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Der versteckte Rockstar

von Annabelle Benn (Autor:in)
269 Seiten
Reihe: Dublin Friends, Band 1

Zusammenfassung

<3 Zimmer frei in der begehrtesten WG Dublins! <3 In der schicken Dubliner WG für Erwachsene geht alles seinen gewohnten Gang, bis der geheimnisvolle Harper auftaucht und das Leben aller Bewohner gehörig durcheinanderbringt. Während Natalie, Melanie und Susan den attraktiven Mann umgarnen, kann die an Liebeskummer leidende Buchhändlerin Alexandra zunächst rein gar nichts mit ihm anfangen. Niemand ahnt, dass Harper in Deutschland ein gefeierter Star und auf der Flucht vor wildgewordenen Papparazzi ist. In Dublin kann er endlich das normale Leben führen, nach dem er sich schon so lange sehnt und verschweigt deswegen seine wahre Identität. Als Alexandra erkennt, dass sich hinter Harpers schiefer Dachs-Frisur ein kluger Kopf verbirgt und dass unter seiner gestählten Brust ein großes Herz schlägt, weiß sie nicht, dass er bereit ist, Millionen für mehr Zeit mit ihr zu bezahlen. Doch dann nimmt das Schicksal schon seinen Lauf … Die einzelnen Bände der Reihe "Dublin Friends" können unabhängig von einander gelesen werden. Am meisten Freude bereitet jedoch die Lektüre in dieser Reihenfolge: - "Der versteckte Rockstar" - "Ein Chef mit Herz" - "Ein Millionär will mehr"

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Copyright: Annabelle Benn, 2017, Deutschland

Bildgestaltung und Bildrechte: Rebecca Wild

Korrektorat: Lilian R. Franke

Jegliche Vervielfältigung, auch auszugsweise, ist nur nach schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.



Impressum:

R.O.M Autorenclub, R.O.M. logicware, Pettenkoferstr. 16-18, 10247 Berlin

Annabelle.benn@outlook.de









1 Alexandra



„Alexandra Murphy", stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie der alten Dame fassungslos dabei zusah, wie diese mit zittrigen Fingern ein abgegriffenes Notizbuch aus ihrer ebenfalls abgegriffenen Handtasche fischte und darin fein säuberlich, wenn auch mit einer etwas krakeligen Schrift, ihren Namen notierte.

Die Kundin mit der violett-weiß auftoupierten Haarpracht hob den Kopf und sah sie aus überraschenderweise entsetzlich scharfen Augen durch ihre mit lila Streifen verzierte Brille an. Dann tippte sie mit ihrem knochigen Zeigefinger auf den Buchdeckel und vergewisserte sich: „Ich kann das Buch also zurückgeben, wenn es mir nicht gefällt?" Ihre Stimme war fest und die Frage war keine Frage, sondern eine Bestätigung dessen, was Alexandra ihr zuvor versichert hatte: Ja, sie konnte das Buch zurückgeben, falls es ihr nicht gefallen sollte. Auch dann, so fügte Alexandra im Stillen hinzu, wenn sie es in einem Rutsch und vor Spannung zitternd ausgelesen hätte. Manche Menschen verwechselten Buchläden heutzutage eben mit Büchereien. Aber was tat man nicht alles, um den Ruf größter Kundenfreundlichkeit zu erlangen und zu verteidigen.

Alexandra zwang sich zu einem Lächeln, bekräftigte es mit einem „Natürlich" und bedauerte es bereits, der Kundin ihren Namen genannt zu haben. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er umgehend in kantigen Buchstaben in diesem unheilvoll moosgrünen Notizbuch verewigt werden würde. Bestimmt fanden sich darin endlose Listen mit Namen naiver Verkäufer, die sich am erlesenen Geschmack der Frau schuldig gemacht hatten und nun im ewigen Fegefeuer des Verkäuferdaseins schmorten. Und natürlich hatte sie auch nicht damit gerechnet, dass die Kundin tatsächlich mit Rückgabe bei Nichtgefallen drohen würde, noch dazu unter Bezugnahme auf ihre Person. Hieß es nicht, dass man über Geschmack nicht streiten könne? Angespannt atmete sie aus und ließ die Schultern hängen.

„Also gut", beendete die Kundin das Gespräch und drehte sich auf dem Absatz, der trotz des fortgeschrittenen Alters gut acht Zentimeter maß, um. Dabei machte sie eine Figur wie ein Fischreiher, was Alexandra schmunzeln ließ. Auf ihren Stock gestützt stolzierte sie in einem einzigartigen Gang zu der altmodischen Tür, die unten aus rotem Holz und oben aus beschriftetem Glas bestand. Als die hellen Türglocken zum zweiten Mal bimmelten und Alexandra endlich den Buckel von hinten sah, stieß sie einen lange unterdrückten Seufzer aus und rollte die Augen. Dabei fiel ihr Blick auf die blitzblank geputzte Schaufensterscheibe. Im Licht der Abendsonne glänzte ihr dunkelblondes Haar leicht rötlich. Ein paar Strähnen hatten sich aus dem hohen Dutt gelöst, der ihren langen Hals hervorragend betonte. Nun strich sie die feinen Haare mit ihren feingliedrigen Fingern hinter die Ohren, wobei sie an die großen Ohrringe stieß, an denen jeweils drei kleine Vögelchen aus bunt lackiertem Email baumelten. Auch wenn sie die Farbe im Spiegelbild nicht erkennen konnte, so wusste sie, dass sie das dunkle Grün ihrer Iris betonten. Erfreut über ihr adrettes Erscheinungsbild lächelte sie sich zu und fand, dass ihr die kurzärmelige Bluse mit den grünen Palmwedeln und roten Blüten sowie die weiße Hose hervorragend standen. Alexandra war nicht selbstverliebt. Im Gegenteil, meistens zweifelte sie an ihrem Äußeren, und so war die Tatsache, dass ihr an einem Arbeitstag wie diesem ihr Spiegelbild gefiel, geradezu ein Glücksfall.

Viertel vor sechs. Fast Feierabend.

Alexandra sortierte gerade ein paar Bücher auf dem Tisch mit den Regionalkrimis, als die Türglocke erneut klingelte. Einem pawlowschen Reflex folgend schnellte beim Ertönen des Gebimmels nicht nur ihr Kopf nach oben, sondern ihre Lippen verzogen sich automatisch zu einem Lächeln. Dann jedoch erkannte sie Susan und das Lächeln verschwand beinahe noch schneller aus ihrem Gesicht, als es hineingewandert war.

„Oh, du bist es nur”, sagte sie mit einem kurzen Nicken und wandte sich wieder dem Stapel zu.

„He! Was soll das heißen: Oh, ich bin es nur? Natürlich bin es ich!“, beschwerte Susan sich. „Wie sieht’s aus, bist du fertig?” Ungeduldig fuchtelte sie in der Luft herum, wobei ihre kleine, beige-weiße Ledertasche an ihrem Ellenbogen baumelte. Ihre dünnen, hohen Absätze klickerten auf dem steinernen Fußboden, als sie auf Alexandra zuging und auf sie zeigte. Alexandra fiel auf, dass ihre Fingernägel in der Trendfarbe des Sommers eisige Himbeere schimmerten, was zu Susans strohblondem Haar, das in weichen Stufen in den schmalen Rücken fiel, wirklich fabelhaft aussah. Die Farbe verdankte sie einem nicht gerade für seine günstigen Preise bekannten Friseur, nicht Mutter Natur, was ebenso auf ihre Wimpern, Nägel und vielleicht auch bald auf ihre Nase und Brüste zutraf. Alles an ihr war immer wie aus dem Ei gepellt. Die Haarfarbe an sich war wunderschön, nur passte sie nicht ganz zu Susan, zumindest wenn man Alexandra fragen würde, was Susan jedoch schon lange nicht mehr tat. Denn der Bücherwurm fand, dass sie mit ihrem natürlichen Hellbraun eben viel natürlicher aussehen würde, und genau das wollte die Persönliche Assistentin unter allen Umständen vermeiden. Der Chef stand nicht darauf.

Zum zweiten Mal binnen weniger Minuten rollte Alexandra die Augen. Konnte oder wollte Susan es einfach nicht verstehen? „Es ist Viertel vor sechs! Ich habe noch fünfzehn Minuten. Du weißt doch, dass ich das Geschäft nicht vor sechs schließen kann. Von wegen Ladenöffnungszeiten und so”, erwiderte sie um einen freundlichen Ton bemüht. Dabei beobachtete sie ihre Mitbewohnerin genau und fragte sich, wie Susan es schaffte, dass ihr Make-up auch nach acht Stunden im Büro noch immer makellos war. Im Grunde mochte sie Susan von Herzen gern, nur manchmal ging sie ihr gehörig auf die Nerven. So wie beinahe jeden Abend, an dem sie eine Viertelstunde vor Ladenschluss in das alteingesessene Buchgeschäft am Liffey spaziert kam und fragte, ob sie so weit sei.

„Uff!", stieß sie nun mit einer theatralischen Geste hervor, bei der sie sich mit der flachen Hand vor dem Gesicht herumwedelte. „Beeil dich, Alex. Ich brauche wirklich einen Drink, und zwar dringend!” Susan seufzte erneut theatralisch und kramte in ihrer Tasche nach ihrem kleinen Schminkspiegel, den sie mit einem hörbaren Klack öffnete.

Zögerlich schaute Alexandra zu ihrer Freundin. „Im Ernst? Schon wieder? Hör mal, Susan, ich weiß echt nicht, ob ich in der Stimmung bin. Ich dachte, wir schlendern einfach gemütlich zusammen nach Hause", entgegnete sie mit gerunzelter Stirn und entschloss sich kurzerhand dazu, den Kassensturz schon jetzt zu machen, da nicht davon auszugehen war, dass heute noch weitere Kunden kamen. Abgesehen davon würde sie noch so eine Kundin wie das buckelige Vogelgestell von vorhin heute nicht verkraften.

„Ach, komm schon, Alex, bitte! Nur ein Drink!“, bettelte Susan und zog einen Schmollmund, der ohnehin perfekt geschminkt war. Dann ließ sie mit dem gleichen lauten Klack wie vorhin den Spiegel wieder zuschnappen. „Ich brauche wirklich etwas zu trinken. Was Kräftiges, Schnelles. Weißt du", wieder seufzte sie theatralisch, aber diesmal mit der Geste einer unnahbaren, sehr reichen Frau, die sie gern wäre, aber nicht war, „Richard war heute ausgesprochen gemein zu mir! Ich muss dringend abschalten und auf andere Gedanken kommen. Wirklich, Alex", fügte sie in weinerlichem Tonfall hinzu.

