Lade Inhalt...

Coming home for love

Heimkehr für die Liebe (Ein Kleinstadt-Roman)

von Annabelle Benn (Autor:in)
236 Seiten

Zusammenfassung

Der spritzige Sommerroman von der Bild-Bestseller-Autorin Annabelle Benn <br><br> Die Powerfrau Cassie kehrt in das ländliche Minnesota zurück, nachdem ihr Traum vom großen Erfolg in New York geplatzt ist. So groß die Wiedersehensfreude anfangs auch ist, so stark schmerzen die Niederlage und die Umstellung vom aufregenden Stadt- auf das idyllische Landleben. Apropos Idylle: Davon kann Cassie nur träumen, denn schneller als befürchtet steht ihre alte Highschool Liebe Nick vor ihr. Er hat sich mittlerweile zu einem attraktiven Geschäftsmann entwickelt und bietet ihr den dringend benötigten Job bei seinem aktuellen Bauvorhaben - dem Umbau eines großartigen Anwesens in ein exklusives Hotel. Sofort knistert es wieder zwischen den beiden, was Nicks eifersüchtiger und intriganter Freundin natürlich nicht entgeht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. CASSIE

Normalerweise bin ich kein "Sehen Sie es als Zeichen des Himmels"-Typ, aber selbst ich musste zugeben, dass die tosenden Gewitterwolken und der prasselnde Regen, durch den ich nun schon seit sieben Stunden fuhr, etwas Ominöses an sich hatten und alles andere als ein gutes Zeichen sein konnte. Dabei war es egal, dass ich in den letzten sechs Monaten täglich über diesen Schritt nachgedacht hatte. Ebenso unbedeutend war es, dass mein Therapeut, meine beste Freundin und der Portier meines ehemaligen New Yorker Appartementhauses sich darin einig waren, dass diese Entscheidung gut und richtig für mich war. Das Wetter und mein hämmerndes Herz hingegen waren beide davon überzeugt, dass ich einen großen, großen Fehler machte und augenblicklich umdrehen sollte.

Ich tat nichts dergleichen, sondern holte tief Luft und drückte weiterhin aufs Gaspedal des Leihautos. Dabei versuchte ich, nicht allzu viel darüber nachzudenken, was ich tun würde, wenn ich das Ziel meiner langen Fahrt erst einmal erreicht hätte. Denn ausnahmsweise hatte ich keine Ahnung.

Ich bin nämlich ein "Pack den Stier bei den Hörnern"-Mädchen. Ich verschaffe mir Möglichkeiten. Ich sage den Leuten direkt, was ich will; dann gehe ich hin und hole es mir. Zugegeben, ein Teil dieser Fähigkeit, mein Leben spielerisch nach meinen Vorstellungen zu erschaffen, war auf das himmlische Geschenk meines ziemlich auffälligen Aussehens zurückzuführen. Ich war groß und schlank, hatte glattes schwarzes Haar, eine reine, strahlende Haut und eigentümlich hellgrüne Augen. Mir war bewusst, dass mein Aussehen meiner Intelligenz und meinen Absichten mehrmals den Weg geebnet hatte. Aber New York City war voll von schönen Mädchen, die es nicht geschafft hatten, und ich hatte es geschafft. Zumindest eine Zeitlang. Oder wenigstens hatte ich das gedacht, bis vor etwa einem Jahr meine "Drittel-Lebens-Identitätskrise" über mich hereingebrochen war wie ein Tsunami. Weil ich mit einem Mal alles sinnlos fand, weil ich mir sicher war, dass mich nie ein Mann so lieben würde, wie ich wirklich war, und weil mich das ewige Gerenne um den nächsten Auftrag, die nächste Karrierestufe, das beste Outfit völlig kaputt gemacht hatten. Das, und noch so einiges mehr, worüber ich nicht gern nachdachte. Deswegen ließ ich gerade einen hart erkämpften Job mit Trainings und Sprachunterricht für hochrangige internationale Führungskräfte sowie ein Leben voller Action und Aufregung hinter mir – nur, um „mich selbst zu finden". Zu diesem Zweck hatte ich beschlossen, an den Ort zurückzukehren, von dem ich geschworen hatte, dass ich nie mehr einen Fuß daraufsetzen würde.

Mein Zuhause.

Bald wäre ich wieder da.

Allein der Gedanke daran, ließ mich nach dem Medikament gegen die Angstzustände, das mein Therapeut mir verschrieben hatte, Ausschau halten. Beruhigt stellte ich fest, dass die Flasche aus meiner Tasche auf dem Beifahrersitz gekullert war. Normalerweise neigte ich nicht dazu, Medikamente außerhalb ihres vorgesehenen Zwecks einzunehmen (was angesichts meines Freundeskreises an ein Wunder grenzte), aber heute war eben alles anders. Dennoch musste ich dem Drang widerstehen, eine Pille zu schlucken, da ich fahrtüchtig bleiben musste.

Es war nicht so, dass meine Heimat schlecht gewesen wäre. Wenn ich mich recht erinnere, war es sogar ein ziemlich idyllisches Städtchen in den Bergen, versteckt in einem hübschen Tal neben einem wunderschönen See, der dem Ort seinen Namen verlieh: Crystal Lake.

Ich wuchs hier draußen auf, eroberte die Stadt mit meinem Fahrrad und verbrachte die meisten Sommer klatschnass - aus den unterschiedlichsten Gründen. Crystal Lake war klein genug, dass man hier jeden kannte, aber weit genug entfernt von größeren Hauptverkehrsstraßen (oder sogar einer Stadt mit einem Walmart), sodass wir keine Angst vor Eindringlingen hatten. Ich war glücklich. Ich wurde geliebt. Mir stand eine rosige Zukunft bevor.

Umso mehr überraschte es jeden, mich selbst eingeschlossen, als ich völlig unvermittelt und ebenso überzeugt verkündete, dass ich Crystal Lake verlassen und nie wieder zurückkommen würde. Dabei war ich mir selbst nicht sicher, weshalb ich so eisern an meiner Entscheidung festhielt. Doch was auch immer der Grund war, es schien unglaublich wichtig, dass ich meine Ankündigung durchzog und so packte ich meine trendigsten Outfits zusammen, hüpfte in einen Bus und hoffte, dass Tante Meredith mich bei sich wohnen lassen würde, was sie zum Glück tat. Doch das war mehr als zehn Jahre her, und obwohl meine Trotzhaltung schon längst verschwunden war und ich eine ganz passable Beziehung zu meinen Eltern hatte, hielt ich mein Wort und kam nie wieder zurück, nicht einmal zu Thanksgiving oder Weihnachten.

Bis jetzt.

Ich erreichte gerade die Stadtgrenze, als meine Benzinlampe aufleuchtete. Also nahm ich den längeren Weg zum Haus meiner Eltern – die Hauptgeschäftsstraße der Stadt hinunter, vorbei an den verblichenen, aber sauberen Fassaden der zwei Dutzend örtlichen Geschäfte, die immer noch jeden Tag stolz ihre Türen öffneten, obwohl Amazon Prime sie hart getroffen haben musste. Eines musste man den Kleinstadtbewohnern lassen: Sie waren gut darin, sich um ihre eigenen Leute zu kümmern. Das Kino am Platz kündigte aktuelle Filme an, der Lebensmittelladen hatte einen Drive-in installiert, als hätte es jeder in dieser Stadt plötzlich eilig, irgendwo hinzukommen. Ich fuhr vorsichtig um die Schlaglöcher herum, die sich schon immer an der Einfahrt von der Tankstelle gebildet hatten - einer Tankstelle, die so oft den Besitzer wechselte, dass man nie sicher sein konnte, ob es gerade eine Quick Trip oder doch eine Kwik Fill war – und fing an zu tanken.

Mit einem tiefen Seufzer fuhr ich mir durchs Haar und drehte mich langsam im Kreis, um mein ehemaliges und zukünftiges Zuhause zu betrachten. Von hier aus konnte ich gerade noch das alte Hampton-Haus auf dem großen Hügel außerhalb der Stadt erspähen. Als Kind hatte ich davon geträumt, eines Tages in diesem prächtigen, weiß getünchten Herrenhaus zu wohnen, meine Diener anzuweisen, die Gärten zu bewässern und auf einem Schimmel über die hintere Weide zu galoppieren - große Träume eines kleinen Mädchens, das noch nicht wusste, wie groß die Welt wirklich war, und auch noch nicht, was es wirklich wollte. Natürlich hätte sich der Hampton-Clan nie von dem Haus getrennt. Schließlich war es seit mehr als einem Jahrhundert im Besitz der Familie. Und selbst wenn sie es getan hätten, hätte ich nicht das Geld gehabt, es zu kaufen. Vor ein paar Jahren vielleicht, aber ... nun ja ... seitdem war viel passiert. Selbst von Weitem sah es jedoch so aus, als wäre mit dem Haus eine Menge passiert, und zwar nicht unbedingt viel Gutes. Die Frage, was es wohl kosten würde, es wieder auf Vordermann zu bringen, schoss mir durch den Kopf.

