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Das Labyrinth der Königin

von Maya Shepherd (Autor:in)
135 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 25

Zusammenfassung

Der Krieg der Farben führt in ein Labyrinth, das von einer dunklen Macht erschaffen wird. Eine Macht, die ihre Augen überall in der Welt hat und sich am Leid anderer ergötzt. Dieser magische Ort unterliegt den Bedingungen einer bösen Königin und ist zu schrecklich, um in der Realität existieren zu können. Aber im Reich der Träume sind der Grausamkeit keine Grenzen gesetzt. Ein letzter Kampf steht den Sieben bevor. Wird die Welt danach eine andere sein?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

Dienstag, 30. Oktober 2012

7.30 Uhr

Simonja, Arian, Nisha, Ember und Philipp ist es gelungen, den Vampiren zu entkommen, und sie erreichen Königswinter. Dort ist das Chaos ausgebrochen. Menschen gehen grundlos aufeinander los, Geschäfte werden geplündert und Gebäude stehen in Brand. Mit einem gestohlenen Auto flieht die Gruppe aus der Stadt.

10.00 Uhr

Nach der Nacht des Blutmondes, in der Rumolt und Freya starben, verlässt deren Tochter Eva den Nordturm. Im verschneiten Schlosshof wird sie von den Vampiren gefangen genommen und vor Königin Margery geführt. Diese bietet Eva an, bei ihr zu bleiben, und bittet sie, ihr einen Traum zu schenken, der sie ihren Kummer für eine kurze Zeit vergessen lassen soll.

11.00 Uhr

Maggy und Rosalie treffen im Kloster auf der Rheininsel Nonnenwerth ein, wo sich Joe seiner neuen Aufgabe als Erdenvater widmet. Als er erfährt, dass ihm nur noch zwei Sonnenaufgänge zum Leben bleiben, sobald er die Insel verlässt, bricht für ihn die Welt zusammen.

Rosalie hingegen ist endlich bereit, sich der Wahrheit über ihre Herkunft und der Vergangenheit zu stellen, in dem sie die ›Grimm-Chroniken‹ liest.

12.00 Uhr

Der Teufel offenbart Mary, dass der zweite schwarze Spiegel zusammengesetzt wurde und Elisabeth dadurch nun Macht über jeden Menschen ausüben kann, der sein eigenes Spiegelbild erblickt. Sie ist für die Unruhen in Königswinter verantwortlich.

Mary ist die Einzige, die Elisabeth besiegen kann. Dafür muss sie sich jedoch noch einmal in den schwarzen Spiegel begeben. Mary verlangt, dass der Teufel ihre Seele freigibt, sobald ihre Aufgabe erfüllt ist.

15.00 Uhr

Simonja und die anderen suchen im Haus von Embers Stieffamilie Schutz vor den Krawallen, als Nisha plötzlich grundlos auf ihre Tochter losgeht. Sie ist wie von Sinnen und versucht, Simonja zu töten. Arian gelingt es nur, sie davon abzuhalten, indem er ihr das Genick bricht. Danach ergreift er die Flucht, während Simonja um ihre Mutter trauert.

15.30 Uhr

Dorian und Jacob verstecken beide schwarzen Spiegel in dem Verlies der Schlosskommende und legen ein Feuer, um dafür zu sorgen, dass die Spiegel nie wieder gefunden werden. Dabei erleidet Jacob einen Herzinfarkt. Nur mit Dorians Hilfe schafft er es aus dem brennenden Gebäude.

16.00 Uhr

Margery erhält eine Nachricht von Simonja, die sie dazu auffordert, sich mit ihr nach Sonnenuntergang am Lebkuchenhaus zu treffen, um ihr dort das letzte Stück ihres Herzens zu übergeben.

21.30 Uhr

In Begleitung von Wilhelm wagt Margery sich zum Lebkuchenhaus. Dort trifft sie allerdings nicht auf Simonja, sondern auf Arian, der entschlossen ist, sie zu töten, um Simonja vor ihr zu beschützen. Unerwartet erhält Margery Unterstützung von Raben, die sich auf Arian stürzen und ihn umbringen.

22.00 Uhr

Von den Raben angelockt, finden Simonja, Ember und Philipp beim Lebkuchenhaus Arians Leichnam. Simonja ahnt, dass Margery dafür verantwortlich ist, und schwört Rache. Unerwartet tritt der Teufel in Erscheinung und offenbart ihr, dass sie seine Tochter ist. Ihre Abstammung macht sie zur roten Macht im Krieg der Farben. Durch sie hat der Teufel Einfluss auf den Ausgang des Kampfes.

Mittwoch, 31. Oktober 2012

1.00 Uhr

Eva erblickt im Spiegel Elisabeths Gesicht und gerät dadurch unter deren Kontrolle. Diese plant, die Gabe der Träumerin zu nutzen, um den Krieg der Farben zu entscheiden und sich an den Vergessenen Sieben zu rächen.

Mittwoch,

31. Oktober 2012

Der Tag,

der über das Schicksal der Welt entscheidet


Schuld und Unschuld

Mittwoch, 31. Oktober 2012

6.45 Uhr

Bad Honnef, Rheininsel Nonnenwerth, Kloster

Nicht nur in dieser Welt, sondern auch in Engelland fielen unzählige Schneeflocken vom Himmel. Hin und wieder hatte Rosalie den Kopf von den ›Grimm-Chroniken‹ gehoben und aus dem Fenster in die dunkle Welt geblickt, die seit zweihundert Jahren unter einer Dornenhecke schlief. Die Glasscheibe hatte das flackernde Licht der Kerzen gespiegelt, die das Turmzimmer erhellten.

Joes Blick war dem ihren begegnet, aber er hatte sie nicht gedrängt, über das zu sprechen, was sie aus dem Buch erfahren hatte. Einen Teil davon kannte er schließlich schon. Er verstand, dass sie Zeit brauchte, um das, was sie erfuhr, zu verarbeiten. Es war viel und es stellte ihre Gefühle auf den Kopf. Sie empfand Wut und Enttäuschung, aber auch Trauer.

Vieles war nicht so, wie sie geglaubt hatte oder Vlad Dracul sie hatte glauben lassen. Die Wahrheit blieb dieselbe, aber sie aus einer anderen Perspektive zu lesen, ließ auch Rosalie ihre Überzeugungen infrage stellen. Plötzlich empfand sie nicht nur Verständnis, sondern sogar Mitleid für ihre Eltern. Aber am meisten bewegte sie Margerys Schicksal. Jeder ihrer Sätze war mit einem Gift getränkt, dessen Geschmack sie nur zu gut kannte – Einsamkeit.