Nun war es an Alexandra, das Zählen des Geldes zu unterbrechen und einen tiefen Seufzer auszustoßen. Aus verengten Augen schaute sie ihre Freundin ernst an. „Weißt du, Susan, ich verstehe sowieso nicht, warum du dir das alles gefallen lässt!" Ohne eine Antwort abzuwarten, schaute sie wieder auf die Scheine und zählte weiter, schließlich wollte auch sie keine Minute länger als nötig im Laden verbringen, und das nicht nur, weil sich draußen endlich die seltene Sonne zeigte. Das allein war in Dublin schon ein Grund zum Feiern, aber in diesem verregneten Frühjahr noch mehr als sonst.

Susan zuckte ihre schmalen Schultern und inspizierte ihren Zeigefingernagel. „Schwer zu sagen. Ich kann einfach nicht anders. Wenn du seine grünen Augen sehen könntest, wenn er … ach … dann wüsstest du, was ich meine!“ Genüsslich verdrehte sie die Augen. „Wenn er mich so ansieht, dann ist es einfach traumhaft! Und seine Stimme … und seine Hände … und … “

„Stopp! Bitte nicht zu viele Infos, ja?“, unterbrach Alexandra die für ihre Plauderhaftigkeit bekannte Susan. Sie hatte wenig Lust, sich vorzustellen, in welchen Winkeln und mit welcher Tiefe der leidige Chef sich in seiner persönlichen Assistentin bewegte.

„Ich sag ja schon nichts mehr! Aber wenn du nur wüsstest …“, schmachtete Susan. „Diese Augen!“

„Suzie! Wake up! Wir sind in Irland! Schon vergessen? Jeder hier hat grüne Augen! Warum suchst du dir nicht ein anderes traumhaft grünes Augenpaar zum Schwärmen? Eins, das zu einem Mann gehört, bei dem der Rest auch passt?" Alexandra konnte Susans Reaktion nicht sehen, denn sie kniete sich nieder und kroch auf dem Boden herum, um ein paar heruntergefallene Rechnungen aufzuheben.

„Du könntest mir keine größere Freude bereiten, als einen besseren Mann als Richard für mich zu finden. Allerdings dürfte das schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein! Ein Mann mit seinem Geld, seinen Augen und seinem … ähm … seinen Fähigkeiten im Bett!" Verschwörerisch blinzelte Susan Alexandra zu und errötete ein wenig.

„Du hast etwas Entscheidendes vergessen, Süße", fügte Alexandra hinzu und tauchte wieder hinter dem Ladentisch auf. „Die Fähigkeiten im Bett würde ich zwar nicht vorher für dich testen", sie zog das Ende des Satzes in die Länge und zwinkerte ihrer Freundin zu, „Aber ich würde sicherstellen, dass er weder dein Chef noch verheiratet ist, sondern dass er einer langfristigen Bindung ohne Geheimnisse mit dir nicht abgeneigt ist. Baldige Hochzeit und Kinder nicht ausgeschlossen", setzte sie entschieden nach und sah Susan ernst an.

Die kniff die Lippen und die Augen zusammen, was ihr einen ungewollt drolligen Ausdruck verlieh. „Das klingt jetzt aber schon ziemlich langweilig. Danke vielmals, aber da verzichte ich lieber. Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich deinen Buchladen so verabscheue“, schnaufte sie und verzog ihr hübsches Gesicht. In einer Pose, die an Hollywoodsternchen erinnerte, fuhr sie sich mit ihren sorgsam manikürten Nägeln durchs Haar, betrachtete im Schaufenster ihr Profil und wandte sich dann wieder Alexandra zu, die inzwischen dazu übergegangen war, die Programme in ihrem Computer zu speichern und zu schließen.

„Warum erzählst du mir dann lauter Sachen über ihn, sodass ich einfach etwas dazu sagen muss?“, stöhnte sie leicht genervt, doch Susan würdigte sie keiner Antwort. Alexandra beließ es dabei, denn trotz aller Meinungs- und Wesensverschiedenheiten war Susan ihre beste Freundin und eine Vertraute ohnegleichen. Trotz aller Unterschiede, dachte sie und musste unwillkürlich lächeln. War das nicht herrlich?

Susan nahm wahllos ein Buch vom Stapel, besah sich das Titelbild, drehte es in der Hand und fragte, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte, den Klappentext zu lesen: „Worum geht's da? Ist das gut?"

„Das ist ein klasse Buch!", rief Alexandra erfreut und hoffte, ihre Freundin doch mal zum Lesen bewegen zu können. „Es geht um ein altes Paar. Nun, eigentlich sind sie gar kein Paar. Sie sind nur beide verwitwet und wohnen Tür an Tür. Es geht um ihren Versuch, miteinander eine neue Beziehung einzugehen und dabei …"

„Uff …", unterbrach Susan sie, blies sich gegen die Stirn und schaute zur Decke. „Tür an Tür ... Meinst du, uns geht es einmal genauso? Dass wir allesamt als Nachbarn verrunzeln?“

„Wir? Susan! Wir sind gerade mal 23!", rief Alexandra entsetzt.

„Na und?", konterte Susan ungewohnt kühl.

„Nun, schon möglich“, gab Alexandra daraufhin mit einem Schulterzucken zurück und schloss die Kasse. Es war tatsächlich niemand mehr gekommen und nun, um zwei vor sechs, würde das auch nicht mehr der Fall sein.

„Na dann, beeil dich mal lieber! Oder willst du alt und grau werden, ohne nochmals richtig guten Sex gehabt zu haben?", rief Susan und wandte sich entschieden zum Gehen. Ganz offensichtlich konnte sie es kaum erwarten, ihren Wodka Cranberry zu trinken und dabei, über den Glasrand schielend, mit jungen Bankern zu flirten, die gern vom Merrion Square nach Temple Bar kamen, dem Barviertel Dublins.

„Okay, ich komme ja schon!" Schnell überprüfte Alexandra, dass alles ausgeschaltet war, was ausgeschaltet sein musste, und dafür alles eingeschaltet war, was eingeschaltet sein musste. Wie sie aussah, daran konnte sie sich noch erinnern, und binnen einer Viertelstunde würde sich ihr Aussehen nicht von selbst zerstört haben. Also nahm sie ihre Tasche und ihre Jacke und folgte Susan aus dem Laden, den sie ordnungsgemäß abschloss. Wenn sie erwartet hatte, von milden Frühlingslüften empfangen zu werden, so wurde sie herb enttäuschte, denn eine kühle Brise wehte ihr um die Nase.

„Oh nein!", seufzte sie still bei sich und hoffte, dass sie noch trockenen Fußes ins Pub oder doch besser nach Hause kämen. Sie wohnten zwar nicht weit weg, aber das Dubliner Wetter war eben sehr irisch, sprich: unberechenbar und launisch. Schweigend überquerten sie die Straße, um an der Uferpromenade von Dublins berühmtem Fluss, dem Liffey, weiterzugehen. Das Wasser glitzerte noch wunderschön in der Sonne, nur der böige Wind störte. Um sie herum dröhnte der dichte, wenn auch meist stehende Verkehr, der die engen, einst für wenige Pferdefuhrwerke gebauten Straßen zwei Mal täglich für mehrere Stunden heillos verstopfte.

„Also, was hat er denn nun genau gesagt?", griff Alexandra nach einigen Schritten wieder das Thema auf, von dem sie hoffte, dass es ihre Freundin nicht wie beim letzten Mal in ein tiefes Tal aus Tränen stürzen würde. Schon oft hatte sie sich gefragt, was ein Tal aus Tränen eigentlich genau sein sollte, aber da sie die Antwort bislang nicht gefunden hatte, verzichtete sie heute darauf, sich diese Frage erneut zu stellen.

„Och! Er ist so gemein! Er hat mir vorgeworfen, dass sein Kaffee nie so sei, wie er ihn will, und dass es wohl künftig besser sei, wenn er ihn sich selbst macht!", schniefte Susan herzerweichend, während Alexandra sich gerade noch davon abhielt, ebenso zu stöhnen. Es war einfach immer das Gleiche mit diesem schrecklichen Chef! „Und das, wo doch wirklich jeder weiß, wie sehr ich mich anstrenge, ihm sein Leben so angenehm wie möglich zu machen!", fuhr Susan in einem bedrohlich nah am Wasser gebauten Ton fort. Sie legte einen Zahn zu, sodass Alexandra sich weit nach vorne strecken musste, um ihren Arm zu drücken.

„Aber du bist doch die beste Sekretärin, die er sich nur vorstellen kann!", tröstete sie sie rasch.

„Ach! Wenn er das nur endlich auch so sehen würde!", jammerte Susan.

„Vielleicht solltest du dich mal mit anderen Männern treffen. Ich meine – du kannst doch nicht dein ganzes Leben mit einer aussichtslosen Schwärmerei für deinen Chef verschwenden!"

„Ich weiß, ich weiß! Aber … Es ist einfach so schwer, von ihm wegzukommen, wenn ich ihn jeden Tag sehe, und er dann …". Susan ließ den Rest offen und verstummte.

„Er dich dann plötzlich wiedersehen will. Ich weiß", seufzte Alexandra und blickte zu Boden. Manchmal kam es ihr so vor, als würde sie bei dem Ganzen noch mehr als Susan leiden, was möglicherweise daran lag, dass sie nur die Leidensgeschichte präsentiert bekam, aber von den Vorzügen - wie gesagt - nichts hören wollte. „Aber irgendwie muss es doch einen Ausweg geben! Es kann doch nicht ewig so weitergehen!"

Betrübt schüttelte Susan den Kopf. „Ich kann meinen Job nicht wechseln. Du weißt doch selbst, wie schwer es ist, etwas zu finden. Noch dazu im Zentrum, wo ich kein Auto brauche und gut verdiene."

Schweigend gingen sie den Bachelors Walk entlang zur O'Connell Bridge, die sie überquerten, um Temple Bar zu erreichen. Von dort war es nicht weit zu dem vierstöckigen Haus, in dem sie zurzeit zu fünft wohnten. Einfach die Grafton oder Dawson Street hinunter, an St. Stephen‘s Green vorbei und schon wären sie nach wenigen Minuten zu Hause in der Orange Street. Doch der Weg an den vielen verlockenden Bars vorbei konnte sich ins Unermessliche ziehen und das Raum-Zeit-Kontinuum erheblich beeinträchtigen.

