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Krieg der Farben

von Maya Shepherd (Autor:in)
180 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 26

Zusammenfassung

Drei Farben, die über das Schicksal der Welt entscheiden. Zwei Schwestern, die um Leben und Tod kämpfen. Ein Labyrinth, aus dem es scheinbar kein Entkommen gibt. Einst symbolisierten Margery und die Sieben das Gute, doch nun stellen sie sich gegeneinander. Kann jemand, der den Tod eines anderen will, wahrhaft gut sein? Ist jemand böse, nur weil er überleben will? Wenn sich das Gute nicht mehr vom Bösen unterscheiden lässt, steht das Ende bevor. In einem letzten Kampf zwischen Mutter und Tochter zeigt sich, ob dieses Märchen gut ausgeht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

Mittwoch, 31. Oktober 2012

6.45 Uhr

Rosalie erfährt durch die ›Grimm-Chroniken‹, dass Elisabeth die Kontrolle über jeden Menschen, der in einen Spiegel blickt, übernehmen kann. Als sie Maggy und Joe davon erzählt, beschließt Maggy, nach Königswinter zurückzukehren, um die anderen zu warnen.

7.00 Uhr

Nachdem Eva in einen Spiegel geblickt hat, wird sie von Elisabeth auf die Suche nach den einstigen Sieben geschickt. Im Lebkuchenhaus findet sie Simonja, Ember und Philipp und sticht diese mit einer Spindel, woraufhin sie in einen tiefen Schlaf fallen.

8.00 Uhr

Mary nimmt sich im Auftrag des Teufels vor dem schwarzen Spiegel das Leben, um in das Spiegelinnere zu gelangen und dort Elisabeth zu besiegen.

14.00 Uhr

Der Teufel rät Jacob, Margery umzubringen, da sie die letzte Erbin der Blutlinie Vlad Draculs ist und mit ihrem Tod auch alle anderen Vampire ausgelöscht würden.

16.00 Uhr

Jacob offenbart Margery, was er von dem Teufel erfahren hat. Sie glaubt nun, dass er gekommen ist, um sie zu töten. Doch Jacob widerspricht dem, da er der Überzeugung ist, dass Margery selbst das Richtige tun wird. Seine letzte Entscheidung ist gefallen und er erleidet einen weiteren Herzinfarkt, der ihn das Leben kostet.

16.25 Uhr

Eva trifft in Begleitung von Vampiren auf Schloss Drachenburg ein. Sie bringt Margery, Will und Maggy dazu, sich ebenfalls von ihrer Spindel stechen zu lassen, sodass auch diese in einem Traum gefangen werden.

17.00 Uhr

Rosalie stellt sich Eva, um ihren Platz im Krieg der Farben einzunehmen, der in einem Traum ausgetragen wird. Sobald sie das Bewusstsein verliert, legt sich ein tiefer Schlaf über ganz Königswinter.

20.00 Uhr

Rosalie, Simonja, Ember, Philipp, Margery, Maggy und Will erwachen in Evas Traum in der Mitte eines Labyrinths, das nach Elisabeths Vorstellungen erschaffen wurde. Sie sind alle gezwungen, eine Flüssigkeit zu sich zu nehmen, um an einen Schlüssel zu gelangen, der für jeden von ihnen eine Tür öffnet. Ein Getränk ist jedoch mit einem schleichenden Gift versehen, das zum Tod führen wird. Sobald die Sieben die erste Aufgabe gemeistert haben, trennen sich ihre Wege.

Maggy erreicht einen Tisch mit sieben Gegenständen, wovon sie einen auswählen muss. Sie erkennt, dass jeder Gegenstand für einen der ehemaligen Vergessenen Sieben steht, und wählt den Brotlaib. Kurze Zeit später trifft sie auf Will. Gemeinsam stellen sie sich dem Angriff von Tauben, die sich nur mit Brotkrumen besänftigen lassen.

Simonja wird von einem weißen Wolf angegriffen. Dieser erinnert sie an Arian, weshalb sie es nicht über sich bringt, ihn zu töten. Durch eine Reflexion des Mondlichts verwandelt sich der Wolf später zurück in Rosalie. Simonja ist der Überzeugung, dass Rosalie die weiße Macht ist, weil das Wolfsfell weiß war. Gemeinsam setzen die Mädchen ihren Weg fort.

Margery tritt durch ein Tor und wird mit siedendem Pech übergossen. Durch ihre vampirischen Heilkräfte regeneriert sich ihr Körper, aber das Pech bleibt dennoch an ihr kleben. Sie ist die schwarze Macht.

21.00 Uhr

Gegen jede Vernunft verlässt Joe den Turm des Erdenvaters, wohl wissend, dass er dadurch die sieben Welten zum Untergang verdammt und ihm nun nur noch zwei Sonnenaufgänge zum Leben bleiben. Er trifft auf Dorian, der schockiert von dessen Entscheidung ist und zum Turm aufbricht, um Engelland zu retten.

Joe begibt sich zum Schloss Drachenburg, wo er alle schlafend vorfindet. Durch einen Kuss auf Rosalies Lippen gerät er ebenfalls in Evas Traum.

Mittwoch,

31. Oktober 2012

Der Tag,

der über das Schicksal der Welt entscheidet


Eine Spur aus Blut

Mittwoch, 31. Oktober 2012

Labyrinth der Königin

Das Gefühl von Rosalies weichen Lippen auf seinen begleitete Joe in den Traum. Ein Traum, der sich vollkommen real anfühlte. Es hatte nichts mit diesen verwaschenen, schattenhaften Bildern zu tun, die sonst Träume ausmachten.

Der Kies knirschte unter seinen Turnschuhen und ein kalter Wind zerrte an seiner Jacke. Er konnte das Salz in der Luft schmecken. Nur wenige Schritte hinter ihm ging es steil bergab. In der Tiefe rauschte das Meer und schlug gegen die Felsen. Es war eine wilde See unter einem dunklen, wolkenverhangenen Himmel. Das Unheil knisterte in der Atmosphäre und sorgte dafür, dass sich sämtliche noch so feine Härchen in Joes Nacken aufstellten.

War das die Küste Engellands? Er hatte keine Erinnerung an seine Vergangenheit, aber genau so hätte er sich die raue Schönheit des Ortes vorgestellt.

Der Abgrund klaffte in seinem Rücken und vor ihm erhob sich eine meterhohe Dornenhecke. Sie trug weder grüne Blätter noch Rosen, sondern war schwarz und unheimlich. Die Dornen waren so lang wie seine Hand und so spitz wie ein Eispickel. Ihre einzige Bestimmung lag darin, Schmerzen zuzufügen und zu töten.

Rosalie hatte ihm von einem Labyrinth erzählt. Wo war es? Hinter den Dornen? Wenn er sich nicht täuschte, war auch Engelland von einer Dornenhecke umschlossen, die nur jene, welche reinen Herzens waren, passieren ließ. Galt für diese Hecke dieselbe Bedingung?

Er traute sich nicht näher heran, um einen Versuch zu wagen. Sein Herz war nicht rein. Er war ein Egoist. Wenn er keiner wäre, würde er noch in dem Turm ausharren und über die Bewohner der sieben Welten wachen. Stattdessen hatte er sie alle zu ihrem Untergang verdammt, nur um ein paar wenige Menschen zu retten.

Er empfand keine Reue, nicht einmal jetzt, da er vor den Dornen stand und nicht weiterwusste.

Entschlossen stemmte er sich gegen den Wind und ging an der Hecke entlang. Vielleicht gab es einen anderen Weg hinein.

Nachdem er jedoch einige Schritte gelaufen war und einen Blick über die Schulter geworfen hatte, musste er erkennen, dass er sich kein Stück von der Stelle bewegt hatte. Er stand immer noch auf der Klippe, mit derselben Aussicht wie zuvor.

Dieser Traum basierte nicht auf Logik, sondern auf Magie. Eva hatte ihn unter Elisabeths Einfluss erschaffen. Die böse Königin legte die Regeln dieses Ortes fest.

Der Gedanke löste etwas in Joe aus. Die Königin war böse – würde sie dann eine Hecke erschaffen, die nur Menschen mit einem guten Herzen passieren ließ? Elisabeth genoss nichts mehr, als gute Menschen leiden zu sehen. Welche Freude würde es ihr bereiten, wenn einer der Träumenden von den Dornen aufgespießt würde, nur deshalb, weil er ein reines Herz in seiner Brust trug.

Joe hatte keine Gewissheit, nur eine Vermutung, dennoch streckte er seinen Arm in Richtung der Hecke aus. Seine Fingerspitzen streiften einen Dorn, da ging plötzlich ein Ruck durch das Gehölz und die Zweige bogen sich weit genug auseinander, um ihn eintreten zu lassen. Das Ende war jedoch nicht sichtbar.

Wenn er sich traute, wäre er von Dornen umschlossen – jeder messerscharf und tödlich.

Aber er hatte nicht den Turm verlassen, um zu zögern. Ihm blieben ohnehin nur zwei Sonnenaufgänge. Es wäre kein großer Verlust, wenn er diese auch noch verlieren würde.

Mit dem Mut eines Todgeweihten setzte er Fuß für Fuß in die Hecke, bis diese sich hinter ihm schloss und in ihrer Dunkelheit gefangen nahm.

Das Wispern fremder Stimmen hüllte ihn ein, zu leise, um die Worte zu verstehen. Dennoch spürte er ihre Angst. Wer waren sie? Geister? Seelen, die in den Dornen gestorben waren?

Joe stellte sich ihnen. Er ließ sich von ihrer Furcht nicht anstecken, sondern straffte seine Schultern und hob tapfer den Kopf. Ein paar quälende Sekunden verstrichen, ehe die Zweige sich erneut teilten und ihm den Weg freigaben. Der schmale Pfad führte ihn zu einem Tor, das oben ein hölzernes Schild mit einer Gravur trug.