Sie hatte immer gedacht, dass es ihrer Schwester besser als ihr ergangen wäre. Rauschende Feste, lautes Lachen und liebevolle Umarmungen hatte sie sich vorgestellt, aber das entsprach nicht der Wirklichkeit. Der Vampirismus in Margerys Genen hatte sie von klein auf zu einer Aussätzigen gemacht. Ihre Kindheit war nie unbesorgt gewesen. Stets hatte es die Bedrohung von dem Krieg an der Dornenhecke gegeben. Dorian, der kaum zu Hause gewesen war. Mary, die versucht hatte, tapfer zu sein und den Schmerz, den ihr Körper ihr bereitete, nicht zu zeigen.

Es hatte Margery entsetzlich gequält, zu wissen, dass sie der Grund war, weshalb ihre Mutter leiden musste.

Alles wurde schlimmer in der Nacht, als Rosalie Mary in den Spiegel stieß. Margery hätte jeden Grund gehabt, sie für ihre Tat zu hassen, aber als sie ihr gestanden hatte, was sie getan hatte, sagte sie nur: Du wusstest nicht, was du tust. Vlad hat dich immer belogen und du warst noch ein Kind.

Das war ein Beweis für ihr tiefes Verständnis, ihr großes Herz und ihre unermessliche Güte. Aber an diesem Tag verlor Margery auch das erste Stück ihres Herzens.

Durch die ›Grimm-Chroniken‹ konnte Rosalie ihre Schwester nun so sehen, wie einst die Vergessenen Sieben sie wahrgenommen haben mussten. Niemand außer ihr hätte die weiße Macht sein können. Vielleicht war sie es irgendwo in ihrem Inneren noch immer.

Ein schweres Seufzen löste sich aus ihrer Brust und entwich ihren Lippen. Wenn sie das alles doch nur früher gelesen hätte …

Joe erhob sich aus dem Stuhl, in dem er die Nacht verbracht hatte, und kam zu ihr an die Fensterbank. Während Maggy in seinem Bett schlummerte, hatte er kein Auge zugemacht. Ihm blieb noch eine Ewigkeit zum Schlafen. Immer mal wieder hatte Rosalie seinen Blick auf sich gespürt.

Nun reichte er ihr eine rosafarbene Rose. Der Duft stieg ihr sogleich in die Nase und ließ sie an ihre Großmutter Oana denken. Rosen sind nicht nur schön anzusehen, sondern sie können auch Schmerz verursachen, hatte sie einmal zu ihr gesagt.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, flüsterte Joe und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Niemand außer Oana hatte ihr je zum Geburtstag gratuliert. Der Tag war nie ein Grund zur Freude gewesen. Wenn Vlad Dracul ihm überhaupt Beachtung geschenkt hatte, dann nur um sie daran zu erinnern, was von ihr erwartet wurde. Heute war der alles entscheidende Tag: Ihr war bestimmt, ihre Schwester zu töten.

Früher hatte sie diesen Tag gar nicht erwarten können. Ihr ganzes Leben lang hatte sie dafür trainiert und wollte es hinter sich bringen. Danach sollte ihr richtiges Leben anfangen – frei von Vlad Dracul, Elisabeth und den Vampiren. Sie wollte weggehen und irgendwo neu anfangen.

Von diesem Traum war nichts geblieben. Ihre Narben würden sie immer begleiten und heute würden noch einige hinzukommen – wenn sie überhaupt den nächsten Morgen erleben würde.

»Danke«, krächzte Rosalie dennoch bewegt, schlang ihre Arme um Joes Mitte und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust.

Sie wünschte, sie könnte die Zeit anhalten und für ewig in diesem Moment verweilen – bei ihm. Solange sie seinen Geruch einatmete und den Schlag seines Herzens spürte, war es nicht von Bedeutung, wer sie waren. Kein Erdenvater. Keine schwarze Macht. Nur Joe und Rosalie. Nicht mehr als das hatte sie gewollt.

Aber ein Moment währte nicht länger als wenige Sekunden, ehe sie von einem verlegenen Räuspern unterbrochen wurden.

»Von mir auch alles Gute zum Geburtstag«, sagte Maggy kleinlaut, die versuchte, mit ihren Fingerspitzen ihren zerzausten Pony zu ordnen. Obwohl sie die ganze Nacht geschlafen hatte, sah sie nur noch erschöpfter aus als zuvor. Die Angst vor dem, was kommen würde, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Rosalie bedankte sich mit einem versöhnlichen Lächeln. Sie hatten keine Zeit gehabt, sich besser kennenzulernen, und es war nicht zu leugnen, dass sie sehr verschieden waren. Dennoch verband sie ihre Liebe für Joe.

Voller Neugier wanderte Maggys Blick zu dem aufgeschlagenen Buch. Für sie und Joe enthielten die ›Grimm-Chroniken‹ nur noch weiße, unbeschriebene Seiten. Beide hatten ihre Chance gehabt und sobald das Buch einmal geschlossen war, konnte es nicht erneut gelesen werden. »Gibt es etwas Neues?«, wollte sie besorgt wissen.

Rosalie hatte immer wieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her geblättert, um kein neues Ereignis zu verpassen. Aber es graute ihr davor, Maggy die entsetzlichen Neuigkeiten zu enthüllen. Betreten senkte sie den Blick. »Nisha und Arian sind tot«, gestand sie leise.

Bestürzt sog Maggy Luft ein und schlug sich die Hände vor den Mund. »Die arme Simonja«, wimmerte sie den Tränen nahe. »Was ist passiert?«

Joe löste sich von Rosalie und trat zu seiner Schwester. Tröstend legte er ihr einen Arm um die Schultern. Maggy war ein sehr mitfühlender Mensch, der sich das Schicksal anderer stets zu Herzen nahm. Selbst für Rumpelstein hatte sie Verständnis aufbringen können.

Rosalie berichtete ihr, dass der zweite schwarze Spiegel nicht zerstört worden war, sondern sich zusammengesetzt hatte, wodurch Elisabeth nun die Kontrolle über jeden erlangte, der sein Spiegelbild betrachtete. Sie verriet ihr, dass Simonja die Tochter des Teufels war und deshalb zur roten Macht wurde. Ebenso weihte sie Maggy in dessen Plan ein, Mary zurück in den Spiegel zu schicken, damit diese dort Elisabeth vernichten konnte.

»Das ist ja entsetzlich«, rief Maggy schockiert aus. »Mary musste bereits so lange in dem Spiegel ausharren. Hat sie nicht schon genug gelitten?«

Auch Rosalie hatte Mitleid mit ihrer Mutter, aber sie hatte gelernt, pragmatisch zu denken. Mary war die Einzige, die Elisabeth besiegen konnte.

