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Bones and Skulls - Kapitel 1 bis 5

Band 1: Das Chapter des Todes

von Franck A. Leblang (Autor:in)
119 Seiten
Reihe: Bones and Skulls, Band 1

Zusammenfassung

Tom und seine Freunde leben in der Provinz. Ihr Leben ist bestimmt von ihrer Freundschaft, ihren Motorrädern und ihrem freiheitlichen Lebensstil. Doch das Schicksal setzt ihnen zu, sie müssen Tiefschläge einstecken. Ein Freund stirbt und das Leben, so wie sie es kannten, existiert nicht mehr. Sie müssen sich gegen eine brutale Gang zur Wehr setzen und unmerklich wird aus den Freunden ein organisierter Motoradclub, dessen Aktivitäten weit über das hinausgehen, was sie sich je vorgestellt haben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Bones and Skulls

Band 1

Franck A. Leblang

Impressum

© 2021 Franck A. Leblang

Autor: Franck A. Leblang

E-Mail: franck @ leblang.de

Umschlaggestaltung, Illustration: Franck A. Leblang

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kapitel 1 | Erstes Blut

Der Fuß traf ihn unerwartet am Kopf und das Blut spritzte quer durch die Luft. Die Fäuste schlugen weiter auf ihn ein. Sein Körper schien sich mit der Niederlage abgefunden zu haben, denn sein Kopf wippte mit jedem Treffer den er einsteckte, widerstandslos mit in die Richtung des Schlages. Rechter Haken, Treffer! Linker Haken, Treffer! Seine Augen waren jetzt nicht nur blutunterlaufen und angeschwollen, sie hatten auch diese Leere in sich, als hätte der Verstand der Quälerei ein Ende setzen wollen. In diesem Moment ging der Ringrichter dazwischen, denn er hatte diesen Blick schon oft gesehen und wusste, wenn er jetzt nicht einschritt, würde er sterben. Er wies den Kontrahenten mit einer Handbewegung an, Abstand zu halten. Sergej folgte der Anweisung sofort und wich zurück. Er ließ seine Hände von der Kampfstellung auf die Bauchhöhe herabfallen, tänzelte aber immer noch kampfbereit von einem Fuß auf den anderen, den Gegner weiterhin mit seinem eiskalten Blick fixierend. Noch stand dieser, doch dann ließ auch der Rest des Körpers nach und sein Gegner fiel wie ein nasser Sack zu Boden, als hätte jemand den Stecker gezogen und jegliche Energie entwich sofort von dem einen auf den anderen Moment. Sein Kopf schlug hart auf dem Ringboden auf, sein Mund öffnete sich dabei wie ein Fischmaul und rote Flüssigkeit, eine Mischung aus Speichel und Blut, quoll aus ihm heraus.

Das Publikum schrie euphorisch: „Stalin! Stalin! Stalin!“ Nun erst entwich Sergejs Anspannung, ein knappes Lächeln flog über sein karges Gesicht und er hob die Fäuste in die Luft. „Stalin! Stalin! Stalin!“ Er genoss, wie das Publikum seinen Kampfnamen schrie. Viele von ihnen waren emotional aufgewühlt, da ihr Kämpfer gewonnen hatte, andere waren im Blutrausch, hatten vorher nicht viel von Sergej gewusst aber riefen nach diesem dominanten Sieg seinen Namen, da sie begeistert von seiner Kampfesdarbietung waren. Dann gab es noch diejenigen, die sich lediglich über das gewonnene Geld freuten und dies ebenso mit lauten Stalin-Rufen zum Ausdruck brachten.

Aus der Kabine heraus hörte Tom, wie die Stalin-Rufe langsam abklangen und die Musik sich wieder über das allgemeine Stimmenwirrwarr legte. Seine schwarzen Bandagen saßen gut und fest. Wie in Trance überprüfte er ihren Sitz trotzdem immer wieder, indem er abwechselnd die eine Faust in die andere schlug, was einen dumpfen Hall in der tristen Kabine erzeugte. Die heruntergekommenen grauen Metallspinte im Raum, einige von Ihnen aufgebrochen, waren allesamt mit Tags, Malereien oder Aufklebern versehen. Bis auf einen, ein einziger Spint war makellos. Er war nicht baugleich mit den anderen, er war etwas höher und vollkommen schwarz. Auf der Tür war in dunklem Rot ein Doppeladler aufgemalt, der zu beiden Seiten krächzend seinen Schnabel aufriss. Er gehörte Dalmat, einem bislang unbesiegten Kämpfer der dem albanischen Marku Familienclan angehörte. Dieser Spint war unantastbar, jeder, der jemals diese Umkleide betrat, wusste es. Toms Spint war es nicht, deswegen ließ er seine Sachen auch nicht darin. Maik war schon dabei sie in einer Tasche zu verstauen, um sie mit zum Käfig zu nehmen. Er war Toms Cutman bei diesem Kampf. Er war noch recht jung und nicht sehr erfahren, denn so richtig musste er Tom noch nie zusammenflicken. Es gab nur mal kleinere Platzwunden hier und da, denn Tom hatte bis heute noch jeden Kampf souverän gewonnen. Dies war vielleicht auch gut so, denn ob er in der Lage war starke Blutungen zu versorgen, ohne den Kampf unterbrechen zu müssen und Narben zurückzulassen, wusste er nicht. Maik hatte sogar an eine zweite Tasche gedacht, die groß genug war, um deren Motorradhelme und Lederjacken einzupacken. Er war wahrlich kein großer Organisator, nur sich die Motorradsachen stehlen zu lassen und nicht mit den Choppern zurück nach Hause fahren zu können, war für ihn eine katastrophale Vorstellung. Diese Angst ließ ihn alles planen, mehrere Male durchdachte er jeden Schritt des gesamten Ablaufs, vom Eintreffen beim Turnier bis zum Verlassen nach dem Kampf. Er hatte das zwar schon dutzende Male gemacht und eigentlich sollte es ihn nicht kümmern. Da ihn dieser Ort beunruhigte, veranlasste es ihn dazu, alles zu kontrollieren, was er überhaupt kontrollieren konnte. Er durchdachte alles im Detail.

Die Tür zur Kabine wurde plötzlich einen Spalt aufgerissen. „Kartoffel, Du bist dran!“, rief eine männliche Stimme mit leichtem Akzent. Es war ein Helfer, der zur Organisation dieser Kampfveranstaltung gehörte. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich selbst zu zeigen und schloss die Tür sogleich wieder mit einem lauten Knall.

„Kartoffel?“, wiederholte Maik leicht verärgert.

Doch Torge schnitt ihn gleich ab: „Scheiße, wir konzentrieren uns hier auf den Kampf, lasst euch nicht provozieren!“

Nachdem er das gesagt hatte, haute er Tom mit der flachen Hand auf die Schulter. Sein mit einem Totenkopf tätowierter Unterarm verblieb dort für eine Sekunde. Mehr musste er nicht tun, um Tom verstehen zu geben, es war Zeit in die Kampfarena zu gehen. Er zwinkerte ihm dabei zu, gepaart mit einem aufgesetzten Lächeln, denn die aufgequollenen Adern an seiner Schläfe unterhalb der sauber rasierten Glatze ließen keinen Zweifel daran, wie angespannt er in Wirklichkeit war. Auch mit seinen über fünfzig Jahren war jeder Kampf noch anders und wenn einer seiner Sprösslinge in den Ring stieg, fühlte er sich, als stiege ein Teil von ihm selbst mit hinein. Er war schon von Anfang an Toms Trainer gewesen, als Jugendlicher hatte er ihm das Kickboxen beigebracht und später alles das, was man für einen Mixed Martial Arts Kampf benötigte. Jetzt war Tom weitaus besser, als er es selbst in seinen besten Tagen hätte sein können. Ob ihn das auch zu einem besseren Kämpfer machte, musste sich noch zeigen. Denn harte Schläge und schnelle Reaktionen nützten einem nichts im Angesicht der Niederlage, wenn der ganze Körper schmerzte und man wie benommen durch den Käfig taumelte. Nur wer dann in der Lage war stehen zu bleiben, die Arme noch einmal hochzuheben und trotz aller Schmerzen angriff, war ein wahrer Kämpfer. Jeder der mit Torge zu tun hatte, hatte ihn schon einmal sagen gehört, der Unterschied zwischen einem Sieger und einem Verlierer ist es, einmal mehr aufzustehen. Er hoffte aber, heute sei nicht der Tag, an dem Tom das zu beweisen hatte.