Von hinten nach vorn.

Du beginnst deine Reise am Ende.

Stellte die Dornenhecke gar nicht den Beginn des Labyrinths, sondern dessen Ausgang dar? Hatten die anderen sie noch gar nicht passieren müssen?

Das sähe Elisabeth ähnlich. Erst quälte sie die Träumenden mit irgendwelchen Hindernissen und Aufgaben. Sollten sie diese alle meistern, würden sie letztendlich an den Dornen scheitern, die ihnen das Herz durchbohrten, wenn es rein war. Womöglich gab es gar kein Entkommen aus diesem Labyrinth.

Aber Joe hatte es geschafft! Er hatte die Hecke durchquert. Mit ihm hatte Elisabeth nicht gerechnet. Er war die unvorhergesehene Wendung in ihrem Traumkonstrukt. Vielleicht konnte er alles zum Einsturz bringen.

Als er durch das Tor trat, schlossen sich hinter ihm die Zweige zu einer undurchdringbaren Mauer. Über ihm erstrahlte nun ein sternenklarer Nachthimmel. Glühwürmchen schwirrten durch die Luft. Eingeschlossen zwischen den Dornen auf der einen Seite und einer grünen Buchsbaumhecke auf der anderen, fand er sich auf einem Weg wieder, dessen Kiesel im Mondlicht golden schimmerten. Er konnte sich nun sowohl nach links als auch nach rechts wenden. Beide Richtungen glichen einander.

Denk nach, ermahnte er sich selbst. Lauf nicht einfach los, sondern überlege vorher, was du tust.

Es war die Stimme seiner Schwester, die ihm gute Ratschläge erteilte. Sie war sein Gewissen und sein innerer Kompass. Für gewöhnlich fand er sie äußerst nervig und ignorierte ihre Ermahnungen, die er sich auch außerhalb seines Kopfes oft genug von ihr anhören musste. Aber nun sehnte er sich nach ihrer Weisheit.

Was würde Maggy tun?

Vor seinem inneren Auge blitzten weiße Perlen auf einem dunklen Pfad in einem nächtlichen Wald auf.

Sie würde ihren Weg markieren, um zurückzufinden.

Zu Beginn ihrer Reise, als sie gerade in Königswinter angekommen waren, hatte ein seltsamer Kindergesang sie in den Finsterwald gelockt.

Maggy war geistesgegenwärtig genug gewesen, ihren Weg zu kennzeichnen, indem sie ihre Kette zerrissen und die Perlen als Markierung verwendet hatte. Joe trug allerdings keine Perlenkette bei sich, und auch sonst nichts, das sich zerkleinern ließe.

Er blickte auf seine leeren Handflächen und ihm kam eine Idee – eine blutige. Er griff in die schwarze Hecke, legte seine Hand um einen messergroßen Dorn und zog mit einem kräftigen Ruck daran. Es brauchte weitere Versuche, bis er diesen schließlich lösen konnte. Aber dann hielt er die Waffe mit seinen Fingern umschlossen und bohrte sich die Spitze in seine Haut. Sofort quoll Blut hervor. Er ballte eine Faust und ließ einige tiefrote Tropfen zu Boden fallen.

Ein schauriger Anblick, aber was könnte besser zu diesem Ort passen?

Er ließ sich von seinem Instinkt treiben und wandte sich nach links, hinter sich eine Spur aus Blut.

Holz gegen Stein

Mittwoch, 31. Oktober 2012

Labyrinth der Königin, dritter Ring

Kratzer überzogen Philipps Gesicht und seinen Oberkörper, welche die Tauben ihm zugefügt hatten. Nur mit Mühe und dank seines Schwertes war es ihm gelungen, den aggressiven Tieren zu entkommen. Wie Bestien hatten sie sich auf ihn gestürzt und es dabei vor allem auf seine Augen abgesehen. Blind hatte er sich vorwärts kämpfen und seine Waffe führen müssen, ohne zu wissen, wie lange dieser Teil des Albtraums noch andauern würde.

Sobald er den Wald hinter sich hatte und die Vögel von ihm abließen, traten ihm Tränen der Erleichterung in die Augen. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er es schaffen würde.

Sein weißes Hemd hing ihm in Fetzen über die Brust und war von seinem Blut getränkt.

Aber er hatte überlebt. Das war alles, was zählte.

Jeder Schritt in diesem Labyrinth brachte ihn ein Stückchen näher zu Ember. An diese Hoffnung klammerte er sich. Er verdrängte den Gedanken, dass ihr etwas geschehen könnte. Sie war stark, mutig und intelligent. Niemals würde sie sich von ein paar Tauben unterkriegen lassen. Vermutlich hatte sie das Ende längst erreicht und wartete dort auf ihn. Nein, sie würde nach ihm suchen und irgendwann mussten sie sich finden. So und nicht anders musste es sein.

Viel Zeit zum Verschnaufen blieb ihm nicht. Kaum dass er den Schock abgeschüttelt hatte, knickte der Weg nach rechts ab und vor ihm erstreckte sich ein breiter Gang, zu beiden Seiten flankiert von Statuen. Es waren Gänse, Pferde, spärlich bekleidete Damen und noch viele andere Skulpturen in Lebensgröße. Sie reihten sich mit einigen Schritten Abstand aneinander. Ihre steinerne Haut glänzte im Mondlicht weiß wie Alabaster.

Gewiss waren die Figuren nicht grundlos an dieser Stelle positioniert worden. Eine weitere Aufgabe erwartete den Prinzen.

Langsam ging er weiter und schaute sich nach einem Schild, einer Papierrolle oder einem Umschlag um. Irgendetwas, das ihm Aufschluss darüber geben würde, was von ihm verlangt wurde. Unsicher ließ er seinen Blick über die Statuen gleiten, die alle so detailgetreu ausgearbeitet waren, dass sie beinahe lebendig erschienen. Er wartete nur darauf, dass eine der holden Jungfrauen ihm zuzwinkerte oder ihn mit einem koketten Lächeln beehrte. Aber ihre Augen waren starr, so wie der Rest ihrer Körper.

Eine beängstigende Stille lag über ihm, die nur von Philipps eigenem Atem unterbrochen wurde. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust und er hielt sein Schwert vor sich, nur um sicherzugehen.

Mit zum Zerreißen gespannten Nerven ging er weiter und wartete nur darauf, dass irgendetwas passierte.

Er beachtete die einzelnen Figuren kaum noch, als auf einmal hinter ihm ein lautes Knurren erklang.

Erschrocken wirbelte er herum und sah sich einem schneeweißen Löwen gegenüber. Er bewegte sich etwas steif, als wären seine Knochen eingerostet. Hinter ihm stand ein leerer Sockel, wo er zuvor noch gesessen haben musste. Durch sein Alabasterfell zogen sich Risse und winzige Gesteinsbrocken rieselten herab, während das Tier ihn nicht aus den Augen ließ. Unter der steinernen Oberfläche kam ein schwarzer Körper zum Vorschein.

Ein lautes Brüllen erschütterte Philipp und als er dem Geräusch folgte, entdeckte er einen weiteren Löwen, der sich genau wie sein Gegenstück auf den Prinzen zubewegte. Synchron schüttelten sie sich und befreiten sich von dem Stein. Schwarz glänzendes Fell zog sich über ihre lebendigen Körper.

So leicht wurde aus Weiß Schwarz. Das erinnerte Philipp an Margery, die ebenfalls ihre Farbe gewechselt zu haben schien.

»Bleibt mir vom Leib«, rief er den Raubkatzen zu, die um ihn herumschlichen und mit einem zornigen Fauchen reagierten.

Philipp musste jederzeit mit einem Angriff rechnen. Die Frage war nur, welcher Löwe den Anfang machen würde.

Mit erhobenem Schwert drehte er sich im Kreis und folgte den Bewegungen der Tiere, die ihm immer näher kamen.

Warum hatten nicht zwei der hübschen Frauen lebendig werden können? Mit ihnen wäre er sicher leichter fertiggeworden.

Auch Scherze halfen ihm nicht, als der erste Löwe auf ihn zujagte. Gerade so schaffte Philipp es, ihm auszuweichen, da folgte bereits der nächste. Dieses Mal holte der Prinz mit seinem Schwert aus und registrierte mit Genugtuung, dass die Klinge ihr Ziel nicht nur streifte, sondern auch zu verletzen mochte. Das Tier brüllte vor Schmerz und Wut und stürzte sich erneut auf ihn. Mit gefletschten Zähnen schnappte es nach dem Prinzen, der es mit seiner Waffe auf Abstand hielt.

Von hinten griff ihn der zweite Löwe an und verpasste ihm mit seiner Pranke einen tiefen Kratzer am Bein. Philipp schrie und zwang sich, Haltung zu wahren. Er durfte keine Schwäche zeigen.

Anstatt zu fliehen, stellte er sich dem Kampf und schwang sein Schwert von der einen zur anderen Bestie. Er ließ ihnen keine Chance, näher zu kommen, und traf einen Löwen am Auge.

Fauchend wich dieser zurück und ermöglichte Philipp dadurch, aus dem Kreis auszubrechen, den die Tiere um ihn gezogen hatten. Schnell suchte er hinter der Statue eines Pferdes Deckung und konnte nur hoffen, dass diese nicht auch zum Leben erwachen würde.

Die Raubtiere kamen ihm nach, dieses Mal jedoch nicht von zwei Seiten, sondern vereint. Das machte es für den Prinzen leichter, sich gegen sie zu verteidigen. Mit einer schmerzenden Wade hievte er sich auf den Sockel und wehrte den Angriff eines Löwen von oben ab.

