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Epiphanie

Sieh, was du getan hast, Eddie!

von Nicole Siemer (Autor:in)
216 Seiten

Zusammenfassung

Sieh, was du getan hast, Eddie! Der forensische Psychiater Doktor Phillip Meiners soll Eddie Quinn, einen vermeintlich psychisch gestörten Serienmörder, begutachten und dessen Schuldfähigkeit beurteilen. Im Gefängnis von Grubingen treffen die Männer zum ersten Mal aufeinander. Eddie schwört auf seine Unschuld. Immer wieder erwähnt er eine Gestalt, die er den „Unheimlichen Mann“ nennt. Er ist bereit, Meiners seine Geschichte zu erzählen. Doch er warnt ihn auch. Hat der Unheimliche Mann ihn erst einmal bemerkt, wird er bleiben. Und er wird jeden umbringen, der sich zwischen sie drängt. Mit jeder Sitzung wird Doktor Meiners tiefer und tiefer in den Fall hineingezogen, erkennt Parallelen zu Eddie, denn wie dieser, trägt auch er eine Bürde. Schon bald beginnt Meiners zu zweifeln. Ist Eddie tatsächlich unschuldig? Gibt es den Unheimlichen Mann? Und falls ja ... Psycho-Horror, der unter die Haut geht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Epiphanie

 

Nicole Siemer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1 – Erste Begegnung

 

Abgründe. Jeder Mensch besitzt sie. Sie lauern im Verborgenen, oft unerforscht, zuweilen verdrängt. Einige sind bodenlos. Manche von solch einer Schwärze erfüllt, dass sie endlos erscheinen. Und in manch einem Abgrund lauern weitere Schlünde. Schlünde, die besser verschlossen geblieben wären.

– Dr. Phillip Meiners

 

* * *

 

›Hausbesuche‹, wie Meiners sie nannte, gehörten zu den interessantesten Teilbereichen seiner Arbeit. In der Psychiatrie war er immer mit denselben weißen Wänden konfrontiert. Denselben langen Fluren und sterilen Büros. Besuchte er einen Patienten im Gefängnis, schlug sein Herz jedes Mal ein bisschen schneller. Er war nervös, sogar etwas aufgekratzt – eine willkommene Abwechslung zu der Wut und der alles verschlingenden Melancholie, die ihn sonst erfüllten.

Das Gefängnis in Grubingen besaß ebenfalls lange Flure. Sie waren grau und strömten Gefahr aus. Stimmen und der Klang von Gegenständen, die gegen die Stäbe der Zellen geschlagen wurden, hallten durch das Gebäude.

Meiners versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, während er dem Wärter – einem breitschultrigen Mann mit kurzgeschorenen Haaren, der sich mit dem unpassenden Namen Benjamin vorgestellt hatte – folgte.

»Hey Süßer!«

Pfeifen.

»Verfickter Hurensohn!«

Schnarchen.

Meiners blickte starr geradeaus, ignorierte die Bemerkungen und Geräusche der Gefangenen links und rechts von ihm. Er fühlte sich an Das Schweigen der Lämmer erinnert und es hätte ihn nicht überrascht, wenn ihn am Ende des Ganges ein Stuhl erwartet hätte, der auf eine Glasscheibe gerichtet war, hinter der Hannibal Lecter ihn bereits mit verschlagenem Grinsen erwartete.

Es gab keinen Stuhl. Und keine Glasscheibe. Die Zelle unterschied sich nicht von den anderen. Grau und trostlos. Meiners musste zweimal hinsehen, um die Gestalt zu erkennen, die neben dem Bett kauerte. Im ersten Moment glaubte er, dort säße ein Kind. Tatsächlich handelte es sich um einen dürren Mann, der die Knie angezogen hatte und den Kopf darauf stützte. Sein Alter ließ sich aus der Entfernung nicht erraten, der Akte zufolge, war er 27 Jahre alt.

