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Himmelblau und rosarot

Eine zweite Chance für die Liebe

von Annabelle Benn (Autor:in)
149 Seiten

Zusammenfassung

Eine heitere Geschichte aus dem bayerischen Voralpenland Nach Jahren in den aufregendsten Metropolen der Welt kehrt die Karrierefrau Bettina Rehrl ungewollt in ihr oberbayerisches Heimatdorf zurück, das sie vor Jahren fluchtartig verlassen hat. Nun soll sie ihr Elternhaus erben. Für sie steht fest, dass sie es umgehend verkaufen will, da sie nichts mehr mit dem Ort und mit ihrer Vergangenheit zu tun haben will. Doch wenn die Rückkehr in ihre alten Heimat nicht genug wäre, um alte Wunden wieder aufzureißen, trifft sie auch noch ihre Jugendliebe Felix wieder. Werden die Eisberge in ihrem Herzen schmelzen? Eine bewegende und zugleich heitere Geschichte über Zugehörigkeit und innige Liebe. Der Roman war kurze Zeit unter dem Titel "Bei Dir" erhältlich!!!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt





Bei der vorliegenden Novelle handelt es sich um eine vollständige Überarbeitung des im August 2015 erschienenen Titels "Himmelblau und rosarot".



Vorbemerkung

Blumenau und Rennen sind zwei fiktive Orte im Berchtesgadener Land, zwischen Schönram und Oberndorf bei Salzburg und zwischen Kirchanschöring und Freilassing. Da alle Personen und Handlungen frei erfunden sind, bietet es sich an, auch die Ortsnamen zu verfremden.













1 Rückkehr



Es war warm, still und dunkel. Die Scheinwerfer des Taxis entfernten sich und verschwanden schließlich hinter der Kurve. In weiter Ferne leuchteten am Himmel der Mond und noch weiter weg die Sterne, und sogar die sahen hier anders aus.

Erschöpft zog Bettina ihren Koffer die leicht ansteigende Auffahrt zu dem großen, alleinstehenden Haus am Rosenweg 3 hinauf. Laut ratterte er über die Pflasterfugen, ansonsten war nach wie vor nichts zu hören. Sie blieb stehen. Es war, als nähme die Stille einen eigenen Klang an. Schließlich machte sie den nächsten Schritt Richtung Haustür. Da sprang der Bewegungsmelder an, durchbrach den Zauber der Dunkelheit und gab den Blick frei auf ihr früheres Zuhause. Nun sah sie die zahlreichen Blumentöpfe, in denen blaue, weiße und rosarote Hortensien in ihrer ganzen Pracht blühten, um die sich nach Omas Tod jemand gekümmert haben musste. Wahrscheinlich Tante Toni, vermutete Bettina. Denn sie war es auch, die ihr per Email von dem Nachhausegang ihrer Mutter berichtet und sie gebeten hatte, kurz heimzukommen. Außerdem hatte sie ihr geschrieben, dass unter einem dieser Töpfe mit einer blauen Blume der Schlüssel liegen sollte. Das ist bestimmt der Schlüssel meiner Oma, dachte sie, denn ihren eigenen hatte sie vor fünfzehn Jahren mit dem Schwur, nie wieder hierher zu kommen, in die Isar geworfen. Ein Schwur, den sie nun gebrochen hatte, weil es die Umstände erforderten.

Zwar hatte die Tante darauf bestanden, bis zu Bettinas Ankunft aufzubleiben, doch die Nichte hatte sich vehement dagegen gesträubt und schließlich gewonnen.

Leider waren die Blumen frisch gegossen. Die Töpfe waren schwer wie Elefantenfüße und Bettina brauchte all ihre Kraft zum Anheben. Sie war sportlich und gut trainiert, aber nach der über 32-stündigen Reise war sie am Rande der Erschöpfung. Doch das Glück war ihr hold, denn schon unter dem zweiten Topf mit blauen Blüten fand sie den Schlüssel. Als sie ihn in der Hand hielt, schluckte sie schwer, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Wo sollte sie schließlich um diese Uhrzeit hin! Und nur weil viele Menschen an Geister glaubten, hieß das nicht, dass es sie gab, dass sie in diesem Haus spukten und dass sie, Bettina, ihnen nichts entgegenzusetzen hätte. Dennoch war ihr unheimlich zumute, denn soweit sie wusste, stand das Haus seit dem Unglück leer. Seit dem Tag, an dem ihre gewohnte Welt endgültig in unzählige Stücke und Splitter zerbrach und niemand die Kraft, Zeit, Geduld oder Liebe hatte, um sie wieder zusammenzusetzen. Nun ja … bis auf die Oma, aber auf die hatte niemand mehr gehört. Und jetzt war es zu spät; auch zum Darüber-nachdenken und Darüber-traurig-sein. Und es war spät in der Nacht.

Sie würde den Schlüssel ins Schloss stecken, ihn umdrehen und das Haus betreten.

Hoffentlich roch es nicht modrig! Und war nicht alles von einer dicken Staubschicht bedeckt. Vielleicht hatte die Oma jahrelang einen so großen Bogen darum gemacht, wie sie es vo Zuhaus aus nur konnte.

Noch immer ließ etwas Bettina zögern.

Der Bewegungsmelder ging wieder aus und alles war wieder in silbriges Licht getaucht. Wie von Geisterhand geführt schaute sie langsam nach rechts, obwohl sie innerlich dagegen ankämpfte. Ein Schauer lief über ihren Rücken und ließ sie erst frösteln, bevor sie schwitzte.

Schnell sah sie wieder zu der massiven Eichentür, öffnete sie und trat in den Flur, der das große, bei Tageslicht helle, Haus von der angrenzenden Garage trennte. Andernorts hätte man es vielleicht als Villa bezeichnet, hier jedoch war es einfach ein großes Haus mit Garten. Sie schnupperte. Es roch herrlich frisch und rein nach Lavendel, ganz und gar nicht muffig. Ohne nachdenken zu müssen, streckte sie die Hand nach links, schaltete das Licht an und erschrak. An einem Haken hing noch immer Cäsars Hundeleine, der, wie als Auftakt zur richtigen Tragödie, am Tag vor der Festnahme ihres Vaters eingeschläfert werden musste.