Nachdem Tom seine leicht gepolsterten Kampfhandschuhe angezogen hatte, stand er auf. Er trug noch immer seinen löchrigen dunkelgrauen Bademantel, unter dem eine schwarze Kampfhose mit einem roten zackigen Muster zu sehen war, auf der am rechten unteren Hosenbein ‚No Surrender´ stand. Durch das Öffnen der Tür drang zunächst das erwartungsvolle Gemurmel der Zuschauer in den Raum hinein. Torge verließ als erster die Umkleidekabine, gefolgt von Tom und Maik, der schwer mit seinen Taschen zu tragen hatte. Es war nur ein kurzer Gang über den tristen Flur mit Neonröhrenbeleuchtung, vorbei an Wandstücken, die große Teile des Putzes verloren hatten und rundeherum mit geistreichen Zitaten oder Beschimpfungen beschmiert waren. Sie stoppten vor einer geschlossenen Stahltür und warteten.

Endlich begann die Musik, über alle Lautsprecher der Halle erklang eine E-Gitarre, deren Melodie von einem Schlagzeug getrieben wurde. Nun war es endlich an der Zeit. Tom ließ seinen Bademantel in Maiks Hände fallen, dies entblößte seinen Rücken, den quer über die gut sichtbaren Muskeln ein Drache vereinnahmte, der warnend sein großes Maul aufriss. Er folgte Torge in die Halle. Dabei nahm er nicht die Blicke der Zuschauer wahr, an denen er vorbeiging, die von gleichgültig bis ablehnend reichten. Sein Blick war konzentriert, er starrte auf den Käfig und jeder Muskel seines Körpers schien angespannt zu sein. Torge öffnete ihm den Zugang und beide traten hinein.

Zurück blieb Maik, der vor dem Käfig wartete und unachtsam die Taschen zu Boden fallen ließ. Er genoss den Moment, all das Adrenalin, welches ihn in der Luft umgab. Die Zuschauer, die gespannt waren auf das, was dieser Kampf ihnen bringen mochte. Ein K.O., ein langwieriger Bodenkampf oder ein zaghaftes Abtasten der Kämpfer? Die Wettquoten sagten einen Knock-Out voraus, aber nicht mit Tom als Sieger. Er war zwar unbesiegt, hatte aber noch keinen großen Namen. The Dragon war Toms Kampfname, doch das sagte hier niemandem etwas. Viele hatten wahrscheinlich einen asiatischen Kämpfer erwartet und waren eher enttäuscht, als ein weiteres Weißbrot den Ring betrat. Sein Gegner allerdings, The Nigerian Bull, war durchaus bekannt. Seine Kampfquote war durchwachsen, viele Siege, ein paar Unentschieden aber auch einige Niederlagen. Er war eher ein Boxer, der mit seinem natürlichen muskelösen Körperbau ein leichtes Spiel hatte, jemanden KO zu schlagen, wenn er ihn denn erwischte. Schnelligkeit war nicht seine Stärke. Ab und zu platzierte er Tritte, die selten trafen oder Wirkung zeigten. Eine Gefahr war es indes, ihm im Bodenkampf zu begegnen. Das war zwar nicht seine bevorzugte Kampfart, aber allein durch seine Masse konnte er dort kaum bezwungen werden.

Es dauerte gar nicht lang, kurz nachdem Tom und Torge den Ring betreten hatten, herrschte zunächst Stille. Dann drangen plötzlich Trommellaute durch die Halle. Ein langsamer aber eindringlicher Rhythmus läutete den Einmarsch des Nigerian Bull ein. Die Reaktion des Publikums war dieses Mal ganz anders. Als der schwarze, mächtige Kämpfer die Halle betrat, waren Jubelschreie zu hören, vereinzeltes Klatschen und einige Frauen, die helles Geheule von sich gaben. Der Kämpfer genoss augenscheinlich den Moment. Sein Name, die Musik, alles bediente Klischees, mancher könnte Rassismus dahinter vermuten, aber das war es nicht. Es war Kalkül, dies wurde nicht von ihm verlangt, er wollte es so. Er dachte, sollen mich die Leute ruhig mit Buschtrommeln und einem Bullen in Verbindung setzen, solange sie meinen Namen kennen, mir zujubeln und das Geld fließt, ist mir das egal. Er war intelligent und wusste, die Show war ein Teil des Geschäfts. Nachdem er den Ring betreten hatte, stand er vor Tom und sagte mit seiner dunklen fast angewidert klingenden Stimme: „Toastbrot.“ Das war alles - dann schwieg er. Eine Szene wie aus einem Film.

Beide waren groß, Tom vielleicht knapp einen Meter und neunzig, der Bulle sogar noch etwas größer. Maik ärgerte sich, mit seinem 08/15 Haarschnitt fand er Tom nicht gefährlich genug aussehend. Ihm ging es dabei nicht um die Show, er meinte, als MMA Kämpfer müsste man möglichst brutal aussehen. So wie er! Maik hatte oben etwas längere dunkle Haare, die er hinten zusammengebunden hatte, damit darunter sein frischer Undercut zu sehen war. Auf dem Hinterkopf war zudem deutlich sichtbar ein Totenkopf einrasiert. Er empfand sich als gefährlich aussehend, Tom hingegen hatte einen Soldatenhaarschnitt, wie Maik es nannte, kurze braune Haare an den Seiten, oben minimal länger mit einem strengen Seitenscheitel und einem kurzgeschnittenen Vollbart. Neben dem schwarzen Muskelberg des kahlschädeligen Bullen wirkte er wie ein, naja, Toastbrot. Groß, schlank, muskulös, aber nicht wie ein Kämpfer. Zum Glück, fand Maik, waren wenigstens Tom Arme, Beine und sein Rücken bis zum Hals tätowiert, somit sollte er zumindest etwas Eindruck schinden. Als die Musik nun endlich vorbei war und der Ringrichter seine Ansage an die Kämpfer gemacht hatte, begann der Kampf und Maik dachte nicht weiter an Frisuren sondern war sofort wieder Feuer und Flamme für das bevorstehende Spektakel. Torge stellte sich neben ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und begann diese vor Aufregung zu kneten.

Die Lichter über dem Käfig erleuchteten die Kampffläche sehr gut. Alles außerhalb der mannhohen Umrandung verschwamm allerdings in ein dunkles Gemisch aus Beige, Blau und viel Schwarz. Vereinzelte Rufe hallten auf, mal etwas auf Türkisch, mal etwas auf Deutsch, doch nichts davon erreichte Tom. Erst der Gongschlag zur ersten Runde erreichte seine Ohren.

Sogleich bewegten sich die Gegner aufeinander zu, klatschten einmal kurz ab und begannen dann sich zu fixieren. Mit erhobenen Händen, immer bereit zum Schlag, bewegten sie sich vor und wieder zurück. Ihre Blicke krallten sich aneinander fest. Tom führte ein paar leichte Schläge mit der linken Hand aus, diese Jabs konnte der Bulle aber leicht abwehren. Zu nah an ihn rankommen lassen durfte Tom ihn nicht. Er musste eine sichere Distanz wahren. Wenn der Bulle ihn zu Boden riss oder nah genug an ihm war, um ihm einen Haken zu versetzen, konnte der Kampf schnell aus sein. Tom blieb ruhig, man hätte sogar sagen können sachlich. Er analysierte die Bewegungen des Bullen, testete dessen Reaktionen mit seinen kurzen Schlägen an und bewegte sich dabei ohne Pause. Langsam umkreisten sie sich, wie auf einer elliptischen Laufbahn, vor und wieder zurück, immer den nächsten Schlag erwartend oder die Möglichkeit, selbst einen zu platzieren. Gerade setzte er zu einem weiteren Jab mit seiner Führhand an, da kam es, unerwartet und schnell, wie aus dem Nichts. Zunächst schoss Toms linke Hand nach vorne, rechts war seine Deckung dabei leider etwas zu tief. Auf den Moment hatte der Bulle gewartet, er hatte Tom ebenso studiert. Er wich seinem Jab leicht aus und nutzte die Bewegung, um diese in einen Haken übergehen zu lassen. Treffer! Die Faust erwischte Tom mit voller Kraft, sein Mundschutz flog mitsamt einem Blutschwall durch die Luft. Der Bulle wollte sofort nachsetzen, doch der Ringrichter ging dazwischen. Tom war es kurz schwarz vor Augen geworden, er sah, wie der Ringrichter vor ihm stand und auf den Boden zeigte. Er blickte hinunter und sah einen Mundschutz. Das ist wohl meiner, dachte er leicht benommen.