»Würdest du dich an ihrer Stelle weigern?«, konterte sie. »Würdest du zulassen, dass Elisabeth womöglich Macht über die ganze Welt erlangt?«

»Natürlich nicht«, beteuerte Maggy sofort. »Die armen Menschen! Nicht vorzustellen, wie schrecklich es sein muss, keine Kontrolle über den eigenen Körper zu haben und furchtbare Dinge zu tun. Es hätte auch uns treffen können.«

Gerade noch hatte sie sich nach einem Spiegel gesehnt, um ihre Frisur zu begutachten, die nach dem Schlafen so zerzaust war. Die Nonnen legten jedoch keinen Wert auf Oberflächlichkeiten, weshalb es im gesamten Kloster keine Spiegel gab. Demnach schien die Rheininsel gerade der einzige sichere Ort zu sein, während die Welt außerhalb im Chaos versank.

Tränen kullerten über Maggys Wangen, als sie erfuhr, wie grausam Nisha den Tod gefunden hatte. Mit ihren Gedanken und ihrem Herzen war sie bei Simonja. Es war schlimm genug, die Mutter zu verlieren, aber so? Simonja würde die Bilder nicht mehr aus dem Kopf bekommen.

»Und Arian?«, hakte Maggy nach. »Hat er auch in einen Spiegel geblickt?«

»Nein«, widersprach Rosalie. »Er wollte Margery töten, um Simonja vor ihr zu beschützen.«

Maggy nickte verständnisvoll. »Das sieht ihm ähnlich.« Sie verstummte und schaute Rosalie zögernd ins Gesicht, als kenne sie im Grunde schon die Antwort auf ihre nächste Frage und brauche nur Gewissheit. »Hat Margery ihn getötet?«

»Nicht direkt«, erwiderte Rosalie. »Hunderte Raben sind über ihn hergefallen. Sie müssen die Gefahr gespürt haben, in der Margery sich befand, und haben ihr beigestanden. So wie ich es aus den ›Grimm-Chroniken‹ gelesen habe, hatte sie wohl schon immer eine besondere Verbindung zu den Vögeln.«

»Er wurde von Raben zerfetzt?«, hakte Maggy mit brüchiger Stimme und bleichem Gesicht nach.

Rosalie nickte zur Bestätigung. Auch Joe wurde bei der Vorstellung ganz blass. Was für eine furchtbare Art, zu sterben.

Anstatt sich der Trauer hinzugeben, wischte Maggy sich entschlossen die Tränen von den Wangen. »Margery ist zu einem Monster geworden.«

Joe drückte sanft ihre Schulter, als würde er ihr zustimmen.

Rosalie hingegen traf dieser Satz wie ein Pfeil ins Herz. Nur vor wenigen Tagen noch hätte es sie mit Genugtuung erfüllt, zu erleben, wie die einstigen Sieben sich gegen ihre Schwester stellten. Sie hätte Margery jeden Schmerz und jede Verachtung gegönnt. Sie hatte sie leiden sehen wollen. Aber seitdem hatte sich einiges verändert.

Es war zum einen Margery selbst. Auch wenn Rosalie sich dagegen gewappnet hatte, gelang es Margery in stillen Augenblicken doch immer wieder, zu ihr durchzudringen. Es war, als wäre ein unsichtbares Band zwischen ihnen, dem sie sich nicht entziehen konnten. Die ›Grimm-Chroniken‹ hatten dem den Rest gegeben.

Jetzt, da Rosalie die ganze Wahrheit kannte, war es ihr unmöglich, ihre Schwester länger mit den rachedurstigen Augen wie zuvor zu betrachten. Sie empfand Zuneigung für Margery und es machte sie wütend, wie Maggy und Joe sie verurteilten.

»Wenn Margery ein Monster ist, dann bist du ebenfalls eins«, brach es ungezügelt aus ihr hervor. Ihre Hände ballten sich vor Ungerechtigkeit zu Fäusten, während ihre Augen sich anklagend in Maggy bohrten. »DU hast den Zauber des geteilten Herzens gesprochen, damit fing das Unglück an. Es war DEINE Entscheidung. Margery hingegen leidet unter dem Schicksal, das DU ihr auferlegt hast. Nicht sie ist verantwortlich für den Untergang der Welt, sondern die Vergessenen Sieben.«

»Du kannst sie doch nicht von jeder Schuld freisprechen«, konterte Joe empört über die Vorwürfe. »Sie hätte gegen die Dunkelheit ankämpfen können.« Er drückte seine Schwester beschützend an sich, während Maggy Rosalie mit großen, ungläubigen Augen anstarrte.

Sosehr Rosalie auch seine Nähe genoss, ärgerte es sie, wie leichtfertig er Margery anprangerte. »Woher willst du das wissen? Wurde dein Herz schon einmal in acht Stücke zerrissen? Kannst du mit Sicherheit sagen, was das mit dir machen würde?«, blaffte sie ihn an und deutete mit ausgestrecktem Arm auf das aufgeschlagene Buch. »Ich habe gelesen, wie sie gekämpft hat. Jeden Tag. Sie hat sich verzweifelt an jedes gute Gefühl geklammert, aber nichts davon blieb übrig. Als sie die Unterstützung der Sieben dringender denn je gebraucht hätte, haben sie sich von ihr abgewandt. Sie haben den Tod der Menschen betrauert, die sie im Kampf verloren haben. Aber niemand trauert um Margery, dabei hat sie alles auf sich genommen, nur um Engelland zu retten.«

Rosalie hatte diese Selbstlosigkeit zutiefst beeindruckt. Sie war nie selbstlos gewesen, sondern hatte immer nur zu ihrem eigenen Vorteil gehandelt.

»Engelland war doch nur ihretwegen in Gefahr«, schnaubte Joe. Auch sein Blick glitt zu dem Buch und ihm war anzusehen, dass er es am liebsten mit einem lauten Knall zugeschlagen hätte. Er hatte gewollt, dass Rosalie die Wahrheit kannte, aber er hatte nicht erwartet, dass diese einen Keil zwischen sie treiben könnte.

Auch Rosalie erstaunte diese Entwicklung. Sie hätte nicht erwartet, dass sie einmal ihre Schwester verteidigen würde. Zuvor hatte sie nie mehr als Verachtung für sie übriggehabt. »Ohne unsere Eltern gäbe es Engelland überhaupt nicht! Außerdem kann Margery nichts dafür, dass sie geboren wurde.«

Joe machte es wütend, dass Rosalie Margerys Grausamkeit rechtfertigte und versuchte, anderen die Schuld dafür zu geben. »Sie hat unsere Mutter getötet«, rief er anklagend aus. »Das war, lange bevor ihr Herz geteilt wurde!«

Rosalie keuchte fassungslos auf. »Sie war ein Kind, das nicht wusste, was es tat!«

Als er ihr das erste Mal davon erzählte, hatte sie sich ihm dadurch verbunden gefühlt, weil Margery auch ihm etwas genommen hatte. Sein Verlust tat ihr leid, aber es war nicht fair, Margery für etwas zu verurteilen, das sie als ahnungsloses Kind getan hatte.

Bis vor Kurzem hatte sie die Menschen, die sie getötet hatte, noch an einer Hand abzählen können.