Mit einem wehmütigen Seufzen sperrte sie die Tür zum Wohnbereich auf, ließ ihren Rollkoffer los und die schwere Ledertasche von ihrer Schulter gleiten. Sie ließ alles dort stehen und liegen, holte nur ihren Kulturbeutel, Pyjama und handgroßen Teddy heraus. Dann machte sie sich, ohne das Licht anzuschalten, auf den Weg in den ersten Stock, wo sich ihr Mädchenzimmer befand. Sie wusste, dass im Treppenhaus noch die Fotos und Bilder aus der anderen, heilen Zeit hingen. Früh genug würde sie sie bei Tageslicht sehen; jetzt genügten die Umrisse des Mondlichts, um sie gegen die Tränen ankämpfen zu lassen.

Entschlossen ging sie daran vorbei. Doch sie konnte den Erinnerungen nicht entkommen; nirgends, nicht solange sie hier war. Nicht im Badezimmer, in dem frische Handtücher und ein neues Stück nach Rosen duftender Schafseife für sie bereit lagen. So, als hätte das Haus nur auf ihre Rückkehr gewartet.

Ein müdes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Wasserhahn aufdrehte. Auch daran musste die gute Tante Toni gedacht haben, denn das Wasser lief sofort klar. Man kann das hier trinken, dachte sie.. Zumindest theoretisch; wenn die Leitungen nicht so alt wären. Wann hatte sie zuletzt an einem Ort gelebt, wo das möglich war?

Der Wasserhahn war mit rotem Kunststoff überzogen. Sie ließ ihre Finger über die Unterseite gleiten. Ihr Lächeln wurde für einen Moment triumphierend, als sie über das verschmorte Plastik glitten, so, als wolle sie sagen: „Wusste ich’s doch“, bevor sie die Mundwinkel hängen ließ. Diese Narbe war ihre Narbe. Hier hatte sie in ihrem Jähzorn einen Brief verbrannt und die hoch aufsteigenden Flammen panisch mit Wasser gelöscht. Stumme Worte auf Papier waren das gewesen, die ihr Herz viel zu spät erreichten und die doch seine Liebe zu ihr erklären sollten und sie um Geduld baten. Der Brief war die Verheißung einer gemeinsamen Zukunft in Freiheit, die niemals eintrat.

Unweigerlich wanderte ihr Blick wieder nach rechts, zu dem Bauernhof, den sie von hier zwar nicht sehen konnte, von dem sie aber wusste, dass er da war. Nein, jetzt nicht daran denken! Nicht jetzt und nie mehr. Man musste die Vergangenheit ruhen lassen, sonst fand man selbst keine Ruhe.

Sie wusch sich und schleppte sich in ihr altes Mädchenzimmer. Sie erstarrte. An den Wänden hingen noch immer Poster von U2, Guns’n’Roses und River Phoenix. Helden ihrer Jugend. River Phoenix war inzwischen tot, U2 machten mittlerweile grässliche Musik und G’n’R waren zwar Kult, aber wohl nicht mehr richtig am Leben. Unter Axl Roses Hinterteil-in-Radlerhose konnte sie beim besten Willen nicht schlafen und so riss sie kurzerhand die verblichenen, vergilbten und welligen Bilder von der Wand. Dann fiel sie erschöpft in ihr Bett. Dort erwartete sie jedoch schon das nächste Relikt der 90er-Jahre: Eine Zudecke, auf der hinter einem Palmenstrand blutrot die Sonne im Meer unterging. Doch das war egal, denn sie duftete herrlich nach Tannen. Beim Einschlafen dachte sie noch, dass beides so wenig zusammenpasste wie sie hierher.





2 Wiedersehen



Als Bettina am nächsten Morgen erwachte, tastete sie automatisch links nach dem Lichtschalter, fand ihn jedoch nicht. Verwundert und ein wenig verärgert richtete sie sich auf. Wo war sie? Warum war es so dunkel?

Da fiel es ihr wieder ein. Sie seufzte und ließ sich zurück ins Bett fallen, rollte zur anderen Seite und fand den Schalter der Nachttischlampe, auf deren Fuß ein Herz-Aufkleber glitzerte.

Sie war zu Hause, daheim, weil ihre Oma vor rund zwei Wochen gestorben war und sie in ihrem Testament erwähnt wurde. Nachdem das große Projekt zur Markteinführung eines Blutdrucksenkers vorgestern erfolgreich abgeschlossen worden war, war sie der Nachricht gefolgt und nach Deutschland geflogen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde nämlich sie das große Haus mitsamt den Ländereien erben. Für Bettina stand fest, dass sie nichts davon behalten, sondern sofort alles verkaufen würde. Mit dem Geld würde sie dann … oh, sie hatte viele Ideen und Wünsche! Auch sinnvoll anlegen und investieren war immer eine gute Option. Die Welt war groß und es gab viele reizende Orte, an denen sie Urlaub machen oder leben wollte. Der letzte, an dem sie leben wollte, war dieser hier.

Der Notartermin war für den nächsten Tag um 10:00 Uhr angesetzt. Manchmal tauchten leise Zweifel in ihr auf, wie viel sie tatsächlich erben würde und ob sie die Reise möglicherweise umsonst gemacht hätte.

Das käme einer mittleren Katastrophe gleich, denn sie verlor wegen der Angelegenheit mindestens eine ganze Arbeitswoche. Eine Woche, in der ihre Kollegen und Konkurrenten, denn das waren sie trotz all des Getues und Geredes von Teamwork, einen erheblichen Vorsprung erreichen konnten. Seit Jahren hatte sie deswegen keinen Urlaub genommen und von den Ländern, in denen sie bislang für ihre Firma gearbeitet hatte, hatte sie selten wenig mehr als ihren Arbeitsweg, die angesagten Locations und die wichtigsten Ausflugsziele gesehen.

