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Sinnliche Küsse: Ein Gentleman in Budapest

von Annabelle Benn (Autor:in)
88 Seiten
Reihe: Kuss, Band 5

Zusammenfassung

Ihr sinnlicher Kurzurlaub in Budapest Julia wachsen die Sorgen über den Kopf. Beziehung, Ehe, Wohnungsnot - das übliche Drama eben. Ein Tapetenwechsel ist da dringend nötig, und so beschließt sie, für ein paar Tage zu verreisen. Wo könnte sie besser die Seele baumeln lassen als in Budapest, das für seinen faszinierenden Jugendstil, die unwiderstehlichen Torten und erholsamen Spas berühmt ist? Als sie den attraktiven Gabor kennenlernt, ist an Erholung nicht mehr zu denken. Wider alle Vernunft verliebt sie sich in ihn, ohne zu wissen, ob sie ihn jemals wiedersehen wird und welche Absichten der vermeintliche Gentleman in Wirklichkeit hegt. Dabei wurde ihr Herz schon oft genug gebrochen ... Dieser Band ist nicht im Sammelband "Viele Küsse" enthalten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Eins

Julia ließ den Reiseführer sinken und blickte aus dem Fenster, als der Railjet den Wiener Hauptbahnhof verließ. Nun trennten sie nur noch zweieinhalb Stunden von dem Ziel ihrer kurzen Reise: Budapest. Sie war allein unterwegs, wie so oft in den letzten Jahren, wenn ihre Freundinnen entweder keine Zeit oder kein Geld hatten. Es war Mitte Februar und winterlich kalt. Auf der Fahrt von München hatte sie viele Schneefelder gesehen. Eisige Temperaturen wären ein krasser Kontrast zu der brüllenden Hitze, die bei ihrem bisher einzigen Besuch in der ungarischen Hauptstadt gewütet hatte. Zwölf Jahre war der halbe Tag inzwischen her, länger waren sie nicht geblieben. 24 und gerade mit dem Studium fertig war sie damals gewesen. Sie erinnerte sich nur noch an die Fischerbastei, die Burg, die erfrischend kühle Frischmarkthalle und die Gluthitze in der Stadt. Natürlich auch an Ferdinand und seine damals achtjährige Tochter Amelie, die die ganze Zeit so gequengelt hatte, dass sie früher als geplant an ihr Ferienhäuschen am Plattensee zurückgefahren waren. Zwölf Jahre war das nun her. Zwölf Jahre und so viel Leben – so viele Veränderungen, Verluste und mittlerweile nicht mal mehr ein richtiges Ziel. Abgesehen von Budapest für die nächsten vier Tage.

Seufzend zog sie die Naht ihrer Strümpfe zurecht. Sie mochte derartigen Schnickschnack, liebevolle Details und nahm die vermeintlichen Unannehmlichkeiten, die diese Dinge mit sich brachten, billigend in Kauf. Man musste sich zwar immer darum kümmern, aber die Schönheit an sich war es wert. Überhaupt liebte Julia Schönes, sei es in der Natur oder in der Kultur, wenn die Herstellung viel Arbeit und Kunstfertigkeit erforderte. Mehr als jeder andere erfreute sie sich an sinnlichen Genüssen, sei es an Musik, Architektur oder kunstvoll verzierten Torten. Von all dem, so hatte sie gelesen, sollte es in Budapest zuhauf geben, was mit ein Grund für die Wahl ihres Reiseziels gewesen war.

Sie hatten mittlerweile die Außenbezirke erreicht, und sie war sich sicher, dass auch diesmal niemand zusteigen würde. Folglich hätte sie für den Rest der Fahrt das luxuriöse Viererabteil der Business Class für sich allein. Sie stellte den mit Kunstleder gepolsterten Sitz wieder in die gemütliche Liegeposition und holte ihr Tagebuch hervor. Vor ein paar Wochen begrub sie Meditationsversuche endgültig und wandte sich stattdessen dem Schreiben zu. Man sollte auf etwa drei Seiten das niederschreiben, was einen beschäftigte, damit es sich dabei klärte. Aber so viel Julia auch schrieb, so wenig ordnete sich. Im Gegenteil: Das Chaos schien sich mit jedem Problem, das sie sich eingestand, nur noch zu vergrößern. Wie die Sache mit der Wohnung. Dem Beruf. Der mobbenden Kollegin. Dem langen Single-Dasein und den grauenhaften letzten Dates. Dem fortschreitenden Alter.