Sofort rief Torge von außerhalb des Rings: „Tom, den müssen wir reinigen, komm, gib ihn her!“ Mit dem Ellenbogen stieß er dabei Maik an, der daraufhin ein Handtuch und die Wasserflasche bereithielt. Verdammt, verdammt!, dachte Torge, nicht heute! Er musste etwas Zeit schinden, damit Tom wieder zu sich kommen konnte. Langsam kam dieser zu ihnen herüber, wobei Torge besonders auf dessen Augen achtete. Sie sahen klar aus, müde vielleicht, aber anwesend, nicht verängstigt, nur müde. Wer noch nie einen richtigen Schlag eingesteckt hatte, wusste nicht, was das bei einem verursachte. Das Bewusstsein und die Energie, die in einem Körper steckten, konnten nur durch den kurzen Moment eines einzigen Treffers plötzlich verschwinden.

„Steck ihn mir wieder rein“, sagte Tom nuschelnd.

Torge glaubte zunächst, Tom meinte den Mundschutz. So griff er durch den Ring, hob den Mundschutz auf und hielt ihm Tom hin. Doch Tom spuckte in Torges Hand hinein, im Blut schwamm ein Zahn.

„Steck ihn wieder rein“, wiederholte Tom erneut.

Als Torge Mundschutz und Zahn in Maiks Handtuch legte, tauschten sie einen besorgten Blick aus, allerdings nur kurz, denn Maik fing sofort an beides mit Wasser abzuwaschen. Der Ringrichter machte sich von hinten bemerkbar, sie sollen sich beeilen, sagte er, sonst gibt es Punktabzug. Während Torge Mundschutz und Zahn zurücknahm, begann Maik mit dem Ringrichter zu diskutieren. Es war ein Ablenkungsmanöver, bei dem sich Maik fadenscheinig darüber beklagte, wie Tom benachteiligt wurde, angefangen bei der unwürdigen Umkleidekabine bis hin zum ablehnenden Verhalten der Zuschauer. Die Zeit nutzte Torge und drückte Tom geschickt zuerst den Zahn in den Kiefer und dann den Mundschutz hinterher.

„Hau ihn um!“, rief ihm Torge aufbauend zu.

Tom nickte lediglich, drehte sich um und signalisierte dem Ringrichter, es kann weitergehen. Nun war der Bulle wild geworden. Er kam auf Tom zugestürmt und schlug auf ihn ein. Dieser wehrte ab, wich aus so gut er konnte. Er hatte kürzere Arme als der Bulle und weniger Kraft, aber er war schnell und Angst hatte er keine. Respekt durchaus, der Respekt vor dem Gegner war sogar gewachsen. Wenn er nur konzentriert blieb, so wusste er, konnte er diesen Kampf noch gewinnen. Noch ein Schlag und noch einer. Das Publikum fing an zu jubeln, sie witterten den Knock-Out und feuerten den Bullen an. Dieser war nun dabei, einen Fehler zu begehen. Das Toastbrot schien ihm ausgeliefert zu sein. Er würde ihm so lange mit Schlägen zusetzen, bis einer traf. Das wäre dann das vorzeitige Ende des Kampfes gewesen. Um dem Publikum vorher noch eine Show zu bieten, setzte er jetzt zum High-Kick an. So schnell wie er mit seinen Faustschlägen war, so langsam war er mit seinen Beinen. Das war die Möglichkeit, auf die Tom gewartet hatte. In so einem Moment konnte man nicht durchdenken was man tat, es war wie ein einprogrammiertes Szenario, welches als Programm abgerufen wurde. Als der Bulle seinen Tritt ausführte, war Toms Faust zur Abwehr und zum Schutz seines Kopfes bereits da. Als der Fuß einschlug, trat Tom zeitgleich selbst zu. Ein Low-Kick, blitzschnell und unerwartet, schlug gegen das Unterbein des Bullen und brachte den mächtigen Körper ins Schwanken. Tom ließ zwei gerade Faustschläge folgen, die zwar ihr Ziel verfehlten, den Bullen durch das Ausweichen nun jedoch vollends aus dem Gleichgewicht brachten. Wie eine mächtige Statue krachte der schwarze Körper auf den hohlen Boden des Käfigs, was einen lauten dumpfen Knall erzeugte. Auch sein Kopf schlug auf und bevor er wusste wie ihm geschah, saß Tom auf ihm und schlug auf sein Gesicht ein. Die ersten drei Treffer waren noch ohne Gegenwehr und erzeugten riesigen Schaden, die Haut oberhalb des Auges platzte auf. Der Bulle war jedoch zu erfahren, um dies das Ende sein zu lassen. Er hob seine Arme zum Schutz hoch. Tom ließ nicht nach, seine Beine klammerten sich fest an ihn und seine Arme schlugen mit all der Kraft die er hatte, auf den Kopf des Bullen ein. Die Energie, die er vorher noch zur Kontrolle nutzte, die ihn seine Ängste unterdrücken ließen, wandelte sich nun in eiskalte Wut um. Jeder Schlag kam aus dem Herzen, der Wille zum Sieg ließ seine Fäuste wie stählerne Hämmer einschlagen. Mit einer Seitwärtsdrehung des Oberkörpers versuchte sich der Bulle zu lösen, aber bereits diese kleine Bewegung reichte aus, um Toms Schlaghand genug Angriffsfläche zu bieten. Wieder ein Treffer, Blut spritzte umher. Das Hämmern ging weiter, die Abwehr des Bullen ließ nach. Noch ein Treffer, dann wieder einer. Der Ringrichter musste einschreiten, er sah keine Gegenwehr mehr. Er zog Tom zurück, der zunächst gar nicht verstand, was da gerade geschah. Erst als ihm der Ringrichter direkt ins Gesicht sah und mit wischenden Handgesten zu verstehen gab, der Kampf war vorbei, dämmerte es ihm. Er hat gewonnen! Sogleich sprang Tom auf, riss die Arme nach oben und mit vorgepreschter Brust ließ er einen lauten Schrei heraus: „Ahhh!“.

In der Halle jubelten nur zwei Personen, Torge und Maik schlugen ihre Hände ineinander. In der Halle gab es über dieses Erstrundenaus ansonsten keine Freude. Es wurde ‚Fuck you!´ gerufen, es gab einige Buhrufe und auch ein ‚Arschloch´ war noch herauszuhören. Torge stürmte gleich in den Ring, um Tom gebührend eines Siegers hochzuheben. Wo hingegen Maik sich zunehmend umblickte, denn ihm war das Umfeld nicht mehr geheuer. Er packte lieber schnell seine Sachen in die Taschen und machte sich startklar, um gleich nach Verkündigung des Siegers die Halle zu verlassen. „Es stinkt hier“, sagte er nur und spuckte auf den Boden.

„Wie krass war das denn!“ Torge freute sich noch einmal, als sie draußen vor der Halle standen, und schlug Tom dabei anerkennend auf die Schulter.

„Scheiße, alter“, mischte sich Ape ein, „wer hat Dich denn verprügelt?“, und schaute Tom dabei ernst an. Der aber ignorierte die Frage.

„Ape, halt‘ die Fresse, wir haben hier einen Gewinner!“, triumphierte Maik mit einem breiten Lächeln. Er wollte Toms Arm für eine Siegerpose hochreißen, der jedoch schnell genug war diesen zuvor wegzuziehen. Wenigstens grinste er wohlwollend zurück, denn Maiks aufrichtige Freude gefiel ihm.