Aber das störte sie nicht. Sie lebte, seitdem alles so war, wie es jetzt war, nur noch für die Arbeit und ihren beruflichen Erfolg. Darüber hatte sie wenigstens Kontrolle.

Also, los! Sie musste sich gleich in ihren geschäftlichen Email-Account einloggen und nachsehen, was es in der Arbeit Neues gab.

Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett, öffnete die Fensterläden und blickte direkt auf den Kern-Bauernhof, in den sie nie einen Fuß gesetzt hatte und das, obwohl alle Dorfkinder in jedem Bauernhof und Haus ein- und ausgingen, wie es ihnen nur so passte. Nur nicht bei den Kerns, oder Kerneis. So nah und doch so fern, dachte sie wehmütig. Felix.

Sie wollte nicht an Felix denken.

Felix: Der, mit dem alles begann und alles endete.

In all den Jahren hatte sie ihn weitgehend aus ihrem Bewusstsein verdrängt. Doch jetzt und hier drohten alle Mauern einzustürzen. Wie es ihm wohl ging? Wo er jetzt wohl war? Sicher war auch er nicht hier auf dem Land geblieben. Nicht bei den Zielen und Träumen, die sie zusammen gehabt hatten. Bis sie ihn alleine ließ. Wovon hatte er dann geträumt? Ach, das war zu lange her. Wie jung und unerfahren sie damals waren! Ach, Felix …

Das helle, beinahe grelle Licht der Sonne, die schon hoch an einem fast wolkenlosen Himmel stand, blendete sie. Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, riss sich los und vergaß die Emails.

Nach einer langen Dusche betrat sie zunächst die Südterrasse. Wie herrlich frisch es hier roch! Und wann hatte sie zuletzt so viel klares Sonnenlicht und so einen tiefblauen Himmel gesehen? Nicht in Shanghai, nicht in São Paulo und schon gar nicht in Mexiko Stadt, wo sie für ein großes Pharmaunternehmen jeweils vier Jahre lang tätig war. Zuletzt in München, wo sie in Höchstgeschwindigkeit studiert hatte. Aber schon damals hatte sie keine Zeit und keine Ruhe mehr gehabt, sich an der Natur oder generell an etwas Nicht-Materiellem zu erfreuen.

Sie ging in den Garten und bemerkte nicht, dass das Gras erst vor Kurzem gemäht worden war. Bienen und Schmetterlinge flogen fröhlich umher, ein paar Vöglein zwitscherten munter ihr Lied, am Nachbarhof krähte der Hahn und ein Schaf blökte. In der Ferne zog ein Mähdrescher seine Runden. Es roch nach Sommer. Nach Gras, nach Blumen, nach Erde. Tief sog sie den satten, würzigen Duft ein und schloss die Augen.

Wie früher … Wie damals, als noch alles gut und meine Welt noch heil war. Als wir noch eine Familie und Felix und ich zusammen waren …

Eine tiefe Traurigkeit breitete sich in ihr aus. Diese Leere kannte sie gut; sie störte sie nicht, denn sie war mit Arbeit, Verabredungen und den vielzähligen Unterhaltungsmöglichkeiten und Zerstreuungsangeboten der Metropolen leicht zu füllen. Oder zumindest zu bedecken. Meist zumindest. Man musste nur genügend tun und immer schön auf der Hut sein, dann wurde man von dem schwarzen Nichts in Ruhe gelassen.

Die Kirchturmglocke schlug. Auch dass sie das letzte Mal Glockengeläut gehört hatte, war lange her. Es klang schön und vertraut. Leise zählte sie mit. Hatte sie wirklich so lange geschlafen? Schon zwölf Uhr!

So hastig, als müsse sie dringend zu einem Termin, drehte sie sich um und ging in die große, helle Küche, deren Boden mattblau gefliest war. Die Möbel waren aus Eiche und die Geräte noch dieselben wie bei ihrem Auszug.

Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben, dachte sie und strich mit dem Zeigefinger nachdenklich über die braune automatische Orangenpresse.

In der Hoffnung, dass die gute Fee, die die Blumen gegossen und das Haus geputzt hatte, auch an ihr Frühstück gedacht hätte, öffnete sie den Kühlschrank. Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht, als sie ihre Hoffnung erfüllt sah. Tante Toni war wirklich fantastisch. Aber was war das? Der Kasten war zwar gut gefüllt, jedoch nur mit Milchprodukten, Eiern, Schinken, Wurst, Käse und Marmelade. Wer aß denn heutzutage noch so etwas? Kein Soja oder zumindest laktosefrei, nichts auf Magerstufe, kein glutenfreies Brot? Nicht dass sie Unverträglichkeiten oder Allergien hatte, aber man wusste ja nie, wie schädlich das normale Essen nicht letztendlich doch für einen war! Immerhin stand ein Schälchen mit frischen Himbeeren dabei; aber ob das reichen würde?

Ihr Magen knurrte laut bei dem Anblick der verbotenen Köstlichkeiten. Verboten war zwar verboten, aber sie ging nicht davon aus, dass in diesem verschlafenen Dorf inzwischen ein veganer Coffeeshop eröffnet hatte. So nahm sie einen blau verpackten Himbeerjoghurt auf Rahmstufe und die in einer unbeschrifteten Flasche abgefüllte Bauernmilch sowie die frischen Himbeeren und schaltete den uralten, aber funktionstüchtigen Kaffeevollautomaten ein. Während das braune Monstrum aufheizte, sah sie sich um. Erst da fiel ihr Blick auf einen ordentlich beschriebenen himmelblauen Zettel, der gegen eine Vase mit Wiesenblumen lehnte:



Liebe Betty,



willkommen daheim!

Ich hoffe, Du findest alles, was Du brauchst und fühlst Dich wohl.

Komm einfach vorbei, wenn Du ausgeschlafen hast und gefrühstückt hast.