„Grüß Gott“, hörte sie da eine warme, volle Männerstimme. Ein wohliges Rieseln lief ihr über den Oberkörper, noch bevor sie aufsah. Vor ihr stand ein gepflegter, geschäftlich gekleideter Mann mit bitterschokoladenbraunem Haar und klaren, dunklen Augen. Er sah atemberaubend gut aus. „Ich hoffe, ich störe nicht, aber der Platz Ihnen gegenüber ist für mich reserviert.“

Julia gab sich Mühe, normal zu klingen, obwohl seine stattliche Erscheinung einige Unruhe in ihr auslöste. „Grüß Gott. Bitte, setzen Sie sich, Sie stören mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich freue mich über Gesellschaft.“ Breit lächelte sie ihn an. Der Fremde war so groß, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um in seine blitzenden Augen sehen zu können. Sein Gesicht war frischrasiert und die Haut bestimmt sehr weich. Auch der Rest von ihm war anziehend. Sehr anziehend sogar, stellte sie errötend fest, als ihr Blick über seinen dunkelblauen Wollmantel glitt.

„So eine charmante Einladung habe ich schon lange nicht mehr bekommen“, antwortete er, wobei seine Mundwinkel leicht zuckten, und schob seinen kleinen Koffer in das dafür vorgesehene Eck.

Eilig stellte Julia den Sitz aufrecht, weil sie diesem eleganten Mann gegenüber nicht halb liegen wollte. Er registrierte es, sagte jedoch nichts dazu.

„Fahren Sie nach Budapest?“, fragte er stattdessen und schlüpfte erst aus seinem Mantel, anschließend aus seinem Jackett. Alles war von feinster Qualität, auch das faltenfreie Hemd, das seinen wohl definierten Körper erahnen ließ. Das gefiel ihr genauso wie seine geschmeidigen, fließenden Bewegungen.

„Ja, Sie etwa auch? Entschuldigen Sie, dumme Frage, in einer der kleinen Ortschaften auf dem Weg dorthin werden Sie wohl kaum aussteigen“, korrigierte sie sich rasch.

Wieder lächelte er sie an. „Dann verbringen wir also meine gesamte Fahrt zusammen. Sehr schön.“ Er sah sie interessiert an, stützte die Arme auf die Oberschenkel und lehnte sich zu ihr vor. „Aber sagen Sie: Hat Ihr scharfer Verstand Sie schon das ein oder andere Mal in Schwierigkeiten gebracht?“

Erschrocken sog Julia Luft ein und wich von ihm zurück. „Wie meinen Sie das?“

In seinen Augen schimmerte Wärme und er schmunzelte leicht, was es ihr erschwerte, seine Worte zu deuten. „Ich meine damit, dass Sie mit Ihrer Aussage sowohl mich als auch die kleinen ungarischen Ortschaften, in der ich theoretisch zu tun haben könnte, beleidigen.“

„Ich – Wie bitte?“ Julia schnappte nach Luft. „Das ist doch nicht Ihr Ernst!“

Er aber verzog keine Miene und steckte nur die Hände ineinander.

„Warum nicht?“ Seine Stimme und der leichte Wiener Akzent, seine Ausstrahlung und der herbe Duft seines After Shaves benebelten Julias Sinne so sehr, dass es ihr schwerfiel, zu erkennen, ob er sich nur einen Scherz mit ihr erlaubte oder nicht.