„Entschuldigung!“ Eine Stimme wie aus weiter Ferne rüttelte mich aus meinem Tagtraum. „Ihr Tank ist jetzt voll. Und Sie stehen hier schon seit ...“

Als mein Blick auf den Sprecher fiel, durchfuhr mich einige Sekunden lang das bizarre Gefühl, buchstäblich die Kontrolle über meine Stimme und meine Gliedmaßen zu verlieren. Die Stimme gehörte zu einem Mann – groß, leicht abgerissen, mit genau dem welligen braunen Haar, durch das ich meine Finger gleiten lassen wollte. Er trug eine schmutzige, zerfledderte Levi's und ein ausgewaschenes Flanellhemd, weswegen er ein bisschen wie ein Holzfäller aussah. Der Typ von Holzfäller, dem man nach einem langen Tag im Wald beim Duschen helfen möchte. Er war heiß. So, so heiß. Und ich wusste genau, wer er war. Verdammt!

Ich stand wie angenagelt da und starrte ihn stumm an. Als er näherkam, bemerkte ich, dass er mich wiedererkannte.

Ein Tsunami an Erinnerungen und Emotionen brach über mir zusammen, von denen es kleine Teile an die Oberfläche meines Bewusstseins schafften: das Licht der Abendsonne am See, das Echo unseres Lachens, eine panikartige Mischung aus Sehnsucht, Reue, Schmerz und Verzweiflung. Wie festgefroren starrte ich ihn an, bis er vor mir stehen blieb.

„Cass?“, fragte er, wobei ein schmales Lächeln seine Lippen kräuselte und seine blauen Augen zum Leuchten brachte, ein Eindruck, der wie eine Feuerwand über mich hinwegfegte. Der krasse Gegensatz zu meinem schockgefrosteten Zustand war interessant, wenngleich nicht besonders angenehm.

„Nick, hi“, brachte ich schließlich hervor, aber meine Stimme brach, und ich musste mich räuspern. „Schön, dich zu sehen. Ist schon ´ne Weile her. Oh, und ich nenne mich jetzt Cassie.“

„Cassie“, er sprach meinen neuen Namen langsam aus, als wäre er ein Schluck teurer Wein, den er genüsslich in seinem Mund umherrollte, damit er sich entscheiden konnte, ob er ihm zusagte oder nicht. Bei dem Gedanken lief mir ein kleiner heißer Schauder über den Rücken. Es war nicht fair, dass seine Stimme noch tiefer und sein Gesicht noch markanter geworden war. Seitdem … nun, seitdem wir uns zuletzt gesehen hatten.

„Na, Wahnsinn“, fuhr er fort. „Wie lange ist das jetzt her? Fünf, sechs Jahre?“

„Zehn“, antwortete ich und versuchte vergeblich, mir nichts anmerken zu lassen. „Ich war zehn Jahre fort.“

„Lang her“, meinte er, während er einen Blick auf meine Kleidung und mein Auto warf. In dem Moment wünschte ich, ich hätte am Morgen die nötige Weitsicht gehabt, mir die Haare zu waschen und etwas anzuziehen, das zumindest den Anschein von Kurven hätte erwecken können. Stattdessen stand ich da, in weiten Hosen, Stiefeln und einem zerlumpten Sweater, der eher für jemanden gemacht war, der doppelt so breit, dafür aber nur halb so groß wie ich war.

Eigentlich war das ein ausgefallener Look, wenn meine Haare nicht an mir geklebt hätten. So aber sah ich aus, als hätte sich ein ganzer Second-Hand-Laden über mir erbrochen. Ich hatte vorgehabt, mich direkt zu meinen Eltern zu schleichen, ohne jemandem über den Weg zu laufen, den ich kannte, schon gar nicht einem Mann mit einer Stimme wie geschmolzener Honig und einer Kieferpartie, die ihrer eigenen Doppelseite in der Cosmopolitan würdig wäre. Also – definitiv nicht Nick.

„Und, warum bist du jetzt wieder hier?“, fragte er, als die Stille sich zu lange zog. „Nur für einen kurzen Besuch?“

Ich räusperte mich, um mich nicht an meinen eigenen Worten zu verschlucken. „Nein. Ich habe eigentlich vor, eine Weile zu bleiben. Ich wohne vorrübergehend wieder bei meinen Eltern. Karrierewechsel.“

„Na, so ein Zufall“, sagte er ohne eine Spur von Sarkasmus. „Ich nämlich auch, bin erst vor ein paar Wochen wiedergekommen. Ich habe vor, hier wieder heimisch zu werden.“

Ich war mir sicher, dass ich mich verhört haben musste und schüttelte den Kopf. Er kam noch näher. Ich rang nach Atem, während ich gleichzeitig versuchte, mich wieder in den Griff zu bekommen. War ich in all den Jahren in New York jemals so angespannt gewesen?

„Schön für dich“, sagte ich unüberlegt, „wir sollten mal zusammen abhängen, über alte Zeiten reden, so was in der Richtung.“

„Yeah, warum nicht. Klingt gut. Gibst du mir deine Nummer?”

Er sah mich an, sein Telefon schon in der Hand, und wartete. Wie durch ein kleines Wunder schaffte ich es, ihm ohne zu stottern zu antworten. Ich hörte es in meiner Tasche vibrieren, vermutlich, weil er mir ein „LG Nick” geschickt hatte. Mit einem Mal hielt ich es nicht mehr aus und hatte es eilig, seinem Blick zu entkommen. Ich murmelte etwas von wegen „meine Eltern warten auf mich“, was gelogen war, und griff nach der Autotür.

„Keine Sorgen, lass dich nicht aufhalten”, antwortete er und entfernte sich rückwärtsgehend langsam von mir. Dabei lächelte er auf eine Art, die mein Herz höher und schneller schlagen ließ. „Ich ruf dich mal an. Grüß deine Eltern von mir.”

„Mach ich”, versprach ich und schlug die Autotür zu. Den ganzen Heimweg über fragte ich mich, ob er sich wie ich mit alten, unwillkommenen Erinnerungen herumschlug, oder ob sie ihm mittlerweile nichts mehr bedeuteten.

2. NICK

Ganze fünf Minuten lang saß ich in meinem Pick-up und hielt das Lenkrad fest umklammert. Was zur Hölle war das denn, Nick? Du stellst dich an, als hättest du noch nie ein hübsches Gesicht gesehen.

Die Selbstvorwürfe hörten nicht auf, ebenso wenig wie die Versuche, mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Yeah, aber sie hat doch mehr als nur ein hübsches Gesicht, oder etwa nicht?

Das Bild hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt: Wie sie so dastand, mit ihren hinreißend grünen Augen, die weit in die Ferne starrten. Mit dem Ausdruck einer Göttin trotz des „Rühr-mich-nicht-an“-Gehabes, das sie in den letzten zehn Jahren sicherlich perfektioniert hatte. Als sie sich schließlich bewegte, um sich die hüftlangen Haare hinter das Ohr zu streichen, sah ich genug von ihrem Bauch, um zu wissen, dass mir der Anblick unzählige schlaflose Nächte bescheren würde. Sie hatte sich zu einer Frau entwickelt, die sowohl in einem angesagten Yoga-Studio zu Hause war als auch zu einer Schaufel greifen und ordentlich mit anpacken konnte, wenn es sein musste.

Als sie mich erkannte, musste ich an den Waschbären denken, den ich letzte Woche in einer Falle gefunden hatte. Verängstigt, verletzlich, trotzdem bereit für einen harten Kampf. Obendrein war sie unglaublich niedlich, aber zugleich unglaublich scharfsinnig und intelligent. Zu meinem großen Entsetzen hatten zehn Jahre nicht genügt, um ihre Wirkung auf mich abzuschwächen. Eher im Gegenteil.

Ich stellte mir gerade äußerst lebhaft vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn all diese Kraft und Schönheit unter meinen Händen zu neuem Leben erwachen würde, als mein Handy vibrierte und eine Welle von Schuldgefühlen durch meinen Körper schickte.

Rachel.

Ich hätte sie Cass gegenüber erwähnen sollen – oder „Cassie“, wie sie jetzt genannt werden wollte. Warum hatte ich es nicht getan? Weil es komisch gewesen wäre? Unangebracht? Wie konnte ein Mann einer so attraktiven, aber möglicherweise gebrochenen Frau sagen, dass er kurz davor war zu heiraten? Und wie kam er auf die Idee, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen, als wäre es rein platonisch, so, als wolle er nur den Kontakt zu einem alten Freund auffrischen?

Meinst du mit „alter Freund“ das erste Mädchen, das du je geliebt hast? Das, das dir das Herz gebrochen hat und dann für immer verschwunden ist? Verstehst du das unter einem „alten Freund“?

Ich seufzte tief, fuhr mir mit den Händen durchs Haar und sagte meinem inneren Kritiker, dass er sich zum Teufel scheren solle. Dann tippte ich schnell eine Nachricht an Rachel, dass ich auf dem Nachhauseweg wäre und dass sie das Brathähnchen in den Ofen schieben könne. Ich legte den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Falls ich ein kleines bisschen energischer schalten und ein kleines bisschen mehr Gas geben sollte, als ich es normalerweise tat … nun, dann ging das niemanden etwas an.