Herzliche Grüße,

Deine Tante Toni



Die liebe Tante Toni … Bettina seufzte bei den Gedanken an die gute Seele. Was sie wohl von ihr dachte? Ob sie sie verstehen und ihr verzeihen könnte? Mit einem Mal schämte sie sich entsetzlich dafür, dass sie sich nie bei ihr oder sonst jemandem gemeldet hatte. Auch nicht bei der Oma. Doch dafür war es jetzt zu spät, und über verschüttete Milch sollte man nicht weinen. Das hatte ihre Oma selbst immer gesagt!

Sie stellte ihr Frühstück auf ein Tablett und setzte sich auf die große Terrasse, die von einem prächtigen Blumengarten umgeben war. Hinter dem Zaun verlief die kleine Straße, die zum Kern-Hof führte, und auf der anderen Seite der Straße begannen die Getreidefelder. Im Garten befand sich, jetzt von hohem Schilf umringt, auch ein kleiner Weiher, in den just ein Frosch mit einem lauten Platsch hüpfte.

Eine milde Brise wehte und über den Sommerhimmel flog leise ein Sportflugzeug. Die friedliche Ruhe legte sich um ihre Seele und ließ sie für einen Augenblick alle Anstrengung und Anspannung der vergangenen Jahre vergessen. Wie lange hatte sie keinen so tiefen Frieden mehr gespürt? Ihr war, als wäre sie keinen einzigen Tag und doch ein ganzes Leben fortgewesen. Alles war bis ins kleinste Detail vertraut und gleichzeitig so fremd.

Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle und ihre Augen wurden feucht. Schnell sprang sie auf und lief zum Weiher, um nachzusehen, ob noch Fische darin herumschwammen. Das taten sie, aber dabei musste sie erst recht an ihre Oma denken und wie sie zusammen die ersten zwei Goldfischerl in den Weiher geschüttet hatten. Der Plastikeimer war gelb-orange mit großen roten Blüten und hatte einen weißen gewellten Henkel. Eigenartig, welche Details man sich merkt. Warum nur hatte sie mit der Oma keinen Kontakt mehr gehabt? Sie kniff die Augen und Lippen zusammen und hielt die Luft an. Sie kannte die Antwort, und sich diese einzugestehen, war nicht leicht. Bequemlichkeit. Faulheit. Die Ausrede vor sich selbst, die Oma würde ihr Leben ohnehin nicht verstehen. Und vor allem: keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit.

Es war nicht nur Scham, oder das schlechte Gewissen, sondern Traurigkeit, die sie ergriff. Denn nun war es für immer zu spät. Nie mehr konnte sie ihre Oma in die Arme nehmen und an sich drücken. Nun war es zu spät, um all das zu sagen, was ihr insgeheim auf der Seele brannte. Zu spät für das Bitten um Verständnis und Verzeihung, zu spät, um sie jeden Sonntag anzurufen und sie wenigstens ein oder zwei Mal im Jahr zu besuchen.



Ein Auto kam näher. Es beschleunigte zunächst stark, bremste dann jedoch direkt vor dem Garten ab; wahrscheinlich, um sich zu vergewissern, dass von links nicht gerade ein Traktor des Weges kam, dachte Bettina. Neugierig drehte sie sich zu dem Ort des Geschehens. Zu ihrer Überraschung wurde der Motor abgestellt, die Tür aufgerissen und eine tiefe, warme Männerstimme rief: „Hallo?“

Ihr Herz setzte drei Schläge aus. Fassungslos starrte sie den beinahe zwei Meter großen Mann mit den braunen Locken und dem mitreißenden Lächeln, das bis zu seinen Augen reichte, an.

Felix.

Sein Haar war kürzer, sein Gesicht markanter, seine Stimme tiefer.

„Jaaaa?“ Ihre Stimme kratzte. Ihre Arme kribbelten, ihr Magen hob sich und ihr wurde schwindelig.

Felix.

„Betty?“

Betty? Wie lange hatte sie niemand mehr Betty genannt? Wie weich und melodisch das klang!

„Ja?“ Er trug ein hellblaues T-Shirt zu einer dunkelblauen Shorts. Seine Brust und seine Schultern waren ebenso kräftig wie seine Arme und Beine, auf denen feine goldblonde Haare im Sonnenlicht schimmerten. War er immer schon so umwerfend schön gewesen? Endlich gelang es ihr, mehr zu sagen, und so fragte sie heiser: „Felix?“

Seine tiefblauen Augen weiteten sich. „Betty!“, rief er, warf die Hände in die Luft und sprang mit einem Satz über den Zaun.

Dann stand er vor ihr und für sie stand die Welt still.

„Mein Gott, bist du groß geworden!“, stieß sie unintelligenterweise hervor und ließ sich von seinem Blick festhalten.

„Groß? Du bist auch groß geworden“, antwortete er mit seinem hellen, offenen Lachen.

„Tssss“, machte sie nur verlegen, zu überwältigt, um nach Worten zu suchen.

„Betty, Mensch! Dass wir uns mal wiedersehen! Bist du wegen deiner Oma da? Mein Beileid, übrigens. So traurig, sie fehlt mir jeden Tag.“

Betty schluckte und hob hilflos die Schultern und Hände. Was konnte sie auch dazu sagen, dass ihr früherer Nachbar und Exfreund anscheinend wesentlich enger mit ihrer Großmutter verbunden war als sie selbst.

Außer „Ja …“ konnte sie nichts sagen. Zum Glück wechselte er rasch das Thema: „Und wie lange bleibst du?“ Schon immer war es ihr ein Rätsel gewesen, wie er auch in heiklen Situationen so heiter, freundlich und unbeschwert sein konnte. Bei vielen Menschen erkannte man dabei die Maske, doch bei ihm wusste sie, dass es echt war. Diese ehrliche Herzlichkeit und sein unerschütterlicher Glaube daran, dass alles gut war oder gut werden würde, machten sein Wesen aus.