Sie rang um Fassung. Ruhig antwortete sie: „Weil Sie auf mich nicht wie jemand wirken, der alles persönlich nimmt und wegen jeder Kleinigkeit beleidigt ist. Sie wirken auf mich selbstsicher.“

„Tu ich das?“, fragte er mit einer Stimme und einem Blick, der sie an weichen, kühlen Schlagobers auf einem heißen, scharfen Irish Coffee erinnerte.

Nun war Julia sich sicher, dass er mit ihr flirtete. Sie lehnte sich zurück, legte beide Hände auf die Lehnen und sah ihn grinsend an. „Ja. Sehr.“

Da lachte er richtig, er schüttelte sogar leicht den Kopf und Oberkörper dabei. „Verzeihen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich hatte nur gerade mit einer grauenhaften Zicke zu tun.“

„Und da wollten Sie sichergehen, dass ich nicht in die gleiche Kategorie falle, bevor Sie sich zu mir setzen?“ Lachend sah Julia ihn an.

„Jetzt haben Sie mich enttarnt. Genau so ist es. Also dann: auf angenehme zwei Stunden.“

Sein Blick strich über sie wie eine Hand, die sie vorsichtig erkundete. Wertschätzend und bewundernd wirkte es, nicht abschätzend oder prüfend.

Julias Atem stockte. „Ich verzeihe Ihnen, dass sie mich auf den Arm genommen haben“, konterte sie keck, um das Knistern in der Luft zu ersticken. Er war gerade mal ein paar Minuten hier, sie wusste nicht einmal seinen Namen und schon schlug ihr Herz schneller, wenn er sie nur ansah!

„Das sollten Sie nicht tun!“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich Sie nicht darum gebeten habe“, sagte er ernst.

„Also …“, Julia holte tief Luft und schüttelte den Kopf. „Sie sind noch keine drei Minuten hier und verblüffen mich schon zum zweiten Mal restlos. Aber gut, Sie haben völlig Recht, danke für den Hinweis. Ich verzeihe Ihnen nicht. Warum auch? Wenn Sie mich fragen, soll man nämlich erst dann verzeihen, wenn man darum gebeten worden ist.“

Er hatte sich zurückgelehnt und hörte ihr interessiert zu. Dabei kniff er die Augen leicht zusammen und musterte sie eingehend. Dann entspannte er sich, und sein Gesicht leuchtete auf. „Wow, damit haben Sie mich jetzt ebenfalls binnen drei Minunten zum zweiten Mal aus dem Konzept gebracht.“ Nun lachte er auf und sie stimmte mit ein.

„Bevor wir uns weiter unterhalten: Darf ich mich vorstellen und Sie um Verzeihung bitten? Gabor Reh.“

Sie neigte den Kopf amüsiert zur Seite. Reh? „Dann verzeihe ich Ihnen jetzt, Herr Reh. Das ist wirklich ein sehr schöner und seltener Name! Julia Steindl“.

„Julia? Sehr schön. Der Name passt zu Ihnen.“ Sein Blick wanderte von ihren Lackschuhen über ihre Beine, an denen die Strumpfnaht perfekt saß, über ihren Rock hinauf zu ihrem langen, dunkelblonden Haar.

Sie lächelte. Es gefiel ihr, dass sie ihm gefiel, und ihr gefiel sein Wiener Charme. Mehr als das, er begeisterte und beschwingte sie geradezu. Sie sollte auf der Hut sein, wenn sie ihm nicht bis zur Ankunft restlos verfallen sein wollte. Aber nein – halt. Diese Zeiten waren vorbei. In den letzten Jahren ohne feste Beziehung hatte sie schmerzhaft erfahren und schließlich begriffen, dass ihr kurze, überstürzte und einmalige Geschichten nicht nur kein Vergnügen, sondern sogar unmäßig viel Leid bescherten.

„Sie sind nicht zufällig Italiener?“, fragte sie unvermittelt.