»Du willst gar nicht wissen, wie viele Menschen und Vampire ich in diesem Alter bereits auf dem Gewissen hatte«, gestand sie reumütig. Das machte Margerys Tat zwar nicht ungeschehen, aber niemand verstand besser als Rosalie, wie sehr man als Kind abhängig von anderen war. »Margery folgte ihrem angeborenen Instinkt und mir brachte man bei, dass es in Ordnung ist, den Schwächeren zu töten.«

Jeder, der nicht gegen Rosalie im Kampf bestehen konnte, war Vlad Draculs Ansicht nach des Lebens nicht würdig.

Verzweiflung überkam Joe. Sich mit Rosalie zu streiten, war das Letzte, was er wollte. Er ließ seinen Arm von Maggys Schultern gleiten und machte einen Schritt auf Rosalie zu. »Sie wollte dich in den Spiegel stoßen!«, erinnerte er sie flehend. Der Tag, an dem der Krieg der Farben ausgefochten werden sollte, war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um auf einmal Verständnis für Margery zu entwickeln.

»So wie ich es mit ihr geplant habe«, konterte Rosalie jedoch unnachgiebig. »Was macht ihre Tat grausamer als meine?«

Trauer schlich sich in Joes Blick. Er hatte das Gefühl, Rosalie zu verlieren, noch bevor der Kampf überhaupt begonnen hatte. »Was willst du jetzt tun?«, wollte er niedergeschlagen von ihr wissen. »Der Krieg ist unvermeidlich. Eine von euch wird sterben – und wenn du nicht gegen Margery kämpfst, wirst du es sein.«

Er war in diesem Turm gefangen, dabei wollte er sie so gern beschützen. Auch wenn ihm bewusst war, dass er ihr vermutlich nur ein Klotz am Bein wäre.

Wenn sich jemand verteidigen konnte, dann sie. Aber ganz gleich, wie stark sie auch war, es würde ihr nichts nutzen, wenn sie nicht bereit war, ihre Kraft auch einzusetzen.

Rosalies Zorn verpuffte, die Anspannung wich aus ihrem Körper und ihre Schultern sackten herab. »Das ist, was man uns von Anfang an glauben machen wollte. Ich hatte die Chance, das Schicksal zu ändern, aber habe sie aus verletztem Stolz und aus meinem Wunsch nach Rache verstreichen lassen. Ich muss die Konsequenzen für mein Handeln tragen.«

Nicht nur die Vergessenen Sieben trugen Schuld daran, dass sie nun an diesem aussichtslosen Punkt angelangt waren, sondern auch Rosalie. Es hatte in ihrer Macht gestanden, sich mit ihrer Schwester zu versöhnen und vereint gegen Elisabeth zu kämpfen. Margery hatte ihr so oft die Hand gereicht. Aber nun war es zu spät.

Der Krieg war nicht mehr abzuwenden. Nicht nachdem die Raben Arian umgebracht hatten, um Margery vor ihm zu retten. Das würde Simonja ihr niemals verzeihen. Es war nur noch an Rosalie, zu entscheiden, auf welche Seite sie sich stellen würde.

»Was soll das heißen?«, wollte Maggy bestürzt von ihr wissen. »Willst du sie etwa gewinnen lassen? Sie ist nicht mehr das gutherzige Mädchen aus den ›Grimm-Chroniken‹. Glaub mir, ich wünschte, sie wäre es noch. Auch ich hatte sie gern. Ich wollte nie, dass es so weit kommt. Ich sprach den Zauber, um sie zu beschützen.«

Der Kummer war ihrer Stimme anzuhören. Schuldgefühle machten ihre Seele schwer.

»Aber die Dunkelheit hat sie nun fest im Griff. Das Einzige, was wir noch für sie tun können, ist, so zu handeln, wie sie es früher gewollt hätte.«

Auch wenn Rosalies Worte gegen Maggy sehr anklagend gewesen waren, machte sie ihr keinen Vorwurf. Sie wusste, dass Maggy nur das Beste gewollt hatte. Aber niemand konnte von Rosalie verlangen, dass sie vergaß, was sie gelesen hatte.

»Ich werde Margery nicht töten«, sagte sie bestimmt. Ihre Entscheidung war gefallen.

Joe packte sie an den Schultern. Panik lag in seinen haselnussbraunen Augen, die denen seiner Schwester glichen. »Du musst, wenn es der einzige Weg ist, um dein Leben zu retten!«

Rosalie befreite sich mit einem Ruck aus seinem Klammergriff. »Hast du nicht selbst angedeutet, dass Engelland und der Rest der Welt ohne uns besser dran wären? Wenn wir nie geboren worden wären, gäbe es keinen Krieg der Farben. Vielleicht ist unser Tod die einzige Möglichkeit, um es zu beenden. Zumindest dann werden wir als Schwestern vereint sein.«

Zum ersten Mal sprach sie von Margery und sich als ein Wir. Es fühlte sich richtig an.

»Nein«, stieß Joe hilflos aus und starrte sie flehend an. Seine Augen glänzten feucht und seine Hände zitterten.

Das durfte sie ihm nicht antun. Wie sollte er eine Ewigkeit in diesem Turm ertragen, wenn sie tot war? Wofür sollte er dieses Opfer dann noch auf sich nehmen?

Wenn Margery siegte, würde er nicht nur Rosalie verlieren, dessen war er sich gewiss. Die Dunkelheit würde sich über die Welt legen und ihm jeden nehmen, der ihm etwas bedeutete. Allen voran Maggy. Niemals würde sie Margery die Macht ergreifen lassen. Bis zum Schluss würde sie kämpfen.

Rosalie wusste das und trotzdem entschied sie, dass ihre Schwester nicht durch ihre Hand sterben durfte. Es tat ihr leid, Joe so viel Kummer zu bereiten, und es fiel ihr nicht leicht, sich gegen ihn zu stellen. Traurig wich sie seinem anklagenden Blick aus und streifte dabei die aufgeschlagenen ›Grimm-Chroniken‹. Dort, wo zuvor nur weiße Blätter gewesen waren, stand nun etwas geschrieben. Die Geschichte ging weiter.

Mit klopfendem Herzen wandte sie sich von Joe ab und setzte sich zurück auf die Fensterbank. Mit jeder Zeile, die sie las, legte sich ein schwereres Gewicht auf ihre Brust. Immer wenn sie dachte, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte, bewies das Schicksal ihr das Gegenteil.

»Was ist los?«, fragte Maggy und trat neben sie. Verzweifelt blickte sie auf die für sie leeren Seiten.

»Eva«, wisperte Rosalie schmerzlich. »Sie hat heute Nacht in einen Spiegel geblickt. Elisabeth hat nun Macht über sie.«

Geschockt starrte Maggy sie an. »Sie wird sie als Waffe gegen uns einsetzen«, befürchtete sie. »Die anderen wissen nichts davon, oder?«

Rosalie schüttelte den Kopf. »Nein, sie wissen nicht einmal, was es mit den Spiegeln auf sich hat. Einer von ihnen könnte jederzeit der Nächste sein.«

»Ich muss sie warnen«, entschied Maggy und suchte in Joes Miene nach Zustimmung.