3. CASSIE­­­­­­­­

Das Haus meiner Eltern stand am Ende einer mit Bäumen gesäumten Sackgasse, die an einen kleinen, bewaldeten Park grenzte. Früher gefiel mir dieses übertriebene Maß an Privatsphäre überhaupt nicht. Damals lechzte ich nach der Energie und dem Trubel einer großen Stadt mit vielen Menschen. Doch jetzt, da ich mit eingeklemmtem Schwanz zwischen den Beinen nach Hause schlich, hätte ich dafür nicht dankbarer sein können. Mit einem leichten Quietschen meiner Bremsen, von dem ich wusste, dass mein Vater es bald beheben würde, bog ich in die Einfahrt ein, stellte den Motor ab und lehnte meinen Kopf an das Lenkrad. Zum ersten Mal seit einem halben Jahr überkam mich das Gefühl, als könnte ich endlich meine so sorgfältig aufrechterhaltene Kontrolle fallenlassen und losweinen. Ich überlegte gerade noch, welche therapeutischen und praktischen Vor- und Nachteile es hätte, meinen Tränen freien Lauf zu lassen, als die Tür aufging und meine Mutter (immer ein Energiebündel) die Vordertreppe herunterrannte. Sogar aus dem Auto heraus konnte ich ihre Freudentränen sehen. Daher drängte ich meine eigenen wieder zurück, so, wie ich es seit Langem tat. Es war wirklich nicht nötig, dass wir vor dem Haus um die Wette schluchzten, auch wenn weit und breit niemand wohnte.

Kaum hatte ich die Autotür aufgedrückt, da umfing sie mich schon mit der stärksten Umarmung, zu der ihr zarter Körper fähig war. Mit ihren 156 cm und ihrer zierlichen Figur war sie fast zwanzig Zentimeter kleiner als ich, obwohl ihre braune Lockenpracht diese Lücke ein wenig schloss. Die Größe hatte ich von meinem Vater, das Gesicht von meiner Mama. Je älter ich wurde, desto schockierender war es, sie anzusehen, denn dann wusste ich, wie ich in zwanzig Jahren aussehen würde.

Sie ließ mich los, um mich genauer zu betrachten. Dabei strahlte sie, als hätte sie soeben zwei Logenplätze für eine auf Jahre ausverkaufte Broadway-Show gewonnen.

„Mein Kind ist wieder da!“, juchzte sie mit ihrem leichten irischen Singsang, der am Telefon viel weniger auffiel als in echt.

Ich lachte leise und war froh, sie nach so langer Zeit wiederzusehen. In all den Jahren hatte sie mich nie gedrängt, wenn ich ihre Einladungen, an den Feiertagen auf einen Besuch zu kommen, ein ums andere Mal ausgeschlagen hatte. Sie musste unglaublich enttäuscht und traurig gewesen sein, aber sie ließ sich nie etwas anmerken, gab nicht auf und fragte immer wieder. Ein tiefes Schuldgefühl stieg in mir auf, ein Gefühl, das ich nicht kannte und das daher umso unangenehmer war. Ich schob es weg.

„Hallo, Mama“, sagte ich lächelnd. „Ich wollte eigentlich anrufen, dass es ein bisschen später wird, aber …“

„Ach, schon gut, macht doch nichts. Hauptsache, du bist wieder heil da,“ sagte sie nur überglücklich, nahm meine Hand und zog uns beide mit einer Kraft, die jeden überrascht hätte, der sie nicht kannte, ins Haus.

„Du kommst gerade richtig. Der Braten ist schon im Ofen, er braucht nur noch ein bisschen, derweil kann sich dein Vater um deine Sachen kümmern.“ Sie drehte sich zur Seite und rief: „John! Cassie ist da! Würdest du bitte ihr Gepäck aus dem Auto holen?“ Dann wandte sie sich wieder mir zu. „Wir beide können inzwischen einen Tee trinken und ein wenig plaudern. Oder Kaffee – ich habe so spät keinen mehr da, aber ich kann gern welchen aufbrühen, wenn du den lieber hättest …“

„Mama …“

„Und du weißt, dass du entweder im Gästezimmer oder in deinem alten Zimmer schlafen kannst, ganz egal, wo immer du dich wohler fühlst …“

„Mama!“

Sie hörte auf zu plappern und sah mich leicht verletzt an. Meine Schuldgefühle kamen zurück, doch dieses Mal konnte ich sie nicht unterdrücken. Trotzdem versuchte ich es.

„Entschuldige bitte. Das ist echt lieb von dir, aber ich würde am liebsten erstmal duschen und mir was Frisches anziehen.“

„Oh, ja, natürlich, mein Schatz, daran habe ich gar nicht gedacht“, sagte sie lächelnd, strich mir noch einmal über die Arme, ließ mich dann aber los, als mein Vater, der größte entfernt-asiatisch aussehende Mann, den ich kannte, zu uns kam. Er sah uns an und brummte etwas wie „Ich umarm dich später“ und ging weiter.

„Geh schon mal rauf und mach dich frisch. Hast du alles, was du brauchst?“, fragte meine Mutter und tätschelte mir sanft den Arm.

Ich nickte und entschied mich dafür, lieber nichts zu sagen, weil meine Kehle ganz eng von hinuntergeschluckten Tränen war. Dann stieg ich die Treppe hinauf und ging zu meinem alten Zimmer unter dem Dach. Als Kind hatte ich es geliebt, als Teenager gehasst. Ich sank auf das Doppelbett, auf dem noch immer meine Stofftiere saßen, und brach in Tränen aus.

Ein paar Tränen und eine erfrischende Dusche später, fühlte ich mich stark genug, um meinen Eltern zu zeigen, dass ich dankbar und glücklich war, wieder bei ihnen zu sein. Ich föhnte mein Haar und schlüpfte in ein einfaches graues Kleid, dann tappte ich nach unten, wo meine Mutter gerade den Tisch deckte. Nun endlich umarmten wir uns alle richtig, auch mein Dad.

„Schön, dich mal wiederzusehen“, sagte er mit einem seltenen Lächeln. Nur wenige wussten, dass mein Vater einen tollen Sinn für Humor und einen messerscharfen Verstand hatte, weil er in der Kategorie „stark und still“ in erster Reihe stand. Da ich es als seine Tochter natürlich wusste und bewunderte, hatte ich immer versucht, ihm ähnlich zu werden. Nun fragte ich mich, ob ich ihn genauso stark wie meine Mutter enttäuscht hatte.

Wenn dem so sein sollte, so ließ auch er sich nichts davon anmerken. Mom stellte einen köstlich riechenden, dampfenden Braten auf den Tisch und strahlte mich glücklich an, bevor wir die Hände falteten. Mit gesenktem Haupt und gesenkter Stimme sprach sie das Tischgebet: „Vater im Himmel, wir danken dir für unser tägliches Brot, diesen wunderbaren Braten und dafür, dass du uns Cassie zurückgebracht hast. Wir bitten um deinen Segen für dieses Essen und einen schönen Abend. Amen.“

Ich verkniff mir ein Grinsen. Bisher hatte ich meine Mutter nie für so beiläufige Dinge wie einen „schönen Abend“ beten hören. Andererseits schienen sie und Gott eine derart enge Verbundenheit zu haben, dass solche Belanglosigkeiten erlaubt schienen. Meine eigenen Gebete waren in letzter Zeit etwas spärlich ausgefallen und gingen eher in die „Jesus, hilf“-Richtung. Und schon wieder kamen die Schuldgefühle hoch. Verdammter Mist.

„Na, du bist sicherlich überrascht, wie sehr sich Crystal Lake verändert hat“, sagte meine Mutter, nachdem sie sich Erbsen auf den Teller gelegt und mir die Schüssel weitergereicht hatte. Ich bemühte mich, keine Miene zu verziehen, als ich sah, in welcher Unmenge an Butter sie schwammen. Die gute alte Hausmannskost, wie man sie kannte und verdrängt hatte. Die Gerichte, die sie, zumindest vor zehn Jahren, in ihrem Restaurant Hearthsong serviert hatte, waren ausgefeilter und anspruchsvoller als das hier, aber mein Vater bestand wohl immer noch auf seine tägliche Portion „Cholesterin und Diabetes, warm serviert.“

„Oh, ich befürchte, dass ich ein bisschen zu schnell gefahren sein muss, um die Veränderungen zu bemerken.“ Sofort schämte ich mich, weil ich merkte, wie schneidend meine Worte klangen. Meine Eltern brauchten nicht zu wissen, dass mir die „kleinen Veränderungen“ in der Stadt, die mich zehn Jahre lang nicht die Bohne interessiert hatte, egal waren und dass ich meinem Leben in New York nachtrauerte. Rasch wechselte ich das Thema, um die Harmonie nicht zu gefährden.

„Übrigens habe ich schon jemanden getroffen, den ich kenne“, sagte ich frisch und munter, während mein Messer fast von allein durch den butterweichen Braten sank.

„Ach, wirklich? Wen denn?“, fragte Mom.