Nur zu gut wusste Alexandra, dass Susan nicht bereit war, ihren Traum aufzugeben, in dem sie die schöne, angesehene Frau eines erfolgreichen Geschäftsmannes war. Nicht umsonst investierte sie derart viel Zeit und Geld in ihr Aussehen.

Alexandra dachte an ihr eigenes Leben. Sie war in einer ähnlichen und doch vollkommen anderen Situation. Zwar war sie ebenso allein und ebenfalls ohne große Hoffnung, ihr Single-Dasein in absehbarer Zukunft zu beenden. Doch in ihrem Fall lag das hauptsächlich daran, dass sie es nicht anders wollte. Im Gegensatz zu Susan wollte sie ihre Gefühle nämlich schützen, und so war sie immer darauf bedacht, niemanden zu nahe an sich heranzulassen. Ihr Herz war schon zu viele Male gebrochen worden, als dass sie sich so einfach noch mal auf jemanden würde einlassen können. Susans Herz hingegen schien nur dadurch noch zu spüren, dass es lebte, indem es gebrochen und misshandelt wurde.

„Ich weiß wohl, dass ich kaum die richtige Person bin, um dir Ratschläge in Beziehungsfragen zu geben. Schließlich bin ich seit einem Jahr solo", nahm sie den Faden wieder auf. Aber, so dachte sie, verglichen mit ihr würde Susan sich hoffentlich schnell wieder besser fühlen. Stattdessen seufzte die und meinte verdrossen: „Ich wünschte, ich wäre wie du."

„Wie ich? Was? Die Ice Queen? Nicht liebenswert?" Alexandra stieß ein entrüstetes Schnaufen aus. Zumindest lachte Susan jetzt auch.

„Ach, komm, du weißt genau, dass du nichts davon bist. Du bist sogar total liebenswert, und das weißt du auch! Nicht wahr? Andernfalls wäre Rick nicht seit Jahr und Tag rettungslos in dich verknallt!"

„Rick? Rick Mahoney? In mich verknallt?" Alexandra gab sich überrumpelt, schlug sich mit der Hand an die Brust und schaute Susan aus großen, ungläubigen Augen an.

„Genau der“, gab Susan zurück und rempelte sie mit dem Ellbogen an.

„Hi hi“, lachte Alexandre leicht verlegen. „Das ist, glaube ich, passé. Seitdem ich eingezogen bin, also vor zwei Jahren, hatte er bestimmt dreißig verschiedene Freundinnen und lässt obendrein keine Gelegenheit für einen weiteren One-Night-Stand aus!"

„Das tut er doch nur, um von dir abzulenken!"

„Ach, komm, Süße, lass gut sein!", wehrte Alexandra ab und musste doch zugeben, dass sie sich geschmeichelt fühlte. Immerhin sah Rick mit seinem durchtrainierten Körper, den

Haaren und Augen, die an Zartbitterschokolade erinnerten, verdammt gut aus. Doch ganz abgesehen davon war er ihr Vermieter. Seinem Vater, einem international erfolgreichen Rocksänger, gehörte das vierstöckige georgianische Gebäude in dem mittlerweile unbezahlbar gewordenen Zentrum der Stadt. Da Rick nicht gern allein wohnte, hatte er alle Wohnungen renovieren lassen und sie zu einem eher symbolischen Wert an seine Freunde vermietet, damit sie auch nach dem Studium - das bis auf Rick alle vor zwei Jahren mit dem Bachelor abgeschlossen hatten - zusammen wohnen bleiben konnten. Nur Rick, der Sohn, studierte noch immer. Was das war, wusste keiner so genau - nicht mal er selbst -, aber das spielte bei dem unerschöpflichen Vermögen seines Vaters keine Rolle.

Egal", beendete Alexandra das Thema und schnitt dabei mit der flachen Hand durch die Luft. „Es geht jetzt auch gar nicht um mich, sondern um dich und deine Affäre."

Du hast doch mit deinem Liebesleben angefangen!", spielte Susan den Ball zurück.

Aber ich habe doch gar keine Liebesleben!", erwiderte Alexandra eingeschnappt, woraufhin Susan nichts mehr sagte. Sie hatte sich noch nie Gedanken darüber machen müssen, wie es sich als Single lebte, da sie immer nahtlos - wie eine Biene von einer Blume zur anderen - von einem Mann zum nächsten geschwirrt war.

Alexandra hingegen lebte lieber allein, als sich tagein tagaus mit den Eigenarten und Problemen einer zu nichts führenden Lieb- und Leidenschaft, wobei ihre Betonung auf Leiden lag, herumzuschlagen. Oder sich davon das Leben schwer machen zu lassen.

Sollen wir hier reingehen?", unterbrach Susan ihre Gedanken und steuerte auf ein traditionelles Pub zu, dessen Fenster- und Türrahmen glänzend rot lackiert waren. Die Brise hatte sich zu einem regelrechten Wind entwickelt, was in Dublin unmittelbar drohenden Regen ankündigte. Mit einem Blick in den rasch gefährlich grau werdenden Himmel gab Alexandra sich geschlagen und folgte der Freundin in den gut besuchten Pub. Sie sollte wirklich weniger trinken, das wusste sie, aber um das Vorhaben in die Tat umzusetzen, musste sie wieder einmal, wie so oft, bis zum nächsten Tag warten.

Komm, nur ein Drink!", beharrte Susan und drängte sich schon mit erhobenem Haupt zwischen die an der Theke Wartenden. „Du hast doch sonst auch gar nichts zu tun!"

Ich will aber mein Buch fertig lesen!", murmelte Alexandra vergeblich und dachte wehmütig an ihre Ausgabe von „Ich, Eleanor Oliphant", das in ihrer Tasche wartete. Susan, die schon in dem Gewirr aus Stimmen, Gelächter und Musik eingetaucht war, hörte sie nicht mehr, und so gab Alexandra sich geschlagen. Eleanor würde auch später noch Gelegenheit genug haben, dem Musiker, wie sie ihr Liebesobjekt oft bezeichnete, näher zu kommen.





2 Harvey



Harvey Slate konnte die Nummer im Schlaf herunter leiern, so oft hatte er sie schon zum Besten gegeben. Der Song hatte sich wochenlang auf Platz Eins der deutschen und österreichischen Charts gehalten und hatte ihn reicher gemacht als alles, was davor und - zumindest bisher - danach gekommen war „Lo-lo-love me if you cähähn … tralalala." Wenn es nach ihm ginge, würde danach auch nichts mehr kommen. Aber wer war er schon, dass er in seinem eigenen Leben etwas mitzureden gehabt hätte!

Wie immer versuchte er, über die tobende Menschenmenge hinweg zu schauen und einen Punkt am anderen Ende der Halle oder des Stadions zu fixieren. Doch heute stimmte gar nichts mehr mit ihm. Die hinter dem Wald untergehende Sonne irritierte ihn und lenkte ihn so sehr ab, dass er in die Gesichter der vor Verzückung hysterisch kreischenden Fans schaute. Das war fatal, denn dann konnte er nicht mehr singen. Also schloss er die Augen. „But you cahahan't … because your heart is fro-ho-hozen." Verdammt! Wie sehr er sich wünschte, etwas anderes singen zu können! Etwas. Alles. Irgendetwas. Aber nicht mehr das. Wenn er seine Songs selbst schreiben dürfte, hätte er viel bessere Texte. Und Melodien! Schönere Wörter, viel mehr Gefühl, viel mehr echtes Gefühl … Aber er durfte ja nicht! Und was noch schlimmer war: Niemand verstand ihn. Denn für alle Welt schien das, was er tat, die Erfüllung eines großen Traums zu sein! Als er sich mit neun Jahren selbst beigebracht hatte, Gitarre zu spielen, und als er als kleiner Junge aufgrund seiner kräftigen, warmen Stimme im Chor aufgefallen war, da hätte er sich niemals träumen lassen, dass er es einmal so weit bringen würde. Nun, so weit Das war relativ, und das war der Knackpunkt. Erfolg, Geld und Ruhm, das hatte er erreicht. Aber das hatte nichts mit seiner Liebe zur Musik oder zum Leben zu tun.

Das Synthetik seiner silberglänzenden Jacke klebte an seiner durchschwitzten Haut fest, und er wünschte, er hätte die Sachen nach seinem halben Striptease, bei dem er sich bis auf eine affig bedruckte Boxershort auszog, nicht mehr angezogen. Da! Der letzte Akkord! Erleichtert riss er den Gitarrenhals steil nach oben. Automatisch grinste er. Triumph und Ruhm! Die Girls tobten und schleuderten ihm die letzten Herzen, Teddys und Rosen sowie BHs und Slips aus ihrem schier unerschöpflichen Vorrat um die Ohren. Vor jedem Konzert betete er darum, dass die nicht getragen waren, denn nicht immer gelang es ihm, rechtzeitig auszuweichen. Erlöst grinsend hob er beide Hände in die Luft, drehte die Handgelenke, ließ den Oberkörper nach vorne fallen, richtete sich wieder auf und applaudierte seinerseits den Fans. „Gute Nacht, Berlin!", rief er. „Ihr wart FAN-TAS-TISCH! Ich liebe euch! Ihr seid die Größten!"

Auf dem Bildschirm hinter ihm flimmerte ein breiter, staubiger Highway, der durch eine karge Wüste führte, in der nichts außer mannshohen Kakteen wuchs. Die Straße verlief sich im Horizont; kein Ende und kein Ziel absehbar. Wie mein Leben, dachte er, als er dank eines technischen Tricks auf dem einsamen Highway von der Bühne zu gehen schien. Natürlich schrien alle nach einer Zugabe, die normalerweise einen festen Bestandteil seiner Auftritte bildete. Aber er schaffte es nicht. Nicht heute. Nie wieder! Unmöglich konnte er noch ein Lied singen. Sein Körper schmerzte höllisch, seine Stimmbänder kratzten und er hatte die Schnauze gestrichen voll von dem kreischenden Kindergarten bestehend aus pubertierenden und mit Slips um sich werfenden Mädchen.

Ladies and Gentlemen – Harvey Slate!", plärrte da die Moderatorin des Festivals über die Lautsprecher.

Ja, ja, Harvey Slate! Aber Harvey Slate wollte nicht mehr auftreten. Er wollte nur noch in Ruhe in seiner Badewanne liegen, ein Bier oder einen Whiskey in der einen, vielleicht etwas anderes in der anderen Hand … und abschalten. Nur noch abschalten. Warum war ihm das nie vergönnt? Warum nur?