„Nein, wie kommen Sie darauf?“

Grinsend zuckte sie mit einer Schulter. „Ich kenne nur eine Handvoll Ungarn, aber von denen haben Sie den Charme nicht.“

Gabor legte den Kopf in den Nacken und lachte so herzlich auf, dass sich sein Brustkorb hob und senkte. „Sie gefallen mir, Julia, aber Sie kennen die Ungarn nicht“,, meinte er schmunzelnd. „Meine Mutter ist Ungarin, mein Vater waschechter Wiener. Da fließt kein Tropfen italienisches Blut in mir.“

„Ach, mir macht das nichts aus“, entgegnete sie leichthin.

Wieder lachte er. „Was für ein schöner Zufall, dass uns das Reservierungssystem diese Sitzpätze zugewiesen hat.“
„Das finde ich auch! Ich bin bisher überaus zufrieden mit der österreichischen Bahn“, antwortete sie gespielt affektiert, und fügte scherzend hinzu: „Und dabei heißt es immer, IT-Spezialisten hätten keinen Sinn für Humor.“

„Oder Ästhetik.“

Wieder umspielten seine Worte und seine tiefe, lang nachhallende Stimme ihre Sinne. Sie konnte nicht sprechen, deswegen hustete sie leise. „Ähm ja, das auch. „Ästhetik ist sehr wichtig für ein erfülltes Leben, finden Sie nicht?“

„Oh, absolut. Ich habe gerade ein Buch gelesen, das „Zwölf Regeln fürs Leben“ heißt. Eine der Regeln, die es nicht unter die Zwölf geschafft hat, lautet, dass man ein Zimmer im Haus so schön wie möglich gestalten soll, weil Ästhetik den Menschen zu seinem bestmöglichen Selbst streben lässt. Weil Ästhetik uns zeigt, dass es etwas gibt, für das es sich zu leben, zu arbeiten lohnt, weil man sich darin verlieren und darin aufgehen kann.“

Julia war vollkommen gefangen von diesem fremden Mann, dem sie hätte ewig zuhören wollen. Ihr war, als wäre seine Stimme ein dicker, weicher Teppich, auf den sie sinken und von dem sie sich tragen lassen könnte.

„So habe ich das noch nie betrachtet, aber ja, so empfinde ich es auch. Denn wenn ich etwas überwältigend Schönes sehe, höre, rieche oder esse, dann bin ich entrückt, ich meine, ich bin dann tatsächlich hin und weg und richtig motiviert, mein Bestes zu geben, auch in anderen Dingen, die nicht unbedingt etwas damit zu tun haben müssen.“

„Rieche?“, fragte er leise. Verlegen blickte sie aus dem Fenster, als der Kellner eintrat und sich nach ihren Getränkewünschen erkundigte.

Sie war froh um die Unterbrechung, weil sie sich wegen des „rieche“ albern vorkam. Umso erleichterter war sie, als Gabor wissen wollte, ob sie einen bestimmten Sketch kenne, in dem es um zwei Frauen in der Konditorei ging, die den Kuchen dem Duft nach beurteilen wollten. Da sie verneinte, spielte er ihn in einem fast perfekten bayerischen Dialekt nach, und sie lachte Tränen. Er hatte ein ganzes Repertoire an Kabarettstücken auf Lager und unterhielt Julia großartig, die sich mit jedem Lacher mehr in den sagenhaften Fremden verliebte.

Bis sie den Endbahnhof Keleti erreichten, waren sie längst per Du. Zudem wusste sie nun, dass er geschäftlich für eine große Supermarktkette unterwegs war, für deren Marketing in Osteuropa er zuständig war. Sie erfuhr auch, dass er ledig und kinderlos war, gern Tennis spielte, mittelgut Ski fuhr und niemals wieder nach Hong Kong reisen wollte.