Ihr Herz schlug laut und ihre Wangen glühten. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken oder zumindest im Teich zu den Fischen untergetaucht. Doch sie blieb bewegungs- und sprachlos stehen. Er war wie ein Magnet, nach wie vor … wie damals … Für einen kurzen Moment war ihr, als würde er seine Arme nach ihr ausstrecken, sie an sich ziehen, mit einer Hand ihren Rücken halten und mit der anderen über ihren Kopf streicheln. So wie früher …

„Betty?“

„Wie bitte? Ich, ach so, entschuldige. Der Jetlag! Ich bin wohl noch nicht ganz fit. Eine Woche.“

Er schien sich zu freuen, sie zu sehen! Aber wie konnte das sein? So, wie sie ihn behandelt hatte? Denn nach ihrer Rückkehr von dem Summer College in Fort Lauderdale hatte sie ihn einfach abserviert, eiskalt, Knall auf Fall. Todtraurig und tränenüberströmt war er zurückgeblieben, denn nach drei gemeinsamen Jahren und Plänen für den Rest des Lebens hatte sie ihn wegen einer heißen Urlaubsliebe verlassen.

Die Szenen, in denen er verzweifelt versuchte, sie zu halten, sich an sie zu halten, in ihrem Leben zu bleiben, die Szenen, wo er einfach nicht glauben wollte, dass all sein Hoffen, Lieben und Warten umsonst gewesen war, wo er immer wieder, ein ums andere Mal, fassungslos fragte: „Hast du denn meinen Brief nicht bekommen? Den vierten Brief?“, weil sie ihm ein ums andere Mal vorwarf, er würde sie nicht lieben und hätte sie nie geliebt, sonst wären sie nicht in ihrem Zimmer versauert. Sonst hätte er zu ihr gestanden und ihre Liebe seinem Vater gegenüber verteidigt. Wieder sah sie vor sich, wie er sie unter Tränen anflehte, mit dem dummen Spaß aufzuhören und ihn endlich in die Arme zu nehmen, damit wieder alles wie vor ihrer Reise würde.

Die Erkenntnis darüber, wie charakterlos, gefühlskalt, egoistisch und rücksichtslos sie gewesen war und sein konnte, ließ ihre Knie weich werden. Sie hob ihren Blick wieder und sah ihm in die Augen. Jetzt und hier fühlte sie seinen Schmerz von damals. Sie spürte am eigenen Leib, wie sie ihm das Herz herausgerissen hatte. Sie litt, und sie schämte sich abgrundtief.

Da er nichts sagte, fügte sie stotternd hinzu: „Ich – ja, also – ein paar Tage wird es wohl dauern.“ Sie stülpte ihre Unterlippe über ihre Schneidezähne und biss darauf.

„Wird was dauern?“, fragte er mit warmer Stimme.
„Bis ich hier alles über die Bühne gebracht habe“, entgegnete sie geschäftlich. Was vergangen war, war vergangen! Es war töricht, jetzt solche Gedanken und Gefühle zuzulassen. Sie sah doch selbst, dass er längst darüber hinweg war!

Sein Mund schloss sich; ernst und durchdringend sah er sie an. „Verstehe. Du willst es verkaufen“, sagte er dann kälter.

„Natürlich. Was sonst!“

Seine Augen verdunkelten sich, dann nickte er zwei Mal nachdenklich, atmete tief ein, straffte die Schultern, sagte „Du, Betty, ich muss leider dringend weiter. War schön, dich mal wieder zu sehen!“ und wandte sich zum Gehen.

„Ähm, ja. Dich auch!“, stotterte sie mit brüchiger Stimme.

Er hielt inne, sein Brustkorb hob und senkte sich ein oder zwei Mal und langsam richtete sich sein Blick wieder auf. Dann fragte er: „Aber sag mal, was machst du denn heute Abend?“

„Ich – äh, ich gehe zu Tante Toni zum Essen.“

Sein nachdenklicher Blick wich einem Schmunzeln, bei dem sich tiefe Grübchen in seinen ebenmäßig gebräunten und glatt rasierten Wangen bildeten: „Die Tante Toni! Sag ihr schöne Grüße von mir. Den Rhabarber bringe ich ihr spätestens morgen vor der Arbeit vorbei.“

„Oh – was? Ach, den Rhabarber, ja, klar. Mach ich.“

„Aber die Tante Toni geht ja früh schlafen. Wenn du fertig gegessen hast – magst du dann auf ein Glas Wein vorbeikommen?“

„Vorbeikommen? Zu dir?“ Beinahe verschlug es ihr zum zweiten Mal binnen weniger Minuten die Sprache.

„Ja, zu mir!“, lachte er und drehte wieder seine Handflächen zum Himmel.

„Zu dir?“, stieß sie ungläubig hervor, legte die Stirn in Falten, reckte den Hals nach vorn und kniff ihre grünen Augen zusammen.

„Mein Vater lebt nicht mehr, weißt du“, sagte er dann leise, als sei das Erklärung genug. Was es auch war.

„Oh, das tut mir leid. Und seit wann?“

„Seit fünf Jahren. Ungefähr. Hat lange genug gedauert.“

„Oh. Ähm“, stammelte sie. „Dann – ich weiß nicht. Es tut mir leid, oder mein Beileid. Oder nicht mein Beileid“, brach es aus ihr hervor und entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.

„Nein, nein, das stimmt schon. Du hast schon recht. Es war eine Erlösung für uns alle; und wohl auch für ihn.“

Sein Vater war weit über die Dorfgrenzen hinaus berüchtigt und gefürchtet gewesen. Seinetwegen war weder sie noch sonst ein Kind jemals bei den Kerns daheim gewesen. Seinetwegen hatten Felix und sie nur heimlich Kontakt und die drei gemeinsamen Jahre ausschließlich bei ihr zu Hause verbracht. Natürlich hatte sie darunter gelitten, denn wer wollte nicht zusammen mit seinem Liebsten feiern, baden oder ins Kino gehen? Wegen seines Vaters hatte Felix den Brief geschrieben, dessen Flammen den Wasserhahn versengt hatten.