Da kreuzte der scharfe Blick seines Managers Marc seinen. Der war stinkwütend und funkelte ihn mit seinen beinahe pechschwarzen Augen bedrohlich an. „Sing. Die. Zugabe", zischte er mit einem vor Wut verzerrten Gesicht, und Harvey musste seine Worte nicht hören, um zu verstehen, was er wollte. Dennoch versuchte er, mit Sich-Dumm-Stellen durchzukommen und grinste unschuldig. Er war schon an ihm vorbei und hatte bereits einen Fuß in seine Garderobe gesetzt, als ihn eine Hand im Nacken packte und barsch herum drehte.

Fuck.

Trau dich ja nicht! Raus mit dir. Zugabe!" Marcs Griff wurde schmerzhaft, bevor er seinen Schützling zurück in Richtung Bühne schubste. Widerwillig und angespannt grinsend trat Harvey wieder ins Scheinwerferlicht, straffte die Schultern, griff das Mikrofon und flüsterte mit Honig in der Stimme: „Das ist für euch. Weil ihr heute so wunderbar wart, hier ein kleines Dankeschön! Berlin!"

Wie zu erwarten, brach die verschwitzte Menge erneut in ohrenbetäubendes Gekreische aus.

Harvey drehte sich zur Band um, nickte und hob zwei Finger, um ihnen mitzuteilen, welche Nummer er singen würde. Und dann sang er das Lied, und die Fans und der Manager waren glücklich, und er war sich sicherer denn je, dass sich etwas in seinem Leben ändern musste, und zwar bald. Er nahm das winzige Mikro von seinem Ohr ab, seufzte, verneigte sich wieder, applaudierte, ging rückwärts von der Bühne und kämpfte sich durch die Traube von Fans, die es irgendwie Backstage geschafft hatten. Artig unterschrieb er auf Büchern, T-Shirts und Armen. Nur bei den nackten Brüsten weigerte er sich strikt, denn schließlich wollte er nicht wegen Verführung Minderjähriger oder sexueller Belästigung angeklagt werden. Man wusste ja nie, wozu enttäuschte Fans in der Lage waren! Abgesehen davon törnte ihn ein derart billiges Anbiedern extrem ab.



Als er es schließlich in die Garderobe schaffte, waren seine Freunde Luca und Tom schon da. Luca hatte eine Flasche Jack Daniels Black in der Hand und wartete nur darauf, sie zu köpfen. Ebenso wie Harvey nur darauf wartete, aus seinen verschwitzten Synthetik-Klamotten zu kommen. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, zerrte er sich die Jacke von den Armen, das klatschnasse T-Shirt über den Kopf und den Reißverschluss der hautengen Hose auf.

Bin sofort da"; grüßte er seine Kumpels, auf die er an einem Tag wie diesem auch gern verzichtet hätte. Er wollte wirklich nur seine Ruhe und endlich mal allein sein. Aber da war wohl nichts zu machen. „Muss nur schnell unter die Dusche!"

Beeil dich, Mann!", rief Luca ihm nach und goss die bernsteinfarbene Flüssigkeit in zwei Gläser. „Wir warten noch drei Minuten auf dich! Gib Gas!"

Tut euch keinen Zwang an!"; rief er zurück und stieg in die Nasszelle.

Hey, hey! Mach bloß nicht schlapp! Wir wollen doch noch ins Berghain!"

Ihr wollt. Ich nicht", murmelte er, dann drehte er das Wasser auf und hörte nichts mehr.

Nach der wohltuenden Reinigung war er zu faul, sich richtig anzuziehen und stieg nur in seine Boxershorts. Seine Freunde und er kannten sich seit dem Kindergarten, da musste er sich keinen Zwang antun. Er wusste, dass sein Körper perfekt trainiert war; kein Gramm Fett, Muskeln an den richtigen Stellen, nicht zu viel, nicht zu wenig, nichts Aufgepumptes und kein Haar zu viel. Nur ein paar an Beinen, Armen und Stellen, die niemanden etwas angingen. Seine straffe Haut glänzte, stellte er fest, als er sich im Vorbeigehen in einem der raumhohen Spiegel anschaute.

Gute Show, Mann!", meinte Tom nickend und reichte ihm ein Glas.

Harvey grunzte eine Antwort, blieb vor den beiden stehen, die auf einem schwarzen Ledersofa saßen, nahm das Glas und einen tiefen Schluck. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, aber das tat gut.

Von der Tür her hörte er Klopfen und Kreischen. Stoisch versuchte er, es zu ignorieren. Er hatte heute doch schon so viel für seine Fans getan! War denn nie Schluss?

Hey, schick doch mal Lark raus, damit er die drei heißesten Bienen für uns aussucht!", sagte Luca kopfschüttelnd. Lark war so etwas wie ein Bodyguard. „Ich verstehe echt nicht, warum du die Situation nicht mehr ausnützt! Die Hasen liegen dir zu Füßen und du? Du ..."

Interessiert mich nicht", wies Harvey ihn knapp zurück und ließ sich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung neben die beiden aufs Sofa fallen. „Die Zeiten sind vorbei! Endgültig."

Waas? Soll das ein Witz sein?", schrie Tom ungläubig und richtete sich auf. „Wer bist du? Und was hast du mit meinem Freund angestellt?", fragte er mit einer so bedrohlichen Stimme, als spräche er mit einem Psychopathen. Er legte beide Hände um Harveys Gurgel und schüttelte ihn, woraufhin selbst Harvey lachen musste.

Es ist hier vorbei. Wir müssen neue Länder erobern. Das meinte ich. Vielleicht macht das einen Unterschied. Italien, England, die USA …", wich er aus, um leidige und zu nichts führende Diskussionen zu vermeiden.

Yo, Mann, sag ich doch die ganze Zeit! Meine Rede!", stimmten die anderen beiden in Vorfreude auf weite Reisen und Partys mit einem lauten High-Five ein.

Du hast mich echt kurz schockiert", meinte Tom dann. „Ich dachte schon …"

Nicht denken", unterbrach Harvey ihn. „Schütt nach!"; verlangte er und hielt ihm sein leeres Glas hin.

Aber wie kommst du zu dem Schluss? Meinst du, du hast schon alle heißen Bräute hierzulande flachgelegt?", spottete Luca und lachte abfällig, während er das Glas randvoll füllte.

Zumindest die über Achtzehnjährigen ", konterte Harvey trocken.

Oder wirst du alt? Kannst oder willst du nicht mehr? Ist es das?", höhnte Tom weiter.

Sch! Du bist ja nur neidisch!", gab Harvey barsch zurück.

Sein Kopf schwirrte. Warum? Er wollte nicht mehr, das war es. Die Girls, die sich ihm an den Hals und zu Füßen warfen, interessierten ihn nicht mehr. Er konnte sie alle haben. Und was man so leicht haben konnte, war nichts wert. Das galt für alles. Für Mädchen, Geld, Whiskey … er hatte genug davon.

Ich? So ein Unsinn! Ich mache mir nur Sorgen um dich und wie du ohne Sex auskommen willst!"

Ob es dich … verändert?", fragte Luca mit gespielter Besorgnis, verengte die Augen zu Schlitzen und fixierte Harvey. „Ob du … vielleicht auf Männer stehst?", flachste er und leckte sich über die Lippen.

Haha, lass den Scheiß, trink lieber!"

Auf uns, Jungs!", unterband er jegliche weitere Kommentare und nahm einen großen Schluck, der selbst ihm zu viel war. Er schüttelte sich und verschüttete dabei reichlich Whiskey auf seiner nackten Brust.

Was machst du denn da, du Schussel! Das ist ja pure Verschwendung!", schrie Luca, lachte tief hinten in der Kehle und schnellte in Lichtgeschwindigkeit zu ihm herum. Dann stemmte er seine Hände neben Harveys kräftigen Oberschenkeln in das Ledersofa, reckte den Kopf vor, streckte die Zunge heraus, grinste dämlich und ehe Harvey verstand, was vor sich ging, leckte er den Whiskey von seiner glatt rasierten und perfekt definierten Brust.

Ihhhh – du Sau!“, kreischte Harvey gerade entsetzt, als die Tür, gegen die so lange hartnäckig getrommelt worden war, aufflog.

In Bruchteilen von Sekunden erkannte Harvey, was, wer auch immer in dem gleißenden Licht des Türrahmens stand, sah: Ihn beinahe vollkommen nackt, auf einem Sofa zurückgelehnt, mit einem Mann zwischen seinen Beinen, der an seiner nackten Brust herumleckte.

Oh, leck …

Und nur einen halben Sekundenbruchteil später wusste er, dass er sich keine Sorgen über verhasste Auftritte und Schnulzen mehr machen musste. Ein entspanntes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

Aaaah!", hallten die Schreie der drei Reporter durch die Gänge und in den Backstageroom. Zuerst entsetzt, dann begeistert und am Schluss absolut fanatisch darüber, dass sie diese Wahnsinns-News ergattert hatten! Harvey Slater, Schwarm aller Mädchen, war schwul! Schwul! Das musste man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen! Harvey Slater – für alle Zeiten unerreichbar!

Wie von der Tarantel gestochen kam Marc angerast, zog und zerrte, kreischte und schrie, wie vor Kurzem Harvey die Reporter an ihren Kragen und Ärmeln aus dem Zimmer. Mit einem lauten Krachen knallte er die Tür ins Schloss, drehte den Schlüssel um und lehnte sich kurz dagegen, bevor er losdonnerte und auf die Jungs zu stapfte. „Was. Um. Gottes. Willen. War. Das?", kreischte er. Seine Stimme überschlug sich und Spucke flog aus seinem Mund, während seine Augen Blicke so tödlich wie spitze Speere abfeuerten. „Die Paparazzi haben alles! Bis du dich angezogen hast, ist alles viral! Wir sind ERLEDIGT!", brüllte er. „Und seit wann habt ihr überhaupt etwas miteinander?" Sein Gesicht war dunkelrot und vor Hass verzerrt.

Hey – ja, schöne Scheiße, aber wir sind nicht schwul!" Harvey lachte und hob die Hände, als könnte er so etwas an dem Elend ändern. „Ich …"

Nichts du. WIR sind erledigt!", keifte Marc. „Wie kann man nur so blöd sein!"

Ja, wie konnte man nun, dachte Harvey und grinste noch breiter. Das hier war die Lösung all seiner Probleme … Scheiß auf Plan B, den er hatte schmieden wollen!

Weißt du, wie hoch die Vertragsstrafe der Plattenfirma ist?"