„Nick Peterson. Erinnert ihr euch an ihn? Wir hatten mal was miteinander, als ich noch auf der Highschool war.“

„Als ob wir das nicht mitbekommen hätten“, murmelte mein Vater, lächelte mich aber an, woraufhin ich etwas verlegen zurückgrinste. Natürlich wussten sie, wer Nick war, schließlich war er oft bei uns gewesen, hatte mit uns gegessen – nun ja.

„Wo hast du ihn denn getroffen?“, wollte Mom wissen.

„An der Tankstelle. Ich soll euch schön von ihm grüßen. Er wollte gleich meine Nummer haben und so, alles Mögliche …“ Mit einem breiten Grinsen strich ich mein langes Haar über die Schulter. „Sieht so aus, als hätte sich nicht viel geändert.“

Ich bemerkte zu spät, dass meine Eltern still geworden waren und mich mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrten, allerdings nicht aus Überraschung, sondern eher aus Besorgnis.

„Was? Was habt ihr denn? Ist jemand gestorben?“

„Oh, nein. Niemand ist gestorben, Schätzchen.“ Meine Mutter lachte und hüstelte nervös, dann sah sie meinen Vater von der Seite an. „Es ist nur so, dass … ähm, dass Nick, also … Er hat, nun, er ist …“

„Was?“, fragte ich ungeduldig, doch da klingelte mein Telefon. Als ich sah, wer es war, hüpfte ich hoch. „Wenn man vom Teufel spricht“, rief ich überrascht. Egal, was Mom und Dad vor mir verheimlichten, ich hoffte, dass es bis nach dem Telefonat warten konnte, und wischte über den Bildschirm, um den Anruf anzunehmen.

„Lange nichts mehr von dir gehört“, scherzte ich und hörte Nicks kehliges und unsagbar erotisches Lachen. Sogar am Telefon klang er wie ein warmes Zimtbrötchen mit Sahne. Was mich unweigerlich daran denken ließ, wie ich meine Zunge über seinen nackten Körper gleiten ließ. Doch das war ein viel zu heißer Gedanke, um ihn in unmittelbarer Nähe meiner Eltern zu denken.

„Hi Cassie, ja genau, sehr lang. Ich wollte dich nur zum Abendessen am Freitag einladen, wenn es dir recht ist.“

Ich konnte nicht anders, als von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Egal, was Nick sonst noch war, auf alle Fälle war er heiß – und heiß auf mich. So wie es aussah, hatte sich in diesem kleinen Städtchen noch weniger geändert, als ich angenommen hatte.

„Sehr, gern, das klingt gut. Mein Terminkalender ist nicht gerade voll, also habe ich immer Zeit.“

Wieder lachte er, wieder mit dem gleichen Effekt. „Gut, dann erwarten wir dich so gegen 18:30 Uhr. Ich schreib dir die Adresse.“

„Super, ich freue mich. Aber Nick: Wer ist wir?“

„Sorry. Wir“, nun lachte er verlegen, „sind Rachel, meine Verlobte, und ich.“

Die Worte trafen mich wie ein Felsbrocken, der aus großer Höhe haarscharf an mir vorbei zu Boden fiel. Ich klammerte mich ans Telefon, murmelte ein Tschüss und sank wie ein begossener Pudel auf den Stuhl zurück.

4. NICK

Natürlich hätte mir die Enttäuschung in Cassies Stimme, als ich ihr sagte, dass ich verlobt war, keinen Kick geben dürfen. Aber es gab mir einen Kick, und was für einen. Sie stand noch immer auf mich. Wie geil war das denn! Trotz der laut schrillenden Alarmglocken in meinem Kopf, lächelte ich kurz. Allerdings nicht kurz genug. Rachel sah es, als sie ins Esszimmer zurückkam, um den Tisch abzuräumen. Sie hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt und sofort Ja gesagt, als ich sie gefragt hatte, ob ich einen „alten Freund aus der Highschool“ einladen könne und ob sie kochen würde. Nun allerdings schien sie ihre Meinung dazu zu ändern.

„Sorry, wer ist dieser Typ noch mal genau?", fragte sie und stapelte dabei das Geschirr auf ihre vorsichtige, ruhige Art übereinander.

Ich trank den letzten Schluck Wein - einen Pinot Noir mit viel zu wenig Körper für meinen Geschmack - und drehte mich zu ihr.

„Ein Mädchen, kein Typ. Sie heißt Cassie und war eine Klasse unter mir."

Rachel sah lauernd zu mir auf, wie immer darauf aus, sofort den kleinsten Hauch von Unwahrheit zu durchschauen. „Warst du mit ihr zusammen?"

Ich hielt ihrem Blick stand und schaffte es, kurz überrascht aufzulachen, als wäre dies eine völlig abwegige Vorstellung. „Cassie? Nein, sicher nicht. Sie ist nicht gerade das, was man beziehungsfähig nennen könnte."

„Was soll das heißen?“

„Dass sie zu den Mädchen gehört, die weglaufen, wenn ihnen jemand zu nahe kommt. Und du weißt, dass ich jemanden brauche, auf den ich mich verlassen kann."

Prompt huschte ein kleines Lächeln über Rachels Lippen. Sie neigte den Kopf, wobei ihr eine Strähne von ihrem langen blonden Haar ins Gesicht fiel. Es verwirrte mich, dass dies nicht denselben erotisierenden Effekt auf mich hatte, wie es normalerweise der Fall war. Früher hatte sich diese Erregung mit Zuneigung vermischt. Doch dieses Gefühl war schon lange verschwunden, wohl, weil zu viel passiert war. Ich fragte mich oft, ob ihre Eifersucht, ihre Nörgelei, ihre Unzufriedenheit wirklich nur an mir lagen. Ob ich mich so sehr auf die Arbeit konzentriert hatte, dass ich darüber die Verbindung zu Rachel verloren hatte. Aber da waren noch mehr Dinge, die mich an ihr störten, wie, dass sie keine Freunde hatte, was niemanden wundern dürfte, der wusste, wie schlecht sie über die meisten Frauen sprach, sobald sie ihr den Rücken zuwandten. Mich ausgenommen.

Abgesehen davon war sie ein echt heißer Fang. Sie war zierlich, hatte himmelblaue Augen, war mir gegenüber loyal, großzügig, humorvoll und konnte zudem aus dem schlimmsten Mischmasch von Zutaten ein wahres Schlemmermahl zaubern. Zudem war sie auch einer der diszipliniertesten und engagiertesten Menschen, die ich kannte, und hatte am College Vollzeit gearbeitet. Neben zwanzig Stunden Unterricht pro Woche leitete sie eine kleine Wohltätigkeitsorganisation, die sie von Grund auf aufgebaut hatte und mit der sie auch heute noch zusammenarbeitete. Sie konnte gut mit Kindern und Tieren umgehen und meine Mutter liebte sie wie eine ihrer eigenen Töchter. Ihre und meine Mutter waren vielleicht die einzigen Frauen, an denen sie ein gutes Haar ließ.

Was konnte ein Mann sich mehr wünschen?

Das überlegte ich mir, als mir schlagartig bewusst wurde, dass ich mich anhören musste, als wollte ich mir einreden, was für eine tolle Frau meine eigene Verlobte war. Was für ein Trottel ich doch war. Cassie war eine andere Kategorie Frau. Keine, die man heiratete. Entschlossen schob ich die Gedanken an Rachel und die an Cassie aus meinem Gehirn beiseite, stand auf und nahm Rachel fest in die Arme. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Liebling", flüsterte ich in ihr Haar und betete zu Gott, dass ich Recht behalten sollte.

5. CASSIE

Meine Mutter hatte ein kleines, schnuckeliges Café-Restaurant im Stadtzentrum von Crystal Lake. Dort traf Gemütlichkeit auf traditionelle irische Küche. Es gab viele verschiedene Eintopfgerichte, im Winter den beliebten Shepherd‘s Pie (einen mit Kartoffelbrei überbackenen Hackfleischauflauf), eine Unmenge an Speisen mit gebratenem Kohl und Kartoffeln, Sandwiches mit Wurst usw. Doch der wahre Grund, weshalb sie sich seit mehr als dreißig Jahren über Wasser halten konnte, war ihr Brot. Ich hatte tatsächlich vergessen, wie unglaublich gut meine Mutter Brot backen konnte. Zu jedem Gericht im Café gab es eine riesige Portion knuspriges Sauerteigbrot, ein Honig-Haferflockenbrötchen oder eine luftige Brioche. Sie stand frühmorgens auf, backte mit Leib und Seele und öffnete immer schon eine Stunde vor der Mittagszeit, selbst im kältesten Winter. Die Leute konnten das Brot schon meilenweit riechen und einfach nicht widerstehen.

Bevor ich als Teenager auch nur ansatzweise auf die Idee gekommen wäre, dass es uncool sein könnte, für die eigene Mutter zu arbeiten, konnte ich mir schon Designerschuhe und (ohne Erlaubnis meiner Eltern) sogar ein Wochenende in Minneapolis leisten, und das allein von dem Trinkgeld, das ich verdiente, indem ich Bestellungen aufnahm und Geschirr abräumte. Seitdem ich denken kann, hing im Schaufenster ein Schild „Aushilfe gesucht“, und so nahm ich an, dass dort nach wie vor ein, wenn auch etwas demütigender, Job auf mich warten würde. Doch allein ein Blick in das Gesicht meiner Mutter sagte mir, dass ich falschlag.