Während des Kampfes war Ape die meiste Zeit draußen geblieben, um auf die Motorräder aufzupassen. Außerdem war er heute nicht in der Stimmung gewesen, sich einen Kampf anzuschauen. Er blieb lieber im Freien, drehte sich eine Zigarette nach der anderen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, während er neben den Motorrädern auf einer Parkbank verweilte. Seine langen dunkelblonden Haare lagen schlaff und verschwitzt auf seiner Schulter. Sein leicht lockiger Bart passte dazu, er war lang, zottelig und fettig. Wenn er saß, reichte er bis zum oberen Ende seines dicken Bauchs. Seine dadurch nur teilweise unbedeckten Wangen gaben Zeugnis von seiner Lebensweise, denn die Haut war großporig und dazu passend waren seine imposanten Zähne überdeckt von einer braunen Zahnsteinschicht. Beim Warten hatte er drei Bier getrunken und danach direkt neben die Bank gepisst. Als die anderen eben herauskamen, saß er wieder, hatte seine Arme in beide Richtungen seitlich auf der Rückenlehne abgelegt und sein Bauch wölbte sich deutlich nach vorne.

„Lasst uns los, irgendein Schwein hat hier hingepisst“, sagte Ape, grinste dabei breit und zog sich seine Kutte über. Auf deren Rückseite war ein Bild von einem zähnefletschenden Monster der Band Motörhead aufgenäht. Den Patch hatte er sogar selbst aufgenäht. Wegen der dunklen Farbe und des schwarzen Garns sah niemand, wie unsauber die Naht verlief. Das war ihm aber auch schon immer egal gewesen. Der Patch wurde ihm vor langer Zeit von jemandem geschenkt, der für ihn sogar wichtiger war als seine Mutter oder sein Vater. Geschwister hatte er nicht, seine Mutter war eine faule Frau gewesen, die ihn so lange schlug, bis er größer war als sie. Ab dann fing sie damit an, ihn kleinzureden. Sein Vater war nie da, er arbeitete auf Bohrinseln in Russland und wahrscheinlich verprasste er einen Großteil des verdienten Geldes danach bei Huren, bevor er dann für ein oder zwei Wochen nach Hause kam. Zu diesem Anlass wurde das Haus immer auf Hochglanz geputzt, seine Mutter begann dann sogar zu kochen und ihn bei seinem Vornamen Abel zu nennen. Danach nannte sie ihn wieder nur einen dummen Affen. Wenn ihr manches Mal ihr Mann fehlte, was selten vorkam, sagte sie, es sei seine Schuld, wer so einen dummen Affen zuhause hat, braucht sich nicht zu wundern, wenn der eigene Mann nicht mehr nach Hause kommen will. Mit vierzehn Jahren wollte Ape schon von zuhause abhauen und mit sechzehn tat er es dann auch. Er kam jedoch nicht weit, wo sollte er auch hin, ohne Geld, ohne Familie und ohne Ziel. Dennoch änderte sich dadurch etwas in ihm. Die versuchte Flucht aus der häuslichen Hölle ließ ihn nicht verzweifeln sondern stärkte ihn sogar. Anstatt andere Familien zu hassen, bei denen Eltern und Kinder ein glückliches Leben zu haben schienen, begann er Frieden mit sich selbst zu schließen. Es wird keine Familie für ihn kommen, sein Vater wird wahrscheinlich eines Tages eine seiner Nutten heiraten, neue Kinder bekommen und seine Mutter wird an ihrem eigenen Hass ersticken. Er fand sich selbst und stellte sich seitdem in den Mittelpunkt. Nachdem er anfing, nach einem Aushilfsjob zu suchen, fand er diesen sogar kurz darauf bei einer Tankstelle. Seine Mutter war von dem neuen Selbstvertrauen nicht begeistert und verlangte von nun an Miete und Essensgeld von ihrem einzigen Sohn. Im Laufe der Zeit wurden die Besuche des Vaters in der Tat seltener und ihre Laune zunehmend giftiger.

Für jede Minute, die Ape nicht zuhause verbringen musste, war er dankbar. Wenn er dann trotzdem dort sein musste, hielt er es meist nur betrunken aus. Dann kam die Nacht, die alles verändern sollte. Er war gerade erst achtzehn Jahre alt geworden. In dieser einen Nacht gab es einen großen Streit. Sogar die Nachbarn hörten, wie Glas zersprang, wie geschrien wurde. Seine Mutter verhöhnte ihn, rief immer wieder Affe, Affe, Affe und machte dazu Geräusche von Schimpansen nach. Was dann geschah, weiß niemand genau. Als die Feuerwehr kam, um das Haus zu löschen, saß Ape davor. Er war im Schock, hinter ihm loderten die Flammen und er saß ganz still, wie jemand, der es gerade aus den Pforten der Hölle hinaus geschafft hatte, aber von den Grauen, die er gesehen hatte, traumatisiert war. Im offiziellen Bericht hieß es, man gehe von einem technischen Defekt aus, der zum Brand geführt hatte. Ape konnte sich an nichts mehr erinnern, außer seiner Kutte hatte er nichts aus den Flammen retten können. Die Versicherung, da wunderte sich niemand, zahlte für ein Haus in der Gegend nur einen lächerlichen Betrag, sie sagten irgendwas von Sanierungsstau, Zeitwerten und Unterversicherung. Niemand von denen kam, um das zu erklären. Wenigstens tauchte sein Vater kurz danach auf. Er besorgte Ape eine kleine Wohnung und eröffnete ein Bankkonto für ihn. Von der Versicherungssumme zahlte er ihm tausend Euro darauf ein. Wenn er bald wieder Geld bekommt, nach seinen nächsten Bohrinselschichten, würde er ihm einen Dauerauftrag einrichten, damit er davon leben und die Miete bezahlen kann, sagte er. Das Geld kam nie. Nach der Beerdigung seiner Mutter hatte er ihn nie wiedergesehen. Ape suchte sich woanders ein günstiges Zimmer und versuchte zu vergessen. Das Einzige, was ihm von der Zeit vor dem Feuer blieb, war seine Kutte. Mit dieser schwang er sich jetzt auf seine schwarze BMW. Seine Freunde taten es ihm gleich, zogen auch ihre Lederjacken an, setzten ihre Helme auf und stiegen auf ihre Chopper.

Als erster fuhr Tom los, seine alte Harley V-Rod knatterte vorweg, gefolgt von Torge, den man mit seinem Motorradhelm und den zwei Hörnern darauf nicht übersehen konnte. Danach reihte sich Maik mit seiner Chopper in den Konvoy ein. Ape hatte Startschwierigkeiten, seine runtergerockte BMW wollte zunächst nicht anspringen. Als der Motor endlich losstotterte, gab er Gas und folgte den drei anderen mit durchdrehenden Reifen auf die Straße. Dabei schnitt er einem Auto den Weg ab. Der Fahrer musste vollbremsen, worauf er ein verärgertes Dauerhupen folgen ließ. Doch Ape interessierte das nicht, er hob lediglich seinen Arm hoch und streckte seinen Mittelfinger aus.

Kapitel 2 | Offene Wunden

Der Weg zu Toms Zuhause war nicht nur äußerst schlecht, denn es war ein unbefestigter Weg durch den Wald, er war zudem noch unbeleuchtet. In der einbrechenden Nacht unterhalb der Bäume reichte das Licht seiner alten Harley gerade aus, um bei langsamer Fahrt nicht vom Weg abzukommen. Der Scheinwerfer erhellte nun die weißen Außenwände des Wohnwagens, in dem er mit seiner Freundin lebte. Davor stand eine Holzbank und unter der angrenzenden Kiefer ein runder Tisch mit mehreren Stühlen. Tom stellte sein Motorrad zwischen Wohnwagen und Tanyas Mini ab. Es war ein alter Cooper, komplett schwarz mit Chromverzierungen und einem weißen Piratenkopf und gekreuzten Knochen auf dem Dach. Tom mochte den Wagen nicht, für dieses Auto aus den Sechzigern war er einfach zu groß. Da es ihr einziges Auto war, musste er sich manches Mal in dieses Gefährt hineinquetschen. Denn Tanya liebte es. Es war ihr erster Wagen. Nach jedem TÜV-Besuch war die Mängelliste länger als der Fahrzeugschein, nur dank ihrer Freunde wurde er immer wieder zusammengeschweißt und zurechtgeschraubt.