Sie mochte Hong Kong ebenfalls nicht, fuhr aus Angst vor Knochenbrüchen und Schlimmerem gar nicht mehr Ski und war ebenfalls ledig und kinderlos. Er war beruflich unterwegs, sie privat, er mochte seinen Beruf, sie schwieg zu ihrem. Der Global Player, bei dem sie seit acht Jahren tätig war, strukturierte mindestens genau so lang um, doch diesmal schien ihre Entlassung unausweichlich. Sie war zwei Mal in Folge nicht befördert worden, was sowohl an ihrem Selbstbewusstsein als auch an ihren Lebensumständen kratzte, denn die Mieten in München stiegen ungeachtet ihrer persönlichen Umstände unaufhaltsam weiter ins Unendliche. Nach der Trennung von Karl vor zwei Jahren hatte sie sich zunächst glücklich geschätzt, so schnell (nämlich binnen zehn Wochen) eine eigene Wohnung gefunden zu haben – wenn man eine Küchenzeile mit Schlafsofa, aber ohne ausreichend Platz für einen Tisch als Wohnung und nicht als Studio bezeichnen wollte. Diese winzige Wohneinheit, die ein Drittel ihres Lohns schluckte und die im Österreichischen so nett Garconniere hieß, war nicht das, wofür sie ihren Abschluss in BWL mit 1,8 gemacht hatte. Aber um es zu etwas zu bringen – das wusste sie – brauchte es mehr als ein kluges Köpfchen. Es brauchte Entschlusskraft, Durchsetzungsvermögen, Skrupellosigkeit, emotionale Intelligenz und endlose Einsatzbereitschaft. Vor allem aber keinen Totalausfall, wie sie ihn sich erlaubt hatte. Denn nachdem sie Karl inflagranti mit einer anderen auf ihrer eigenen Küchenablage erwischt hatte, war sie zwar noch zur Arbeit gegangen, hatte aber einen so folgenschweren Fehler gemacht, dass … nun, dass es ein Wunder war, dass man sie nicht hochkant hinausgeworfen hatte. Dieses Kapitel war allerdings etwas, das Julia gern im dunkelsten Keller ihres Bewusstseins behielt und nicht mal ihrem Tagebuch anvertraute. Ein längst überfälliger Jobwechsel würde sie von der Last der Erinnerung und dem Getuschel der Leute „Ist das nicht die, die damals …“ befreien. Nur war es leider nicht so leicht, in München eine gut bezahlte Stelle zu finden, bei der man nicht unterschreiben musste, rundum die Uhr, sieben Tage die Woche einsatzbereit zu sein, persönlich für Fehler zu haften und alle persönlichen Wünsche hinten anzustellen.

Aber woran verschwendete sie ihre Gedanken, wenn sie so reizende Reisegesellschaft hatte?

Gabor, der das Abteil für ein Telefonat verlassen hatte, kehrte zurück und erkundigte sich nach ihren Plänen in Budapest, die sie ihm daraufhin erzählte. Als sie fertig war, schlug er vor: „Heute Abend bin ich leider schon bei einem Geschäftsessen, aber morgen Nachmittag könnten wir einen Kaffee zusammentrinken, vorausgesetzt du hast Lust und Zeit.“

Fragte er sie im Ernst, ob sie Zeit und Lust hatte? Sie lachte leise. „Ich bin ja rein zum Vergnügen unterwegs und habe die ganze Zeit Zeit. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns wiedersehen würden.“

Eindringlich sah er sie an. „Mir auch. Passt es dir um fünfzehn Uhr im Gerbeaud?“

„Im Gerbeaud?“, wiederholte sie den Namen des traditionsreichen und exklusiven kávéház. „Sehr gern.“

„Das freut mich. Es wird dir dort gefallen, und vor allem wirst du dich bei der Auswahl an ungarischer Konditorenkunst wie im Himmel fühlen.“ Augenzwinkernd fügte er hinzu: „Quasi dem Erhaben und Höherem entgegenstrebend.“

Zwei

Mit vor Aufregung leicht pochendem Herzen ging Julia über den leeren Vörösmarty Platz, der zu drei Seiten von Häusern mit wunderschönen Jugendstilfassaden, zu einer mit einem modernen Kaufhaus gesäumt war. In der Mitte befand sich ein enormes Denkmal aus weißem Marmor, das Nationaldenkmal, das die Ungarn auch in harten Zeiten an Zusammenhalt erinnern sollte. Der Wind pfiff in so eisigen Böen, dass sie sich mit aller Kraft dagegen stemmen musste, um nicht in die andere Richtung getrieben zu werden. Dabei wollte sie doch zu Gabor!