„Oh, Schätzchen“, seufzte sie, während sie eine Strähne ihres langen Haares um den Finger wickelte und mit der anderen Hand auf ihren Schichtplan zeigte. „Ich habe genügend Aushilfen. Das Denny‘s hat letztes Jahr zugemacht und, weißt du, die meisten Kellnerinnen sind von dort gleich zu mir gekommen und haben nach einem Job gefragt. Im besten Fall könnte ich dich als Ersatzkellnerin beschäftigen und dir nach und nach die Schichten zuteilen, an denen die Mädels freihaben wollen. Oder … naja …“ Sie wurde still.

Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. „Oder was, Mom?“

„Oder könntest du das Geschirr abwaschen?“ Sie fragte es mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck, der mir verriet, dass sie davon ausging, dass ich einen Job ablehnen würde, bei dem ich meine Abende damit verbringen würde, Essen von Tellern abzukratzen und Töpfe zu schrubben, in denen das Öl so sehr eingebraten war, dass sie niemals wieder richtig sauber werden würden.

Doch ausnahmsweise verkniff ich mir meinen Sarkasmus, unterdrückte meinen Stolz und nickte. Ich zwang mich sogar zu einem Lächeln. „Wann soll ich anfangen?“

Meine Mutter strahlte mich ungläubig an, und ich konnte genauso wenig glauben, worauf ich mich da gerade eingelassen hatte. Ich würde zwar nicht viel verdienen und auch keine große Verantwortung tragen, aber ich war entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen.

Wie sich herausstellte, wurde ich bis Mittwoch, zwei Tage später, nicht gebraucht, nicht einmal als Spülhilfe. Und so tat ich, was jede neurotische, ehrgeizige Amerikanerin mit einer leeren To-do-Liste tun würde – ich ging joggen.

Am westlichen Stadtrand gab es einen langen Wanderweg, der durch den Wald bis hin zu einem selten genutzten Picknickplatz am Hang des Berges führte, von dem man eine tolle Aussicht auf den See und die Stadt hatte. Meistens wurde dieser Weg von Jugendlichen der örtlichen Highschool genutzt, die dort mit ihren Fahrrädern herumkreuzten. Schon immer fühlte ich mich zu diesem Wanderweg hingezogen, trotz der Abgeschiedenheit und dem gedämpften Licht so tief im Wald drin. Meine Mutter hatte mir immer verboten, dorthin zu gehen (sie hatte Angst vor Bären, die ich jedoch höchstens mal aus weiter Ferne gesehen hatte), aber genau deshalb war ich, so oft ich nur konnte, dort gewesen.

Ich parkte mein Auto auf dem Schotterweg und verbrachte ein paar Minuten damit, mich zu dehnen, während ich mich schon darauf freute, mich so sehr auszupowern, dass ich endlich aufhören würde, mir über alles den Kopf zu zerbrechen. Ich setzte die Kopfhörer auf und lief los.

Einige Meilen weit tat ich nichts anderes, als mich auf meine Atmung zu konzentrieren und meine Füße auf den Steinen zu spüren, die auf dem schmalen Feldweg lagen. Ich war schon oft genug auf solchen Wegen gelaufen, um zu wissen, dass eine kurze Unaufmerksamkeit leicht zu einem üblen Sturz mit Schürfwunden oder gar einem verstauchten Knöchel führen konnte. Der Wald war unglaublich grün. Vor einem Monat oder so war alles gewiss noch von meterhohem Schnee bedeckt gewesen und selbst mit Schneeschuhen hätte ich Probleme gehabt, hier durchzukommen, doch heute waren die Bedingungen perfekt. Ich überquerte etliche Bäche über Bohlenbrücken, kämpfte mich über steile Abhänge nach unten und lief an einer seltsam aussehenden Hütte vorbei, die jemand aus Holzblöcken gebaut hatte. Ich musste grinsen, als ich mir vorstellte, dass es wahrscheinlich ein Versteck für ein paar Gras rauchende Teenager war.

Nach drei Meilen überlegte ich, ob ich umkehren sollte, als ich eine Waldlichtung erreichte und vor einer riesigen Wiese stand. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie jemals zuvor gesehen zu haben. In weiter Ferne erkannte ich einen Pferdestall, Zuhäuser und die Umrisse eines riesigen weißen Gebäudes. Ich brauchte eine Sekunde, bis ich begriff, dass es die Villa der Familie Hampton war, denn der Weg hatte mich um das Grundstück herumgeführt, sodass ich nun direkt dahinter stand. Ich spürte einen vertrauten, sehnsuchtsvollen Schmerz in meiner Brust, als ich dieses gewaltige Anwesen sah, als hätte ich den Traum nie aufgegeben, eines Tages selbst darin zu wohnen. Doch noch nie war mir aufgefallen, wie prachtvoll und friedlich es hinter dem Anwesen war. Von hier aus sah man nichts von der Stadt, es gab nur das grüne Gras und den grünen Wald, den strahlend blauen Himmel, die grauen Berge und den kleinen, silbern schimmernden See. Ich musste mich hinsetzen, um all die Schönheit in mich aufzunehmen.

Plötzlich riss mich ein lautes Knacken aus meinen Träumen. Links neben mir bewegte sich etwas. Ich war nicht allein. Da war ein Mann. Ein großer, unglaublich muskulöser Mann mit nacktem Oberkörper, der hier Holz hackte, keine fünfzig Meter von mir entfernt.

Es war Nick.

Wieder machte mein Herz einen riesigen Sprung, genauso wie gestern an der Tankstelle, als er an mir vorbeigegangen war. Sein freier Oberkörper strahlte im Licht.

„Scheiße!“, murmelte ich vor mich hin, mein Herz schlug mir bis zum Hals, und das nicht wegen meines Lauftempos. Er war einfach wunderschön. Bei jedem Schlag mit der großen Axt demonstrierte er die Kraft seiner Arme, Brust und Beine. Als ich sein Gesicht sah, bemerkte ich, wie konzentriert er war, die Augenbrauen fest zusammengepresst und völlig vertieft in seine Arbeit.

Ich hätte einfach abhauen können, ohne dass er es bemerkt hätte. Ich hätte zurück in den Wald laufen und weiterjoggen können. Doch sein halbnackter Körper zog mich magisch an und ich verspürte den verzweifelten Drang, ihn aus der Nähe zu betrachten. Außerdem war ich unfassbar neugierig darauf, was er hier auf dem Privatgrund der Hamptons tat, wo er den gefällten Baum zerhackte, als wäre er das Wichtigste auf der Welt. Also ging ich zu ihm.

Er schien meine Anwesenheit schon zu spüren, als ich noch mehrere Meter von ihm weg war. Er hörte auf zu hacken, wandte sie um und sah mich mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte, an. War er überrascht? Freute er sich? Oder war es irgendetwas anderes? Ich konnte es nicht sagen. Nach ein paar Sekunden bückte er sich, hob ein zerknülltes T-Shirt vom Boden auf, wischte sich das Gesicht damit ab und zog es an.

„Ist es nicht ein bisschen kalt, um mit deiner Strandfigur anzugeben?“, foppte ich ihn, weil ich hoffte, dass ihm dann nicht auffallen würde, wie unfassbar traurig ich war, dass er sich wieder anzog.

„Ist es nicht ein bisschen früh, um Leute zu stalken?“ Er grinste und schlug noch einmal mit der Axt in den Baumstamm.

„Dafür ist es nie zu früh“, entgegnete ich todernst und schüttelte den Kopf. „Wenn schon gestalkt werden muss, warum also warten? Außerdem fängt der frühe Vogel den Wurm.“

„Na ja, die meisten Leute hier sind noch im Bett, so um“, Er zog sein Handy aus der Hosentasche und warf einen prüfenden Blick darauf, „um 6:15 Uhr frühmorgens.“

„Die meisten, ja? Und was machst du dann hier?“

„Ich konnte noch nie schlafen, wenn es draußen hell ist“, antwortete er. „Ich wollte früh mit dem Baum hier beginnen. Mir war klar, dass es ein hartes Stück Arbeit werden würde, das Ding liegt schon zu lange rum.“ Er seufzte und wischte sich noch mal über das Gesicht, dieses Mal mit dem unteren Ende des T-Shirts, das er bedauerlicherweise immer noch anhatte. Ich versuchte, meinen Blick von seinen Bauchmuskeln abzuwenden, die nur darauf zu warten schienen, berührt zu werden. Meine Finger zuckten schon erwartungsvoll.

Zwanghaft versuchte ich, meine Gedanken wieder auf unser Gespräch zu lenken, und zeigte auf die Holzblöcke, die er schon gefertigt hatte.

„Was machst du eigentlich hier, wenn wir schon dabei sind?“

Er grinste mich an. „Man nennt es „Holzhacken“. Man tut es, um zum Beispiel Feuerholz zu schaffen. Wenn dich das schon überrascht, na, dann wirst du erst Augen machen, wenn ich dir zeige, wo die Milch herkommt!“

„Ah, danke, großer Meister!“ Ich lachte und war völlig durcheinander. „Nein, ich meinte, was machst du hier, in der Casa Hampton?“

Er schüttelte den Kopf und sah mich mit einem undeutbaren Blick an. „Das ist nicht mehr die Casa Hampton“, sagte er und schwang erneut die Axt. “Das ist jetzt die Casa Peterson.”

Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Ich konnte ihm nicht folgen und fühlte mich, als würden meine Neuronen in kaltem Ahornsirup schwimmen.

„Entschuldige bitte: Was hast du gesagt?“

Er schwang erneut die Axt und schnitt blitzsauber durch den Stamm des gefällten Baumes. „Du hast doch angefangen, spanisch zu sprechen. Dann gib mir nicht die Schuld, wenn du mich nicht verstehst.“

„Du hast es gekauft?“ Mit Augen so groß wie Unterteller piepste ich vor mich hin und fuchtelte wild mit den Armen umher. „Wie? Wann?“

Nick sah mich an, als er für den nächsten Schlag ausholte. „Ja, hab ich. Mit so ziemlich jedem Penny, den ich in den letzten zehn Jahren gespart hatte und noch ein bisschen anderem Geld. Warum schaust du mich an, als hätte ich gerade deinen Welpen getötet?“

Ich hielt den Mund. Was sollte ich sagen? „Ich bin schockiert und wütend, dass du es geschafft hast, das Traumhaus meiner Kindheit zu kaufen.“ Dabei hatte ich niemals ernsthafte erwachsene Bestrebungen gehegt, es selbst zu kaufen. Es war nicht mehr als ein Kindheitstraum gewesen, den Nick nun an meiner statt verwirklicht hatte. Ich fühlte mich von der Familie Hampton und von der Villa selbst verraten, dafür, dass sie nicht gemerkt hatten, dass das Haus und ich zusammengehörten, und dass sie es mir nicht einfach geschenkt hatten. Okay, ich musste selbst zugeben, dass das total kindisch und verrückt klang. Laut sagte ich: „Also, ich …ich wusste gar nicht, dass es zum Verkauf stand.“ Ich war so baff, dass ich mich auf den Holzstamm setzen musste, während ich das wunderschöne, aber doch etwas in die Jahre gekommene Anwesen betrachtete, das jetzt Nick gehörte. „Und was willst du damit machen?“

Er musste spüren, dass etwas nicht stimmte, denn er setzte sich zu mir. Er blieb weit genug entfernt, damit wir uns nicht berührten, saß aber doch nah genug, dass ich die Hitze und den Geruch wahrnehmen konnte, den sein verschwitzter Körper verströmte.

„Das weiß ich noch nicht so genau“, sagte er und schaute mich an. „Vielleicht ein historisches Hotel oder ein Bed and Breakfast. Vielleicht mit Reitstall, einem Ponyhof oder einer Pferdepension, obwohl ich nicht mehr geritten bin, seitdem ich zwölf war. Rachel hat da ein paar andere Ideen. Sie rückt nur nicht gerne mit ihren Plänen heraus, solange sie nicht alles komplett durchdacht hat.“

Als Nick seine Verlobte erwähnte, gefror ich zu Eis. Ich hatte die Leichtigkeit genossen, die mit der Erwähnung ihres Namens jedoch jäh erlosch. Auch hatte ich mich kurz dem trügerischen Gefühl hingegeben, dass wir einander nun viel besser kannten als in dem halben Jahr auf der Highschool. Doch der Moment, als er ihren Namen erwähnte, versetzte mir einen Stich.

„Ach ja, die reizende, häusliche Rachel“, seufzte ich. „Weißt du, bevor du ihre Existenz gestern Abend erwähnt hast, dachte ich ernsthaft, du wärst an mir interessiert.“

Anstatt selbstbewusst zu lachen und wegzuschauen, so wie ich es von ihm erwartet hätte, sah er mich an. Seine blauen Augen strahlten gefährlich begehrenswert. „Wenn das so gewesen wäre, hätte es dir dann gefallen?“

Ein breites Grinsen zog langsam über mein Gesicht. „Die Antwort auf so eine Frage musst du dir erst noch verdienen“, sagte ich und mein Herz raste wie wild, als sich unsere Blicke trafen.

„Ach, wirklich?“ Er lachte leise und lehnte sich so nah zu mir rüber, dass mein Atem stockte. „Ja, gut … Nun, dann schauen wir mal“.

Der schrille Klingelton seines Handys erschütterte das knisternde Energiefeld, in das wir uns eingehüllt hatten, und wir entfernten uns so schlagartig voneinander wie zwei gleich gepolte Magneten. Nick holte auf eine dramatische Art, die ich nicht deuten konnte, Luft. War er erleichtert oder enttäuscht? Gab er sich genauso verzweifelt Mühe, mich nicht zu küssen, wie ich?

„Ich muss da rangehen“, sagte er in einem entschuldigenden Ton. „Ich versuche schon seit einer halben Ewigkeit, diesen Bauunternehmer zu erreichen. Er ist der beste im Umkreis von tausend Meilen.“

Ich nickte, stand auf und wünschte mir plötzlich, dass der Weg zu meinem Auto nicht so weit wäre. Dennoch grinste ich, als könnte ich es kaum erwarten, wieder weiterzujoggen.

„Macht nichts, kein Problem. Wir sehen uns, bis bald.“

„Am Freitag“, erinnerte er mich mit einem blitzenden Blick und ließ sein Handy weiterhin klingeln, um mir zuzusehen, wie ich rückwärts davonging.

Mein Lächeln wurde breiter. „Freitag“, bestätigte ich mit einem Nicken, dann drehte ich mich um und rannte los.

6. NICK

Ich kam nach dem Mittagessen beim Holzlager von Crystal Lake an. Die ganze Zeit über musste ich daran denken, dass ich gleich den Mann treffen würde, dessen Tochter mir so erbarmungslos im Kopf herumspukte. Allein der Gedanke an sie – an ihr zusammengebundenes Haar, ihre strahlenden Augen, die roten Wangen und ihre Sporthose, die so viel mehr von ihrer Figur zeigte als die Jeans gestern – reichte aus, um mich völlig von meinen Aufgaben abzulenken. Ich fing mit einer Sache an, ließ sie unvollendet liegen und sprang zur nächsten über, wie ein kleiner Welpe mit einer Kiste voller Spielsachen. Die Art, wie sie mich damit geneckt hatte, dass ich Interesse an ihr hätte! Allein die Tatsache, dass ich so nah neben ihr gesessen hatte, dass ich sie hätte berühren können, und dass ich nicht eine Sekunde meinen Blick von ihr hatte lassen können … Es war unnötig, extra zu erwähnen, dass ich eine eiskalte Dusche brauchte, seitdem ich aufgehört hatte, das Holz draußen vor der „Casa Peterson“ – wie ich das Anwesen nun selbst nannte - zu hacken.

Kopfschüttelnd stieg ich aus dem Truck. Es war nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich, jetzt darüber nachzudenken. Warren Zelenka gehörte nämlich zu jener seltenen Sorte Männer, die einen mit einem einzigen Blick durchschaute. Er wusste immer ein bisschen mehr von einem, als was man ihm erzählte. Das genügte, damit ich mir hoch und heilig schwor, in seiner Gegenwart keinen noch so unschuldigen Gedanken an seine Tochter zu verschwenden, geschweige denn daran, wie sie wohl ohne ihr Sportoutfit aussehen mochte.

Die Tür des Bürogebäudes ging auf, Warren kam heraus und ging mit großen Schritten auf mich zu. Er war größer als ich – vielleicht 1,93 oder sogar noch mehr. Ein Bär von einem Mann. Er hätte professioneller Footballspieler werden können, oder ein Marinesoldate. Ich hatte ihn nie gefragt, ob er das ein oder andere jemals in Erwägung gezogen hatte. Er wirkte immer langsam und berechnend, obwohl ich seit jeher ahnte, dass dieser Eindruck täuschte und dass er erstaunlich schnell zuschlagen konnte, wenn er oder jemand, den er liebte, bedroht werden sollte. Sein Händedruck bei der Begrüßung war fest und stark, so wie der Rest von ihm.

„Peterson“, begrüßte er mich und sah mich dabei aus seinen leicht mandelförmigen Augen ernst, aber dennoch freundlich an. „Was kann ich für Sie tun?“

„Mr. Zelenka, ich habe gerade ein großes Renovierungsprojekt am Start und wollte Sie fragen, ob Sie an einer Zusammenarbeit interessiert wären.“

„Es geht um das Haus der Familie Hampton. Sie wollen es in ein Bed and Breakfast umbauen“, sagte er. Das war keine Frage.

„Ich, na ja, ja. Vielleicht, mal sehen. Hat Cassie Ihnen das erzählt?“

„Wir haben nicht darüber geredet“, sagte er nüchtern und gab mir dasselbe Gefühl von Unsicherheit, das ich immer hatte, wenn ich in seiner Nähe war. Wie in aller Welt konnte er es dann wissen?