Er kletterte auf den Rücken des steinernen Pferdes und stieß sein Schwert in die Flanke des anderen Löwen. Dieser jaulte auf und zuckte zusammen, bevor sein Körper erschlaffte. Stein, schwarz wie Onyx, nahm ihn in Beschlag.

Philipp blieb keine Zeit, die Verwandlung zu beobachten, da das andere Tier ihn erneut attackierte. Nur knapp verfehlte es Philipps unverletztes Bein. Dieser ließ sich auf der anderen Seite der Statue heruntergleiten und humpelte zu einer der Frauen.

Der Löwe setzte ihm nach, genau wie der Prinz es vermutet hatte. Sobald das Tier ihn fast erreicht hatte, gab er der Figur einen kräftigen Stoß. Diese fiel um, aber die Raubkatze sprang rechtzeitig zur Seite. Mit ihren scharfen Zähnen schnappte sie nach Philipp. Er schaffte es nicht, ihr auszuweichen, und das Maul der Bestie kam ihm bedrohlich nahe. Dies nutzte er zu seinem Vorteil, indem er seine Waffe gegen sie richtete.

Kaum dass die Klinge sich in den Hals des Tieres bohrte, ließ dieses wimmernd von ihm ab. Der Schmerz wandelte sich jedoch sogleich in Zorn. Angeschlagen jagte es Philipp nach, als dieser zu dem leeren Sockel hastete, auf dem zuvor einer der Löwen gethront hatte.

Der Löwe sprang darauf und in dem Moment stieß Philipp ihm von unten sein Schwert in den Kopf. Das Tier war augenblicklich tot. Das Leben erlosch in seinen Augen und es erstarrte zu Stein.

Keuchend ließ Philipp sich zu Boden gleiten und besah sich die Wunde, die der Löwe ihm am Bein zugefügt hatte. Es war nur ein Kratzer, aber er brannte entsetzlich und tränkte den Stoff seiner Hose mit Blut. Sein Hemd war ohnehin zerfetzt, deshalb riss er sich einen Stoffstreifen davon ab und wickelte diesen fest um seine Wade.

Furchtsam schaute er zu den Statuen, an denen er noch nicht vorübergekommen war. Da waren noch zwei Stiere, Hunde mit drei Köpfen und ein Ritter. Philipp wusste nicht, was davon ihm am liebsten wäre.

Am besten blieben sie alle aus Stein, aber das bezweifelte er. Zumindest wusste er nun, was ihn erwartete.

Er ignorierte den Schmerz, der durch sein Bein schoss, als er sich wieder hinstellte und humpelnd seinen Weg fortsetzte. Ängstlich betrachtete er die spitzen Hörner der Stiere, als er diese passierte. Es wäre ihnen ein Leichtes, ihn aufzuspießen.

Der Kampf mit den Löwen hatte ihn an seine Grenzen gebracht. Vielleicht würde er gegen die Stiere nicht bestehen. Doch auch als er ein paar Schritte an ihnen vorbeigegangen war, bewegten sie sich nicht.

Erleichtert atmete er auf und widmete sich den Hunden. Es waren insgesamt vier mit jeweils drei Köpfen, also insgesamt zwölf Mäuler, die nach ihm schnappen würden. Hunde waren nicht so stark wie Löwen, dafür aber agiler. Sie würden ihn angreifen, noch bevor er es kommen sah.

Er richtete sein Schwert von einem auf den anderen, als er langsam durch ihre Mitte schritt. Ihre Alabasterhaut zeigte keinerlei Risse.

Blieb nur noch der Ritter, der direkt mit zwei Schwertern bewaffnet war und nicht nur einen Helm, sondern auch eine Rüstung trug – ein unfairer Kampf. Aber lieber stellte Philipp sich dem Kampf mit einer Waffe als der Unberechenbarkeit eines Tieres.

Er baute sich vor der Statue auf und rechnete damit, dass diese jeden Augenblick zum Leben erwachen würde, doch ihre Augen blieben starr und ausdruckslos. Herausfordernd tippte der Prinz mit seiner Klinge gegen den Stein, aber auch dies erweckte die Figur nicht zum Leben.

Philipp trat zurück und konnte kaum glauben, dass es ihm gelungen sein sollte, auch dieses Hindernis erfolgreich zu überwinden. Rückwärts ging er weiter und brachte Abstand zwischen sich und den Ritter, immer noch in der Erwartung, dass dieser sich gleich auf ihn stürzen würde. Er stieß gegen die Hecke und bemerkte, dass der Weg nach links abging. Dort erblickte er eine weitere Statue, die ihm den Atem stocken ließ, und er wusste instinktiv, dass die Prüfung längst nicht bestanden war, weil er soeben seinen nächsten Gegner entdeckt hatte.

Ein gewaltiger Drache.

Seine ausgebreiteten Flügel waren größer als so manches Haus. Mit seinem Maul könnte er den Prinzen mit einem Happs verschlingen. Krallen so groß wie ein Schwert wuchsen aus den vier Pranken.

Sobald Philipps Blick dem des Drachen begegnete, zogen sich Risse durch den Alabaster und ein Feuerschwall schoss aus dem Maul. Ein tiefes Knurren ließ den Boden vibrieren und Leben kehrte in den starren Körper des Monsters. Es schlug mit seinen Flügeln und befreite sich von dem Stein. Auch seine darunter liegende Haut war pechschwarz. Rot glühende Augen fixierten den Prinzen, als der Drache von dem Felsen glitt.

Es war nicht nur ein unfairer, sondern ein aussichtsloser Kampf. Selbst wenn Philipp nicht verletzt gewesen wäre, hätte er nicht gewusst, wie er gegen den Drachen bestehen sollte. Dieser schnaubte wütend, wobei Rauch aus seinen Nüstern quoll.

Das Schwert in der Hand des Prinzen zitterte, während er verzweifelt nach einem Ort suchte, an dem er Deckung finden konnte. Er brauchte einen Plan, sonst würde er sterben.

Das Monster ließ ihm jedoch keine Zeit zum Nachdenken, denn mit einem Satz war es bereits bei ihm und ragte mit ausgebreiteten Flügeln über ihm auf. Der gigantische Kopf schnappte nach ihm.

Philipp reagierte nur noch instinktiv, indem er sich abrollte und durch die Beine des Drachen floh. Beinahe wäre er von dem Schwanz der Bestie getroffen worden. Sein Bein protestierte, als er auf den Felsen zurannte, wo zuvor die Statue platziert gewesen war.

Ein helles Licht tauchte die Szenerie in einen roten Glanz. Der Geruch von Qualm lag in der Luft, während das Feuer zischte. Die Flammen berührten Philipp nicht, aber er spürte ihre Hitze in seinem Rücken.

Panisch presste er sich an den kühlen Stein und bebte am ganzen Körper. Wie sollte er nur einen solch übermächtigen Gegner besiegen?

Ein Ruck ging durch den Boden, als der Drache sich abstieß und sich in den Himmel erhob.

Flieg weg, dachte Philipp verzweifelt, aber sogleich kamen ihm Ember und die anderen in den Sinn.

Was, wenn das Monster sich auf sie stürzte? Es zu töten, war seine Aufgabe. Er durfte nicht zulassen, dass jemand anderes seinetwegen in Gefahr geriet.

Schnell zog er sich den Felsen empor und hob sein Schwert. »Hier bin ich«, schrie er der Bestie entgegen, die über ihm ihre Kreise zog. »Du willst mich!«

Der Drache schien ihn gehört zu haben, denn sein Blick streifte ihn und er stieß ein ohrenbetäubendes Fauchen aus. Im Sturzflug jagte das Monster auf ihn zu.

Philipp sprang von der Erhöhung, wobei sein Bein beim Aufprall vor Schmerz brannte. Die Erde wurde von der Landung des Drachen erschüttert und Gesteinsbrocken flogen umher. Mit einer Pranke riss das Monster Philipp von den Füßen und schleuderte ihn gegen die Buchsbaumhecke.

Er fiel zu Boden, aber rappelte sich sofort wieder auf. Adrenalin peitschte nun durch seine Adern und setzte seinen Körper unter Strom.

Eine Feuersbrunst traf die Hecke, dort, wo Philipp zuvor noch gestanden hatte. Die Blätter waren jedoch immun gegen die Flammen. Zwar qualmte es ordentlich, aber sie fingen kein Feuer. Philipp bezweifelte, dass das auch für ihn galt, und er wollte es auch nicht herausfinden.

Mit schnellen Schritten rannte er zu der Rückseite des Drachen und bohrte sein Schwert in dessen Schwanz. Dieser holte unter lautem Gebrüll nach ihm aus und warf ihn erneut um. Die Luft wurde aus Philipps Lungen getrieben, als er aufschlug. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen, doch der Anblick des Drachen, der Sekunden später über ihm aufragte, weckte sämtliche Lebensgeister.

Nur knapp schaffte er es, seinem Maul auszuweichen. Er ließ keine Zeit verstreichen, sondern hieb mit seiner Waffe nach ihm. Sein Schlag ging jedoch ins Leere.

Der Drache versetzte ihm einen weiteren Stoß mit einer seiner riesigen Pranken. Es klingelte in Philipps Ohren und er schloss nicht aus, dass er sich mindestens eine Rippe gebrochen hatte, aber er spürte in diesem Zustand weder den Kratzer an seinem Bein noch sonst irgendeine Verletzung.

Seine ganze Aufmerksamkeit war darauf ausgerichtet, sein Schwert nicht zu verlieren. Er hielt es vor sich, als der Drache sich erneut auf ihn stürzte. Dieses Mal versuchte Philipp nicht, zu fliehen, sondern hielt dem Angriff stand. Mit ganzer Kraft schlug er mit seiner Waffe gegen den Hals des Ungetüms.

