel mit hochroten Wangen. Es würde ihm das Herz brechen, wenn er davon erfuhr, dass sie sich hinter seinem Rücken mit einem anderen traf. Denn hinter seiner akkuraten Fassade, da steckte auch ein sehr empfindsamer Mann, der irgendwie verlernt hatte, seine Gefühle zu zeigen.

Was mache ich nur?, fragte sich Regina, während sie ihm mit einem Lächeln mit dem Champagner zuprostete, den er für sie beide bestellt hatte. Und wenn ich am Donnerstag doch nicht zum Bahnhof gehe? Vielleicht schaffe ich es ja doch, Sebastian wieder zu vergessen. Ich lebe mein Leben einfach weiter wie vor diesem schicksalhaften Augenblick, als unsere Blicke sich trafen. Sie fand, das war ein guter Plan. Doch sie wusste, dass sie ihn niemals in die Tat umsetzen würde.

In der Nacht schlief sie ohne Widerwillen mit Georg.

Und am nächsten Tag besuchten sie die typischen Touristenangebote wie das Holstentor, das Buddenbrockhaus und das Grasshaus. Am Abend aßen sie beim Wullenwever ein exquisites Gängemenü, das zu einer wahren kulinarischen Reise für den Gaumen wurde. So viele Gerüche und Geschmacksverführungen. Das hatte Regina tatsächlich vermisst. In den letzten zwei Jahren war Georg in seinem Beruf so eingespannt gewesen, dass sie kaum noch ausgingen außerhalb der Urlaubssaison, die sich auch auf höchstens vierzehntägige Ausflüge beschränkte. Sicher hatte Georg seine Gründe dafür, warum er sich so von seiner Firma einspannen ließ. Er hatte es in die oberste Führungsetage geschafft. Darauf konnte man stolz sein. Aber sie wusste auch, dass sie sich nach etwas sehnte, das er ihr schon lange nicht mehr gab. Auch am Samstag lagen sie sich lange in den Armen, nachdem er sie nach allen Regeln der Kunst verführt hatte. Danach schliefen sie beide schnell ein.

„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagte er nun und küsste ihren Hals, als sie sich schlaftrunken zu ihm umdrehte.

„Es ist Sonntag“, murmelte sie. Keine Kopfschmerzen, war das Erste, was sie dachte. Zum Glück. Denn sie hatte sehr viel Rotwein getrunken, was ihr in der Regel nicht gut bekam am nächsten Tag.

„Schon“, sagte er und strich sachte über ihren Rücken, was sie schon immer sehr gemocht hatte. „Wir werden nach dem Frühstück noch einen kleinen Ausflug machen.“

Sie horchte auf. Was versuchte er da mit ihr? Ahnte er doch, dass sie sich immer weiter von ihm entfernt hatte und wollte jetzt noch retten, was zu retten war?

„Ausflug?“, wiederholte sie und drehte sich zu ihm um. „Wohin?“

Er lächelte, wie er schon lange nicht mehr gelächelt hatte.

„Wir fahren nach Kopenhagen.“

„Kopenhagen?“

„Ja. Du magst Dänemark doch so sehr. Und es ist mir gelungen, dort für heute Abend einen Tisch im Noma zu reservieren.“

Das war etwas, wovon sie schon seit Jahren träumte. Einmal in dem besten Restaurant der Welt zu essen. Doch sie wusste auch, dass das für Normalsterbliche wie sie völlig unmöglich war. Die Tische gab es nur sehr begrenzt und sie waren auf Jahre im Voraus ausgebucht.

„Noma“, sagte sie und klang fast ehrfürchtig dabei. „Wie ist dir denn das gelungen?“

„Über meinen Chef“, gab er zu. „Er hat Kontakte zum Inhaber und gestern Abend hat er mir bestätigt, dass wir einen Tisch haben können. Wir bleiben über Nacht und fahren dann am Montag direkt nach Hause. Na, was sagst du dazu?“

„Ehrlich gesagt, ich bin sprachlos.“ Sie musste die aufkommenden Emotionen mit aller Macht unterdrücken. Für diesen Moment waren selbst die Dramen um sein verfluchtes fünfeinhalb Minuten Frühstücksei vergessen. Und auch Sebastian war in weite Ferne gerückt. Wenn ich immer so glücklich mit Georg sein könnte, dann bräuchte ich doch gar keinen anderen Mann, dachte sie. In diesem Moment beschloss sie, am kommenden Donnerstag zuhause zu bleiben und nicht zum Bahnhof zu gehen.