Ich räusperte mich. „Nun ja, ich hatte gehofft, dass wir uns über den Materialbedarf für die nächsten vier bis sechs Monate unterhalten könnten. Mein Bauunternehmer war heute da und hat mir ein paar grob geschätzte Zahlen gegeben. Haben Sie gerade etwas Zeit?“

Der bärige Mann zeigte auf sein Büro. „Ich freue mich, wenn ich dir helfen kann und wir ins Geschäft kommen.“

Eine gute Stunde später hatten wir uns auf eine vorläufige Partnerschaft geeinigt. Wir gingen aus dem Büro und Warren Zelenka begleitete mich zu meinem Truck. Noch einmal schüttelte er mir die Hand und sagte, er würde sich freuen, schon bald wieder von mir zu hören.

„Oh, und Nick, noch etwas“, sagte er, als ich den Türgriff des Trucks schon anfasste.

„Was denn?“ Ich erschrak und überlegte fieberhaft, was er wohl sagen wollte.

Sein Blick schweifte in die Ferne, was mich noch unsicherer machte, da sagte er beiläufig: „Meine Tochter ist gerade erst zurückgekommen, wie du ja weißt. Ihre Mutter ist überglücklich, dass sie jetzt wieder hier bei uns ist. Mir geht es genauso. Was sie gut gebrauchen könnte, ist ein guter Freund. Aber keinen neuen Anlass, um wieder abzuhauen. Verstehst du, was ich meine?“

Ich schluckte und verkniff mir eine Antwort, weil ich wusste, dass ich damit alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Also nickte ich gehorsam. „Ja, Sir“, sagte ich mit belegter Stimme. „Das tue ich.“

7. CASSIE

Das Restaurant-Café meiner Mutter war sonntags und montags geschlossen, weshalb sie zu Hause war, als ich von meinem Joggingausflug zurückkam. Mir fiel auf, wie gut sie aussah. Sie trug ihr schulterlanges Haar offen, war barfuß und ihre straffe Körperhaltung ließ sie zwanzig Jahre jünger aussehen, als sie in Wirklichkeit war. Sie saß am Küchentisch, der voller Stapel mit Bestandsverzeichnissen und Bestellungen war, und hielt eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand. Ich schlich mich von hinten an sie heran und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie musste mich bemerkt haben, denn sie erschrak nicht, sondern sah mich glücklich lächelnd an.

„Guten Morgen! Na, du musst ja schon seit Sonnenaufgang auf den Beinen sein, sag, wie war dein Work-out?“

„Besser als erwartet“, antwortete ich und konnte einfach nicht aufhören zu grinsen, egal, wie sehr ich es versuchte.

„Okay? Wie kommt es? Hattest du eine tolle Aussicht?“

„Oh ja, eine sehr tolle Aussicht.“ Ich unterdrückte ein Glucksen und dachte sehnsüchtig an Nicks nackten Oberkörper, die muskulöse Brust und starken Arme und daran, wie sich seine weiche, Schweiß benetzte Haut darüber spannte. Und ich dachte an das Feuer in seinen Augen, als er neben mir auf dem gefällten Baum saß. Hastig versuchte ich, auf andere Gedanken zu kommen, was gar nicht so leicht war. Aber doch: Essen. Frühstück. „Mom, ich kaufe mir bald meine eigenen Sachen, versprochen, aber bis ich so weit bin …“ Ich zwinkerte ihr zu und rieb mir den Bauch.

Sie lachte und zeigte auf den Kühlschrank. „Ach komm, bitte, nimm dir, was du willst. Ich befürchte allerdings, dass ich keine Avocado für deinen Toast habe, aber du kannst ja vielleicht stattdessen Miracle Whip nehmen.“

Ich hätte mich beinahe an der Luft verschluckt, so widerte mich allein die Vorstellung an. Normalerweise hätte ich etwas Sarkastisches geantwortet, doch meine Mutter lachte so sehr über ihren eigenen Witz, dass ich nur mitlachen konnte.

„Du und dein Sinn für Humor“, meinte ich lachend, ging zum Kühlschrank und suchte mir Zutaten für ein Sandwich – ohne Miracle Whip! – zusammen, das ich genüsslich verspeiste, während Mom mich in den letzten Klatsch und Tratsch der Stadt einweihte. Hochzeiten, Scheidungen, merkwürdige Vorkommnisse, Geschichten, in der ein Betrunkener beim Winterfestival auf einer Kuh die Main Street runterritt. Irgendwann wurde mir klar, dass dieser alberne Klatsch mir nicht ganz so gleichgültig war, wie ich angenommen hatte, sondern dass ich genau dieses Gelächter mit meiner Mom die gesamte Zeit in New York über schrecklich vermisst hatte. Überhaupt hatte ich sie viel mehr vermisst, als ich mir jemals hatte eingestehen wollen. Facetime war eine tolle Sache, aber es war einfach nicht dasselbe, wie tatsächlich miteinander am Tisch zu sitzen und sich in Ruhe zu unterhalten. Es war nicht dasselbe, wie den Duft nach frischem Kaffee zu riechen, während ich meiner Mom in die Augen schaute und sie am Arm berührte. Und da waren sie – noch mehr Schuldgefühle und noch mehr Reue. War ich wirklich so stark von mir selbst eingenommen, dass ich vergessen hatte, wie viel so etwas bedeutete? Oder war ich so gut im Erzählen von Halbwahrheiten geworden, dass ich nur noch meine eigenen Geschichten glaubte?

Nachdem ich mein Sandwich verputzt hatte, ging ich duschen und in mein Zimmer. Ich schaltete den Computer an und klickte in meine E-Mails, weil ich vermeiden wollte, auf mein Handy zu schauen, obwohl ich wusste, dass sich dort Nachrichten aller Art sammeln mussten. Die meisten E-Mails waren Massenmails von irgendwelchen Leuten, denen ich auf irgendwelchen Kanälen folgte, und Werbe-Mails von Geschäften, von denen ich ahnte, dass ich nie wieder genügend Geld haben würde, um dort jemals wieder einzukaufen. Ganz am Ende fand ich eine Nachricht von Blaize Eberling, einem unvorstellbar reichen CEO, dem ich meine Dienste monatelang vergeblich angeboten hatte. Per Zufall lernten wir uns auf der letzten großen Party, die ich besucht hatte, bevor ich dem Big Apple den Rücken gekehrt hatte, persönlich kennen.

Seine E-Mail war knapp, kurz und knackig, klang aber trotzdem geschäftlich.

Cassie,

schön, dass ich nun endlich ein Gesicht zu dem Namen habe. Deine Vitalität und Intelligenz sind genauso schwer zu ignorieren wie deine Schönheit. Wann können wir uns darüber unterhalten, was du für mein Team tun kannst?

Ich freue mich auf deine Nachricht.

Blaize Eberling

Ich erinnerte mich, wie zuvorkommend Blaize an dem Abend gewesen war. Er hatte lange bei uns am Tisch gesessen, anstatt die Hände wichtiger Geschäftsleute zu schütteln und dafür zu sorgen, dass er überall gesehen wurde. Er war groß, blond und sah aus wie jemand, der sich den gesamten Körper waxen ließ. Für meinen Geschmack war er zu sehr in sich selbst verliebt, dennoch war er attraktiv, und ich hatte seine Aufmerksamkeit genossen, vor allem, da ich zu dem Zeitpunkt den Druck, einen Job an Land zu ziehen, los gewesen war. Vermutlich waren es meine Lockerheit und Lässigkeit, die ihn an mir reizten. Ich seufzte. Ja, er war durchaus attraktiv, wohlhabend und an einer Zusammenarbeit interessiert. Nur leider kam seine E-Mail zu spät. Warum hatte ich New York eigentlich noch mal verlassen? Ach, genau. Ich hatte mir geschworen, erst dann zurückzukehren, wenn ich herausgefunden hatte, wer ich war. Natürlich hatte ich noch keinen blassen Schimmer davon, wie ich das herausfinden könnte. Dennoch war ich fest entschlossen, es zu tun. Ich antwortete also mit einem freundlichen „Nein, danke“ und drückte auf Senden, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

8. RACHEL

Seitdem Nick mir ihren Namen gesagt hatte, schwirrte er wie eine lästige Fliege in meinem Kopf herum. Cassie. Allein die Art, wie er das Wort aussprach, genügte, um mir zu zeigen, dass da etwas nicht stimmte. Das war mir klar, auch ohne dass ich dabei sehen musste, wie er lächelte und wie seine Augen glänzten, wenn er von ihr sprach.

Er hatte mir versichert, dass sie nicht zusammen gewesen waren, und damit hätte ich mich zufriedengeben sollen. Jede gute, liebende Ehefrau hätte sich damit zufriedengegeben! Auch die Frau, die ich früher mal gewesen war, hätte das getan. Ohne jeden Zweifel und ohne jeden beunruhigenden Gedanken hätte ich mich – vor langer Zeit – mit seinem „Wir waren nie ein Paar“ zufriedengegeben und die Sache auf sich beruhen lassen.