Widerwillig nickte er. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie bei ihm geblieben wäre – in Sicherheit. Aber er wusste, dass er sie nicht halten konnte.

Rosalie wollte gerade sagen, dass sie Maggy begleiten würde, doch diese kam ihr zuvor. »Du solltest hierbleiben und die ›Grimm-Chroniken‹ weiterlesen. Nur du kannst alle Geschehnisse im Auge behalten.«

Die Rolle des Beobachters war für Rosalie ungewohnt. Sie hatte gelernt, an vorderster Linie zu kämpfen und nicht im Hintergrund zu agieren. Aber Maggy hatte recht. Wer wusste schon, welches wichtige Detail ihr entgehen würde, wenn sie nun das Buch zuschlug?

Joe schien erleichtert, dass sie keine Widerworte gab. So blieb ihm zumindest noch etwas Zeit mit ihr. Und durch Rosalie würde er erfahren, wenn seine Schwester in Gefahr schwebte. Dann könnte sie immer noch eingreifen.

Er zog Maggy in eine feste Umarmung. Es könnte ihre letzte sein.


Spindelkuss

Mittwoch, 31. Oktober 2012

7.00 Uhr

Königswinter, Finsterwald

Der frische Schnee knirschte unter Evas Stiefelsohlen. Die schwer beladenen Äste der Nadelbäume hingen tief herab, sodass sie sich manches Mal bücken musste, um vorwärtszukommen. Sie bewegte sich fernab von sämtlichen Pfaden querfeldein durch den verschneiten Finsterwald. Eine fremde Macht leitete sie.

Eine Macht, die ihre Augen überall in der Welt hatte.

Eine Macht, die zu viel wusste.

Eine Macht, die sich am Leid anderer ergötzte.

Eva lauschte den geflüsterten Worten und verlor sich in ihnen. Ihr eigener Wille war gebrochen.

Der Duft von Schokolade stieg ihr in die Nase. In der Kälte roch er noch viel intensiver. Nun wusste sie, dass ihr Ziel nicht mehr weit sein konnte.

Dazu kam das Aroma kandierter Früchte, karamellisierter Nüsse und süßen Puderzuckers. Noch bevor sie das Lebkuchenhaus zwischen den Bäumen erblickte, sah sie es vor ihrem inneren Auge bereits vor sich. Blinzelnd brachte sie ihre Vorstellung mit der Realität überein. Blut und schwarze Federn bedeckten den weißen Schnee vor der Eingangstür.

Schwarz, Weiß, Rot. Die Zeichen ließen sich nicht leugnen – der Krieg der Farben war nicht mehr aufzuhalten.

Rauch stieg aus dem Schornstein, der ihr verriet, dass sich jemand im Inneren aufhalten musste. Vorsichtig näherte sie sich der Lebkuchentür, doch bevor sie gegen diese klopfte, drangen Geräusche an ihr Ohr, die von hinter dem Haus zu kommen schienen. Ein Ächzen wie von schwerer Arbeit, dazu ein leises Schluchzen, das nur jemand von sich geben konnte, der mit aller Macht versuchte, stark zu sein, und seinen Tränen keine Chance geben wollte.

Leise schlich sie um die Hütte herum und vermied dabei, dass man ihre Bewegungen durch die vereisten Fenster wahrnehmen konnte, indem sie sich bückte.

Schließlich erreichte sie die Rückseite des Hauses. Ein roter Umhang hob sich von dem Schnee und der Dunkelheit des Waldes ab. Ihn trug die Person, die verbissen gegen den gefrorenen Boden ankämpfte, in dem verzweifelten Versuch, ein Loch zu graben.

Neben ihr ruhte ein Körper, der in ein schmutziges Bettlaken gewickelt war – tot.

Die scharfe Sense lag achtlos daneben. Ob sie in ihrer Trauer überhaupt bemerken würde, wenn sich ihr jemand von hinten näherte und sich die Waffe griff?

Die dunkle Stimme in Evas Herzen regte sich bei dieser Vorstellung. Schlag ihr den Kopf von den Schultern, zischte sie voller Verlangen.

Eva würde tun, was immer sie ihr befahl, und wagte sich aus der Deckung, bereit, zu töten. Schritt für Schritt ging sie auf das Mädchen zu, das in seinem Schmerz blind und taub war. Sie streckte ihre Hand nach dem hölzernen Stab der Sense aus, als die Stimme sich besann.

Nicht doch, tadelte sie. Ein schneller Tod wäre eine Verschwendung. Wo bliebe da denn das Vergnügen? Ich will sie leiden sehen. Alle miteinander!

Eva erstarrte in ihrer Bewegung und richtete sich wieder auf, die Arme fest an beide Seiten ihres Körpers gepresst. Ihr Atem hinterließ kleine Wölkchen in der kalten Morgenluft.

Vielleicht waren sie es, die Simonja ihre Anwesenheit verrieten. Aus einem Impuls heraus wirbelte sie zu Eva herum. Ihre geröteten und verquollenen Augen sprühten vor Hass, der sich jedoch legte, sobald sie Eva erkannte. Offenbar hatte sie jemand anderen erwartet.

Eine widerstreitende Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung spiegelte sich in ihrem Blick. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, aber ihre Haut war von der Anstrengung nicht gerötet, sondern aschfahl.

»Eva«, stellte sie verwirrt fest und wirkte dabei, als würde sie aus einer anderen Welt auftauchen. »Was führt dich hierher?«

»Ich habe nach dir und den anderen gesucht«, antwortete Eva wahrheitsgemäß. Ihre Wangen glühten in der Kälte rosig, aber sie konnten nicht die dunklen Schatten unter ihren Augen verbergen. Auch Eva wusste, was Schmerz und Trauer bedeuteten.

Simonja presste ihre Lippen aufeinander und senkte den Kopf, während sie in die Grube starrte, die sie seit der Nacht aushob. »Es ist viel geschehen.«

Sie erklärte sich nicht im Detail und sie entschuldigte sich auch nicht dafür, dass sie und die anderen Eva im Nordturm zurückgelassen hatten, als diese um ihre Eltern getrauert hatte, anstatt auf sie zu warten, wie sie es versprochen hatten.

Eva nickte in gespieltem Verständnis. Anstatt weiter nachzuhaken, fragte sie lediglich ruhig: »Ist das Arian?«

Simonja vermied es, zu dem in Leinen gewickelten Körper zu schauen. »Sie hat ihn umgebracht.«

Es war offensichtlich, wen sie damit meinte – Margery. Zwar hatte diese keine Waffe gegen den einstigen Gestaltwandler gerichtet, aber dennoch klebte sein Blut an ihren Händen. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten die Raben sich nicht auf ihn gestürzt. Für Simonja gab es keine Rechtfertigung für das, was Arian angetan worden war.