Als sie das vornehme Kaffeehaus betrat, war sie absichtlich drei Minuten zu spät dran, weil sie hoffte, dass er schon da wäre. Die hohe Tür öffnete sich direkt zu der mit unwiderstehlichen Köstlichkeiten bestückten Kuchentheke, Julia lief das Wasser im Mund zusammen und sie fühlte sich, als wäre sie in einer vergangenen Epoche gelandet. Von den gewölbten Decken hingen lange Kristallleuchter, die Wände waren pistaziengrün und beige gestrichen, schwere, dunkelrote Vorhänge schmückten die raumhohen Fenster. Die Tische und Stühle waren aus hellem, edel glänzendem Holz, und die Bedienungen einheitlich in Schwarz gekleidet. Eine wohltuende Ruhe lag über dem leisen Stimmengewirr. Das Lokal erstreckte sich über zwei Räume; mindestens zwanzig Meter weit zu ihrer Linken, aber nur wenige Meter zu ihrer Rechten. Suchend sah sie sich um. Wo war Gabor? Ach, dort hinten saß er ja. Erleichtert atmete sie auf. Er hob lächelnd die Hand.

In dem hellblauen Hemd sah er noch anziehender aus als am Tag zuvor, und eine warme Woge von Verlangen erfasste sie. Mit wiegenden Schritten ging sie auf ihn zu. Je näher sie kam, desto breiter wurde sein Lächeln, denn er ließ sie nicht aus den Augen. Sie erkannte, dass sie ihm gefiel – ihr Aussehen, ihre Bewegungen, ihr Gang. Diese ungewohnte Reaktion freute sie und brachte das lang vergessene Gefühl zurück, nicht nur biologisch eine Frau zu sein, sondern in ihrer Weiblichkeit begehrt zu werden. Verlegen sah sie zu Boden, bis sie vor ihm stand. Kurz schien er sich unsicher darüber zu sein, was er tun wollte, denn seine Arme hoben und senkten sich rasch wieder. Wollte er sie etwa umarmen? Sie selbst hätte ihn am liebsten umarmt, doch das taten sie nicht. Stattdessen fasste er mit beiden Händen ihre, er sah ihr tief in die Augen und sagte mit dieser Stimme, die sie die gesamte Nacht lang gehört hatte: „Wie schön, dass du da bist.“

Sie lächelte und nickte leicht. „Ich freue mich auch. Und du hast wirklich ein wunderschönes Kaffehaus ausgesucht. Ich glaube sogar, das schönste überhaupt.“

„Ja, ich glaube auch, dass es das schönste der Stadt ist. Ich komme gern hierher, der Kuchen ist einfach himmlisch. Schau, ich wollte deinem Sinn für Ästhetik eine Freude bereiten. Aber setz dich doch erst mal und erzähl, wie geht‘s dir und was du bisher Schönes gemacht hast.“

„Ach, ich sag dir – mir geht‘s rundum fantastisch, aber das ist in dieser Stadt auch kein Wunder, oder?“

„Nein, in Budapest ist es wirklich leicht, dass es einem gutgeht, das stimmt. Diese einzigartige Mischung zwischen längst vergangenem K und K Glanz, Moderne und dem brutalen Sozialismus hat etwas ungemein Realistisches.“

„Realistisch, ja, genau, das ist es.“

Eine sehr höfliche Bedienung unterbrach sie und erkundigte sich nach ihren Getränkewünschen. Anschließend begaben sie sich zu der langen Kuchenvitrine, in der ein süßes Kunstwerk neben dem anderen den Gast in unwiderstehliche Versuchung führte.