Doch diese andere Frau, die ich einmal gewesen war, hatte im Lauf der Jahre aufgehört zu existieren. Vollends gestorben war sie, als wir in dieses Nest am anderen Ende der Welt gezogen waren. Ich hatte hier nur Nicks Eltern gekannt, und die auch nur durch seltene Videochats, in denen wir natürlich immer sehr nett, höflich und freundlich zueinander gewesen waren. In echt waren sie ziemlich anders. Seitdem wir hier waren, lieferten wir uns jeden Abend zermürbende Reibereien. Dieses ewige Gezanke um alles und nichts machte mich fertig. Ich wusste nicht, was und ob überhaupt ich etwas zu Nick sagen würde, wenn er von der Arbeit nach Hause käme, und überlegte weiter, ob sich meine Grübeleien überhaupt lohnten oder ob ich mich mit Hirngespinsten herumschlug.

Ich liebte ihn und natürlich wollte ich nach wie vor, dass unsere Träume in Erfüllung gingen. Nick sagte, er täte das auch.

Dennoch waren da nun diese Cassie und die Art, wie er ihren Namen aussprach. Konnte man mir mein Misstrauen und meine Eifersucht vorwerfen? Wohl kaum. Also musste ich etwas tun, um meine Fährte zu bestätigen oder zu widerlegen.

Es war überraschend einfach, bereitwillige Informationsquellen zu finden. Ich fing mit einer Liste aus den Abschlussklassen von Nick und Cassie an (sie war nicht sehr lang) und begann einfach, die Leute der Reihe nach anzurufen. Ich fragte mich so lange durch, bis ich die wusste, mit denen sie damals befreundet waren. Zuerst tat ich so, als wäre ich eine Freundin vom College, die sie suchte, weil ich sie auf Facebook nicht finden konnte (was man mir überraschenderweise leicht glaubte). Als ich meine Fragen gezielt auf die Beziehung der beiden lenkte, tat ich so, als wäre ich eine Freundin von beiden, die die beiden gern auf ein geheimes Date schicken würde. Alle sagten mir, dass das nicht ginge, da Nick verlobt sei, was mich überraschte, denn obwohl wir schon so lange hier wohnten, hatte Nick sich noch keine Mühe gemacht, alte Freundschaften wiederaufleben zu lassen. Cassie war die erste, und das, wie mir schien, auch nur zufällig. Es war also kein Wunder, dass mich niemand kannte.

Nachdem ich ein paar Tage Detektivarbeit geleistet hatte, hatte ich nicht viel herausgefunden. Die meisten Leute sagten mir, dass Nick schüchtern wäre, ein toller Freund, ein ziemlich guter Basketballspieler und ein „gutaussehender Kerl“. Niemand konnte oder wollte mir jedoch etwas über seine früheren Beziehungen sagen. Er schien keine gehabt zu haben und auch sonst kein Interesse an einer festen Freundin gezeigt zu haben. Die meisten Männer sagten mir, dass Cassie etwas rebellisch, der Mittelpunkt jeder Party und „heiß wie Feuer“ war. Alle beschrieben sie als groß, schlank, dunkelhaarig und „wahnsinnig hübsch“. Sie war pfiffig, sarkastisch, eine Draufgängerin und konnte sich mit Klauen und Zähnen wehren, wenn man ihr übel mitspielte. Sie ging gleich nach dem Junior Year aus der Stadt weg, und obwohl niemand wusste, wohin sie gegangen war, nahmen alle an, dass sie irgendwo einen Haufen Geld verdiente.

Diese anbetenden, wenngleich vagen Worte über sie ärgerten mich. Die Leute taten gerade so, als wäre diese Cassie die neue Megan Fox! Vor allem jedoch nervte mich der Mangel an Informationen, was ihre Beziehung mit Nick anging. Doch dann knackte ich den Jackpot. Ich war kurz davor, ein sinnloses Telefonat mit einer Frau zu beenden, dessen Spint immer neben dem von Cassie gewesen war (aber nur aufgrund der alphabetischen Reihenfolge, nicht, weil sie es sich so ausgesucht hatte), als sie beiläufig erwähnte, dass sie die Nummer von Savannah Joel hätte, Cassies bester Highschool-Freundin. Mit zitternder Hand schrieb ich mir den Namen auf. Wenn jemand die wahre Geschichte über die beiden wusste, dann sie.

Ich wählte also die Nummer und betete, dass sie den Hörer abnahm, damit ich endlich mit meiner zwanghaften Suche aufhören konnte, die mich seit fast zwei Tagen von allem anderen abhielt. Nach dem vierten Klingeln ging sie ran.

„Hallo?“

„Hi! Ich würde gerne mit Savannah Joel sprechen.“

„Das bin ich. Wer ist dran?“

„Hi, Savannah! Ich bin Leslie Baker, ich weiß, das ist vielleicht ein bisschen komisch, aber ich rufe an, weil ich dich fragen wollte, ob du mir etwas über eine gewisse Cassandra Zelenka sagen könntest.“

Es folgte eine kurze, schwer zu deutende Pause. „Klar“, sagte sie mit einer ruhigen Stimme. „Ich kannte sie mal. Was willst du denn wissen?“

Ich fing damit an, dass ich sie und Nick wieder zusammenbringen wollte und dass ich deswegen wissen wollte, was damals so zwischen den beiden gelaufen war, um sicher sein zu können, dass die Idee gut wäre. Savannah ließ mich nicht ausreden, sondern unterbrach mich genervt.

„Pass mal auf, Süße“, sagte sie bissig. „Du kannst mir nicht so einen Schwachsinn erzählen. Entweder du sagst mir die Wahrheit, warum du das alles über Cassie wissen willst, oder ich lege auf und blockiere deine Nummer.“

Ich biss mir auf die Lippe und hörte auf mein Bauchgefühl. Normalerweise vermied ich genau das, denn mein Bauchgefühl hatte mich schon oft in die falsche Richtung geführt, doch auch diesmal war es stärker als mein Verstand und bevor ich darüber nachdenken konnte, sprudelte alles aus mir heraus. „Okay, gut, ich heiße Rachel Parker und bin die Verlobte von Nick Peterson. Cassandra kommt am Freitagabend zum Essen zu uns und ich wüsste gern, ob ich mir Sorgen machen muss.“

Ich konnte Savannah nahezu durch das Telefon grinsen hören.

„Na bitte, geht doch“, sagte sie schließlich ganz entspannt. „Für so etwas opfere ich doch gern meine Zeit.“ Sie holte tief Luft. „Die kurze Antwort lautet Ja, du solltest dir Sorgen machen. Cassandra wirkt –und tut es bestimmt immer noch –unwiderstehlich auf Männer. Sie ist nicht nur schön, sondern auch stark. Sie hat immer toughe Sprüche drauf, hat keine Angst und das Allerschlimmste ist, dass sie ein bisschen kaputt ist. Sie ist eine riesige Herausforderung für Männer – und Männer lieben Herausforderungen, aber das weißt du ja bestimmt. Sie ist diese gefährliche Mischung aus Superweib, Saufkumpan und einem Mäuschen, das beschützt werden muss. Und als wäre das allein noch nicht genug, sieht sie auch noch aus wie ein Supermodel.“

„Das klingt ja gerade so, als würdest du sie bewundern“, sagte ich mit mühsam unterdrückter Angst, die sich bei mir immer in Wut und Aggression entlud.

„Oh nein, das tu ich nicht. Ich habe nichts mehr für die Frau übrig. Nach allem, was sie mir angetan hat, kann sie mir gestohlen bleiben. In meinem ganzen Leben würde ich kein Wort mehr mit ihr wechseln. Obwohl ich glaube, dass wenn sie auf mich zugehen würde, dann würde ich ihr vielleicht sogar verzeihen. Ich meine, ach Scheiße …Wir waren einfach noch Kinder.“

Ich spürte, wie ich immer schneller atmete. „Ähm, was genau hat sie denn getan?“

Savannah lachte. „Sie hat Nick so weit gebracht, dass er sich in sie verliebt, obwohl ich ihr gesagt hatte, dass ich in ihn verliebt war. Es war zwar nur eine Schwärmerei, nicht annähernd die große Liebe, aber das wusste ich mit 16 natürlich noch nicht. Aber sie wusste es verdammt noch mal auch nicht! Etwa einen Monat, nachdem ich ihr meine Gefühle für ihn gestanden hatte, fing sie plötzlich an, nach dem Unterricht mit Nick abzuhängen. Sie verbrachten die Samstage zusammen am Fluss und solche Sachen. Es war für jeden klar ersichtlich, dass er total verrückt nach ihr war. Allerdings weiß ich nicht, ob sie ihn auch so toll fand oder ob es ihr einfach Spaß machte, etwas zu haben, das jemand anderer haben wollte.“

Ich stieß die Luft, die ich die ganze Zeit über angehalten hatte, aus und fuhr mir durch das Haar. „Also sind sie doch miteinander gegangen“, sagte ich, während sich die Wut immer heftiger in mir staute. Nick hatte mich angelogen!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752111958
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Liebesroman Neuanfang Eifersucht Frauenunterhaltung erste Liebe zweite Chance Spannung Highschool Liebe Junge Erwachsene leicht und heiter Humor

Autor

  • Annabelle Benn (Autor:in)

Annabelle Benn ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, Jahrgang 1976, die nach vielen Jahren in Berlin und im Rest der Welt wieder im Berchtesgadener Land lebt.
Zurück

Titel: Coming home for love