Ver... tragsstrafe?", echote Harvey, und das Lachen blieb ihm im Hals stecken.

Zehn Komma drei Millionen!", donnerte Marcs Stimme, gefolgt von seiner Faust gegen die Wand.

Hei… Holy Shit", murmelte Harvey und fuhr sich durchs Haar.

Yep. Das kannst du laut sagen. Und jetzt ab mit euch! Zieht euch an. Geht raus. In ‘nen Klub. Reiß eine ... ach was, eine! Reiß drei Weiber auf und lass dich ordentlich dabei fotografieren. Von mir aus machst du's auf der Tanzfläche, aber nicht mit ihm da! Kapiert?", brüllte Marc mit schwindender Kraft. „Ich schicke euch Schreiberlinge hinterher."

Dann ist das Berghain wohl gestorben.", murmelte Tom mit hängenden Schultern, woraufhin Luca ihn unsanft in den Arm boxte.

Ja! Das ist es! Da fällt es doch gar nicht auf, wenn ihr öffentlich poppt! Ab ins Qdorf oder sonst was dergleichen, wo Touris sind. Zieh dich an, ich sag dir noch genau, wohin."

Harvey war gerade dabei, ins Nebenzimmer zu gehen, als er mitten im Schritt stehen blieb. Er holte tief Luft und drehte sich zu Marc um. Dann stemmte er die Hände in die Hüften.

Marc", sagte er mit merkwürdig fester Stimme. „Ich will nicht mehr."

Was?" Marc fuhr herum und fraß ihn beinahe mit seinen Blicken.

Ich will meine Ruhe. Ich habe keinen Bock mehr, ständig das zu tun, was die Fans von mir erwarten."

Die Fans? Die Fans? Ich auch! Du auch! Weißt du, was dein Lebensstil kostet? Du verschleuderst die Kohle ja nur so! Das Geld muss irgendwoher kommen! Du hast keinen richtigen Job, keine Ausbildung, nichts! Schon vergessen? Alles, was du kannst, ist, pubertierenden Teenies feuchte Höschen zu bescheren, wenn du dein Becken kreisen lässt!"

Nun bebte Harvey vor Wut. „Das stimmt nicht", brüllte er und trat mit dem Fuß gegen einen Stuhl. Er ballte die Hände zu Fäusten und zitterte. „Ich kann viel mehr, nur lässt mich keiner!"

Weil du dich anders nicht verkaufen lässt, Bübchen!", zischte Marc, drehte sich um und rief im Hinausgehen: „Und jetzt komm zur Vernunft! Die Kohle will sich niemand von uns entgehen lassen!"

Sobald Marc das Zimmer verlassen hatte, sank Harvey auf das Sofa, ließ den Kopf hängen und begann, vor Wut zu heulen. Er sprang auf, zertrat den Tisch, eine Lampe und etliche andere Dinge, und es dauerte, bis Luca und Tom ihn beruhigt hatten. „Komm, hey, wir reden mit Marc. So kann das ja echt nicht weitergehen."



Marc allerdings beharrte darauf, dass es sehr wohl so weitergehen musste. Er sei gewillt, am nächsten Tag über Möglichkeiten zu sprechen, doch nun müssten die Jungs raus in die Nacht, um Fotos zu ermöglichen, die der Welt Harveys Heterosexualität bewiesen. Der Einwand, er könnte sich doch als bi outen, wurde abgeschmettert.



Hört mal. Das ist ein Mega-PR-Desaster", begann der Manager am nächsten Tag, nachdem die Jungs für ausreichend Fotomaterial gesorgt hatten und sich ihre hämmernden Köpfe mit Zitronenkaffee, Kopfschmerztabletten und kalten Tüchern auskurierten. „Es ist weitaus schlimmer, als ich angenommen hatte. Aber nichts, was ich nicht wieder hinkriegen würde. Du musst vorrübergehend von hier weg. In deine Wohnung kannst du nicht. Da lungert die ganze Meute herum. Überhaupt kennt dich hierzulande jeder. Also, was ich dir anbieten kann, sind ein paar Wochen irgendwo. Inkognito. Das wolltest du doch immer, oder? Wo dich keine Sau kennt …", erklärte er den verständnislos dreinblickenden Jungs. „Aber nur du, Harvey. Die anderen beiden bleiben hier."

Wie?" Für Harvey, der eigentlich Harald hieß, aber nur über seine Leiche so angeredet werden durfte, ging das alles zu schnell.

Oh, warum denn nicht wir?", maulte Luca.

Weil er euch nicht euer Leben lang aushalten kann! Sucht euch 'nen Job", fuhr Marc ihn an.

Aber er wird sich alleine langweilen!"

Dann buchen wir dir gleich mal ein Ticket nach Thailand, oder willst du lieber nach Bali oder Florida? Sag schon!“

Florida“, antwortete Harvey, in dessen Kopf sich jedoch gerade ein ganz anderer Plan zusammensetzte.

Rick Mahoney, der Sohn von Ben Mahoney, der irischen Rocklegende, war ein guter Freund von ihm. Hatte der nicht mal was von einer Art WG erzählt, in der jeder seine eigene Wohnung hatte? Das klang nach … richtig runterkommen!

Gut, dann pack mal alles, was du brauchst. Viel wird das ja nicht sein. Ich sag dir, wann der Flieger nach Miami geht, okay?“

Okay!“ Harvey strahlte und wählte, sobald er sich sicher war, dass niemand ihn hören konnte, Ricks Nummer und bestieg kurze Zeit später eine Aer Lingus Maschine mit dem unverkennbaren grünen Kleeblatt hinten drauf.





3 Alexandra



Als Alexandra am nächsten Tag die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer aufzog, strahlte die Sonne von einem tiefblauen Himmel, über den nur ab und zu unschuldig weiße Schäfchenwolken zogen. Gestern Abend hingegen waren sie in dem Pub versumpft, denn die heftigen Schauer hatten ausgerechnet immer dann nachgelassen, wenn sie gerade die nächste Runde bestellt hatten. Glücklicherweise war heute ihr freier Samstag, sodass sie in Ruhe bis zwölf Uhr hatte schlafen können. Wie sie den vertrauten Geräuschen entnehmen konnte, weilten ihre Mitbewohner bereits im Garten. Ein Garten in Dublin, noch dazu im Zentrum, war ein seltener und für die meisten Menschen unerschwinglicher Luxus, den sie einzig und allein Rick verdankten und in vollen Zügen genossen. Wann immer es möglich war, trafen sie sich dort, um zu grillen, zu lesen, zu entspannen, Blumen zu pflanzen, Tomaten und Himbeeren zu ernten und – nun ja, auch zum Baden, denn Rick hatte es sich nicht nehmen lassen und ein überdimensionales Planschbecken für Erwachsene aufgestellt.

Ihr Kopf dröhnte von den vielen Drinks, die sie gestern gar nicht so widerwillig getrunken hatte. Natürlich war der Abend mit Susan sehr lustig geworden, besonders als noch Rick, sein Freund Barry und die Zwillinge dazu gekommen waren. Aber genau das war ja das Problem! Es war immer lustig. Und zu viel lustig war auf Dauer bestimmt sehr ungesund. Zumindest, wenn sie von den Ringen unter ihren Augen, der trockenen Kehle, dem pochenden Kopf und dem Übelkeitsgefühl ausging.

Leicht schwankend zog sie ihre Laufschuhe an - und gleich wieder aus. Um sie drehte sich alles und ihr Magen hob und senkte sich gefährlich. So schleppte sie sich unter die Dusche, seifte sich mit dem nach Orangen duftenden Gel ein und schlüpfte anschließend in ein leuchtend türkises Sommerkleid, das mit Seepferdchen und Korallenbedruckt war. Besonders hübsch daran fand sie, dass einige Konturen mit kleinen Muscheln bestickt waren. Ihre dichten, langen, blonden Wellen ließ sie zum Trocknen offen auf den Rücken fallen, und als Make-up mussten heute eine getönte Tagescreme und Wimperntusche reichen. Schnell presste sie sich noch eine Zitrone aus, rührte warmes Wasser und etwas Salz hinein und fühlte sich prompt besser. Vielleicht war Alkohol doch nicht so schädlich!

Dann hüpfte sie den Umständen entsprechend beschwingt in den Garten, wo die gesamte Mannschaft versammelt war. Die braunhaarigen und sehr grazilen eineiigen Zwillinge Natalie und Melanie sonnten sich neben Susan auf den bequemen Sonnenliegen. Sie teilten sich eine Wohnung im Erdgeschoss, wohnten also eine Etage unter Susan, die sich gerade selbst gemachten Eistee aus einer großen Glaskaraffe eingoss. Darüber befand sich Alexandras Reich, während die Wohnung über ihr momentan leer stand, da sich Darragh für ein paar Monate die Welt anschaute, und ganz oben, mit einer schönen Dachterrasse, residierte Rick, der Eigentümer des gesamten Gebäudes. Jetzt stand er am Grill und drehte köstlich duftende Würstchen um.

„Guten Morgen, du alte Schlafmütze!", grüßte Susan gut gelaunt, zog die Sonnenbrille herab und blinzelte sie an. „Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.“

„Ha, ha“, machte Alexandra und nahm sich auch ein Glas Eistee. „Nicht lustig.“

„Puh, Leute, echt. Ich kann gar nicht glauben, wie heiß es heute ist. Wir sollten echt an den Strand gehen“, schlug Natalie vor und richtete sich auf.

„Oh ja, Strand! Vielleicht nach Sandymount?“, stimmte ihre Schwester sofort ein.

Es war beinahe unmöglich, die beiden voneinander zu unterscheiden. Sie verhielten sich absolut identisch, sie dachten das Gleiche, sie lachten über die gleichen Dinge und verteidigten sich gegenseitig bis aufs Blut. Außerdem ähnelten sie sich wie ein Ei dem anderen. Sie hatten die gleichen niedlichen Spitznäschen, die gleichen vollen und jetzt leuchtend pink geschminkten Lippen, den gleichen zierlichen Körperbau und einen sehr definierten, aber immerhin noch weiblichen Waschbrettbauch. Nichtsdestotrotz waren Natalies lange, braune Locken eine Nuance dunkler als die Melanies, die sie zudem ein wenig kürzer trug.

„Theoretisch ist das eine super Idee. Nur können wir jetzt nicht weg“, wandte Rick ein und drehte ein Steak auf dem Grill um.

„Und warum nicht?", fragte Susan.

„Weil gleich ein Freund kommt", sagte er einsilbig und starrte auf den Grill.