Als Tom seinen Helm abnahm, brach gerade der Mond durch die Wolken. Er schien hell auf die Erde und das Licht spiegelte sich prächtig im angrenzenden See. Auch das Wohnhaus nahe am Ufer, ein altes Herrenhaus aus einer scheinbar vergangenen Zeit, war nun wieder deutlich zu sehen. Tom hatte das Haus als Ruine gekauft und er sprach von ihm als Alte Dame, die wieder hergerichtet werden muss. Das Dach war komplett eingestürzt gewesen, kein Fenster war mehr vorhanden und die Elektrik war von Dieben aus den Wänden gepult worden. Seit mehreren Jahren nun floss alles verdiente Geld in dieses Haus hinein. Als Zimmermann hatte er das Dach als erstes fertiggestellt, dann folgten die Fenster und der Hauseingang, untypisch für diese Art von Haus hatte er ihm eine Holzveranda vorgesetzt. Dieser Stilbruch musste sein, meinte er, denn es war der perfekte Ort, um auf den See zu schauen. Diese war komplett in weiß gestrichen und überdacht. Darauf standen sogar die ersten und einzigen Möbel des Hauses, zwei Holzliegestühle, zwischen denen ein kleiner Holztisch stand, in denen Tanya und er oft darüber sprachen, wie es eines Tages mal sein sollte. Sie sprachen dann auch über das Kind in ihrem Bauch, wie dieses wohl sein würde, wie sich ihr Leben nach der Geburt verändern würde sowie über all die anderen Dinge, die sie noch zusammen erleben wollten. Immer wenn er auf diesen Ort schaute, begann er zu träumen und dann merkte er, wie sehr er Tanya liebte. Er hatte ihr ein Versprechen gegeben, bevor das Baby zur Welt kam, sollte das Haus fertig sein. Zumindest sollten sie darin schlafen können, Strom haben, ein Bad sowie eine funktionierende Küche. Derzeit schauten noch überall Kabel aus den Wänden und Betongrau war neben dem Braun unbehandelter Hölzer die dominierende Farbe. An fließend Wasser und an eine Heizung war noch gar nicht zu denken. Es gab noch einiges zu tun.

Das Stottern und Puffen der Harley hatte Tanya die Ankunft von Tom verkündet. Sie war froh. Sie hatte nichts dagegen, wenn er weiterhin kämpfen wollte, aber als schwangere Frau machte sie sich mehr Sorgen, um seine körperliche Unversehrtheit, als sie es ihm und sich selbst je eingestanden hätte. Sie war eine starke Frau. Nie im Leben hatte sie sich eine Schwäche anmerken lassen. Wer sie kannte, glaubte, sie stünde über den Dingen, tatsächlich nicht im Sinne von arrogant und abgehoben, denn sie war lediglich selbstbewusst und besonnen. Nur wer sie wirklich kannte, und das waren die Wenigsten, wusste von ihrer leidenschaftlichen und emotionalen Seite. Wenn sie lachte, das passierte gar recht häufig, tat sie dies laut und mit vollem Herzen. Es war ein einladendes Lachen, welches ihr wahres Inneres zeigte. Sie öffnete die quietschende Wohnwagentür und lehnte sich an den Türrahmen an. Ihre schwarze Haut bot einen guten Kontrast zum eher vergilbten weiß Ihrer Behausung. Sie trug ein helles weit ausgeschnittenes Trägershirt. Ihre Brüste zeichneten sich leicht darin ab und man konnte darunter den Ansatz eines Babybauchs sehen. Sie war schlank, durchtrainiert und hatte lange, gelockte schwarze Haare. Tom konnte sich nie an diesem Anblick satt sehen.

Mit ihren dunkelbraunen und geheimnisvoll wirkenden Augen blickte sie erbost in sein vom Kampf zerschundenes Gesicht und sagte. „Habe ich Dir nicht gesagt, du sollst gewinnen!“

Er antwortete zunächst nicht, zog sie sanft an sich, gab ihr einen Kuss auf den Mund und sagte schließlich lächelnd: „Mache ich nicht immer, was du mir sagst?“

Sie verstand sofort und freute sich über seinen Sieg. Nun schlang sie ihre Arme um seinen Körper, um ihm ganz nahe zu sein. Als sie ihr Ohr an seine Brust drückte, konnte sie sein Herz schlagen hören und sagte leise: „Schön, dass du wieder da bist.“

Sie gingen hinein. Der Wohnwagen war von innen viel besser erhalten, als es von außen den Anschein machte. Er war komplett ausgestattet, hatte eine kleine Küche, eine Dusche sowie ein Doppelbett. Alles war mit hochwertigem Holz verkleidet. Tom ging zum Kühlschrank und holte sich aus dem kleinen Gefrierfach einen Eisbeutel heraus, den er sogleich auf seine angeschwollene Wange drückte. Damit ließ er sich rücklings aufs Bett fallen.

Tanya kam auf ihn zu, setzte sich auf ihn und fragte: „Na mein kleiner Drache, tut es sehr weh?“ Sie wartete indes keine Antwort ab und machte sich an dem Reißverschluss seiner Hose zu schaffen.

„Babe, ich kann heute…“, versuchte er sie aufzahlten, jedoch hatte sie sich bereits weiter vorgearbeitet. Ihre Bemühungen nahmen ihm jegliche Gegenwehr und kurze Zeit später waren beide nackt. Es dauerte nicht lange und sie erfüllten die Stille des Waldes mit ihren lustvollen Lauten.

Die Sonne schien bereits kräftig an diesem Sonntagmorgen. Die Eichen und Buchen, an denen Tom in seiner Chopper vorbeifuhr, standen alle im satten Grün. Die Straße wand sich kurvig mit leichten Hügeln durch den Wald, bevor sie ihn in die offene Landschaft führte, wo sie weitreichende Blicke über die in Blüte stehenden Lavendelfelder bot. Nach kurzer Fahrt kam er am Ortsrand von Steenow an, wo ungeschnittene Eiben zwischen einer Reihe von großen Findlingen in die Höhe schossen. Steenow war ein mittelgroßes Dorf mit Bauernhöfen in der Peripherie, mit in Reihe gebauten Wohnhäusern im Ortskern und ein paar wenigen verbliebenen Geschäften, die allesamt entlang der Hauptstraße ansässig waren. Direkt am Ortseingang befand sich Toms Ziel, Steens Fight-Club, untergebracht in einem ehemaligen Lagerhaus. Dies war nur der inoffizielle Name, denn eigentlich hieß er Steens Fight und Fitness Club, denn Stephan Uhlig, der Besitzer, wollte keinen Ärger mit Anwälten der Filmindustrie bekommen. Wenn man vor der breiten Halle stand, auf der nachträglich ein Obergeschoss aufgesetzt worden war, sah man daran festgemacht ein großes schwarzes Schild, auf dem in fast ebenso großen Buchstaben Fight- und Fitness geschrieben war, in kleiner Schrift darüber stand Steens und ebenso klein darunter Club. Steen war ein Spitzname, als Stephan ein Jugendlicher war, hatte er immer davon gesprochen, Steenow so bald wie möglich zu verlassen. Besonders wenn sich die Jungen bei einem Sit-In oder auf einer Party mit Bier betranken, sprach er von seinen Plänen in der großen Stadt. Steenow hier, Steenow da, sagten seine Freunde bald genervt und der Name blieb an ihm haften. Aus Steenow wurde Steen und ebenso aus Stephan. Er war aber nie dem Ort entkommen und anstatt seinen Träumen in der Großstadt zu folgen, wohnte er immer noch mit seiner Mutter in dem kleinen Satteldachhaus mit dem vergrauten Putz und den roten Ziegeln, in dem er aufgewachsen war.