Zu seinem Entsetzen sah er, wie die Klinge an der steinharten Haut des Drachen abbrach. Die Spitze flog davon und Philipp hielt nur noch das abgebrochene, nutzlose Ende.

Fassungslos starrte er auf seine Hände, als der Hieb des Monsters ihn ein weiteres Mal von den Füßen riss. Voller Schock verlor er nun auch noch den Rest seiner Waffe und blieb wehrlos auf der Erde liegen.

Nein, betete er innerlich. Das darf nicht mein Ende sein. Noch nicht.

Er wollte Ember nur noch ein letztes Mal sehen. Ihr ein letztes Mal sagen, dass er sie liebte. Sie ein letztes Mal in seinen Armen halten. Ein letzter Kuss.

Der Drache ragte über ihm auf. Dampf quoll aus seinen Nüstern. Es lag etwas Blutrünstiges in seinem Blick.

Plötzlich sah Philipp nicht mehr diesen Drachen vor sich, sondern einen anderen – einen in menschlicher Gestalt.

Der eine Drache, den er sich geschworen hatte, zu töten.

Die Vergeltung war ihm genommen worden, aber nun erhielt er eine neue Chance. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet er auf einen Drachen traf. Er konnte sich ergeben und zulassen, dass ein Monster ihm das Leben nahm, so wie seine Eltern von einem Monster ermordet worden waren. Oder er kämpfte bis zum Schluss. Mit allem, was er hatte. Vermutlich würde er bei dem Versuch dennoch sterben, aber dann mit Ehre. In seinem Herzen war er immer noch ein Prinz und es war seine Pflicht, sich jeder Gefahr erhobenen Hauptes zu stellen.

Eine weitere Feuersbrunst brach aus dem Maul der Bestie. Philipp rollte sich zur Seite, dennoch versengte ihn die Hitze. Das, was von seinem Hemd noch übrig war, fing Feuer und seine Haut brannte fürchterlich. Er wälzte sich über den Boden, um die Flammen zu löschen.

Nicht mehr als wenige Sekunden blieben ihm, dann schnappte der Drache erneut nach ihm. Philipp trat gegen sein Maul. Es fühlte sich nicht anders an, als gegen einen Felsen zu kämpfen. Er konnte das Untier nicht verletzen, aber es genügte, um es auf Abstand zu halten.

Irgendwo tief in seinem Inneren mobilisierte er seine letzten Kraftreserven, die ihre Energie gleichermaßen aus dem Wunsch nach Rache schöpften als auch nach jenem, zu leben.

Mit einer Geschwindigkeit, die ihm mit seinem verletzten Bein und dem glühenden Oberkörper nicht möglich sein dürfte, stemmte er sich hoch und schlüpfte an dem Drachen vorbei. Er rannte nicht vor ihm davon, sondern erneut zu dessen Schwanzende. Die Wunde, die er ihm mit dem Schwert zugefügt hatte, war nicht einmal mehr zu sehen.

Ohne zu zögern, sprang er, so hoch er konnte, und hielt sich an dem Schwanz fest. Er stellte sich vor, es wäre ein Seil, an dem er sich emporziehen musste.

Der Drache reagierte zornig und drehte sich hin und her, in dem Versuch, den Prinzen abzuschütteln. Dieser legte seinen ganzen Überlebenswillen in die Aufgabe, den Drachen zu bezwingen, und ließ nicht los. Stück für Stück gelangte er höher, bis er den Rücken erreichte. Die Bestie schrie vor Ungeduld, breitete ihre gigantischen Schwingen aus und nahm ein paar Schritte Anlauf, bevor sie sich erneut in den Himmel erhob. Das Labyrinth verschwand unter ihnen im Nebel.

Philipp klammerte sich an die steinharten Schuppen des Drachen und zog sich vorwärts. Er hatte nur eine Möglichkeit, um seinen Feind zu töten – dessen Schwachstelle, den einzigen verwundbaren Punkt.

Als ahne das Monster seinen Untergang, spie es Feuer und sauste wild durch die Luft. Das alles nützte ihm jedoch nichts, denn mit derselben Entschlossenheit kämpfte Philipp sich zu dessen Schädel vor. Sein Schwert hatte er verloren, dennoch war er nicht unbewaffnet. Der Gegenstand, der ihm zuvor so nutzlos erschienen war und der dennoch nur für ihn bestimmt war, lag nun fest in seiner rechten Hand – das abgebrochene Stuhlbein, welches er von dem Tisch mit den sieben Gaben mitgenommen hatte.

Wie ein Pflock stieß er es dem Drachen mit ganzer Kraft ins Auge. In seinem Geist war es Vlad Dracul, dem er das Holzstück in das kalte Herz rammte.

Das Geschöpf jaulte vor Qual, aber Philipp zeigte genauso wenig Erbarmen, wie der Fürst der Finsternis seinen Eltern entgegengebracht hatte. Er verlor den Halt und rutschte von dem Kopf des Drachen, klammerte sich aber mit ganzer Kraft an dem Pflock fest.

Das Monster sauste im Sturzflug zur Erde und schlug hart auf. Nicht einmal bei der enormen Erschütterung lockerte Philipp seinen Griff. Ganz im Gegenteil, er zog sich hoch, thronte auf dem Haupt des sterbenden Drachen und rammte mit seinem Stiefel das Stuhlbein noch tiefer in dessen Schädel. Es drang bis tief in das Innerste des Wesens vor, welches daraufhin erschlaffte. Die Magie wich aus seinem Körper und es wurde wieder zu Stein.

Philipp hatte es geschafft: Er hatte den Drachen getötet.

Erschöpft brach er auf der Statue zusammen und weinte gleichermaßen vor Erleichterung als auch vor Schmerz, weil das Adrenalin langsam seinen Körper verließ. Jeder Muskel tat ihm weh, dennoch fühlte sich sein Herz an, als wäre es von einer großen Last befreit worden.

Mit rasselndem Atem blickte er in den endlosen Sternenhimmel über sich. Wenn er nun die Augen schloss, würde er sterben. Das spürte er. Es wäre eine Linderung. All das Leid würde mit einem Schlag enden. Manchmal war es leichter, loszulassen, als weiterzuleben.

Ember.

Sein Herzschlag klopfte ihren Namen.

Sie war irgendwo in diesem Labyrinth. Vielleicht gar nicht weit von ihm. Er konnte nicht gehen, ohne ihr Lebewohl zu sagen. Das würde sie ihm nie verzeihen.

Der Gedanke an ihre zorngeröteten Wangen trieb ihm ein Lächeln ins Gesicht.

Noch war es nicht so weit.

Ächzend setzte er sich auf und kletterte von dem Stein herunter. Seine Sicht verschwamm und seine Beine fühlten sich weich wie Gummi an, während ein scharfer Schmerz in seine Seite stach. Aber er atmete, das musste genügen.

Wacklig bewegte er sich vorwärts und betrat den nächsten Pfad. Sobald er um die nächste Ecke bog, erschien der Kampf bereits zu einem Albtraum zu verblassen. Umschlossen von dem grünen Buchsbaum, dem funkelnden Nachthimmel über ihm und dem golden glänzenden Kies zu seinen Füßen, fiel es schwer, sich daran zu erinnern, dass er gerade gegen einen Drachen gekämpft hatte. Nur sein schmerzender Körper war der Beweis dafür, dass es tatsächlich passiert war.

Die Hecke teilte sich vor ihm – ein Weg führte nach links, der andere nach rechts. Unschlüssig blickte er von einer zur anderen Seite. Alles sah gleich aus.

Er wollte sich bereits nach links wenden, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und irritiert herumfuhr. Ein leises Rascheln war zu vernehmen, aber er konnte nichts erkennen. Angestrengt suchte er die Blätter nach der Geräuschquelle ab, als plötzlich zwischen all dem Grün etwas Rotes aufblitzte.

Nicht rot, sondern eher kupferfarben.

Eine gelockte Haarsträhne.

Ein eiskalter Schauer jagte durch Philipps Körper, als er auf die Stelle zuhastete. Sein Herz zog sich vor Angst und Sorge zusammen.

Mit einer Hand drückte er die Zweige beiseite und erblickte Embers Gesicht. Kratzer zogen sich über ihre Haut, die entsetzlich bleich war. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie wirkte nicht friedlich, sondern panisch. Um ihren Hals schlang sich eine dicke Efeuranke. Auch ihre Arme und Beine hatten sich in dem Gehölz verfangen.

»Oh nein«, entfuhr es Philipp, als er beherzt in die Hecke griff und mit Leibeskräften versuchte, ihr Ember zu entreißen. »Bitte nicht«, wimmerte er, während Tränen ihm die Sicht raubten.

Er zerrte an den Ranken und ignorierte die Kratzer, die er sich zufügte. Sie waren bedeutungslos. Sein ganzer Körper war eine einzige Wunde. Es ging nur noch um Ember. Er durfte sie nicht verlieren. Sie hatte nicht das Recht, vor ihm zu sterben. Er erlaubte es nicht.

Schließlich gab die Hecke nach und entließ den regungslosen Körper des Mädchens in die Arme seines Prinzen.

»Ember«, flehte er sie an und hielt sie fest an seiner Brust.

Fahrig tasteten seine Fingerspitzen über ihren Hals. War da ein Puls oder war das nur sein eigener beschleunigter Herzschlag? Er beugte sein Ohr über ihren Mund. Atmete sie noch?

Wir beide oder keiner

Mittwoch, 31. Oktober 2012

Labyrinth der Königin, vierter Ring

Ein Ruck ging durch Embers Körper. Sie riss die Augen auf, die rot geädert waren, und schnappte nach Luft. Ihr Herz schlug so schnell, als wolle es ihr aus der Brust springen. Alles drehte sich um sie. Sie wusste nicht, wo sie war oder was sich ereignet hatte. Da war nur diese entsetzliche Panik, die ihren ganzen Körper lähmte.