 

Sebastian hatte sich fürs Wochenende einen Haufen Akten mit nach Hause genommen, um sie abzuarbeiten. Marina wusste, dass das manchmal nötig war und zeigte Verständnis dafür, als er sich am Samstag bereits nach dem Frühstück in seinem Arbeitszimmer verkroch. Sie wollte mit Lotte am Vormittag in die Leeraner Innenstadt zum Shoppen fahren, weil das Mädchen schon aus vielen Kleidern, die erst ein gutes Jahr alt waren, wieder herausgewachsen war. Außerdem gab es schon die neue Frühlingsmode und Lotte war ein Mädchen, das sich sehr für Klamotten interessierte. Genauso wie Marina, die sich allerdings, seitdem sie überwiegend zuhause war, eine Art Schlapperlook angeeignet hatte. Doch heute wollte auch sie mal zuschlagen, hatte sie lachend gesagt.

„Ich wünsche euch Mädels viel Spaß“, hatte Sebastian gesagt und beiden noch einen Kuss auf die Wange gedrückt.

Erik hatte sich auf den Weg zu seinem Kumpel gemacht, bei dem er bis zum Sonntag bleiben würde. Sie wollten mal so richtig die Nächte durchzocken, hatte er gesagt, als er seine Konsole in den Rucksack schob. Sebastian und Marina gefiel es zwar nicht, wenn der Junge so viel Zeit mit Computerspielen verbrachte, doch so lange seine Noten nicht absackten, drückten sie ein Auge zu.

Es war still im Haus, als alle gegangen waren. Sebastian saß an seinem Schreibtisch und sah aus dem Fenster. So wird es immer sein, wenn ich mich auf das Abenteuer mit Regina einlasse, dachte er. Ich werde alleine sein. Ohne Marina und die Kinder. Bei einer Scheidung gäbe es ein vierzehntägiges Besuchsrecht und er würde seine Kinder im Zeitraffer heranwachsen sehen, ohne noch einen Draht zu ihnen zu haben. So ein Vater wollte er einfach nicht sein. Sein Herz zog sich zusammen, als er nun das Bild auf seinem Schreibtisch betrachtete. Marina mit Erik, als er noch kleiner war und mit Lotte als Baby auf dem Arm. Das waren die Menschen, die zu ihm gehörten. Nicht Regina. In Gedanken malte er sich aus, dass fortan ein Bild von ihr auf seinem Schreibtisch stünde. Ohne Kinder. Ohne Marina. Wäre doch sein Wagen nur an diesem besagten Donnerstagmorgen nicht verreckt. Er wäre von sich aus nie auf den Gedanken gekommen, sich nach anderen Frauen umzusehen. Erstens hatte er dazu keinen Grund, weil er Marina wirklich liebte. Und zweitens hatte er auch gar keine Zeit dazu, weil sein Job ihn ziemlich in Anspruch nahm. Er war der Ernährer ihrer kleinen heilen Welt. Ein neues Haus, zwei Autos und zwei heranwachsende Kinder waren kein finanzieller Pappenstiel.

Sie werden im Haus wohnen bleiben, wenn ich gehe, dachte er bei sich. Er würde ihr Zuhause nicht zerstören. So bliebe ihm höchstens noch Geld für eine kleine Zweizimmerwohnung. War sie das wirklich wert?

Er raufte sich die Haare. Warum hatte das Schicksal ausgerechnet auf ihn gezeigt, als das Rad aufgehört hatte, sich zu drehen? Es war doch alles gut. Sein Leben war schön.

Sebastian stand auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Er setzte sich an den Tisch und roch noch den Duft seiner Familie. Diese Wärme, die ihn wie ein behütender Schild umgab. Ihn umarmte und in Sicherheit wog, dass er sich auf sie verlassen konnte und sie sich auf ihn. Lotte würde es niemals verstehen, wenn sie ihren Papa nicht mehr jeden Tag sehen konnte. Sie liebte ihn abgöttisch. Vielleicht sogar mehr als Marina, eben so eine Vater-Tochter-Sache. Und meistens ließ er ihr auch mehr durchgehen als ihre Mutter. Vielleicht war es einfach das. Doch Marina nahm es ihm nicht übel, dass er den besten Vater der Welt spielte. Sie selber war in ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen und gönnte es ihrer Tochter, so unsagbar geliebt zu werden.