Julia gingen die Augen über und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Abgesehen davon kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus, was die Kreationen aber auch die Preise betraf. Schließlich entschied sie sich für etwas, das wie eine Tennisball-große, dunkelrot schimmernde Cocktailkirsche aussah. Während sie auf den Verlängerten, Espresso mit mehr Wasser, und die Süßspeise warteten, verriet sie Gabor, dass sie am Vortag bereits die St. Stefans-Basilika sowie die Synagoge besucht hätte, heute Buda mit der Burg, Fischerbastei und traumhaft renovierten Matthiaskirche. Buda hieß der Stadtteil, der westlich, also auf der Landkarte links der Donau lag. Pest hieß der östliche, sodass die beiden Teile als ein Wort gelesen Buda-Pest ergaben.

„Du warst ja unglaublich fleißig! Das meiste hast du ja schon gesehen, steht ab jetzt nur noch Bummeln und Baden auf dem Programm?“ Gabor nickte anerkennend.

„Noch nicht ganz, denn einiges steht schon noch auf meiner Liste. Morgen Vormittag besichtige ich das Parlament, ich habe mich online schon für eine Führung angemeldet, das System ist sehr praktisch. Und dann will ich natürlich noch viele weitere Stadtteile und Straßenzüge erkunden. Ach ja, und ins Nationalmuseum, und und und. Baden kann ich hoffentlich noch am Sonntag.“

Der Kaffee und die köstlich aussehenden Törtchen wurden gebracht.

„Lass es dir gut schmecken“, wünschten sie einander, bevor sie die Gabel in die weiche Konsistenz drückte, den ersten Bissen kostete und vor Wonne die Augen schloss.

„Oh, Gabor, das ist ja himmlisch!“, rief sie leise und hielt sich die Hand vor den Mund.

Er lachte begeistert. „Das ist es, nicht wahr? Möchtest du von meiner Kaffee-Kuppel kosten?“

Sie hob den Blick. Das Angebot klang intim. „Ja, gern“, sagte sie mit leicht belegter Stimme. „Bitte, probier du auch von meinem Kuchen.“

Diesmal bemühte sie sich, keine Lustlaute von sich zu geben. Das war umso schwieriger, als die zart schmelzende Komposition aus dunklem Schokoladenmousse, Biskuit und in Cognac getränktem Blätterteig so vielfältig und exquisit wie Gabor war. Der süß-herbe, männliche Geschmack ließ ihre Geschmacksknospen frohlocken. Winzige, in Alkohol getauchte Kirschstücken unterbrachen die Süße und überraschten ihren Gaumen mit prickelnder Schärfe. „Mhm, köstlich.“, stöhnte sie leise auf. „Mein Gott, ist das herrlich. Das macht ja regelrecht süchtig.“

Er lachte wieder. „Du darfst gern mehr von mir haben.“

Julia hielt inne. Die Antwort „Wunderbar, das trifft sich gut, ich will nämlich alles von dir“ lag ihr auf den Lippen, aber sie hätte nicht gepasst. Nicht zu einem Mann wie Gabor. Sie bezweifelte, dass er den Satz als Steilvorlage gemeint hatte. Sie neigte den Kopf und studierte ihn eine Weile eingehend. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihn genau das so besonders und anziehend machte. Sie spürte das Knistern, und ihr war bewusst, dass er sie ebenso attraktiv fand wie sie ihn. Dabei hatte er nie eine flapsige, schlüpfrige oder anzügliche Anspielung gemacht. Das würde er auch nicht tun, dachte sie, denn Gabor war ein Gentleman. Sie fühlte sich bei ihm so herrlich leicht und frei wie noch nie bei einem Mann. Sie wünschte, es könnte immer so bleiben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752101126
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Budapest Liebesroman Ungarn Urlaubsroman Oper Frauenroman Strandlektüre Erzählungen Kurzgeschichten

Autor

  • Annabelle Benn (Autor:in)

Annabelle Benn ist eine deutschsprachige Autorin.
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Titel: Sinnliche Küsse: Ein Gentleman in Budapest