»Ich fühle mit dir«, beteuerte Eva, aber ihre bleierne Stimme stand im Widerspruch zu ihren Worten. »Lass mich dir helfen.«

Sie machte Anstalten, zu ihr in das Loch zu steigen, um an ihrer Stelle weiter zu graben, doch Simonja wehrte sie sogleich ab.

»Nein!«, fauchte sie harscher als beabsichtigt. »Ich muss das tun.«

Eva wich zurück und musterte das dunkelhaarige Mädchen.

Simonja beachtete sie nicht weiter und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Verbissen bohrte sie den Spaten in den harten Boden. Sie verzog nicht einmal die Miene vor Schmerz, obwohl ihre Hände schon blutig waren und vor Anstrengung zitterten.

Eva zollte Arian durch einige Minuten des Schweigens scheinbar ihren Respekt, ehe sie Simonja fragte: »Bist du allein hier?«

»Ember und Philipp sind in der Hütte«, antwortete sie, ohne aufzusehen.

»Und deine Mutter?«, hakte sie in geheuchelter Ahnungslosigkeit nach.

Kein Wort, das ihre Lippen verließ, war ihr eigenes. Selbst ihre Gedanken gehörten ihr nicht mehr. Sie war zu einem Zuschauer in ihrem eigenen Körper geworden.

Elisabeth hatte sich ihrer bemächtigt, so wie sie zuvor unzählige andere Menschen besetzt hatte – Nisha war eine von ihnen gewesen. Ein Blick in den Spiegel bedeutete das Verderben. Sie wusste also sehr genau, was Nisha widerfahren war. Simonja nach ihr zu fragen, diente nur dazu, sie zu quälen.

Die gewünschte Wirkung wurde nicht verfehlt. Simonja hielt erneut in der Bewegung inne und stützte sich auf den Spaten, als würden ihr sonst die Beine wegsacken. »Tot«, murmelte sie nur, zu mehr fand sie keine Kraft.

»Oh nein«, stieß Eva aus und stieg erneut zu Simonja in die Grube. »Ich weiß, wie du dich fühlst«, behauptete sie, doch ihrer Stimme fehlte jegliche Wärme.

Auch sie hatte ihre Eltern im Krieg der Farben verloren. Er stand ihnen nicht erst noch bevor, sondern hatte insgeheim längst begonnen. All das, was in den vergangenen Tagen passiert war, gehörte bereits dazu.

Der Schmerz vereinte Eva und Simonja, deren erzwungene Tapferkeit in diesem Augenblick wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzte. Ihr Körper erbebte unter lauten Schluchzern, die aus ihrer Kehle hervorbrachen. Sie schlang sich die Arme um den Körper, als fürchte sie, sonst in tausend Stücke zu zerbrechen.

Eva nutzte die Gelegenheit, sich Simonja zu nähern, indem sie ihre Arme um sie schlang, als wolle sie sie trösten. In dem Moment der Schwäche gelang es Simonja nicht, sie abzuwehren, sondern sie klammerte sich an sie. Weinend und zitternd suchte sie bei ihr Schutz.

»Sssscht«, flüsterte Eva abwesend und streichelte ihr über den Rücken. »Es tut nicht mehr lange weh. Bald ist es vorbei.«

Zuerst verstand Simonja gar nicht, was sie sagte. Ihre Trauer war zu groß, um auf die einzelnen Wörter zu achten. Doch langsam sickerte die Bedeutung zu ihr durch, aber da war es bereits zu spät. Etwas Spitzes bohrte sich in ihren Hals.

Erschrocken befreite sie sich aus der Umarmung und stieß Eva von sich. Diese war auf die Gegenwehr vorbereitet gewesen, sodass sie lediglich einen Schritt zurücktrat, anstatt zu taumeln oder gar zu stürzen.

In ihrer Hand hielt sie eine Spindel. Ein roter Blutstropfen bedeckte die Spitze, mit der sie Simonja soeben gestochen hatte.

Fassungslos presste Simonja eine Hand auf ihren Hals und starrte Eva an. »Was …«, setzte sie an, doch ihre Stimme versagte ihr. Ihre Zunge wurde ganz schwer in ihrem Mund, ihre Beine konnten sie nicht länger tragen und ihre Sicht verschwamm. Ein dunkler Vorhang legte sich über ihr Bewusstsein und sie brach in dem Grab, das sie selbst geschaufelt hatte, zusammen – gefangen in Ahnungslosigkeit und Verwirrung.

Was hatte Eva mit ihr gemacht? Und warum?

Sobald Simonja sich nicht mehr rührte, beugte Eva sich über sie, riss ihr ein einzelnes Haar aus und wickelte es um die Spindel. Diese ließ sie hastig zurück in ihre Manteltasche gleiten, als sie hinter sich eine Tür zuschlagen hörte und sich ihr Schritte durch den Schnee näherten. Sie richtete sich auf und begegnete den erschrockenen Gesichtern von Ember und Philipp, die jemanden über der bewusstlosen Simonja in der Grube stehen sahen. Doch sobald sie Eva erkannten, wich die Furcht aus ihren Blicken. So war es auch schon bei Simonja gewesen. Sie vertrauten Eva, weil sie eine der Sieben war.

»Was ist passiert?«, wollten sie von Eva wissen, als sie schnell angelaufen kamen.

»Ich … ich weiß es nicht«, stammelte Eva scheinbar aufgewühlt. »Sie hat mir von dem Tod ihrer Mutter und von Arian erzählt, als sie plötzlich in Tränen ausbrach. Vor lauter Schluchzen bekam sie kaum noch Luft und brach zusammen.«

Philipp kletterte zu ihr in die Grube und legte seine Hand an Simonja Hals, ohne die Einstichstelle der Spindel zu bemerken. Sobald er ihren Puls spürte, atmete er erleichtert auf. »Sie ist nur ohnmächtig«, rief er sowohl Ember als auch Eva zu und schob seine Arme unter Simonjas Körper. Er hob sie aus dem Loch und legte sie behutsam in den Schnee. Danach reichte er Eva seine Hand und half ihr ebenfalls heraus. »Wie bist du hierhergekommen?«, wollte er in ehrlichem Interesse wissen, ohne jede Spur von Argwohn.

»Seit gestern irre ich schon durch den Wald. Schließlich sah ich Rauch aufsteigen und fand so zu dem Lebkuchenhaus«, behauptete Eva weinerlich. »Ich bin so froh, euch wiederzusehen. Ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet, als ihr einfach verschwunden wart.«

Auch wenn ihre Stimme keinen vorwurfsvollen Ton annahm, spielte sie darauf an, dass die anderen sie in Schloss Drachenburg zurückgelassen hatten.