Ihre Iriden zuckten suchend umher, bis sie einen Fixpunkt ausmachten, an dem Ember sich festhalten konnte.

Philipp.

Er war hier. Bei ihr.

Sofort beruhigte ihre Atmung sich etwas. Langsam kehrte die Erinnerung zurück: das Labyrinth, die Kelche, der Tisch mit den sieben Gaben, die Tauben und schließlich die Hecke.

Die Angst packte sie erneut und sie fasste sich mit beiden Händen an die Kehle. Aber dort waren keine Ranken mehr, die ihr die Luft abschnürten.

»Alles ist gut«, raunte Philipp beruhigend.

Sie wusste, dass das eine Lüge war, dennoch konnte sie nicht anders, als bei seinem Anblick zu lächeln. »Mehr als gut«, wisperte sie heiser. »Du bist bei mir.«

Nun bemerkte sie die feuchten Bahnen, welche Tränen auf seiner schmutzigen Haut hinterlassen hatten, und hob tröstend ihre Hand, um sie an seine Wange zu legen. Sein Gesicht war rußgeschwärzt und von Kratzern überzogen, aber nicht einmal diese konnten ihn entstellen.

»Was ist dir widerfahren?«, wollte sie von ihm wissen.

Er trug kein Hemd mehr. Das tat er in den wenigsten Träumen, die sie von ihm hatte, aber dann glühte seine Haut nicht wie ein Eisen, das im Feuer erhitzt wurde.

Ein Schmunzeln hob seine Mundwinkel. »Ich habe gegen einen Drachen gekämpft«, verkündete er stolz. »Und gewonnen.«

Es war schön, ihn für einen Moment glücklich zu erleben. Sie konnte nur ahnen, was ihm der Sieg bedeutete. Zwar war es gewiss nicht DER Drache gewesen, den er eigentlich hätte töten wollen, aber es war das, was einem Triumph am nächsten kam – die Gewissheit, dass er es gekonnt hätte.

»Ich glaube an dich«, ließ sie ihn wissen. »Es gibt nichts, das dich aufhalten kann. Kein Drache, keine böse Königin, kein Albtraum.«

Seine Lippen erstarrten und das Lächeln wich aus seinen Augen. »Ich dachte, ich hätte dich verloren. Wie konnten die Pflanzen dich gefangen nehmen? Was ist mit deiner Phönixmagie?«

Betrübt schlug Ember die Augenlider nieder. »Ich hatte gerade diese unheimlichen Statuen passiert …«

Philipp unterbrach sie aufgeregt. »Wurden sie bei dir auch lebendig?«

»Nein.« Sie lachte trocken auf. »Wobei mich das gewundert hat. Ich habe die ganze Zeit damit gerechnet.« Sie stockte. »Moment. War das etwa der Drache, gegen den du kämpfen musstest?«

Philipp zuckte mit den Schultern, als wäre es keine große Sache gewesen. »Scheinbar hat er nur auf mich gewartet.«

»Scheinbar«, stimmte sie ihm nachdenklich zu. »So wie die Hecke auf mich. Kaum dass ich den Gang betreten hatte, schossen die Ranken bereits auf mich zu. Instinktiv rief ich meine Flammen hervor, aber sie waren nutzlos. Nicht einmal die Blätter fingen Feuer.«

»Oh«, entfuhr es Philipp. »Bei dem feuerspeienden Drachen war es genauso.«

»Vergleichst du mich gerade mit einem Drachen?«, zog sie ihn in gespielter Empörung auf.

»Nein«, beteuerte er sogleich. »Ich meine doch nur, wegen des …«

Sein Blick streifte ihren und er erkannte, dass sie es nicht ernst meinte. Die Anspannung wich von ihm, doch er verzog bei seinem nächsten Atemzug das Gesicht. Vermutlich hatte er Schmerzen. Dessen ungeachtet zog er sie in eine feste Umarmung. Embers Wange schmiegte sich an seine Halsbeuge – ihr Lieblingsplatz. Nirgendwo fühlte sie sich wohler. Mit seinem Duft in der Nase und dem Rhythmus seines Herzens im Ohr konnte sie sogar das Labyrinth vergessen.

Es war nur ein kurzer Augenblick, dann löste Philipp sich von ihr und stemmte sich auf die Beine. Ganz der Prinz, hielt er ihr seine Hand entgegen und half ihr beim Aufstehen.

»Lass uns zusehen, dass wir aus diesem Albtraum erwachen«, schlug er vor, ohne ihre Hand loszulassen. Sie würden nun den Weg gemeinsam fortsetzen.

»Meinst du, den anderen geht es gut?«, fragte Ember, als sie in den nächsten Gang einbogen.

Würden sie überhaupt mitbekommen, wenn einer von ihnen starb? Oder stellten sie erst fest, dass einer fehlte, wenn sie erwachten?

Falls sie erwachten.

Philipp gab ihr keine Antwort, sondern blieb stehen und ließ ihre Hand los. Verwirrt wandte Ember ihm das Gesicht zu und erschrak, als sie seine schmerzverzerrte Miene bemerkte. Er hatte die Augen zusammengekniffen und beide Hände auf seine Brust gepresst. Ihm knickten die Beine weg und er fiel auf seine Knie.

»Philipp! Was ist mit dir?«

Ihre Stimme war schrill vor Sorge. Sie hielt ihn an den Schultern fest und ließ ihn behutsam zu Boden gleiten.

Tränen quollen aus seinen Augen, als er diese wieder öffnete. Er konnte seine Hand nicht von seinem Herz lösen. Ember legte ihre darüber, verflocht ihre Finger mit seinen und spürte das Stocken seines Pulses.

»Du musst ohne mich weitergehen«, forderte er sie traurig auf.

Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Wie konnte er das auch nur vorschlagen? Glaubte er wirklich, dass sie ihn in solch einem Zustand zurücklassen würde? Dass sie ihn JE verlassen könnte?

»Auf keinen Fall«, entgegnete sie bestimmt. »Ist es wegen des Kampfes mit dem Drachen? Hat er dich verletzt?«

»Das auch«, gab er zu, aber es war längst nicht alles. Die Wahrheit quälte ihn. Er wollte sie nicht aussprechen.

Ember konnte sehen, wie er mit sich rang.

»Es ist das Gift«, gestand er schließlich nicht nur ihr, sondern auch sich selbst ein. »Ich habe aus dem vergifteten Kelch getrunken.«

»Woher willst du das wissen?«, fuhr sie ihn an. Es hätte jeden treffen können. Keiner hatte etwas gesagt. ER hatte nichts gesagt.

»Am Boden des Gefäßes war ein Totenkopf. Da wusste ich es.«

Er konnte sie nicht ansehen.

Bei Ember war kein Totenkopf gewesen. Und auch bei sonst niemandem, zumindest hatte sich niemand dazu geäußert.

»Nein, das ist ein Irrtum«, beharrte sie. »Die böse Königin will dich nur glauben lassen, dass du stirbst. In Wahrheit bist du nicht vergiftet.« Ihre Stimme brach und ging in ein Schluchzen über. »Das ist nicht real. Nichts davon. Es ist nur ein Traum.«

Er hielt ihre Finger fest, drückte sie auf seine Brust und ließ sie spüren, dass sein Herz die letzten Takte einer Melodie anschlug, die sein Ende begleiten würde. »Du weißt, dass das nicht stimmt. Elisabeth spricht keine leeren Drohungen aus. Sie lässt uns eher im Glauben, dass es Hoffnung gibt, nur um sie dann zu zerstören. Wenn es nach ihr geht, wird niemand dieses Labyrinth verlassen.« Seine blauen Augen hielten sie fest. »Aber du musst überleben, Ember. Du darfst nicht aufgeben. Versprich mir das!«

»Gar nichts tue ich«, fauchte sie wütend und riss sich von ihm los. Sie drehte ihr Gesicht weg, weil sie es nicht länger ertrug, ihn anzusehen.

Wie konnte er sich einfach so mit seinem Tod abfinden? Es musste doch einen Ausweg geben! Es gab immer einen, auch wenn man ihn nicht auf den ersten Blick erkennen konnte.

»Ember«, flehte er sie hilflos an und streckte seine Hand nach ihr aus.

Was konnte sie tun? Irgendetwas musste sie doch tun können! Sie würde ihm nicht beim Sterben zusehen! Niemals!

Funken sprühten aus ihren Fingerspitzen und das Feuer loderte in ihrer Brust auf. Lieber würde sie mit ihm sterben, als ohne ihn weiterzuleben.

Ohne Vorwarnung beugte sie sich über ihn und presste ihre Lippen auf seine. Vielleicht war noch genug Gift an ihnen, um auch sie mit in den Tod zu reißen.

Philipp erwiderte ihren Kuss in der Annahme, dass es sich dabei um einen Abschiedskuss handle. Er ahnte ihre wahren Beweggründe nicht, sonst hätte er sich ihr gewiss verwehrt. Doch so öffnete er ihr bereitwillig den Mund und ließ sie seinen Kummer, sein Bedauern und seinen Schmerz ebenso schmecken wie sein Verlangen und seine bedingungslose Liebe.

»Ich liebe dich«, hauchte er, als ihr Gesicht seinem noch ganz nah war.

Die Nässe ihrer Tränen traf ihn. Große Tropfen liefen über ihre Wangen. In ihren Augen stand ihre ganze Verzweiflung.

»Nein«, wimmerte sie enttäuscht. Auch wenn es ein schleichendes Gift war, wusste sie instinktiv, dass ein Kuss nicht ausreichte, um sie umzubringen. Der Tod würde sie trennen, Philipp mit sich nehmen und sie zurücklassen.