„Ach, na – aber der kann doch mitkommen!", riefen die Zwillinge wie aus einem Mund.

„Oder wir treffen uns gleich dort. Wo wohnt der denn?“, schaltete Alexandra sich ein.

„Welcher Freund denn überhaupt?", wollte Susan aufgekratzt wissen. Offenbar dachte sie zumindest einen Moment lang nicht an ihren Chef, schoss es Alexandra durch den Kopf, die nun einen starken Espresso aus der alten, im Garten aufgestellten DeLonghi-Maschine laufen ließ.

„Ich glaube, ihr kennt ihn nicht. Er heißt Harper", antwortete Rick ebenso ausweichend wie vorhin und drehte seine Grillsachenschon wieder um.

„Harper? Was ist das denn für ein komischer Name! So heißt doch kein Mensch!", prustete Susan los und schlug sich die Hand vor den Mund.

„Nee, Harper – von dem hast du uns noch nie erzählt. Das wüsste ich!", gackerte auch Melanie, und Natalie rief: „Der Arme – Harper!"

„Der einzige Harper, den ich kenne, ist Harper Lee! Und der wird es ja wohl kaum sein!", scherzte Susan.

„Harper Lee war eine Frau“, bemerkte Alexandra nüchtern und kippte den schwarzen kaffee in einem Zug hinunter. „Der Schriftsteller? Nee, komm! Lebt der überhaupt noch?", rief Susan theatralisch aus und legte sich den Handrücken an die Stirn. „Bestimmt nicht. Ganz und gar unmöglich. Alle großen Schriftsteller sind schließlich schon lange tot, oder etwa nicht?"

„Mhmpf", machte Alexandra, schüttelte nur stumm den Kopf und nahm sich eine Aprikose aus der Schale– saftig und süß, einfach himmlisch.

„Und woher kommt dieser ominöse Freund?", fragte Natalie weiter.

„Aus Berlin."

„Aus Berlin?", riefen die Frauen minus Alexandra, die nicht zugeben wollte, dass auch ihr Interesse geweckt war. Harper und Berlin – das war in der Tat eine eigenartige, aber höchst interessante Mischung!

„Ja. Er hat gerade eine schwierige Phase hinter sich, oder besser gesagt: Er macht sie noch immer durch. Er will einfach mal abschalten."

„Und da kommt er zu uns, um sich zu erholen?", fragte Alexandra, zog die Augenbrauen zusammen und runzelte die Stirn. „Nach Dublin?“

„Ja, ähm ... genau! Man will es kaum für möglich halten, aber genau so ist es!", antwortete Rick und lachte ein wenig hölzern.

„Zu uns. Zum Erholen …", sinnierte Susan und blickte in den noch immer erstaunlich blauen Himmel. „Na, da wird uns schon was einfallen, was, Mädels?"

„Sieht er denn gut aus?“, gackerten die Zwillinge.

„Bitte! Bitte nicht!", keuchte Rick und schnellte zu ihnen herum. „Lasst den armen Kerl bloß in Frieden!", rief er mit panisch weit aufgerissenen Augen und hob abwehrend die Hände.

„Was denn, was denn!", verteidigte Susan sich leicht beleidigt.

„Bitte!", flehte Rick und faltete die Hände, die er vor seinem schmerzverzerrten Gesicht hin und her schüttelte. „Nicht so wie letztes Jahr, als Miguel …"

Weiter kam er nicht, denn allein der Name veranlasste die Frauen dazu, lautstarke schwelgerische Töne von sich zu geben.



„Oh la la! Aber Miguel, der war ja auch eine Nummer für sich!", seufzten alle, diesmal inklusive Alexandra, die für den portugiesischen Schöngeist wie alle anderen eine Schwäche entwickelt hatte.

„Ja, genau!", empörte Rick sich. „Der Arme wollte nur noch nach Hause, so sehr habt ihr ihn mit eurem Charme zugesetzt. Bitte", flehte er sie auf die Knie fallend an und wrang dabei die Hände in der Luft, wie eine alte Frau, die in der Kirche vor dem Altar um das Leben ihres jüngsten Sohnes fleht, „tut mir das nicht noch mal an!"

„Wovon redest du überhaupt?", fragte Melanie etwas barsch und blies sich ein paar Haare aus der Stirn.

„Wovon ich rede?", fragte Rick ungläubig zurück. „Komm, Süße! Jetzt tu doch nicht so."

„Nee, ich hab echt keine Ahnung, worauf du hinauswillst", gab sie sich weiterhin als die Unschuldige.

„Mel – ist dein Gedächtnis wirklich schon so schlecht? Muss ich mir Sorgen machen?", fragte er nun scheinbar ernsthaft besorgt, krauste die Stirn und beugte sich zu ihr vor. „Wenn ich dich erinnern darf: Zuerst habt ihr alle drei - Alexandra ist da die rühmliche Ausnahme - ihn total heiß gemacht. Der Ärmste kannte sich gar nicht mehr aus! Pausenlos seid ihr in knappen Bikinis im Haus rumgehüpft! Und dann, als er sich nicht entscheiden konnte und dachte, okay, Natalie – da habt ihr ihn alle zusammen der Reihe nach abblitzen lassen!", brauste er mit untertellergroßen Augen auf.

„Ach das!“, meinte Natalie mit einer wegwerfenden Handbewegung und lachte kurz auf. „Na, es war doch klar, dass es nicht zwei Verliererinnen im Haus geben kann. Wir haben zugunsten der anderen verzichtet, verstehst du? Es konnten ja nicht zwei andere verlieren, oder?“ Sie zog einen Mundwinkel nach oben, legte den Kopf schief und stemmte einen Arm in die Hüfte.

„Oh! Wie ritterlich von euch! Dass ich nicht lache. Ha. Ha.“

„Ach, Rick“, stöhnte nun Susan und rollte die Augen, „jetzt hab dich doch mal nicht so. So schlimm sind wir schließlich auch nicht!"

„Für ihn schon! Und für mich auch! Also, benehmt euch diesmal gefälligst, okay? Zieht euch anständig an und unterlasst alle nicht ernst gemeinten Anmachversuche! Das ist ein Punkt, den ich dringend in die Hausordnung aufnehmen sollte!“, fiel es ihm ein. Ernsthaft nickte er und verbrannte sich prompt an der heißen Würstelzange. „Na ja, egal, wie das jetzt ist, auf jeden Fall können wir nicht zum Strand fahren. Das heißt, ihr könnt fahren, aber ich bleibe hier."

„Waaas?“, kreischten die Zwillinge, deren Stimmen bereits gefährliche Höchstlagen erreichten. „Natürlich bleiben wir auch hier! Wir wollen doch unserem Gast richtig willkommen heißen!“

Susan drehte sich zu Alexandra um, legte den Zeigefinger an die Lippen und neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was sagst du eigentlich zu dem Ganzen?“, fragte sie herausfordernd. „Du hältst dich immer so bedeckt, wenn es um Männer geht.“

„Ich? Ich freue mich natürlich auch, dass jemand in Darraghs Appartement zieht", antwortete sie ausweichend und stibitzte sich ein Brötchen aus dem Korb, der auf dem großen Gartentisch stand. Sie setzte sich, schnitt es auf und bestrich es schweigend mit Butter und Marmelade. Ein neuer Mann in ihrem Haus, überlegte sie, biss hinein und kaute nachdenklich. Wenn der mal nicht viel Unruhe stiftete! Sie kam jedoch nicht weit in ihren Überlegungen, denn schon rief Susan mit ihrer Kanarienvogelstimme: „Es hat geläuhetet!", und sprang auf. „Ob er das schon ist? Unser Harper?"

„Jetzt schon?“ Rick ließ das Besteck und das halb verzehrte Würstchen fallen und rannte ihr hinterher ins Haus, um die Vordertür zu öffnen.

„Mensch, Har... per! Da bist du ja!“, rief Rick über das ganze Gesicht strahlend und breitete die Arme aus, um seinen Freund in der typisch männlichen Geste auf den Rücken zu klatschen.

„Rick!“, rief auch dieser Harper und tat das Gleiche. Da das Licht durch die geöffnete Tür ins Dunkle fiel, konnte keines der weiblichen Wesen besonders viel von dem Neuankömmling erkennen. Nur, dass er in etwa so groß war wie Rick, fast weißblonde Haare und eine kräftige, angenehme Stimme hatte.

Alexandra drückte sich mit dem Rücken flach an die Wand und wollte sich gerade an Susan vorbeischieben, als diese – wortwörtlich – ihren Ellbogen ausfuhr und keine drei Zentimeter vor ihr in das Mauerwerk stemmte. Verärgert schnaubte Alexandra, begnügte sich aber damit, über die Schulter der Freundin hinweg zu spähen und zu lächeln. Huch!, dachte sie erschrocken und wich unwillentlich zurück. Der Kerl war ganz schön gut trainiert und jetzt, da sich ihre Augen an das Lichtverhältnis gewöhnt hatten, konnte sie erkennen, dass er viel zu braun war. Seine Arme waren mit verschiedenen schwarzen Mustern tätowiert; ob und was die bedeuteten, konnte sie nicht sagen, denn sie machte sich nichts aus dem Kram. Und dass er einen wirklich abstoßenden Haarschnitt trug. Lediglich in der Mitte des bleichen Schädels befanden sich weißblonde Haare, die ihm bis zum Kinn reichten. Die Seiten hatte er ungeschickt und ungleichmäßig ausrasiert. Er sah aus wie der wandelnde Tod. Wer bitte tat sich freiwillig so etwas an? Dazu trug er riesige, silberne Ohrringe, aber zumindest keinen Tunnel.

Schade, denn sie hatte gerade begonnen, sich auf den neuen Mitbewohner zu freuen. Aber so wie der aussah, hatte sie sich leider zu früh gefreut. Dass die Zwillinge und Susan da anderer Meinung waren, spürte sie an den elektrisch geladenen Luftschwingungen. Die Klamotten, die Harper anhatte, waren teuer, das sah selbst Alexandra, und wenn sie das schon erkannte, dann sah Susan bereits seinen Kontostand vor ihrem geistigen Auge aufblinken.

Was sie jedoch nicht verstand, war, wieso sich dieser eigenartige Harper und Rick so gut verstanden. Der legte nämlich den Arm um die breiten Schultern des Berliners mit südenglischem Akzent und drehte ihn zu der versammelten Frauenschar.

„Girls, darf ich vorstellen? Das ist mein Freund Harper!"