Ember überkam sogleich das schlechte Gewissen und sie fühlte sich verpflichtet, ihr Verhalten zu erklären. »Sobald wir mit Margery den Nordturm verließen, befahl sie den Vampiren, uns anzugreifen. Wir hatten keine andere Wahl, als zu fliehen.« Sie machte einen versöhnlichen Schritt in ihre Richtung und blickte ihr flehend entgegen. »Es tut mir sehr leid, Eva.«

»Ich bin nur froh, dass ihr am Leben seid«, zeigte Eva sich gutmütig.

Jedes Wort, das ihren Mund verließ, wählte Elisabeth. Keines kam von Herzen. Sie war eine Meisterin der Täuschung und wusste, was die Menschen zu hören erwarteten.

Ember lächelte sie dankbar an. »Das kann ich nur zurückgeben.«

Philipp hob Simonja erneut vom Boden hoch und trug sie zum Lebkuchenhaus. In der Wärme der geheizten Stube würde sie hoffentlich bald wieder zu sich kommen. Er legte sie auf dem Bett ab und schaute sorgenvoll auf sie hinab.

»Die arme Simonja«, seufzte Eva. »Sie hat innerhalb weniger Stunden ausgerechnet die beiden Menschen verloren, die ihr am nächsten standen. Das muss zu viel für sie gewesen sein.« Sie löste ihren Blick von Simonja und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Ember und Philipp. »Ihr habt alle so viel erleiden müssen. Sicher sehnen eure Körper sich nach Schlaf.«

Eva klang so unbeteiligt, dass Ember sich nun doch wunderte. »Nicht nur wir haben in den letzten Tagen viel ertragen müssen, auch du.« Sie wollte Eva nicht direkt an den Tod ihrer eigenen Eltern erinnern, immerhin war die Nacht des Blutmondes noch nicht lange her. Sicher verdrängte Eva ihren Schmerz nur.

»Wir können im Moment nichts ausrichten«, meinte Eva, ohne auf Ember einzugehen. »Etwas Ruhe würde uns allen guttun.« Sie deutete auf den Boden vor dem Bett, als wolle sie Ember und Philipp dazu auffordern, sich ebenfalls hinzulegen.

»Ich bekomme momentan kein Auge zu«, entgegnete Philipp und drehte ihr den Rücken zu, um sie den Schmerz in seinem Blick nicht sehen zu lassen.

»Mir geht es genauso«, stimmte Ember ihm zu. »Aber leg dich ruhig etwas hin. Sobald wir wissen, wie es weitergeht, wecken wir dich.«

Zögerlich schaute Eva ihnen entgegen, als fühle sie sich unwohl dabei, zu schlafen, während andere wachten. »Ihr müsst mich für emotionslos halten, weil ich mich in dieser Situation nach Schlaf sehne. Meine Eltern sind gerade gestorben, die Welt ist dem Untergang geweiht und ich schlage euch vor, ein Schläfchen zu halten.«

»Aber nein«, rief Ember bestürzt aus und war mit einem Satz bei ihr. Sie hielt sie mit beiden Händen an den Schultern. »Eva, niemand macht dir einen Vorwurf! Jeder trauert auf seine Weise. Wenn du schlafen kannst, dann solltest du das auch tun. Die Welt wird danach zwar nicht anders aussehen, aber du wirst ihr vielleicht etwas mehr gewappnet sein.«

»Ich fühle mich so nutzlos. Obwohl ich über eine mächtige Gabe verfüge, konnte ich niemanden retten. Lavena, Arian … Ich … ich … ich konnte mich nicht einmal von ihnen verabschieden …«

Ihre Stimme brach und sie senkte den Kopf, um Ember nicht sehen zu lassen, dass nicht eine Träne in ihren Augen stand. Ihr Gefühlsausbruch war nichts als Heuchelei.

Doch Ember fiel darauf rein und zog Eva an sich. Liebevoll fuhr sie ihr über das goldene Haar. »Du hast überlebt. Mach dir nicht zum Vorwurf, wen du nicht retten konntest.«

Unbemerkt ließ Eva ihre Hand in die Manteltasche gleiten und schloss ihre Finger um die Spindel. Ich will sie haben, zischte Elisabeths Stimme in ihrem Kopf. Sie hallte wie ein Echo wider, dem Eva sich nicht entziehen konnte. Sie sollen sich alle meiner Rache stellen. Alle Sieben.

Eva zog die Spindel hervor und hob sie an, um Ember damit in den Nacken zu stechen. Abgesehen von den Händen war das die einzige Stelle ihres Körpers, die nicht unter Stoffschichten verborgen war. Ein kleiner Pikser genügte, schließlich wollte sie Ember nicht umbringen. Noch nicht.

In dem Moment drehte Philipp sich wieder zu ihnen herum. Er sah die Spindel in Evas Hand und ahnte, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. »NEIN«, schrie er entsetzt und hastete auf sie zu.

Ember zuckte von seinem Aufschrei zusammen und wollte sich von Eva lösen, aber dafür war es zu spät. Eva bohrte die Nadel in Embers Haut. Es ging sehr schnell. Sie nutzte die Gelegenheit und riss ihr noch ein Haar aus, bevor sie vor ihr zurückwich.

Verwirrt schaute Ember von Eva zu Philipp, der nun neben ihr stand.

Was hatte Eva mit ihnen vor?

Nebel legte sich über Embers Gedanken. »Eva?«, flüsterte sie hilflos, ehe sie ohnmächtig wurde.

Philipp streckte seinen Arm nach ihr aus und fing sie auf, damit sie nicht auf den Boden knallte. »Was hast du ihr angetan?«, schrie er. Behutsam ließ er Ember niedersinken, um seine volle Aufmerksamkeit auf Eva richten zu können.

»Sie wird nur etwas schlafen«, behauptete sie gleichgültig. »Kein Grund, sich aufzuregen.«

Obwohl die Antwort offensichtlich war, musste Philipp sich Gewissheit verschaffen. »Hast du das zuvor auch mit Simonja gemacht?«

»Sie wird ihre Gelegenheit zur Rache schon noch bekommen.«

Das war keine Antwort auf seine Frage. Philipp verstand gar nichts mehr. »Warum tust du das? Was haben wir dir getan?«

Ihre ausdruckslose Miene verzerrte sich vor Hass. »Nicht ich habe euch vergessen, sondern ihr mich! Immer wieder. Für euch war ich doch immer nur eine unbedeutende Randfigur. Aber jetzt ist Schluss damit! Ihr werdet mich nie wieder unterschätzen und die gesamte Kraft meiner Magie zu spüren bekommen. Diese Gabe ist mir nicht grundlos gegeben worden. Es ist an der Zeit, sie einzusetzen.«

Philipp runzelte die Stirn und machte mutig einen Schritt auf sie zu. »Ich erkenne dich nicht wieder. Die Eva, die ich kenne, ist nicht nachtragend, sondern mitfühlend und gütig. Sie war nie unbedeutend! Wer bist du wirklich?«

Eva verzog ihre Lippen zu einem höhnischen Grinsen. »Das Böse ruht in jedem von uns. Auch in mir, Dornenprinz.«

Dornenprinz. So nannte ihn nur die böse Königin. Aber das war unmöglich, denn sie war in den schwarzen Spiegel verbannt worden.