Die Trauer drohte sie zu überwältigen, als ihr ein Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf schoss. Natürlich! Warum hatte sie nicht früher daran gedacht?

Sie griff in ihre Jackentasche und zog ein Kristallglas hervor. Es war aufwendig geschliffen und schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Eine hellrote Flüssigkeit schwappte im Inneren von einer zur anderen Seite. Sie lief niemals aus, nicht einmal, wenn Ember das Glas auf den Kopf stellte. Immer war dieselbe Menge enthalten.

»Trink das«, forderte sie Philipp auf, legte ihre Hände in seinen Nacken und hielt ihm das Gefäß an seine Lippen.

Er sträubte sich gegen ihren Griff und zog seinen Kopf zurück. »Was ist das?«

»Ist das nicht gleichgültig?«, konterte sie ungeduldig. »Was hast du noch zu verlieren?«

»Dich«, erwiderte er im selben Atemzug. »Ich habe dich zu verlieren.« Er betrachtete das Glas nun etwas genauer und erkannte es wieder. »Das ist von dem Tisch. Das ist der Gegenstand, für den du dich entschieden hast.«

»Ich will, dass du davon trinkst«, beharrte sie unnachgiebig. Warum tat er es nicht einfach? Was ließ ihn zögern?

»Nein«, wehrte er sie ab. »Dieses Glas ist für dich bestimmt. Was immer sich darin befindet, wirst du brauchen, um weiterzukommen.«

Sie lachte laut auf. Es war ein hässliches Geräusch, das nicht Schmerz, sondern Leid ausdrückte. »Ohne dich wäre ich bereits verloren!« Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. »Was, wenn ich das Glas nur gewählt habe, um dich retten zu können?«

»So läuft das nicht.«

»Woher willst du das wissen?«, fuhr sie ihn aufgebracht an. »Hast du etwa dieses Labyrinth entworfen? Ich habe mich für das Glas entschieden und mir fällt kein besserer Grund ein, es zu nutzen, als damit dein Leben zu retten! Verstehst du nicht, dass du mich ebenfalls zum Tod verdammst, wenn du stirbst?« Die Verzweiflung raubte ihr den Atem. »Ich kann nicht ohne dich leben, Philipp! Ich will es auch überhaupt nicht. Wenn du mich liebst, dann verstehst du das. Würde es dir an meiner Stelle nicht genauso gehen?«

Sie konnte in seinen Augen sehen, dass sie seinen wunden Punkt getroffen hatte. Wenn sie es wäre, die das Gift getrunken hätte, würde er nichts unversucht lassen, um sie zu retten. Sein eigenes Leben würde er für ihres geben. Er hatte kein Recht, den Inhalt des Kristallglases abzulehnen, nicht einmal ihretwegen, denn die Entscheidung lag bei ihr.

Ermutigt von dem Zögern in seinem Blick, hielt sie ihm erneut das Gefäß an die Lippen. Dieses Mal wehrte er sie nicht ab, sondern leerte den Inhalt. Sobald der letzte Tropfen in seiner Kehle verschwunden war, blieb das Glas leer. Es hatte nun seinen Zweck erfüllt.

»Spürst du etwas?«, hakte Ember sorgenvoll nach. Es musste einfach funktionieren.

Erst schien Philipp gar nichts zu bemerken, doch dann schrie er plötzlich auf und krümmte sich zusammen. Seine Knochen knackten und seine Haut glühte noch mehr als zuvor. Sie war so heiß, dass sogar Ember sich an ihr verbrannte.

»Philipp!«, schrie sie verzweifelt und versuchte, ihn festzuhalten, aber er entzog sich ihr und wand sich voller Qual.

Was hatte sie nur getan? Hatte sie womöglich alles noch schlimmer gemacht?

Es war entsetzlich, ihm dabei zusehen zu müssen, wie er litt.

Aber nach einer Weile schien sich der Schmerz zu legen und Philipp ließ sich keuchend zurückfallen.

Mit einem Satz war Ember bei ihm und bemerkte sofort, dass sich sämtliche Kratzer in seiner Haut geschlossen hatten. Er war makellos. Prüfend fuhr sie über seine Haut, die sich nun wieder kühl anfühlte, wenn auch feucht von Schweiß. Er war geheilt. Eine andere Erklärung gab es nicht.

Ihr Blick begegnete seinem und das Lächeln seiner Lippen ließ ihr Herz vor Freude tanzen. Mit einer Handbewegung zog er sie an sich und küsste sie leidenschaftlich. Das Leben war in ihn zurückgekehrt. Es pulsierte in seinem Blut wie ein reißender Fluss.

»Du hast mich gerettet«, seufzte er gegen ihren Mund.

Sie konnte nicht sagen, ob er ihr dankbar war oder ihr einen Vorwurf machte, aber das war unbedeutend, solange er lebte.

»Wir beide oder keiner«, flüsterte sie und meinte es ernst.

Entweder würden sie dieses Labyrinth gemeinsam überleben oder sie würden zusammen in ihm sterben. Es gab keine Zukunft, in der sie ohne ihn sein würde.


Rot und Weiß

Mittwoch, 31. Oktober 2012

Labyrinth der Königin, fünfter Ring

Mit erhobenem Langschwert und kampfbereiter Sense schritten Rosalie und Simonja Seite an Seite durch das Labyrinth, immer in der Erwartung, dass die nächste Gefahr nicht lange auf sich warten ließ. Vier Ringe hatten sie bereits hinter sich gebracht, drei lagen noch vor ihnen. Bisher waren die Herausforderungen zwar hart, aber dennoch irgendwie schaffbar gewesen. Das würde sich gewiss ändern, denn Elisabeth war weder für ihre Fairness noch für ihre Milde bekannt. Sie wollte einen jeden von ihnen brechen und leiden sehen.

Rosalie vermutete allerdings, dass Elisabeth an Simonja scheitern würde. Kaum jemand wusste besser als Rosalie, wie ein Mensch aussah, der alles verloren hatte und nur noch für die Rache lebte. Simonja drückte all das aus.

Die ›Grimm-Chroniken‹ hatten Rosalie verraten, was Simonja in den letzten beiden Tagen hatte durchmachen müssen, und es wäre angebracht gewesen, dass sie ihr Beileid ausdrückte. Aber sie tat es nicht, denn keine Worte könnten Simonjas Schmerz mildern oder Tote wieder lebendig machen. Die Erwähnung von Nisha und Arian wäre nur Salz in einer offenen Wunde, die wohl niemals ganz heilen würde. Schweigen war da die bessere Option.

Vorerst setzten sie ihren Weg gemeinsam fort, aber Rosalie quälte die Frage, was sie tun sollte, wenn sie auf Margery trafen. Sobald Schwarz, Weiß und Rot zusammenkamen, wäre der Krieg der Farben eröffnet. Es klang nach einem Jeder-gegen-jeden-Szenario, aber so musste es nicht sein. Simonja wollte nicht ihren Tod, genauso wenig wie Rosalie deren begehrte.

Aber Rosalie konnte nicht zulassen, dass Simonja Margery tötete. Wie weit wäre sie bereit, zu gehen, um ihre Schwester zu beschützen? Würde sie Simonja töten?

Sie wusste es nicht, aber sie zweifelte nicht daran, dass sie schon bald in eine Situation gelangen würde, in der sie sich entscheiden musste. Dann blieb ihr nur übrig, sich auf ihre Intuition zu verlassen.

Von ihren Gedanken abgelenkt, bemerkte Rosalie die Veränderung im Untergrund erst, als ihre Stiefel in den Boden einsanken. Der Kies war auf einmal ganz weich, fast wie Schlamm. Rein äußerlich sah er nicht anders aus als zuvor. Die Oberfläche schien nur eine dünne Schicht darzustellen, die unter ihrem Gewicht gebrochen war. Wie bei einem zugefrorenen See. Schnell versuchte Rosalie, der Masse zu entsteigen, doch je mehr sie sich bewegte, umso schneller sank sie.

Ein Keuchen von Simonja verriet ihr, dass es dieser nicht besser erging. Sie stemmte ihre Sense in den Boden und versuchte, sich mit der Stange rauszudrücken, aber stattdessen sank diese nur tiefer in die Erde ein.

Als Simonja das erkannte, zerrte sie hektisch in die andere Richtung, doch die Waffe saß fest.

»Simonja, hör auf«, rief Rosalie warnend, da sie befürchtete, dass Simonja das Gleichgewicht verlieren könnte, sollte es ihr tatsächlich gelingen, die Sense mit einem Ruck zu befreien. Fiele sie hin, wäre sie verloren.

»Ich brauche meine Waffe«, knurrte Simonja unbeirrt und riss weiter an dem Stab, dabei sank sie immer tiefer.

»Sie nützt dir gar nichts, solange wir hier feststecken. Du machst es mit deiner Hektik nur noch schlimmer.«

Rosalie ahnte, dass es Simonja gar nicht so sehr um die Waffe an sich ging, sondern eher darum, dass sie einst ihrer Mutter gehört hatte.

»Ohne die Sense kann ich nicht weitergehen.«

»Wir können sowieso nicht weiter«, fuhr Rosalie sie an. »Falls es dir nicht aufgefallen ist: Wir stecken fest.« Sie schob ihr Schwert zurück in die Hülle auf ihrem Rücken, um beide Hände frei und die Waffe an ihrem Körper zu haben.

Simonja ließ mit einem Schrei der Frustration die Sense los und wirbelte zu Rosalie herum. Ihre Augen waren vor Wut zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und sie funkelte Rosalie derart zornig an, als würde sie ihr die Schuld dafür geben, dass sie sich nun in dieser Lage befanden.

»Und? Was schlägst du vor, wie wir uns nun befreien?«, blaffte sie schnaufend und stemmte ihre Hände in die Hüften.