Der Kaffee war durchgelaufen und Sebastian schenkte sich etwas in einen Becher ein. Er lehnte an der Küchenzeile und trank einen ersten Schluck. Dann sah er, dass Erik seine Ohrstöpsel für sein Handy vergessen hatte. Aber sicher brauchte er sie gar nicht, wenn er mit seinem Kumpel die ganze Zeit vor der Konsole hockte. Er stellte seinen Kaffeebecher beiseite, um die Ohrstöpsel in Eriks Zimmer zu bringen, bevor Lotte sie später in die Finger bekam und damit ihren Teddy beschallte.

Eigentlich machte Sebastian das nie. In Eriks Zimmer gehen, wenn der Junge nicht da war. Gerade im Teenageralter waren Jugendliche da sehr empfindlich, wenn man in ihren Sachen stöberte. Das hatte Sebastian ja auch gar nicht vor. Er öffnete die Tür und ging direkt auf den Schreibtisch zu, um die Kopfhörer dort abzulegen und sofort wieder zu gehen. Doch dann fiel sein Blick auf eine abgewetzte Mappe, auf der Kunstunterricht stand. Er wusste zwar, dass sein Sohn in diesem Fach immer eine eins hatte, doch wann hatte er mal ein Bild von Erik zu Gesicht bekommen? Und ehe er sich versah, hatte Sebastian die Mappe aufgeklappt. Es verschlug ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Das Gesicht einer Frau, die er so aus dem Stegreif nicht kannte. Vielleicht war es auch nur Eriks Fantasie entsprungen oder einem Bild aus einer Zeitschrift nachempfunden. Aber das war auch egal. Denn die Zeichnung war so fein und doch exakt, dass Sebastian das Gefühl hatte, dass diese Frau ihn direkt ansah mit ihren großen hellen Augen. Keine Frage, sein Sohn war ein Genie. Er war ein echter Künstler. Wieso weiß ich davon nichts?, fragte sich Sebastian, wieso habe ich ihn nie nach seinen Arbeiten für die Schule gefragt? Und Erik war nicht so gestrickt wie Lotte, die ihm ihre Bilder so lange unter die Nase hielt, bis er sich endlich damit beschäftigte. Nein, Erik war sensibel. Jeder Strich mit dem feinen Bleistift, den dieses Kunstwerk darstellte, sagte es ihm. Der Junge spielte zwar immer den genervten Teenager, der am liebsten seine Ruhe hatte. Doch insgeheim suchte er sicher die Nähe zu seiner Familie.

Mechanisch zog Sebastian den Stuhl an Eriks Schreibtisch zurück und setzte sich, um weiter in der Mappe zu blättern. Er würde alles so wieder zurücklegen, dass Erik es nicht merkte, nahm er sich vor. Doch nun wollte er mehr sehen. Ein großer Raubvogel, eine Katze und ein Rudel Hunde. Und jedes dieser Bilder hätte Sebastian sich ohne zu zögern an die Wände gehängt. Schön in feine goldene Rahmen gesteckt würden sie auf großes Interesse auch bei seinen Kunden in der Bank stoßen, da war er sich sicher.

Plötzlich stutzte er, als er auf ein Schriftstück stieß, das mit dem Namen von Marina unterschrieben war. Entschuldigung, stand da in der Überschrift. Datiert mit dem kommenden Donnerstag. Das Schreiben befreite Erik vom Sportunterricht bis auf weiteres. Und eines war sonnenklar, das war nicht Marinas Handschrift. Erik hatte die Unterschrift seiner Mutter gefälscht, um nicht mehr am Sportunterricht teilnehmen zu müssen. Niemals hätten wir ihm das durchgehen lassen und abgesegnet, dachte Sebastian. Aber dass Erik so weit gehen würde, Urkundenfälschung zu begehen, das war schon ein herber Schlag. Wie soll ich damit bloß umgehen?, fragte sich Sebastian. Sollte er es Marina zeigen, wenn sie zurück war? Sie würde bestimmt einen Tobsuchtsanfall kriegen bei sowas. Und vermutlich ganz zu Recht. Zum einen dieser Betrug und dann dieser Rückzug von sportlichen Aktivitäten. Gerade Marina hatte für so etwas sicher gar kein Verständnis. Für sie war es von jeher wichtig gewesen, dass Kinder sich bewegten. Deshalb war sie insgeheim auch ein wenig enttäuscht, dass Erik so viel Zeit vor seiner Spielekonsole verbrachte.