»Du bist nicht Eva«, entschied er bestimmt. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.

»Wenn du dir so sicher bist, dann töte mich doch«, forderte sie ihn amüsiert heraus.

Philipp befürchtete, dass sie ihm ihre wahre Identität nicht verraten würde, deshalb versuchte er, herauszufinden, was hier vor sich ging. »Wann werden Ember und Simonja wieder aufwachen?«

Evas Gesicht drückte eine Grausamkeit aus, wie er sie nie zuvor bei ihr wahrgenommen hatte. »Wenn sie den Ausgang finden. Oder sollte ich lieber sagen, FALLS sie den Ausgang finden?«

»Was für ein Ausgang?«, fuhr Philipp sie ungeduldig an. »Was hast du ihnen angetan?«

Sie drehte die Spindel in ihrer Hand, sodass sie im Flammenschein des Ofens funkelte. »Die Spitze ist vergiftet. Sie versetzt jeden, mit dessen Blut sie in Berührung kommt, in einen ewigen Schlaf. Nur durch einen Traum ist es ihnen möglich, das Bewusstsein wiederzuerlangen.«

Ein Traum, den Eva spinnen würde. Das war ihre besondere Gabe. Sie war die Träumerin. Doch Philipp ahnte, dass der Traum, den sie Ember und Simonja bescheren würde, kein Geschenk, sondern eine Strafe wäre – ein Albtraum.

»Was für ein Traum?«, wollte er unnachgiebig von ihr wissen.

»Ein Labyrinth«, entgegnete Eva mit einem boshaften Grinsen. »Das Labyrinth der Königin.«

Nun bestand für ihn kein Zweifel mehr, dass er in Wahrheit mit Elisabeth sprach. Der Schock zeigte sich in seinen Augen. Er packte Eva und schloss seine Hände um ihren Hals, jedoch ohne zuzudrücken.

Philipp wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte Eva nicht verletzen.

»Du kannst Eva töten, aber dann werden Ember und Simonja für immer in einem traumlosen Schlaf gefangen sein. Ihre einzige Chance, zu erwachen, ist, einen Ausgang aus meinem Labyrinth zu finden.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Wie wäre es, mein Hübscher, willst du dich nicht als tapferer Held ihrer Suche anschließen?«

Einladend wedelte sie mit der Spindel in ihrer Hand.

Er wusste, dass er sich darauf nicht einlassen sollte, aber er schien keine Wahl zu haben. Selbst wenn er es über sich brächte, die unschuldige Eva zu töten, hieß das nicht, dass er dadurch auch Elisabeth besiegte. Außerdem würde er Ember dann verlieren. Das Risiko konnte er nicht eingehen. Alles, was er tun konnte, war, ihr beizustehen.

»Woher weiß ich, dass du mich nicht betrügst und in einen ganz anderen Traum versetzt als sie?«, hakte er argwöhnisch nach.

Eva lächelte ihn kalt an. »Gar nicht. Du kannst es nicht wissen, sondern musst mir wohl vertrauen.«

Elisabeth zu vertrauen, war die größte Dummheit, die man begehen konnte, das war Philipp klar. »Und wenn ich mich weigere?«

Sie zuckte unbeteiligt mit den Schultern. »Dann werden wir hier wohl ewig stehen, so wie Simonja und Ember ewig schlafen werden. Mir macht das nichts aus – ich habe Zeit. Du auch?«

Philipp wog seine Möglichkeiten ab. Es kam für ihn nicht infrage, Eva zu töten.

Vielleicht würde ihm die Flucht gelingen, aber was dann? Ember und Simonja wären Elisabeth wehrlos ausgeliefert. Vielleicht würde er sie dadurch für immer verlieren.

»Was ist mit unseren Körpern?«, wollte er zögerlich wissen. »Werden wir nicht erfrieren, wenn das Feuer erlischt?« Er nickte zu dem Ofen in der Ecke.

Eva hob belustigt die Augenbrauen. »Aber mein schöner Prinz, du glaubst doch nicht etwa, dass ich in dieser erbärmlichen Hütte bleiben werde? Natürlich werde ich mit euch an einen Ort ziehen, der einer Königin würdig ist.«

Verständnislos starrte er sie an. »Wie willst du das allein hinbekommen?«

»Allein?«, wiederholte sie spöttisch. »Wer sagt, dass ich allein bin?«

Wie auf ein Stichwort erklang ein lautes Klopfen an der Tür. Philipp fuhr erschrocken zusammen.

»Tretet nur herein«, rief Eva triumphierend. »Es ist offen.«

Die Tür ging auf und dahinter kamen mindestens sechs Vampire zum Vorschein, alle mit leeren, ausdruckslosen Augen. Wie ferngesteuert quetschten sie sich in die Stube.

Für Philipp gab es nun kein Entkommen mehr.

»Ich werde nie wieder allein sein«, höhnte Eva.

»Denn ich bin nicht mehr ein Einzelner, sondern ganz viele«, fuhr einer der Vampire fort. Elisabeth besetzte auch seinen Körper, so wie die aller anderen anwesenden Blutsauger. Durch den Spiegel konnte sie Personen nun beliebig lenken. Sie taten das, was sie ihnen auftrug. In den meisten Fällen war es pure Grausamkeit, indem sie Menschen in Monster verwandelte, die ausgerechnet jene töteten, die ihnen am nächsten standen. Dienten sie ihr jedoch zu einem höheren Zweck, machte sie Ausnahmen – so wie bei Eva und den Vampiren.

Resigniert ließ Philipp seine Hände von ihrem Hals sinken. Er hatte verloren.

Eva hielt ihm triumphierend die Spindel entgegen. »Es wird nicht wehtun«, säuselte sie.

Philipp drängte seinen Groll zurück, hob einen Arm und drückte seinen Zeigefinger auf die Spitze der Spindel, bis er einen Stich spürte. Er zog seine Hand zurück und blickte auf den kleinen Blutstropfen, der aus seiner Haut hervorquoll.

»Schlaf gut, Prinz«, wisperte Eva ihm ins Ohr, bevor er das Bewusstsein verlor. »Verlass dich darauf, dass die Vergessenen Sieben vereint sein werden, denn ich will jeden Einzelnen von euch leiden sehen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139945
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Brüder Grimm Hexen Rotkäppchen Dornröschen Aschenputtel Gestaltwandler Märchenadaption Märchen Schneewittchen Vampire Fantasy düster dark Urban Fantasy Horror

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie "Fantasy".
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Titel: Das Labyrinth der Königin