Während Rosalie versucht hatte, ruhig zu bleiben, und nur bis zu den Waden versunken war, steckte Simonja bereits bis über die Knie in dem Morast. Der Weg war an dieser Stelle ungewöhnlich breit, was ihnen zu denken hätte geben müssen, aber beide waren zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, um dem Beachtung zu schenken.

Nun war die Hecke zu weit entfernt, um sie erreichen und sich daran rausziehen zu können.

Bisher hatte es an jeder Station einen Ausweg gegeben und Rosalie war überzeugt davon, dass es auch dieses Mal einen geben musste, wenn auch keinen allzu offensichtlichen.

»Für welchen Gegenstand von dem Tisch hast du dich entschieden?«, wollte sie von Simonja wissen.

Rosalie hatte den Teller gewählt und sich in einen Wolf verwandelt, sobald sie sich in der spiegelnden Oberfläche erblickt hatte. In der Gestalt der Bestie war sie auf Simonja losgegangen, die sie aus einer Ahnung heraus nicht getötet, sondern sie mithilfe des Mondlichts zurückverwandelt hatte.

»Die Gabel«, antwortete Simonja verständnislos. »Soll ich den Kies etwa aufessen?«

Sarkasmus half ihnen nicht weiter.

»Vielleicht kann sie uns irgendwie anders helfen. Wo hast du sie?«

Simonja beugte sich nach vorn und steckte ihre Hand in den sinkenden Boden. Sie versuchte, sich durchzubohren, aber es war unmöglich.

»Verdammt«, fluchte sie und schaffte es nur mit Mühe, ihren Arm wieder freizubekommen. »Die blöde Gabel steckt in meinem Stiefel!«

»Warum packst du eine Gabel in deinen Stiefel?«, wunderte Rosalie sich.

»Wo hätte ich sie denn sonst hintun sollen?«, blaffte Simonja verärgert zurück. »Ich hatte meinen Picknickkorb leider nicht bei mir.«

Rosalie rollte genervt mit den Augen. Die Ausweglosigkeit der Situation kratzte an ihrer beider Nerven. Zudem sanken sie immer tiefer. Simonja reichte der Boden nun schon bis zu den Oberschenkeln.

Verzweifelt blickten sie sich um und suchten nach einer Lösung, aber sowohl links als auch rechts setzte sich nur der Weg bis zur nächsten Abzweigung fort.

»HILFE«, schrie Simonja plötzlich aus voller Kehle. »HILFE!«

»Was soll das?«, hakte Rosalie irritiert nach. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass uns jemand hört?«

»Warum nicht?«, konterte Simonja. »Wenn wir beide einander begegnen können, ist es nicht ausgeschlossen, dass auch einer der anderen unseren Weg kreuzen kann. Außerdem habe ich keine andere Idee. Du etwa?«

Das hatte Rosalie nicht und deshalb riefen sie nun gemeinsam: »HILFE! Wir brauchen HILFE!«

Sie brüllten so lange, bis ihre Kehlen heiser waren und sie beide bis über den Bauchnabel im Untergrund verschwunden waren. Von nirgendwo kam jedoch eine Reaktion.

»War es das jetzt?«, entfuhr es Rosalie fassungslos. »Einfach so? Die ganze Zeit war die Rede vom großen Krieg der Farben und jetzt versinken wir im Boden? Dieses Ende wäre selbst für Elisabeth äußerst einfallslos.«

Simonja zuckte mit den Schultern. »Ich hätte nichts dagegen, wenn Margery vom Erdboden verschluckt werden würde. Es wäre mir ein Vergnügen, dabei zuzusehen, wie sie immer tiefer sinkt, bis ihr schließlich die Luft ausgeht.«

Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte diese Aussage noch von Rosalie stammen können, doch nun fühlte sie sich verpflichtet, ihre Schwester zu verteidigen. »Sie hat es sich nicht ausgesucht, böse zu werden. Das liegt an der Teilung ihres Herzens. Je mehr Teile sie verliert, umso mehr Gutes stirbt in ihr.«

»Das ist mir gleichgültig«, erwiderte Simonja kühl. »Für mich kommt es nur darauf an, wer sie heute ist. Sie verdient den Tod.«

Das Böse ist Ansichtssache. Dieser Satz fiel immer wieder in den ›Grimm-Chroniken‹ und Rosalie verstand ihn immer besser. Einst hatten Margery und die Sieben das Gute symbolisiert, doch nun wandten sie sich gegeneinander.

Konnte jemand, der den Tod eines anderen wollte, wahrhaft gut sein? War jemand böse, nur weil er überleben wollte?

»Sie hat nicht getan, was du ihr vorwirfst«, stellte Rosalie klar, ohne Namen zu nennen. »Weder kontrolliert sie Spiegel noch befehligt sie Raben.«

»Wenn ich sie nicht töte, wird sie mich umbringen«, rechtfertigte Simonja sich.

Das konnte Rosalie nicht abstreiten. Margery hatte ihren Standpunkt deutlich gemacht, indem sie die Vampire auf Simonja und die anderen gejagt hatte. Nach der Nacht des Blutmondes hätten sie friedlich auseinandergehen und sich später vereint gegen Elisabeth stellen können, aber Margery hatte sich dagegen und für einen Krieg entschieden. Die Finsternis hatte sich ihrer schon zu sehr bemächtigt.

»Nun werden wir wohl niemanden mehr töten«, schloss Rosalie ruhig, denn der Kies reichte ihr nun bis zur Brust.

Simonjas Hals versank sogar schon im Boden. Nicht einmal ihre Arme waren noch frei.

Simonja presste ihre Lippen aufeinander und ihr Blick richtete sich in die Ferne. »Weißt du, ich konnte dich nicht leiden, als wir uns zum ersten Mal begegneten, weil ich dir deine verlogene Scheinheiligkeit nie abgenommen habe.« Sie grinste schief. »Aber irgendwie habe ich dich auch bewundert. Du warst so stark und unabhängig, als wäre es dir völlig gleichgültig, was andere von dir halten. Ich wollte auch immer so sein.«

Wenn Simonja es schaffte, nette Worte für Rosalie zu finden, musste sie sich mit ihrem Tod bereits abgefunden haben.

»Die Einzige von dieser Chaostruppe, die mir je das Wasser reichen konnte, warst du«, gestand Rosalie schmunzelnd. Ihre gemeinsame Zeit im Totengräberhaus und später in der Rheinvilla schien so weit zurückzuliegen, dabei war es nicht einmal eine Woche her. »Ich wünschte, wir hätten die Gelegenheit gehabt, herauszufinden, wer mit seiner Waffe besser umzugehen weiß.«

»Offenbar du, immerhin hast du dein Schwert nicht im Kies verloren.«

Ein leises Lachen drang aus Simonjas Lippen, die nun ihren Kopf in den Nacken legen musste, um Luft zu bekommen.

Rosalie wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit erregte. Am Ende des Weges ragte auf einmal eine bekannte Gestalt auf, die ihnen entgegengelaufen kam.

Aber das war unmöglich! Er konnte nicht hier sein! Er war kein Teil des Traums.

»Rosalie«, rief Joe laut ihren Namen. Er musste sie an ihren blonden Haaren erkannt haben, denn viel mehr war von ihr nicht mehr zu sehen.

»Pass auf«, warnte sie ihn, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob er überhaupt real oder nur eine Halluzination war, hervorgerufen von ihrem nahenden Tod.

Joe nickte und bewegte sich langsamer in ihre Richtung. Bedächtig setzte er einen Fuß vor den anderen, bis nur noch wenige Schritte sie voneinander trennten. Weiter konnte er nicht, denn dann würde der Boden auch unter ihm nachgeben.

»Simonja, du bist ja auch hier«, stellte er verblüfft fest, als er ihr Gesicht zwischen dem Kies ausmachte.

So ein blöder Kommentar kann nur von dem echten Joe stammen, dachte Rosalie sogleich.

»Ich hatte gerade nichts Besseres zu tun«, feixte Simonja, nicht einmal in der Minute ihres Todes um einen Scherz verlegen.

Auch mit bloßem Auge ließ sich erkennen, dass Joe zu weit von ihnen entfernt stand, um eine von ihnen mit der Hand erreichen zu können. Nicht einmal, wenn Rosalie, deren Arme sich noch außerhalb der Erde befanden, sich ihm entgegenstreckte, könnten sie einander berühren.

Schnell ging Joe zu der Hecke und griff in das Gehölz, um einen Ast abzubrechen, doch keiner war lang oder stabil genug.

Rosalie konnte immer noch nicht glauben, dass er hier war. Das konnte kein Zufall sein – es musste etwas bedeuten. Er durfte nicht gekommen sein, um ihr beim Sterben zuzusehen.

»Deine Hose«, krächzte Simonja, die Kiesel aus ihrem Mund spucken musste, um überhaupt noch Luft zu bekommen.

»Was?«

Joe fuhr verwirrt zu ihr herum. Bei ihrem Anblick stand Panik in seinen Augen, dann schaute er an sich herab und verstand, was sie gemeint hatte.

Hastig öffnete er seinen Gürtel, den Knopf und den Reißverschluss, dann streifte er sich die Jeans von den Beinen. Sie verhedderte sich an seinen Turnschuhen, die er ungeduldig von sich kickte. Dann warf er die Hose wie ein Lasso aus, sodass eines der Beine direkt vor Rosalie landete und sie den Stoff mit einer Hand zu fassen bekam.

Sie streckte ihren freien Arm in Simonjas Richtung, aber sie war zu weit entfernt, um auch nur ihre Haarspitzen erreichen zu können. Joe sollte zuerst sie retten, aber wie, wenn sie sich nicht festhalten konnte?