Sebastian entschied sich dafür, das Schriftstück in der Kunstmappe zu belassen und bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit ein Vier-Augen-Gespräch mit Erik zu führen. Vielleicht hatte er so noch eine Chance, an den Jungen heranzukommen, wenn er sich als sein Verbündeter präsentierte.

Der Kaffee in der Küche war kalt geworden und Sebastian kippte ihn in den Ausguss. Plötzlich wollte er einfach nur noch raus hier. Er musste an die Luft. Er schnappte sich seine Jacke, um zum Supermarkt zu fahren. Das Wochenende wollte er nur mit Marina verbringen, ohne an eine andere Frau auch nur zu denken. Champagner, etwas Käse und Antipasti. Das hatten sie schon viel zu lange nicht mehr gemacht. Er würde sie nach Strich und Faden verwöhnen. Und noch einiges mehr.

Später, als Lotte längst im Bett war, nachdem sie Sebastian jedes neue Kleid und jeden Pullover wie ein kleines Supermodel präsentiert hatte, saßen Sebastian und Marina zusammengekuschelt auf dem Sofa.

„Champagner?“, fragte sie und zog die Brauen hoch, als er mit den Gläsern zu ihr gekommen war. „Habe ich unseren Hochzeitstag vergessen?“ Sie lächelte freudig.

„Das würdest du doch nie“, erwiderte er und reichte ihr ein Glas.

Sie stießen an, nachdem er sich zu ihr gesetzt hatte.

„Ich habe uns auch etwas Käse, Brot und sowas mitgebracht, du weißt schon“, fuhr er dann fort, während er ihr mit den Fingern über den Nacken fuhr. „Ich hoffe, du hast Lust darauf.“

„Hab ich“, murmelte sie und machte Geräusche wie ein schnurrendes Kätzchen. „Es ist schon viel zu lange her, dass wir es uns mal so richtig gemütlich gemacht haben. Nur wir beide.“

„Du hast recht. Weißt du was, ich gehe jetzt in die Küche und bereite alles vor. Bleib du schön hier auf dem Sofa, du kümmerst dich doch sonst schon um alles.“

„Schon überredet“, sagte sie und griff zur Fernbedienung. Sie sahen beide gerne Serien auf den Streamingdiensten und hatten vor ein paar Tagen eine neue angefangen, wo es um zwei vermisste Mädchen ging.

Der Champagner war leer und eine zweite Flasche Rotwein angebrochen, als sie bereits in der zweiten Staffel angekommen waren.

Sebastian fuhr mit seinen Fingern durch Marinas lange blonde Haare. „Es ist ein schöner Abend“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie bekam eine Gänsehaut und wandte sich ihm zu. Dann küssten sie sich lange und liebten sich noch auf dem Sofa.

Der Alltag

So schön das Wochenende auch gewesen war, am Montag ging wieder alles von vorne los. Sebastian hatte bisher noch keine Gelegenheit gefunden, Erik auf den Brief in seiner Zeichenmappe anzusprechen. Als der Junge pünktlich am Sonntag zum Abendbrot erschienen war, war auf jeden Fall nicht der richtige Zeitpunkt für ein Familiendrama gewesen. Es lag eine fast spürbare Idylle über ihnen allen, als sie sich erzählten, was am Wochenende gewesen war. Selbst Erik berichtete von seinen Zockernächten, als sei es ein großes Abenteuer gewesen.

Und Lotte konnte natürlich gar nicht mehr aufhören, ihre neuen Kleider vom Knopf bis zur letzten Naht zu beschreiben. Und wann sie was anziehen würde und so weiter und sofort.