„Und deine Mutter?“

„Auch nicht.“

„Oh, das – das tut mir leid.“

„Um meine Mutter, ja. Vor allem, weil sie ihr Leben endlich hätte genießen können, nachdem er nicht mehr am Leben war.“

Betreten schwieg sie und starrte auf den Boden. Doch auch dort sah sie nur seine ebenfalls braun gebrannten und gepflegten Füße, die in lässigen weißen Flip-Flops steckten.

„Also, wenn du echt meinst …“

„Ja, ich meine es echt“, sagte er sanft und zugleich mit Nachdruck.

„Also, dann – okay, dann melde ich mich, wenn wir fertig gegessen haben. Dann – gibst du mir deine Nummer? Oder hast du eine Karte dabei? Ich rufe dich an.“

„Was? Betty? Wie?“ Er legte den Kopf in den Nacken, blickte in den Himmel und lachte schallend los. Selbst als er sich wieder beruhigt hatte, zuckten seine Mund- und Augenwinkel noch immer.

„Wie, was denn?“, fragte sie verwirrt.

„Hey, wir sind hier doch nicht in der Großstadt! Mensch, Mädel, komm einfach vorbei!!“

Was? „Oh – okay.“ Warum fiel ihr denn gar nichts Vernünftiges ein? Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen! Oder lag es daran, dass sie so lange kaum noch Deutsch, geschweige denn Bayrisch gesprochen hatte? Oder an der Landluft, am Jetlag, an allem, nur nicht an ihm!

„Also dann, bis später!“ Er schien sich zu freuen, hob die Hand zum Gruß, drehte sich um, sprang über den Zaun zurück zu seinem Auto und brauste davon.

Völlig verwirrt ließ sie sich auf den Terrassenstuhl fallen.

Felix.







3 Erinnerungen



Aus Felix war ein richtiger Mann geworden. Er wirkte anders als früher; viel offener und freier. Was hatte er in all den Jahren gemacht? Warum war er hier? Und warum war er nicht in der Arbeit?

Gedankenverloren verspeiste Bettina den köstlichen rahmigen Joghurt und alle süßen frischen Früchte. Dass ihr Kaffee inzwischen kalt war, bemerkte sie ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie lange bewegungslos da saß und gedankenverloren auf das Weizenfeld starrte, das goldfarben in dem lauen Lüftlein wogte.



Ihre Eltern waren mit ihr als Dreijährige nach Blumenau in das große Haus der Oma, Gott hab sie selig, gezogen. Die Oma und der Opa zogen aus dem großen Haus in das Zuhaus, da sie im Alter nicht mehr so viel Platz brauchten. An die Zeit in München, also vor dem Umzug, konnte sie sich nicht erinnern; ihre Erinnerung begann erst hier, in Blumenau. Als „Zugereiste“ oder „Städtlerin“ hatte es ihre Mutter zunächst schwer auf dem Dorf. Doch mit der Zeit machte ihr mitreißendes Temperament alle Vorurteile wett und sie lebte sich gut in die Dorfgemeinschaft ein. Bettina gehörte von Anfang an dazu. Wie es damals auf dem Land üblich war, trafen sich die Gleichaltrigen nach der Schule, um – bei fast jedem Wetter – in den Wäldern, Auen oder am See zu spielen. Nur wenn es wie aus Eimern schüttete oder klirrend kalt war, trafen sie sich bei jemandem zu Hause. Im Laufe der Zeit kannte Bettina alle Häuser und Höfe beinahe so gut wie ihr eigenes Zuhause. Nur den Hof der Kerns, den hatte sie bis heute nie betreten. Niemand von den Kindern war jemals weiter als bis zum Zaun des Rosenweg 3 gekommen.

„Der Vater hat ein Gewehr!“, „Der verdrischt alle Kinder!“, „Der Felix hat schon wieder ganz blauen Flecken!“, „Der Stefan musste fünf Stunden, FÜNF STUNDEN!, Holzscheitl-Knien!“, „Die kriegen keine Geschenke, nie!“, „Die dürfen nicht mal bei minus 20 Grad die Heizung anmachen!“, so lauteten die Gerüchte, die Felix ihr gegenüber später teilweise bestätigte und teilweise nicht kommentierte. Damals dachte sie, dass es das, was er nicht erzählte oder kommentierte, nicht gab; erst später wurde ihr bewusst, dass er wohl das gleiche dachte und in dem Versuch, das Grausamste totzuschweigen, nicht darüber sprach.



Alle Kinder hatten damals Angst vor seinem großen, militanten Vater. Als er immer größer und stärker wurde, tat Felix ihr immer wieder beim Spielen weh; vielleicht unabsichtlich, wie sie später dachte. Doch damals lachte er immer, wenn er im Winter ihr Gesicht mit Schnee einrieb. Oder wenn er sie im Sommer zusammen mit einem Freund von ihrem Badehandtuch an Arm- und Fußgelenken hochhob, unter viel Kreischen, Strampeln und Treten zum Wasser trug und sie hineinwarf. Oder wenn er sie so lange tauchte, bis sie sicher war, jede Sekunde zu ersticken.

Dann kam der Herbst und er zu ihr in die Klasse. Er saß in der Reihe schräg hinter ihr und manchmal meinte sie, seinen Blick auf sich zu spüren. Oder eine unsichtbare Kraft, wenn sie in Latein ausgefragt wurde und den ACI nicht erkannte. Dann kam der Winter nach der Klassenfahrt, in der er keine Brotzeit dabei hatte und sie ihm ihre gab. Ihre Hände berührten sich bei der Semmelübergabe und sie fühlte etwas, das sie noch nie gefühlt hatte und das sie nicht mehr losließ. Es war wie ein elektrischer Schlag gewesen, der einem Gefühl wich, als wäre sie von einem Schwarm friedlicher Honigbienen umgeben, so sehr surrte und summte die Luft um sie.

Danach sprachen sie ein paar Tage oder Wochen kein Wort miteinander, bis einer von ihnen dem anderen den ersten von ungezählten Zetteln schrieb. Worüber schrieb man damals so? Jedenfalls ging es wochen- und monatelang so hin und her, ohne dass irgendetwas von bleibender Bedeutung passiert wäre.