Direkt vor dem Fight-Club parkten einige Autos, zu dieser frühen Stunde war bereits einiges los. Die wenigen Scheiben der ursprünglichen Gebäudefront waren mit dunkler Folie zugeklebt. Nur die Eingangstür aus Glas wurde frei gelassen und lieferte auch von außen einen Blick ins Innere. Hinter der Eingangstür ging es rechts direkt zu den Umkleidekabinen, wenn man wiederum geradeaus ging, stand man in einem offenen großen Raum, in dessen Mitte sich ein Boxring befand. Rechts davon war eine lange Bar, kein Fitnesstresen mit bunten teuren Sportwassern, es war eine richtige Bar mit Bierzapfanlage, einem großen Spiegel dahinter, auf dem Pain is nothing more than weakness leaving your body stand, und jeder Menge Whiskey und anderer Spirituosenflaschen. Natürlich konnten die Besucher auch Wasser trinken oder Säfte und Schorlen bestellen, wer nach dem Training aber ein Bier oder einen Single Malt wollte, konnte dies hier ebenso tun. An den Seiten des Raumes hingen Boxsäcke, einer neben dem anderen wie an einer Perlenkette aufgeschnürt. Hinter dem Boxring waren Sportgeräte und Hanteln zu finden. Direkt dahinter war eine Glaswand, die offensichtlich nachträglich eingebaut wurde. Wenn man durch die zweiflügelige Glastür trat, war man in einem komplett mit Matten ausgelegten Raum, in dessen Mitte ein Käfig stand, die Außenwände waren mit einem zwei Meter hohem Netz umspannt, welches an zwölf gepolsterten Pfeilern festgemacht war. Der Käfig wirkte fast rund.

Tom fuhr rechts am Gebäude entlang, vorbei an einer Außentreppe, die zum aufgesetzten Obergeschoss führte, um seine Chopper neben den anderen Motorrädern hinter dem Fight-Club abzustellen. Sie standen aufgereiht entlang einer Laderampe, die sich über die gesamte Länge der Lagerhalle erstreckte. Er wunderte sich, eins der Motorräder war beschädigt, ein Spiegel war abgerissen und auf der Seite war alles komplett zerschrammt. Es war Ronnys Harley, gerade erst ein paar Wochen alt, er muss einen Unfall gehabt haben. In der Mitte der Laderampe war eine Metalltreppe, Tom ging sie hinauf und öffnete einen Flügel der dahinter liegenden doppelten Stahltür. Von innen war diese schwarz lackiert, mit einem großen weißen Totenkopf darauf, über dem Bist Du zu schwach, ist dies Dein NOTAUSGANG stand. Als Tom den Trainingsraum betrat, war Torge bereits wieder im Ring und arbeitete mit einem Boxer an seiner Schlagtechnik. Wie immer beim Training hatte, er seinen rauschigen Vollbart zusammengebunden. Er nickte Tom kurz grüßend zu, sah dann seine immer noch geschwollene Wange und fing an, lachend mit seinem Finger auf seine eigene Backe zu zeigen. Tom erwiderte das mit einem Mittelfinger, worauf Torge nur noch lauter lachte.

Im hinteren Teil des Trainingsraumes waren ein paar Mitglieder des Fight-Clubs am Trainieren. Zwei übten nacheinander Schläge und Tritte am Boxsack, auf der Hantelbank lag wie immer David und stemmte Gewichte in die Höhe. Vom Kampfsport wollte der scheinbar nichts wissen. Er kam jeden Tag und arbeitete eine Stunde lang mit Hanteln. So sah sein Körper auch aus, er war groß und muskulös, ein Bodybuilder wie er im Buche stand. Vielleicht ausgenommen davon, wie seine Haut aussah, denn diese war mit unter Aussparung seines Gesichts und der schimmernden Glatze komplett tätowiert. Er trug immer dieselben schwarzen Chucks, dazu weiße Socken, die bis knapp unter die Knie reichten und eine dunkelblaue Trainingshose, die wiederum kurz oberhalb der Knie endete. Sein Oberkörper war immer entblößt. Tom und die anderen zogen ihn manches Mal damit auf, er könne sich wohl kein T-Shirt leisten, denn sonst würde er hier ja nicht immer oben ohne rumlaufen müssen.

Neben den Trainingsgeräuschen durchhallte halblaute Rockmusik den Raum. Tom setzt sich an die Bar und sah David dabei zu, wie er die Langehantelstange beim Bankdrücken immer wieder nach oben drückte. Dann schaute er zur Bar und sein Blick blieb an dem Totenkopf hängen, der auf darunter liegenden gekreuzten Knochen im Regal stand. Auf dessen Frontal waren R.I.P. und der Name Finn geschrieben. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, kam Nicole um die Ecke. Sie war bepackt mit Säften und Eiweißpackungen, um den Tresen nachzufüllen. Nicole war Steens Frau, sie hatte ihn bereits mit sechzehn Jahren geheiratet, als sie von ihm schwanger wurde. Sie zog mit in das Haus seiner Mutter ein und sie blieben dort auch noch wohnen, nachdem das zweite und dritte Kind geboren wurde. Jetzt half sie im Fight-Club mit. Die Kinder waren alt genug, damit sie das regelmäßig tun konnte.

„Scheiße, Tom, hast du dir die Nummer des LKWs aufgeschrieben, der über dein Gesicht gefahren ist?“, scherzte Nicole und zwinkerte ihm zu.

Das Zuzwinkern tat sie oft, dabei rümpfte sich ihre Nase und ihre Piercings wackelten dabei. Tom fragte sich immer wieder die banale Frage, ob sie die Nasenpiercings beim Schlafengehen herausnahm oder ob sie diese durchgehend trug. Dabei bemerkte er nicht, wie sich diese fast täglich änderten. Sie trug immer andere Piercings, je nach Tag, Anlass und Stimmung. Bevor Tom auf ihre Stichelei antworten konnte, kam bereits Steen in den Raum. Er hatte schon vom Obergeschoss aus dem Büro heraus gesehen, wie Tom auf den Hof fuhr. Da er ihn gleich fragen wollte, wie der Kampf verlaufen war, kam er sofort heruntergelaufen.

Grinsend schritt er durch die Stahltür und schrie vor Freude quer durch den ganzen Trainingsraum: „Tom!“.

Wie so oft trug Steen eine blaue verwaschene Jeans mit Löchern und ein schwarzes enges T-Shirt, heute stand darauf in großen Buchstaben ‚No Pain‘ geschrieben. Aus den durch die Muskeln gespannten Ärmel liefen die Tattoos heraus bis hin zu seinen Handrücken. Sein wuschiger Garibaldi-Vollbart brach mit seiner Frisur, denn er hatte einen fast ganz um den Kopf laufenden Undercut und oben lange Haare, die als Scheitel gewachst glatt an seinem schmalen Gesicht herunterliefen. Diese ragten bis über die Nase und fast hin bis zum Kinn. Seine Augen waren fesselnd, sie schienen verträumt woanders zu sein und sahen einen gleichzeitig durchdringend an. Tom und er schlugen zur Begrüßung mit den Händen ein und gaben sich mit der anderen Hand einen Klaps auf den Rücken.

„Scheiße, alter, du hast ihn umgehauen, wie krass ist das denn?“, gab Steen freudig von sich.

Tom blickte etwas verlegen nach unten und sagte bescheiden: „Naja, ein bisschen Glück war auch dabei. Er hat mir ganz schön einen verpasst. Das hätte auch anders ausgehen können.“

„Anders ausgehen am Arsch, alter, du hast gewonnen! Ich schmeiß‘ gleich eine Runde!“, verkündete Steen euphorisch, zwinkerte dann Nicole zu und schob dabei Tom vom Hocker herunter in Richtung Stahltür.

Als sie auf die breite Laderampe hinaustraten, schien ihnen die Sonne ins Gesicht. Zeitgleich kamen die Brüder Leon und Pascal an, die langsam mit ihren Choppern über den Hof wupperten, bis sie diese am Ende neben den anderen abstellten. Mit einem dumpfen Metallgeräusch stapften sie mit ihren schweren Stiefeln die Stahlstufen hoch und begrüßten Steen und Tom mit Handschlag und Umarmung. Kurz darauf chopperte auch Maik auf den Hof und das ganze wiederholte sich. Wie jeden Sonntag, pünktlich um elf Uhr morgens, trafen sie sich zum ‚Früh-Choppern‘. Dann hingen sie auf der Rampe des Fight-Clubs herum und tranken Bier oder sie cruisten gemeinsam mit ihren Motorrädern durch die Gegend. Heute war es ein Biertag. Als letzter, wie so oft, kam Ape angefahren. Als er den Helm abnahm, kamen dieselben fettigen Haare wie am Vortag zum Vorschein. Wenigstens, dachte Tom, nachdem Ape seine Lederjacke ausgezogen hatte, trug er ein frisch gewaschenes Slayer T-Shirt, welches er gestern noch nicht getragen hatte. Wenn er schon seine Kleidung getauscht hatte, wird er hoffentlich auch geduscht haben, mutmaßte er weiter.