Alle nickten andächtig grinsend und hießen ihn herzlich willkommen. Nun endlich zog er seine mehrere hundert Euro teure Sonnenbrille von den Augen, sodass Alexandra erkennen konnte, wie strahlend blau sie waren. Beinahe unnatürlich blau. Sein Blick streifte ihren und für einen winzigen Augenblick schlug ihr Herz schneller. Mehr verwundert als sonst etwas drehte sie den Kopf zur Seite. Was sollte das denn bitte? Das lag am Restalkohol.

„Hi“, säuselte Natalie, knickte ein Knie ein und streckte ihm ihren langen, schlanken Arm entgegen, den sie auf Kinnhöhe hielt. „Ich bin Natalie, und das ist meine Schwester Melanie."

„Oh, aber hallo! Zwillinge?“, fragte er und hob seine volle Stimme ebenso wie seine – perfekt geformten - Augenbrauen und spitzte die Lippen. Erbärmlich, dachte Alexandra. Aber was hätte ich von ihm erwartet! Oder von Susan …

Denn schon drängte sich diese dazwischen, drückte ihren Busen heraus und hielt ihm nun ihrerseits die nach wie vor perfekt manikürte Hand hin. „Hallo, Harper! Willkommen bei uns. Fühl dich wie zu Hause. Ich bin übrigens Susan“, summte sie.

Alexandras Blick verschwamm. Das ging ja schon mal gar nicht gut los. Ganz eindeutig hatten alle drei einzig und allein eine Sache im Sinn.

Sehr erfreut“, antwortete er Susan mit nun gesenkter Stimme und gesenktem Blick. Er nahm ihre Hand sanft in seine und hauchte einen Kuss darüber, ohne dass sein Mund dabei ihre Haut berührte. Diese Geste wiederholte er noch zwei Mal bei den anderen, bis er bei Alexandra ankam, die ihn mit einem bemüht-freundlich und deswegen gezwungenen Lächeln angrinste. „Alexandra", war alles, was über ihre Lippen kam. Was für ein komischer Kerl!

Erstaunt hielt er inne, kniff die Augen zusammen und zog den Oberkörper zurück. Er brauchte einen Augenblick, bis er sich fing. Eindringlich und, wie ihr schien, herausfordernd sah er sie an, als er ebenso kühl „Harper“ erwiderte und kurz, aber kräftig ihre Hand schüttelte. Heiß durchzuckte es sie, und auch dieses unwillkommene Gefühl wischte sie sofort zur Seite und schob es auf diesen deutschen Apfellikör, der ganz gewiss nicht gut für einen sein konnte. Ihre Reaktion war der eindeutige Beweis dafür!

Dann hol doch mal deine Tasche rein", beendete Rick das Kennenlernen. „Stell sie einfach hierher, ich zeige dir später das Haus, okay? Lass uns erst mal was essen. Du hast doch sicher Hunger nach der Reise? Und Durst?"

Oh ja, und wie. Das Essen im Flugzeug wird ja immer ungenießbarer“, seufzte Harper erleichtert.

Cider?", „Bier?", überschlugen die drei anderen sich bereits, während Alexandra ihnen nur kopfschüttelnd in den Garten folgte.

Einfach nur ein Wasser, bitte", erwiderte er lachend und nahm an dem langen Tisch Platz.

Du machst also so eine Art Sabbatical?", erkundigte Melanie sich interessiert und rutschte auf die Bank ihm gegenüber. Dabei strich sie sich ihre langen, braunen Haare aus der Stirn und stützte ihr hübsches Gesicht in eine Hand.

Ja, genau. So ist es. Ich brauche dringend eine Auszeit und wollte in Europa bleiben. Na, und dann hat Rick mir die freistehende Wohnung angeboten. Da ich schon viel von eurer sagenhaften WG gehört habe, habe ich natürlich sofort ja gesagt.“

Oh, das ist aber schön für uns!“, zwitscherte Susan und reichte ihm ein Glas, das mit Minzblättern garniert war. „Und du bist aus Berlin?“

Nein, nein. Ich war nur einige Zeit dort. Ich bin eigentlich aus … einer kleinen Stadt in Deutschland. Mein Vater war Engländer, aus Canterbury.“

Ah, aus Canterbury! Wow!"

Aber eigentlich war ich die letzten Jahre fast pausenlos unterwegs."

Echt? Wie aufregend!", „Ein Digital Nomad?", fragten die Zwillinge aufgeregt durcheinander und drängten sich noch näher an ihn, während Susan sich aufs stumme Augen-Klimpern konzentrierte.

Ja, so könnte man das wahrscheinlich auch ausdrücken."

Wow …“

War schon aufregend, ja. Aber was zu viel ist, ist zu viel.“

Und da kommt dir Dublin gerade recht, nicht wahr! Nicht so groß, relativ ruhig …“

Ganz genau. Ganz genau. Und vor allem: unglaublich nette Leute!“ Nun grinste er breit von einer zur anderen und schlug Rick mit der Hand auf die Schulter.

Und was genau machst du so?", mischte Alexandra sich ein.

Marketing. Werbung. Für Musiker. Hauptsächlich", haspelte er und wandte sich wieder den Zwillingen zu. „Alles online. Deswegen war ich auch so viel unterwegs.“

Ach so. Sind da vielleicht Stars dabei, die wir auch kennen?", erkundigte Melanie sich interessiert.

Hm … Nein. In Irland sind die nicht bekannt. Leider."

Merkwürdig, dachte Alexandra, warum wirkt er jetzt so aufgeregt? Beinahe nervös? Und mit so etwas konnte man so viel Geld verdienen? Nun gut, vielleicht hatte er einfach sehr reiche Eltern. Ein verwöhntes Söhnchen, das passte ja zu ihm.

Kannst du selbst etwa auch ein Instrument spielen?“, erkundigte sich nun Susan mit süßer Stimme.

Ja, schon. Ein bisschen Gitarre, Klavier, das Übliche halt.“

Das Übliche halt. Da haben wir's doch! Alexandra fühlte sich bestätigt. Er war einfach nur ein Sohn, nichts weiter.

Spielst du uns mal was vor?“, schmeichelte Natalie und lächelte verführerisch.

Klar, wenn ihr wollt!“ Seine Augen blitzten, doch dann wechselte er das Thema. „Und was macht ihr so?“

Aaaaalso", begann Melanie, holte tief Luft und richtete sich auf. „Wir zwei", sie zeigte auf Natalie und sich selbst, „haben eine Bäckerei." Sie hielt die Luft an und nickte stolz. „Und zwar eine ganz außergewöhnliche.“

Und seeehr leckere!“, warf Alexandra ein.

Sie ist nämlich sozusagen international", fuhr Natalie fort. „Wir führen sizilianische, französische und österreichische Spezialitäten.“

Oh, wow! Das ist … selten! Klingt super! Habt ihr auch Genovesi?", erkundigte er sich nach den sizilianischen Mürbteigtaschen mit süßer Füllung.

Na klar! Mit Nutellacreme, Vanillecreme oder Ricotta. Ganz so, wie es sich gehört.“

Mhm … Ricotta. Meine Sünde … Da muss ich unbedingt vorbeikommen.“

Unbedingt, ja! Am besten unter der Woche, dann sind wir auch dort“, flüsterte Natalie kichernd.

Wenn das so ist“, antwortete er und ließ sie nicht aus ihrem Blick. „Dann gleich am Montag!" Eine Weile schwiegen alle, dann schaltete sich Rick zum ersten Mal in das Gespräch ein. „Was ich mache, weißt du ja, aber unsere Susan hier ist die rechte Hand eines erfolgreichen Geschäftsmannes, nicht wahr?“, fragte er anzüglich.

Oh!“ Errötend hustete sie. „Ja. Das trifft es wohl ziemlich genau.“

Das ist doch toll! Sehr schön! Und was machst du?“, erkundigte Harper sich mit einem nicht klar zu deutenden Blick auf Alexandra.

Ich bin Buchhändlerin und arbeite in einem der letzten unabhängigen Buchläden Dublins“, antwortete sie mit einer Spur Stolz in der Stimme, die so gar nicht zu ihrer üblichen Einstellung zu dem Geschäft passte.

Oh“, staunte Harper, sagte ein oder zwei Momenten lang nichts und dann, mit belegter Stimme: „Das klingt echt toll.“ Er machte wieder eine Pause, ehe er hinzufügte: „Da würde ich am Montag vielleicht auch vorbeikommen, weil ich nichts mehr Ordentliches zu lesen habe.“

„Gerne“, erwiderte Alexandra mit ihrem Geschäftslächeln und sah sich schon mit ihm vor dem spärlich bestückten Manga-Regal stehen.





4 Harper



Harvey schob sich den Rest des Burgers in den Mund, den Rick ihm ganz frisch zubereitet hatte. „Himmlisch!“, seufzte er, schloss die Augen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „So entspannt habe ich mich seit Jahren nicht gefühlt." Glücklich lächelnd verschränkte er die Arme vor seinem vollen Bauch.

Das freut mich“, flüsterte Susan, die ihm gegenüber saß und die Augen nicht von ihm lassen konnte, was ihn ein wenig nervös machte. Sie war ja echt nett, aber ziemlich krass überstylt, doch vermutlich war er der Letzte, der sich über derartige Themen auslassen durfte, nachdem er zuerst zum Rasierer und dann zu einer Flasche Leichen-Bleich gegriffen hatte, mit der er die letzten Farbpigmente aus seinem einst so schönen Haar gezogen hatte. Warum hatte er sie eigentlich nicht gleich ganz abgemäht?

Stumm wanderte Susans Blick über seine Tattoos. Ja, das Styling war eine Sache, aber sie hatte noch einen anderen ganz großen Fehler: Sie himmelte ihn ganz eindeutig an.

So lässt sich's leben", seufzte er und zog die Sonnenbrille wieder vor die Augen, um so Natalie, Melanie und Rick heimlich beobachten zu können. Die drei alberten auf dem Rasen herum und versuchten sich in erfundenen Yoga-Posen, die keiner von ihnen halten konnte und die deswegen allesamt neue Namen wie „umfallender Hund", „sterbender Krieger" und „Regengruß" erhielten.

Alexandra hatte sich auf eine der gemütlichen Sonnenliegen verzogen und hinter einem Buch verschanzt. Ihre helle Haut leuchtete im Kontrast zu dem grünen Bikini. Auch wenn ihre schlanke Figur von bestimmt doppelt so viel Stoff verhüllt wurde wie es bei den Zwillingen der Fall war, so beflügelte gerade das seine Fantasie. Das, und die Tatsache, dass sie ihn so offensichtlich wie hartnäckig ignorierte. Aber warum? Was hatte er ihr getan? Sie kannten sich doch noch gar nicht!