Bis eines Tages ihre Eltern für ein Wochenende verreisten und sie sturmfreie Bude hatte. Lauthals prahlte sie mit ihren Kochkünsten und es kam, wie es kommen musste: Entweder lud sie ihn ein oder er lud sich selbst ein, jedenfalls tischte sie ihm an dem ersten gemeinsamen Freitagabend ein völlig ungenießbares karibisches Huhn in Rum auf. Das alles tat seiner Liebe zu ihr jedoch keinen Abbruch, denn irgendwann legten sie das Besteck beiseite, „Robin Hood“ mit Kevin Costner ein und schon bei der Titelmusik küssten sie sich so leidenschaftlich, dass sie von der Couch fielen und Bettina sich am Tischbein eine Beule an die Stirn schlug. Vor lauter Glück spürte sie den Schmerz nicht einmal.

Von da an kam er jeden Freitagabend heimlich zu ihr, denn da waren ihre Eltern bei ihrem Stammtisch. Aus Angst vor seinem Vater musste alles streng geheim sein. Während andere auf Partys wild flirteten und herumknutschten oder als Pärchen in der Eisdisko Hand in Hand zu „Bed of Roses“ übers Eis glitten, auf einer Hüttenfeier den Schlafsack teilten oder auf einer Fasslfeier nachts halbnackt baden gingen: Bettina war nur äußerlich dabei und entfernte sich von ihren Freunden, die ihr Arroganz vorwarfen, oder meinten, sie hebe sich für den Prinzen auf dem weißen Hengst auf. Sie war so glücklich mit und wegen ihm, aber gleichzeitig litt sie unter den Lügen, Geheimnissen und dem Gefühl, er stünde nicht zu ihr. Niemand konnte verstehen, wie sie, ein an und für sich lebensfrohes Mädchen, die ganze Zeit über allein sein konnte und warum sie freitags lieber zu Hause hockte, als auf einer Party Spaß zu haben. Noch dazu sah sie mit ihren naturblonden langen Haaren, ihren grünen Augen und der sportlichen Figur, wie sie heute selbst fand, richtig gut aus.

Mehrmals hatte sie mit Felix darüber gestritten, dass doch zumindest ihre Freunde und Klassenkameraden etwas von ihnen wissen dürften. Doch jedes Mal hatte er ihr diesen innigen Wunsch mit der Begründung, dass es von dort nur ein kurzer Weg zu seinem Vater wäre, abgeschlagen. Trotzdem war sie bis nach dem Abitur mit ihm zusammen. Ohne Email, Handy oder überhaupt Telefon, also ohne irgendeine Form der Kommunikation außerhalb der Schule. Denn anrufen konnte sie ihn selbstverständlich nicht. Und dann, als ihnen endlich alle Türen und Tore der Freiheit offen standen, hatte sie ihn auf schmählichste Art und Weise fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Nur wegen ein bisschen Spaß in Florida …

Den Mann mit den Grübchen und den strahlenden Augen, mit der warmen Stimme und den breiten Schultern, an die sie sich am liebsten sofort gekuschelt hätte, Felix mit dem herzlichen Lachen, den hatte sie wegen eines Urlaubsflirts so eiskalt abserviert? Der Schmerz stach wie ein spitzes Schwert in ihre Brust. Sie schämte sich entsetzlich und schüttelte sich, als könne sie so die üblen Gefühle loswerden. Denn sie war sich beinahe sicher, dass es nicht so weit gekommen wäre, wenn sie in den drei Jahren etwas mit Felix hätte unternehmen und erleben können. Mit David, dem Urlaubsflirt, konnte sie selige sechs Wochen lang alles gemeinsam machen, sogar in der Öffentlichkeit aus seinem Glas trinken, auf seinem Schoß sitzen und ihn küssen.

Am Tag ihrer Rückkehr aus Florida musste der Hund eingeschläfert werden und am nächsten Morgen wurde ihr Vater wegen Veruntreuung von Mandantengeldern im 7-stelligen DM-Bereich verhaftet. Und irgendwann dazwischen machte sie mit Felix Schluss, weil die unbeschwerte Zeit mit David als die Lösung für all ihre Probleme erschien. Sie flüchtete sich in einen Traum und aus dem Dorf und bekam gerade noch mit, dass eine vermeintliche Geliebte ihres Vaters auftauchte, für die er wohl einiges an Geld verprasst hatte. Ihr Vater wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt und nahm sich nach wenigen Tagen hinter Gittern das Leben.

Ihre Mutter hielt es in dem Dorf nicht mehr aus und zog nach Hamburg. Sie selbst stürzte sich in München in ihr Studium, absolvierte nebenbei zahlreiche Prestige-Praktika und schloss nach acht Semestern, was damals rekordverdächtig war, mit Bestnoten ab. Nach sechs Monaten in Leverkusen war sie auf dem Weg zu ihrem ersten Auslandseinsatz in Mexiko Stadt, später in São Paulo, schließlich in Shanghai. Keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit zum Fühlen, keine Zeit für das, was war und hätte sein können. Keine Zeit für ihre innig geliebte Oma, die sie zu sehr an alles erinnerte … Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit …

Himmel! Wohin waren ihre Gedanken nur mit ihr gerast? Wie lange saß sie schon hier?

Sie musste etwas tun! Aber was? Womit anfangen? Telefonieren! Hoffentlich funktionierte das Telefon noch, denn sie hatte ja nur eine chinesische SIM-Karte! Es funktionierte natürlich nicht, aber was sollte der Geiz, ihr Handy war ein Firmenhandy und private Gespräche waren erlaubt. Sie sagte Tante Toni für „so auf Sechs“ zu und überlegte, dass „auf Sechs“ kurz vor 18:00 Uhr bedeuten müsste. Wenn sie sich richtig erinnerte … Aber alles war so lange her.