Rosalie zog an dem Hosenbein und wickelte sich den Stoff einmal um das Handgelenk, dann versuchte sie, sich zu Simonja vorzukämpfen. Jede Bewegung beförderte sie jedoch nur tiefer in den Erdboden.

»Hey, was machst du da?«, fuhr Joe sie an.

Ich versuche, Simonja zu retten, lag Rosalie auf der Zunge, doch es auszusprechen, hätte bedeutet, ihr Scheitern eingestehen zu müssen.

Sie konnte Simonja nicht erreichen, genauso wenig wie Joe. Auch wenn es furchtbar war, musste sie sich wohl damit abfinden, dass jede Hoffnung für Simonja verloren war.

Diese wusste das auch selbst – deshalb die Abschiedsworte.

»Jetzt mach schon«, fauchte Rosalie in Richtung ihres Retters. Ihre Kehle schnürte sich zu und sie wandte den Blick von Simonja. Sie wollte nicht auch noch dabei zusehen, wie diese einfach verschwand.

Joe musste sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenstemmen, um Rosalie auch nur ein Stück aus dem Boden ziehen zu können. Sobald er jedoch bemerkte, dass es möglich war, verschaffte ihm dies einen Energieschub. Unbeirrt zog und zerrte er, bis er sie bis zu den Beinen frei hatte.

Nun konnte er sie mit der Hand erreichen und er zog sie mit einem Ruck an sich. Gemeinsam fielen sie zurück – weg von dem sinkenden Boden.

Blitzschnell glitt Rosalie von ihm und wirbelte zu Simonja herum, doch von dieser war nichts mehr zu sehen. Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde, und trotzdem traf der Anblick sie wie ein Blitz.

»SIMONJA«, schrie sie verzweifelt, in der Hoffnung auf ein winziges Lebenszeichen, aber nicht einmal ihr schwarzer Haarschopf schaute noch aus dem Kies.

Auf Knien und mit feuchten Augen starrte Rosalie fassungslos auf den Fleck, wo sich zuvor noch das Mädchen mit dem roten Umhang befunden hatte.

Sie kann nicht tot sein, schoss es ihr durch den Kopf. Sie ist die rote Macht. Sie ist die Tochter des Teufels. Sie kann unmöglich tot sein. Das darf nicht sein!

»Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal jemanden mit runtergelassener Hose retten würde«, erklang Joes Stimme hinter ihr, in dem Versuch, sie mit einem lahmen Spruch zu trösten.

Zornig fuhr sie zu ihm herum. »Wie kannst du es wagen, in solch einer Situation einen Witz zu reißen? Simonja ist gerade vom Erdboden verschluckt worden!«

Joes Augen waren voller Trauer, aber sein Mund wählte die Worte eines unbeirrbaren Narren. »Simonja hätte das sicher gefallen – sie war immer für Scherze zu haben.«

»Was weißt du schon von Simonja?«, fauchte Rosalie wütend und stemmte sich vom Boden auf. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. »Für deine Taktlosigkeit hätte sie dir ein paar runtergehauen. Sieh zu, dass du dich anziehst, bevor ich mich vergesse.«

Sein Grinsen erlosch und er senkte den Kopf, als er sich seine Jeans wieder überstreifte und in die Turnschuhe schlüpfte.

An Rosalies Körper klebte überall Kies, der nun bei jeder noch so kleinen Bewegung herunterrieselte. Am liebsten hätte sie sich wie ein Hund geschüttelt.

Simonjas ungewisser Verbleib quälte Rosalie, aber es gab noch einen anderen Gedanken, der sie nicht mehr losließ: Wie kann es sein, dass Joe hier ist?

Ihr wollte einfach keine Erklärung einfallen, die einen Sinn ergab. Elisabeth hatte kein Interesse an ihm. Warum hätte Eva sich dann zum Turm des Erdenvaters begeben sollen, um ihn ebenfalls in den Traum zu bringen?

»Was machst du hier?«, platzte es schließlich haltlos aus ihr heraus.

Er sah sie von unten herauf mit seinen braunen Augen wie ein treudoofer Dackel an. »Dich retten?«

Dass er versuchte, von ihrer eigentlichen Frage abzulenken, machte sie nur noch wütender, denn sie ahnte Entsetzliches.

»Du weißt genau, was ich meine! Wie kannst du hier sein, wenn Eva sich in Schloss Drachenburg befindet und du dich in deinem Turm?«

Ein entschuldigender Gesichtsausdruck legte sich auf seine Miene, die Rosalie erschrocken nach Luft schnappen ließ, da sie nun wusste, was er als Nächstes sagen würde. »Ich habe den Turm verla…«

Weiter kam er nicht, denn Rosalie verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Sie brauchte nicht mehr zu hören. Das war mehr als genug. Zu viel sogar!

Am ganzen Körper bebend, stürzte sie sich auf ihn und packte ihn grob an den Schultern. »Wie kannst du es wagen, dein Leben einfach so wegzuwerfen?«, schrie sie ihn an und schüttelte ihn dazu heftig.

Es war zu spät, um ihn zur Vernunft zu bringen, ganz gleich, wie sehr sie auch an ihm zerrte. Er hatte sein Schicksal besiegelt – seinen Tod. Nur zwei Sonnenaufgänge blieben ihm noch. Wie hatte er das nur tun können?

Er wehrte sich nicht gegen sie, sondern ließ ihren Zorn und ihre Verzweiflung über sich ergehen. »Eine Existenz in ewiger Gefangenschaft ist kein Leben«, war alles, was er niedergeschlagen erwiderte.

Ein Schluchzen löste sich aus Rosalies Kehle und sie ließ schockiert von ihm ab, um sich die Hände vor den Mund zu pressen. Hilflos blinzelte sie gegen ihre Tränen an und hielt sie mit bebender Unterlippe zurück. Nur ein Wort von ihr und der Damm würde brechen.

Joe suchte flehend ihren Blick. »Es tut mir leid, dass ich dir Kummer bereite. Dich zu verletzen, ist das Letzte, was ich will. Aber auch wenn du nun wütend auf mich bist, bereue ich meine Entscheidung nicht.« Er griff nach ihren Händen und zog sie von ihrem Gesicht. »Wie könnte ich auch einen Entschluss bereuen, der dir das Leben gerettet hat?«

So viel Wärme und Zuneigung lag in seiner Stimme, die von seinem Lächeln nur noch verstärkt wurden.

»Ich habe dich gerettet«, verkündete er stolz. »Kannst du dir das vorstellen? Ich dich? Sonst war es immer andersherum. Du ahnst nicht, wie glücklich ich darüber bin! Jetzt kann ich zufrieden …«

Sie presste ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen. »Untersteh dich, das auszusprechen«, warnte sie ihn, denn ihr war absolut nicht zum Scherzen zumute.

Joe würde sterben. Ganz gleich, wie dieser Traum auch ausging. Ihm blieben nicht mehr als zwei Sonnenaufgänge.

Er hatte nicht gewollt, dass sie zu ihm zurückkehrte, und sie hatte nicht daran geglaubt, dass sie es überhaupt könnte. Das war für sie in Ordnung gewesen. Aber nicht die Gewissheit, dass er kein Leben ohne sie haben würde. So sollte es nicht enden!

Ihr Finger glitt langsam von seiner Lippe. Trotz all der Wut, der Trauer und der Verzweiflung war da dieses unbändige Verlangen, ihn zu küssen. Vielleicht sogar noch mehr, weil sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, um es zu tun.

Er war hier und sie konnte es nicht ändern. Genauso wenig, wie sie Simonjas Tod hatte verhindern oder ungeschehen machen können – falls sie tot war.

Ihre Blicke trafen sich und es war, als könnte Joe in ihren Augen lesen, denn er zögerte nicht, sondern fasste in ihren Nacken und drückte seinen Mund auf ihren. Er küsste sie wie jemand, der nicht mehr lange zu leben hat. Jeder Augenblick war nun wertvoll.

Rosalie fuhr all ihre Schutzmauern herunter und ließ sich ganz in den Kuss fallen. Sie vergaß, dass sie sich in dem Labyrinth einer Wahnsinnigen befanden, in dem jede Hecke zu einer tödlichen Gefahr werden konnte.

Nur ganz kurz gab sie sich dem Gefühl seiner Zunge auf ihrer hin und genoss es, mit ihren Händen durch seine Haare zu fahren. Sie hätte das eine Ewigkeit lang tun können.

Für sie wäre es genug gewesen.

Doch Joe hatte anders entschieden.

Er löste sich von ihr und keuchte atemlos, aber glücklich. Er sah tatsächlich glücklich aus.

Wie kann er glücklich sein, wenn ihm nur noch zwei Sonnenaufgänge zum Leben bleiben?, fragte Rosalie sich geradezu vorwurfsvoll.

An seiner Hand, die er aus ihrem Nacken zog, entdeckte sie eine blutende Wunde.

»Du bist verletzt«, stellte sie besorgt fest. »Wie ist das passiert?«

Erst jetzt fiel ihr auf, dass er aus der entgegengesetzten Richtung zu Simonja und ihr gekommen war.

»Das war ich selbst«, verkündete Joe triumphierend. »Ich habe das Labyrinth an seinem Ausgang betreten und den Weg mit meinem Blut markiert, damit ich zurückfinden kann.« Er strahlte sie an. »Ich werde dich aus diesem Traum führen! Du wirst erwachen, Rosalie.«

Konnte es wirklich so einfach sein? War Joe das Schlupfloch, das Elisabeth bei ihrer Planung nicht bedacht hatte?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139952
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
Brüder Grimm Hexen Rotkäppchen Dornröschen Aschenputtel Märchenadaption Märchen Schneewittchen Vampire Horror Fantasy düster dark Urban Fantasy Romance

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie "Fantasy".
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Titel: Krieg der Farben