„Macht mal Platz!“, frotzelte Ape, als er sich an Tom und Maik vorbeidrängelte.

Erneut wiederholte sich ein freudiges Begrüßungsritual, welches seinen Höhepunkt fand, als Torge die Tür von innen auftrat und mit einer Kiste Bier herauskam. Sie nahmen sich jeder eins und verteilten sich auf den alten Ledersofas und Gartenmöbeln. Ape schmiss die Stereoanlage an und von einem schweren Hardrock-Riff getrieben erklang das Lied Don‘t tell me how to live von Monster Truck. Mit den Bierknollen stießen sie lautstark auf Toms Sieg an.

„Stopp, Leute, wir müssen noch auf Ronny warten“, gab Ape zu bedenken, als er sich in die Lehne des Sessels fallen ließ und seine Stiefel auf den Tisch warf, „er ist hier, da steht doch seine Chopper.“

„Hatte er einen Unfall?“, fragte Maik besorgt. „Geht es ihm gut?“

Steen überlegte kurz, was er sagen sollte. Er wusste was los war, wollte aber nichts preisgeben, was Ronny vielleicht als Tratsch hinter seinem Rücken verstanden hätte. Nur wollte er seine Freunde auch nicht anlügen. Es wäre ihm am liebsten gewesen, wenn Ronny selbst hier wäre, um seine Geschichte zu erzählen oder wenigstens das, was er bereit war, davon zu teilen. Wo sollte er anfangen? Es war eine lange Nacht, viel war passiert.

„Es geht ihm gut,“ stellte Steen zunächst klar. „Er liegt oben auf der Couch und schläft seinen Kater aus. Alles fing gestern Mittag an, als der alte Albrecht ihn in sein Büro rief. Ihr wisst ja, sein Laden läuft schon länger nicht mehr so gut, wer kauft denn heute noch Werkzeug bei ihm? Er hat Ronny gekündigt. Er kann sich keinen zusätzlichen Verkäufer im Laden mehr leisten, meinte er wohl. Da ist bei Ronny eine Sicherung durchgebrannt. Warum musste er sich auch für eine nagelneue Fat Boy über beide Ohren verschulden?“ Steen machte eine Pause, alle klebten gespannt an seinen Lippen. „Er hat Albrecht verprügelt, Gott weiß warum. Der kann ja auch nichts dafür. Er hat ihn zusammengeschlagen und ist dann abgehauen. Keine Ahnung wohin, zumindest hat er sich volllaufen lassen. Habt Ihr gestern den Krankenwagen gehört? Der fuhr zu Albrecht, seine Frau hatte ihn gerufen. Abends kam Ronny dann hier an, voll wie die Besatzung der Gorch Fock bei Landgang. Er hatte sich mit seiner Maschine quer auf dem Hof langgelegt. Ich bin gleich raus, habe ihm hochgeholfen. Wir sind dann nach oben, er hat mir alles erzählt, zumindest woran er sich noch erinnerte und was ich verstehen konnte. Er hat keinen Job, keine Kohle und Schulden. Er weiß nicht, wie er seine Miete im nächsten Monat zahlen soll und er glaubt, so jemanden wie ihn, ohne Ausbildung, wird hier niemand mehr einstellen.“

Keiner sagte etwas. Sie kannten Ronny alle sehr gut und fast jeder hatte sich gefragt, wie er überhaupt jemals den Anstellungsvertrag als Verkäufer bei Albrecht bekommen hatte. Denn einen Verkäufer mag man sich vorstellen wie man will, nur eben nicht wie Ronny. Er war groß, hatte schmale herunterhängende Schultern, schlaffe lange rotbraune Haare und unter seinen alten Metal-Shirts kamen oft sein Bierbauch oder seine Arschritze zum Vorschein. Er war nicht dick, eher dünn und speckig. Seine hervorstehenden Augen ließen ihn immer traurig aussehen, selbst wenn er lachte. Das Einzige was er pflegte, war sein Ducktail-Bart. Er hatte ein paar Tattoos am Körper, die eine Ansammlung emotionaler Phasen und das Ergebnis von Alkoholexzessen waren. Wenn er im Laden stand und verkaufte, hatte er wenigstens einen Zopf, trug Hemden und gewaschene Jeans. Was er wirklich gut konnte, war es, die Werkzeuge zu erklären, wofür man sie brauchte, welche Alternative vielleicht besser geeignet war und was sein Geld wert war und was eher nicht. Wahrscheinlich sah der alte Albrecht dieses Talent in ihm und das war der Grund gewesen, weswegen er ihn damals eingestellt hatte.

„Ich habe einen Job für ihn“, verkündete Ape aus dem Nichts heraus. Alle schauten ihn überrascht an. Niemand hatte eine Vorstellung davon, wie gerade Ape ihm eine Arbeit beschaffen könnte. „Ich war gestern nach dem Kampf noch im Bonham. Eigentlich wollte ich mich dort mit Ronny treffen, aber naja, ich weiß jetzt ja, …“. Er machte eine Pause. „Ich habe mit Jimmy gesprochen“, begann er von neuem, „er hatte die letzten Wochen öfters Probleme im Laden gehabt. Irgendwelche Typen haben da angefangen rumzustänkern. Das ist schlecht für die Stimmung und schlecht für den Laden, meinte er. Ein paar Mädels kamen sogar schon zu ihm und hatten sich darüber beschwert.“

Jimmy und er kannten sich schon seit langer Zeit. Seitdem Ape als Jugendlicher das erste Mal auf dem Sitz einer Mofa saß, fuhr er ins Bonham. Der Laden kam in die Jahre, genauso wie Ape, nur war es in dieser Gegend immer noch einer der wenigen Musik-Clubs, wie man heute sagte, die ein größeres Publikum anzogen. Es wurden die Rock- und Hardrock-Hymnen der letzten sechzig Jahre rauf und runter gespielt. Die Leute saßen an der Bar oder ließen sich auf der Tanzfläche aus. An warmen Tagen war immer ein großer Pulk an Gästen vor dem Eingang. Einmal im Monat spielte eine Band live, von Blues bis Metal, von gut gemeint bis gut gemacht. Da das Bonham außerhalb von Steenow an einer Landstraße lag, gab es nie Beschwerden wegen der Lautstärke. Es gab öfters Anzeigen gegen Unbekannt, wenn wieder vermehrt Betrunkene des Nachts über die Landstraße liefen und Autofahrer zu Notbremsungen zwangen. Der hiesige Polizist Oliver, selbst in seiner Freizeit dann und wann ein Gast im Bonham, hatte durchsetzen können, die Geschwindigkeit auf der Landstraße vor und nach dem Bonham auf 70 Stundenkilometer begrenzen zu lassen. Angeblich, weil hier neuerdings ein verstärkter Wildwechsel auftrat und keine Unfälle passieren sollten. Keine Unfälle passieren zu lassen, war auch Olivers wirklicher Beweggrund für die Geschwindigkeitsbegrenzung gewesen, wenn auch nicht auf Wild ausgerichtet sondern darauf abzielend, keine betrunkenen Jugendlichen ums Leben kommen oder das Bonham Aufgrund der Gefahren gar schließen zu lassen. Da man das in den Ämtern aber nicht offen kommunizieren konnte, musste das Wild als Grund herhalten.

„Was hat das jetzt mit Ronny zu tun?“, fragte Steen leicht gereizt.

„Türsteher“, sagte Ape knapp, „Jimmy braucht einen Türsteher und hatte mich gefragt, ob ich jemanden wüsste.“

„Ronny ist kein Rausschmeißer, der hat sich noch nie geprügelt und wäre der letzte, der dafür in Frage käme“, argumentierte Steen dagegen an. Bis vorgestern stimmte das sogar, die Ironie seiner Worte wurde Steen sofort klar, nachdem er sie ausgesprochen hatte. Deswegen schwieg er auch sofort wieder.