Harvey, Mann!“, rief da Rick und verbesserte sich sofort: „Ich meine, Harper!“

Harvey-Harpers Blut gefror zu Eiswürfeln. Er hatte ihn am Telefon doch extra gebrieft: neuer Name, neuer Job, etc.! Zum Glück reagierte er blitzschnell: „Hey! Rick? Alles klar bei dir oder setzt die geistige Verwirrung schon in so jungen Jahren bei dir ein?“ Harpers Lachen klang nervös und blechern. „So nennt mich doch schon lange niemand mehr!“ Natürlich war ihm bewusst, dass er in Irland völlig unbekannt war, aber wenn sein guter Freund mit den Namen durcheinanderkam, würde das gewiss Misstrauen erwecken. Und wer wusste, was daraus folgen konnte!

Ja, ja …“ Verlegen sah Rick zu Boden und kratzte sich am Kopf. „Sorry. Es ist halt einfach so drin.“

Aus dem Augenwinkel bekam Harvey mit, dass Alexandra ihr Buch sinken ließ und ihn argwöhnisch anschaute, aber nichts sagte. Zum Glück schienen die anderen nichts bemerkt zu haben, nicht einmal Susan, die gerade auf ihrem Handy herum tippte und die Stöpsel im Ohr hatte.

Na, Kumpel, rutsch mal“, forderte Rick ihn auf und setzte sich schwungvoll neben ihn. Susan stand auf und verschwand im Haus, um für kleine Mädchen zu gehen.

Du siehst total krass aus mit den hellen Haaren und den blauen Linsen!“, murmelte Rick ihm zu und gab ihm einen Rempler mit dem Ellbogen.

Ich weiß. Fürchterlich. Ich finde mich selbst zum Kotzen. Besonders die schief ausrasierten Seiten. Aber was tut man nicht alles, um unerkannt aus Berlin rauszukommen!“

Naja, so wie du jetzt aussiehst, erkennt dich so schnell bestimmt keiner. Aber hier kennt dich, glaube ich, ohnehin wirklich niemand. Also, mach dir mal keine Sorgen, Harvey-Harper, bei uns bist du in Sicherheit!“

Danke. Auch, dass du mich so problemlos aufgenommen hast. Ich brauche echt Ruhe. Nicht nur wegen des Skandals, der für mich ja gar keiner wäre. Ich meine, es juckt mich echt nicht, wer mit wem ins Bett geht, ob Mann oder Frau. Nee, ich meine eine Auszeit von dem ganzen Rummel. Ich sag dir, das geht mir echt tierisch auf den Sack!“, stöhnte er und fuhr sich mit den Händen durch das, was von seinem Haar noch übrig war. „Dieses ganze Gedöns und die albernen Liedchen!“

Mein Beileid hast du, das muss echt übel sein. Ist bei meinem Dad ja schon schlimm genug. Meine halbe Kindheit habe ich in einer Art Belagerungszustand verbracht, weil vor der Gartenmauer scharenweise Touristinnen campierten. „Und der hat immerhin ernst zu nehmende Sachen gemacht. Aber ich weiß, was du meinst. Heutzutage ist es ja noch schlimmer als früher. Da hat man echt null Privatsphäre, alles kommt sofort ins Netz …"

Da sagst du was Wahres! Ich kann nicht mehr, echt. Ich will richtige Musik machen, nicht Blechdosen-Schrott."

Ach, komm, so schlecht ist das doch auch nicht!“, versuchte Rick, ihn zu trösten.

Nett, dass du das sagst. Aber würdest du das Zeug freiwillig hören? Das ganze ‚ich werde dich für immer und ewig lieben … bis mein Herz aufhört zu schlahahagen?‘“

Nun ja ...“, wich Rick gedehnt aus und lehnte sich zur Seite. „Ich jetzt vielleicht nicht gerade.“

Siehst du.“

Aber du bist damit steinreich geworden!“

Geld ist nicht alles, das weißt du auch.“

Daraufhin konnte Rick nur zustimmend die Schultern heben.

Nach einer Weile fuhr Harper fort: „Ich überlege schon länger, mein eigenes Label zu gründen.“

Im Ernst? Cool! Einfach wird es sicher nicht, aber nichts ist unmöglich, und mein Dad hilft dir bestimmt gerne! Der sagt ja immer, dass du viel zu viel Talent für den Boy-Star hast!“

Echt? Wow! Das“, er schluckte ergriffen, „das rührt mich jetzt aber echt.“

Schweigend sahen die beiden Freunde einander an und nickten sich bekräftigend zu. „Schon gut“, murmelte Rick dann.

Und deine Mädels scheinen ja auch echt nett zu sein“, wechselte Harper das Thema.

Nett? Klar. Sonst wären sie ja nicht meine Freundinnen. Aber sie sind zurzeit ständig auf der Suche. Es ist kaum noch auszuhalten mit ihnen! Nimm dich also lieber in Acht.“

In Acht nehmen?“ Harper lachte, runzelte die Stirn und schaute seinen Freund an, als wäre er nicht ganz dicht.

Ich meine, damit hier kein Kleinkrieg aus Eifersucht ausbricht. Das könnte ich nämlich gar nicht gebrauchen.“

Fragend sah Harper ihn an, bevor er langsam sagte: „Nee, schon klar. Ich lass die Finger von ihnen.“

Auch wenn es dir schwerfallen sollte“, seufzte Rick gespielt genervt und schielte zu den Zwillingen. Melanie bespritzte Natalie gerade mit dem Gartenschlauch, woraufhin Natalie zur Colaflasche lief, um ihr den Inhalt über den Kopf zu gießen. „Das ist es, was mich so tierisch an dem Hühnerhaufen nervt. Dieses ständige Sich-Inszenieren.“

Machen sie das auch, wenn du mit ihnen allein bist?“

Das bin ich fast nie, aber dann nicht, nein. Bei Darragh und mir ist es nicht mehr so schlimm. Aber als letztens Miguel aus Portugal hier war, da wäre ich fast auszogen!“

Aber die Leseratte scheint da ein wenig aus der Reihe zu tanzen, oder nicht?“, meinte Harper und zeigte mit dem Kinn auf Alexandra.

Alex? Ja. Die ist anders. Manche nennen sie die Ice-Queen, aber für mich steht sie über dem Ganzen. Hatte bislang kein gutes Händchen mit den Männern.“

Oh, die Arme. Aber warum Ice Queen? Kommt keiner an sie ran, oder was?“

Nope. No chance.“

Aaaah!“, war alles, was Harper dazu sagte, bevor er mit einem Ruck aufstand und zu Alexandra schlenderte. „Na? Was liest du denn da? Ist es gut?“, erkundigte er sich und zeigte auf das Buch.

Sie ließ das Buch sinken, neigte den Kopf zur Seite und schaute ihn zweifelnd an. Der Blick gefiel ihm nicht, stachelte ihn aber nur noch mehr an. Ihre Augen leuchteten und blitzten grün.

Kundera“, gab sie einsilbig zurück und hielt das Buch hoch, damit er das Titelbild sehen konnte.

Ah! Das Buch vom Lachen und Vergessen. Das habe ich noch nicht gelesen“, antwortete er ehrlich, aber interessiert. „Und wie ist es so?"

Ziemlich gut“, antwortete sie knapp, schwang die Beine auf die Seite der Liege und wollte aufstehen. Aus einer Selbstverständlichkeit heraus reichte er ihr die Hand, die sie zu seiner Verwunderung nahm; vermutlich einem Reflex folgend. Wie feingliedrig ihre Finger waren, wie leicht ihre Berührung! Geschmeidig stand sie auf und streifte sich ihr langes, türkis-dunkelblaues Sommerkleid über. Unweigerlich atmete er scharf ein. Wann hatte er jemals diese Reaktion gezeigt, wenn sich eine Frau anzog?

Rick, ich gehe mal eine Runde spazieren. Mir ist das ganze Herumliegen zu fad. Wir hätten echt an den Strand fahren sollen“, verkündete sie ohne Harper eines müden Blickes zu würdigen und hob ihre Sachen von der Liege auf.

Macht's dir was aus, wenn ich mitkomme?“, fragte Harper ohne zu denken.

Entsetzlich langsam drehte sie den Kopf zu ihm und sah ihn eine Weile mit verengten Augen an. „Ich gehe ziemlich schnell.“

Na, so ein Glück! Dann kannst du ja mit mir mithalten!“, antwortete er schlagfertig und grinste sie breit an, woraufhin sie den Blick abwandte und schnaubte.

Okay. Ich ziehe mir schnell etwas anderes an. Bis gleich, wieder hier“, meinte sie und war schon im Haus verschwunden.



Hey, Kumpel, weißt du überhaupt, worauf du dich da einlässt?“ fragte Rick mit leiser Stimme und legte ihm einen Arm um die Schultern.

Klar. So sehe ich gleich ein bisschen was von Dublin!“

Hoffentlich willst du danach nicht gleich wieder weg!“, feixte Rick und boxte ihm gegen den Oberarm. „Sie meint es nicht so. Manchmal denke ich, dass sie einfach unsicher ist. Also, denk dir nix bei ihren rauen Sprüchen, sie ist echt eine Liebe.“

Aha, na, dann ist es ja gut. Danke für den Tipp.“



Und wohin gehen wir jetzt?“, wollte Harvey wissen, nachdem er Alexandra durch die große Haustür auf den Gehweg gefolgt war. Sie hatte ein langes, weiß-oranges Sommerkleid angezogen, dessen weite Ärmel an den Schultern Schlitze hatte. Aus einem unerfindlichen Grund fand er genau das unwiderstehlich sexy.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739398815
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Oktober)
Schlagworte
Liebesroman rockstar Freundschaft young adult Spannung irisch Irland konditorei

Autor

  • Annabelle Benn (Autor:in)

Annabelle Benn ist eine deutschen Autorin, die im schönen Berchtesgadener Land aufwuchs, wo sie nach vielen Stationen im In- und Ausland wieder wohnt. In ihren Romanen entführt sie die Leser in eine friedliche, romantische, zugleich aber realistische Welt mit liebenswerten Figuren. Natürlich darf aber die nötige Spannung und Dramatik dabei nicht fehlen. Unter dem Co-Pseudonym Sal Rivers veröffentlicht sie heitere, unterhaltsame Liebesromane "für Zwischendrin".
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Titel: Der versteckte Rockstar