Marina hatte Sebastian immer wieder verschmitzt angelächelt. Das war seit langem der beste Sex, hatte sie ihm am Samstagabend auf dem Sofa ins Ohr geflüstert. Und er sah es genauso. Für ihn war es der Beweis, dass er seine Frau noch immer liebte. Für sie war es ebenso ein Beweis, nur unter anderen Vorzeichen. Natürlich dachte sie hin und wieder darüber nach, wie ihre Erotik so nach und nach den Bach runtergehen würde, desto länger sie zusammenwaren. Das gestern war genau das Gegenteil vom Ende aller Leidenschaft gewesen. Ja, sie war geradezu überrascht gewesen über Sebastians Bemühungen, sie zu befriedigen. Sanft und immer wieder fordernd, bis sie sich einfach nicht mehr wehren konnte. Das hatte sie an die Anfangszeit ihrer Beziehung erinnert, als sie tagelang nicht aus dem Bett gekommen waren.

„Seid ihr so weit?“, fragte Sebastian nun an seine Kinder gewandt, „ich muss langsam los, ich habe um halb elf ein wichtiges Meeting in Oldenburg.“

„Ja Papa“, quietschte Lotte und war selig, endlich ihre neue Jacke anziehen zu dürfen.

Und selbst Erik stimmte mit einem empathischen Nicken zu, was ihn fast wie einem normalen Jugendlichen erscheinen ließ, der nicht ständig nur durch geistige Abwesenheit glänzte.

„Bis heute Abend“, sagte Marina und sie küssten sich dieses Mal sogar auf den Mund.

„Ich wünsche dir einen schönen Tag“, sagte Sebastian und griff ihr an den Hintern, was er schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gemacht hatte.

Schließlich saßen alle im Wagen und er fuhr los.

 

Reginas Montag begann ruhiger und sie wurde von einem Sonnenstrahl geweckt, der durchs Hotelfenster schien. Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo sie war. Kopenhagen. Sie hatten gestern Abend tatsächlich im Noma gegessen. Ihre Freundin würde vor Neid platzen, wenn sie ihr beim nächsten Treffen davon erzählte. Sie hörte leise Schlafgeräusche von Georg neben sich. Sie wollte ihn nicht wecken, aber schlafen würde sie nun auch nicht mehr können. Also schlich sie sich ins Badezimmer und duschte sich ausgiebig.

Dänemark war so ganz anders als Deutschland. Überhaupt gefielen ihr die skandinavischen Länder viel besser. Die Landschaft, die Weite und nicht zuletzt die Herzlichkeit der Menschen. Auch im Hotel. Das war nicht aufgesetzte Freundlichkeit. Ja, hätte man sie gefragt, dann hätte sie sich zu einem Umzug hierher oder nach Schweden gerne überreden lassen. Vielleicht sollte sie das Thema einfach mal anschneiden, dachte sie, als das warme Wasser über ihren Rücken lief und ihr ein wohliges Gefühl bescherte. Als IT-Spezialist würde Georg sicher schnell einen neuen Job finden. Und außerdem konnte er bestimmt auch viel von zuhause aus arbeiten. Sie sah sich jetzt im großen dezent beleuchteten Spiegel durch die Glaswand der ansonsten gekachelten Dusche. Erkannte sie sich? Bin das wirklich ich?, fragte sie sich. Sie wirkte so schmal und erst da fiel ihr auf, dass sie vermutlich noch weiter abgenommen hatte. Das Essen an sich war ihr nicht mehr wichtig. Aber gestern im Noma, da war sie von einer Verzückung in die nächste verfallen. Die gute Küche hatte es ihr angetan. Sie selber kochte gar nicht so gerne, nur eben das, was nötig war. Sie lebte im Luxus mit Georg. All das wäre vorbei, wenn sie ihn verlassen würde. Es war klar, dass unterschwellig immer noch Sebastian in ihrem Kopf herumspukte. Sie trug sein Bild immer noch bei sich. Doch sie hatte es an diesem Wochenende nicht einmal aus dem Portemonnaie gezogen. Es wäre ihr wie ein Verrat an Georg vorgekommen, der sich doch so viel Mühe gab.

Sie erinnerte sich an ihr Entsetzen, als er den Kurztrip vorgeschlagen hatte. Und jetzt genoss sie alles in vollen Zügen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139990
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Liebesroman Herzklopfen Ostfrieslandliebe Gefühle Liebeskummer Humor Roman Abenteuer

Autor

  • Moa Graven (Autor:in)

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann. Seit 2020 schreibt die erfolgreiche Autorin auch Liebesromane.