„Wer sagt denn was von prügeln“, wiegelte Ape ab, „Ronny ist groß und sieht finster aus. Vielleicht hat die Geschichte mit Albrecht ja auch etwas Gutes. Wenn sie die Runde macht, versucht vielleicht auch niemand Ärger anzufangen, wenn Ronny da groß und finster dreinschauend vor der Tür steht.“

„Bevor Ronny da allein an der Tür steht und sich von betrunkenen Arschlöchern verprügeln lässt, komme ich mit!“, scherzte Torge und schwang dabei mit seiner Bierflasche einen Haken.

„Ich bin dabei!“, sagte Tom mit aufgesetztem Pathos in der Stimme.

„Dann muss Jimmy uns wohl alle bezahlen“, ergänzte Steen lachend und sie stießen an.

Sie saßen dort noch eine gute Stunde und es wurden noch einige Biere geleert, bevor Torge zu seiner nächsten Trainerstunde musste und Nicole ihren Mann einsammelte, damit sie zuhause mit der Familie zu Mittag essen konnten. Damit löste sich das Früh-Choppern an diesem Tag auf. Ronny schlief noch bis in den Nachmittag hinein und das Thema Türstehen wurde zunächst nicht wieder angesprochen.

Die Sonne ging gerade unter und füllte den Himmel mit einem satten Rot. Das Wasser des Sees schimmerte und durchmischte rote, gelbe und blaue Farbtöne miteinander. Auf der Veranda bewegte Tanya im langsamen Rhythmus ihr Becken, als sie auf Tom saß. Ihr nackter Rücken stand aufrecht und entblößte ein großes tätowiertes Kreuz. Es hatte innen eine schlichte Holzmaserung, dessen florale Enden metallen wurden und dann seitlich in Flügel übergingen. Ihre Schulterknochen stachen bei jeder Bewegung hervor und versetzten den Flügeln einen leichten Schlag. Tom lag ausgestreckt auf der weißen Liege und hielt sie an der Hüfte fest. Plötzlich hörten sie ein Motorrad kommen. Sogleich sprang Tanya auf, schaffte es gerade noch ihren Rock anzuziehen und lief dann, mit einer Hand ihre Brüste bedeckend und mit der anderen ihre restliche Kleidung haltend, lachend an Steen vorbei hinein den Wohnwagen. Steen hielt sich rücksichtsvoll eine Hand vor die Augen und grinste in Richtung Tom, der auch gerade damit beschäftigt war, sich seine Jeans über seinen nackten Hintern zu ziehen. Als Steen auf der Veranda ankam, setzte er sich ungefragt auf die zweite Liege und öffnete die zwei Bierflaschen, die er mitgebracht hatte.

„Wenn du hier mal fertig sein wirst, ist das ein Traum. Wer hätte gedacht, was aus dieser alten Ruine jemals wieder werden kann“, sagte Steen mit aufrichtiger Wertschätzung und betrachtete das Haus.

„Wenn ich nicht vorher pleite bin. Ganz ehrlich, ich hätte nicht gedacht, wie teuer das alles werden wird. Dann ist da noch das Kind.“ Tom stockte kurz, überlegte zunächst und sagte dann: „Ich habe Tanya versprochen, wir ziehen in dieses Haus ein, bevor das Kind da ist. Wie du weißt, halte ich meine Versprechen für gewöhnlich. Jetzt weiß ich aber nicht, wie ich das hinbekommen soll.“

„Scheiße, Tom, sie liebt dich. Glaubst du wirklich, sie wird daraus ein Drama machen, falls das Haus erst ein paar Monate später fertig wird?“. Steen grinste wieder und sagte: „Du bist ein glücklicher Scheißkerl und weißt es noch nicht einmal!“

„Wie geht es Ronny?“, fragte Tom, der nicht weiter über sich, Tanya oder das Haus sprechen wollte.

Steen wurde wieder ernst. „Gut, …also zumindest besser. Als ich am Nachmittag wieder in den Laden kam, war er wenigstens wach. Er war schon wieder am Trinken. Ich hatte über Apes Türstehervorschlag nachgedacht und ehrlich gesagt hatte ich ein wenig Angst bekommen, Ronny könnte darauf anspringen. Ich habe auch mit darüber Nicole gesprochen und wir sind uns einig. Weißt du, wir sind doch eine Familie! Ronny, Du, Torge und alle anderen. Wir können ihn nicht hängen lassen. Wusstest du eigentlich, Ronny wollte sich schon einmal das Leben nehmen.“

Tom schüttelte den Kopf und sah nun ebenso besorgt aus wie Steen.

„Das war damals, nach der Schule, kein Job, keine Perspektive. Weißt du noch damals, der Unfall?“

Daran erinnerte sich Tom sehr gut. „Natürlich, als er mit seinem alten Kadett gegen die Brückenmauer gerast war. Die Lenkung war defekt.“

„Lenkung am Arsch, die funktionierte einwandfrei“, korrigierte ihn Steen, „er hatte es absichtlich gemacht, er hat Gas gegeben und ist ungebremst gegen diese verdammte Wand gefahren. Er muss wohl einen Schutzengel gehabt haben und zum Glück ist Ronny nicht der cleverste, sonst hätte er wohl nicht den Airbag vergessen. Er hatte es mir später irgendwann mal erzählt. Ich glaube, der alte Albrecht wusste davon und hatte Mitleid mit ihm. Deswegen hatte er ihm damals bestimmt den Job angeboten.“

„Was hast du jetzt mit Nicole besprochen?“, fragte Tom nach.

„Wir stellen ihn ein. Wir können Hilfe gebrauchen“, sagte Steen nüchtern.

„Steen, ich liebe den Fight-Club und was ihr da macht ist großartig, nur wissen wir beide, der Laden ist keine Goldgrube. Ihr habt drei Kinder zu ernähren, ihr könnt Euch keinen Mitarbeiter leisten“, stellte Tom klar, der gut wusste, was für ein großes Herz Steen hatte. Bestimmt war das Gespräch zwischen ihm und Nicole nicht einfach gewesen, dachte er, denn sie war kein Träumer wie er und sich durchaus bewusst, wie knapp es jeden Monat wieder war.

„Wir sind doch eine Familie“, wiederholte sich Steen, „wir kriegen das schon hin. Nur so lange, bis er etwas Neues findet. Es ist ja auch nur ein Aushilfsjob am Tresen, damit er wenigstens die Miete bezahlen kann.“

„Du bist zu gut für diese Welt“, sagte Tom anerkennend und erhob die Flasche zum Anstoßen. „Wenn ich irgendwie helfen kann, lass es mich wissen. Ich höre mich auch um, falls wir auf dem Bau in der Firma Hilfe brauchen, sage ich ihm Bescheid.“

„Ich meine das ernst, Tom“, sagte er mit Nachdruck, „wir sind eine Familie!“

Nun runzelte Tom die Stirn, ihm wurde es jetzt zu emotional.

„Ist dir schon einmal aufgefallen, wir haben alle ein Totenkopf-Tattoo?“, fragte er Tom.

Dieser schaute nun auf seinen Oberarm, als wollte er sich vergewissern, ob sein Tattoo noch da war. Auch Steen drehte zum Beweis seinen eigenen Arm zu Tom, damit dieser sein Totenkopf-Tattoo besser sehen konnte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752140101
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Freundschaften Freiheit Rock’n’Roll Sex Organisierte Kriminalität Rocker Liebe Tattoos Motorräder Gewalt Krimi Noir Ermittler

Autor

  • Franck A. Leblang (Autor:in)

Franck A. Leblang studierte und zog von der Provinz Norddeutschlands in ferne Länder. Er überschlug sich beim Motorradfahren, trank sich durch die Bars der Welt und fand Freunde rund um den Äquator. Verrückte Menschen, emotional aufgeladene Musik und Träume jagen sind sein Antrieb. Seine Narben zeugen von den gemachten Fehlern und seine Liste der Nie-wieder-Getränke durch verlorene Erinnerungen ist länger als ihm lieb ist. Dennoch zeugt beides vom Überleben und der Lust am Leben.
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Titel: Bones and Skulls - Kapitel 1 bis 5