Zunächst suchte sie die Nummer eines Maklers heraus, mit dem sie für Montag einen Termin vereinbarte. Auch ein Entrümpelungsdienst war schnell gefunden und für Dienstag bestellt, weil er am Montag keine Zeit hatte. Damit wäre alles erledigt, dachte sie und buchte ihren Rückflug für Mittwoch.

Das heißt, eigentlich hatte sie viel zu tun. Sie musste endlich das Familiengrab besuchen! Ihre Oma, ihr Opa und auch ihr Vater lagen dort begraben. Noch nie hatte sie dort eine einzige Kerze angezündet oder eine Blume niedergelegt. Zudem musste sie die anscheinend unveränderten Räume inspizieren, die Schränke ausmisten etc. Dabei würden gewiss nur noch mehr schmerzliche Erinnerungen aufleben, dachte sie und war versucht, einfach alles, so wie es war, den Entrümplern zu überlassen. Aber vielleicht lag ja noch etwas Wertvolles dabei? Etwas, das sie verkaufen oder als Erinnerung behalten wollte.

Sie musste all ihre Kraft aufbringen, um die ehemalige Wohnung der Oma zu betreten. Sie erschauerte, denn noch immer roch es wie damals: nach einer Mischung aus Bienenwachs, mit dem die Möbel eingelassen waren, und Lavendel. Auch was die Einrichtung betraf, hatte sich nicht viel geändert. Die geblümte Couch stand noch immer mitten im Wohnzimmer. Was sollte sie bloß mit all den Sachen machen?

Tatkräftig setzte sie sich vor die Kommode und zog eine Schublade nach der anderen auf. Alte Ansichtskarten, Briefe, Unterlagen. Briefmarken und Muscheln. Stifte, Feuerzeuge und Gummibänder. Das gelebte, liebenswürdige Durcheinander der Oma.

Ach, Oma, seufzte sie und begann hemmungslos zu schluchzen. Ach, Oma …

Sie glaubte die weiche, glatte Haut der gütigen Frau zu spüren, die sie in die Arme nahm und tröstete. Die immer für sie da war, wenn niemand sie verstand, und die immer zu ihr hielt, egal, was war. Ihre Oma, die ihr Geschichten vorlas, die ihr Heidelbeerpfannkuchen machte. Ihre Oma, die neben ihren Eltern die Einzige war, die von Felix und ihr wusste. Ihre Oma … und ihr Opa, der schon so lange tot war.

So viel Liebe, so viel unerwiderte, ungeschätzte, weggeworfene Liebe.

Ach, Oma, wenn ich dich doch wenigstens noch ein einziges Mal gesehen und umarmt hätte … Doch nun war es zu spät. Zu spät für so vieles …

Nach einer Weile wischte sie sich die Tränen aus den Augen und schob die Schubladen unverrichteter Dinge wieder zu. Mit Entsetzen stellte sie fest, dass es bereits kurz vor sechs Uhr war und sie sich beeilen musste.

Tante Toni … wie lange hatte sie nicht mehr an sie gedacht!







4 Heiße Liebe



Tante Toni war die herzensgute, lebensfrohe und für ihr Alter erstaunlich rüstige Schwester von Bettinas Vater. Seit ihr Mann, der Onkel Franz, vor über fünfundzwanzig Jahren von einem Bergausflug nicht mehr zurückgekehrt war, lebte sie, nach langer Trauer, als lustige, kinderlose Witwe im Dorf und war begeisterte Trachtlerin, die für ihre Koch- und Backkünste und legendären Hausfeste weithin bekannt und beliebt war.

Zur vereinbarten Zeit läutete Bettina neben der weiß-grünen Holztür, auf der ein bunter Kranz aus getrockneten Rosenherzen hing. Neben der Tür standen große Blumentöpfe mit Margeriten; auch die Fensterbänke waren ebenfalls üppig und bunt bepflanzt. Als sich die Tür Sekunden später schwungvoll von innen öffnete, blickte Bettina in das ewig strahlende und rundliche Gesicht von Tante Toni. Ihre braunen Augen funkelten vor Lebensfreude. Ihre Haut war, trotz ihrer rund sechzig Jahre, fast faltenfrei und ihre kurzen haselnussbraunen Haare kringelten sich genauso lustig, wie Bettina es in Erinnerung hatte.

„Ja, mei, die Betty!“, rief sie ergriffen und streckte sie dann nach dem verlorenen Kind aus. „Dass du nur da bist! Komm rein, komm rein! Mei, du bist ja so groß geworden! Und so fesch!“, fuhr sie überschwänglich fort und drückte ihre Nicht fest an sich.

„Hallo, Tante Toni! Danke für die Einladung!“, antwortete diese etwas hölzern, denn so offen gezeigte Gefühle waren ihr im Laufe der Jahre fremd geworden. Sie lächelte verlegen und blinzelte Tante Toni befangen an. Da näherte sich ein immer lauter werdendes Kläffen. Umgehend ging Bettina in die Knie, um die, inzwischen sicherlich betagte Rauhaardackel-Dame zu begrüßen. Während Bettina leise „Emma!“ rief, rief Tante Toni „Horst!“. Bettina hielt inne, denn ein karamellfarbener Pudel hüpfte mit fliegenden Ohren auf sie zu und begann ohne Umschweife, ihre Hände abzulecken. „Nein! Aus“, befahl Tante Toni in scharfem Hundebesitzerinnenton, doch Bettina brach in schallendes Gelächter aus und streichelte das vor Freude hin- und herflippende Tier.

„Horst? Du bist der Horst? Du siehst doch aus wie die Prinzessin auf der Erbse!“, kicherte sie und nahm das kleine, aufgeregt hechelnde Hündchen auf den Arm.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739381619
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
Liebesroman Bayern Chiemgau Regional Liebesgeschichte

Autor

  • Annabelle Benn (Autor:in)

Annabelle Benn ist das Pseudonym einer im Berchtesgadener Land lebenden Autorin, die ihre Heimat ebenso wie Reisen liebt.
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Titel: Himmelblau und rosarot