Als Meiners die Zelle betrat, die dunklen Augenringe und das eingefallene Gesicht des Mannes betrachtete, drehte er sich zu Benjamin um und flüsterte: »Das ist er? Ganz sicher?«

Benjamin grunzte etwas, das wie eine Mischung aus »Ja« und »Was für eine bescheuerte Frage«, klang, verließ die Zelle und schloss hinter Meiners ab.

Der Gefangene schien noch immer nicht bemerkt zu haben, dass er einen Besucher hatte. Oder aber es interessierte ihn nicht. Er blickte geradeaus, die Augen glasig ins Leere gerichtet. Würde sich seine Brust nicht rhythmisch heben und senken, hätte Meiners nicht unterscheiden können, ob ein lebender Mensch oder eine Leiche vor ihm saß.

Fasziniert betrachtete Meiners ihn eine Weile, ohne etwas zu sagen. Dann entdeckte er einen Stuhl in der Ecke – aha, also doch ein Stuhl –, schob ihn in die Mitte des Raumes, schlug seine Akte auf und setzte sich. Das Möbelstück knarzte, erst jetzt bemerkte Meiners, wie still es plötzlich geworden war.

Unheimlich, dachte er und holte aus der Innentasche seines Jacketts Notizbuch und Kugelschreiber hervor.

»Guten Tag, Herr Quinn. Mein Name ist Doktor Phillip Meiners. Ich bin Ihr forensischer Psychiater und freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie dürfen mich Meiners nennen, wenn Sie mögen. Bei meinem Vornamen nennt mich kaum jemand, ich sehe wohl nicht wie ein Phillip aus.« Er lächelte, wurde aber direkt wieder ernst, da keine Erwiderung folgte. »Darf ich Sie Eduard nennen? Oder lieber Herr Quinn?«

Meiners wartete.

»Eddie«, flüsterte der Mann so leise, dass er kaum zu verstehen war.

»Eddie? Sie wollen Eddie genannt werden?«

Endlich erwachte der Gefangene aus seiner Starre, blinzelte und blickte zu Meiners auf. Dann nickte er.

»Gut, Eddie«, sagte Meiners. »Sie mögen Ihren Vornamen wohl nicht, richtig?«

Eddie zuckte die Achseln. »So wurde ich schon immer genannt.«

»Wieso hocken Sie auf dem Boden? Ist das Bett zu unbequem?«

»Da sitzt er immer.«

Meiners wurde hellhörig. »Er?«

Eddie antwortete nicht. Er betrachtete Meiners mit seinen schmalen, dunkelblauen Augen und neigte den Kopf leicht zur Seite. Er schien zu überlegen. Vielleicht, ob er dem Kerl im Anzug, der mit übergeschlagenen Beinen und einer Akte in der Hand vor ihm saß, trauen konnte. Oder versuchte er, ihn gar zu analysieren? In den Augen des Mannes lag ein Schimmer, der Meiners irritierte. War es Weisheit? Boshaftigkeit? Unmöglich, es zu deuten. Zumindest noch nicht. Etwas sagte ihm, dass Eddie mehr war, als er auf den ersten Blick zu sein schien. Seine schmächtige Gestalt, das ungewaschene Haar, die verwahrloste Erscheinung. Schauspielerte er nur? Verbarg sich hinter seinem unscheinbaren Auftreten ein perfider Mörder? Oder lauerte eine dunkle Seite in ihm, von der er nicht einmal etwas wusste? Wie konnte jemand wie Eddie Quinn, solch grausame Taten begehen?

Meiners hatte in seiner Laufbahn als forensischer Psychiater schon Vieles gesehen: dissoziale Verhaltensstörungen, dissoziative Identitätsstörungen, Fälle von Schizophrenie, suizidale Personen, eben alles, was die menschliche Psyche zu bieten hat. Auf den ersten Blick wirkte Eddie wie ein ganz normaler Patient mit Anzeichen einer Paranoia. Doch irgendetwas an ihm war anders. Meiners wusste nicht, was es war, das entfachte eine Neugier, die er seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Eine Neugier, von der er geglaubt hatte, sie verloren zu haben. Ein Kribbeln breitete sich von seinen Fingerspitzen aus. Er konnte es kaum erwarten, mehr über diesen ungewöhnlichen Mann zu erfahren. Um seine Vorfreude zu verbergen, saugte Meiners kurz an seinen Lippen und wechselte das übergeschlagene Bein.

»Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein«, begann er und schlug die Akte zu. »Ihnen werden ein paar unschöne Dinge vorgeworfen, Eddie. Sie stehen im Verdacht, mindestens drei Morde begangen zu haben. Ist Ihnen das bewusst?«

Eddie nickte. Meiners machte sich einen entsprechenden Vermerk in seinem Notizbuch. »Ich bin hier, um Ihre Schuldfähigkeit zu prüfen. Und …«

»Halten Sie mich für schuldig, Doktor Meiners?«

Meiners verzog keine Miene. Eine Frage, die er schon unzählige Male gehört hatte. »Das weiß ich nicht, Eddie. Aber es ist meine Aufgabe, das herauszufinden und so lange bleibe ich neutral. Ich halte Sie weder für schuldig noch für unschuldig bis ich zu einem Ergebnis gelangt bin. Aber Sie machen auf mich einen ehrlichen und intelligenten Eindruck. Ich denke, wir werden uns in Ruhe unterhalten können. Ich bitte Sie, wirklich aufrichtig zu sein, denn nur so kann ich Ihnen helfen. Verstehen Sie?«

»Ich bin kein Mörder, Doktor.«

»Wissen Sie, wer Ihre Mutter ermordet hat?«

Eddie zögerte.

»Eddie, wenn Sie etwas wissen, müssen Sie es mir sagen. Kennen Sie den Mörder? Ist er auch für die anderen Morde verantwortlich?«

Weiteres Schweigen.

»Ist der Mörder gerade hier bei uns?«

Eddie schluckte hörbar, dann schüttelte er langsam den Kopf.

Meiners zückte den Kugelschreiber. Kritzelte: Anzeichen für Wahnvorstellung vorhanden. Paranoide Schizophrenie? Als er wieder aufblickte, betrachtete Eddie ihn prüfend.

»Glauben Sie an paranormale Phänomene, Doktor?«

»Nun, ich glaube an das Gute und das Böse und dass beide Seiten uns allen innewohnen. Und ich glaube, dass das Böse manchmal an Macht gewinnt und Besitz von uns ergreift, sodass wir durch es gelenkt werden. Zwar bin ich davon überzeugt, das Gute überwiegt bei den meisten Menschen, doch ebenso, dass es Einige gibt, die sich vom Bösen leiten lassen.«

»Das war nicht meine Frage.«

»Falls Sie an Geister oder Dämonen gedacht haben, muss ich Sie enttäuschen.«

»Glauben Sie an den Himmel und die Hölle?«

»Glauben Sie daran?«

Eddie schmunzelte, antwortete dann aber doch. »Ich glaube an den Teufel, nicht an Gott.«

»Wieso nicht?«

»Gott hat uns schon vor langer Zeit verlassen. Vielleicht, weil er gesehen hat, was aus seiner Schöpfung geworden ist. Vielleicht aus Langeweile. Niemand ist da, der uns vor dem Teufel beschützt. Wir sind allein.«

»Denken Sie, der Teufel hat von Ihnen Besitz ergriffen, Eddie?«

Eddie stieß ein schallendes Lachen aus, bei dem Meiners überrascht zusammenzuckte.

»Seien Sie nicht albern, Doktor. Warum sollte der Herr der Hölle in einen einzelnen Menschen fahren? Ich glaube nicht an Besessenheit, aber ich glaube an Dämonen und daran, dass sie uns manchmal heimsuchen.«

Meiners schrieb stichpunktartig mit, was Eddie ihm erzählte und bemerkte, dass der Mann jedes Mal das Gesicht verzog, sobald er den Stift angesetzt hatte. Er entschied, ihn später nach dem Grund zu fragen.

»Sprechen die Dämonen mit Ihnen, Eddie?«

»Ich könnte Ihnen erzählen, was mir widerfahren ist. Aber welchen Sinn macht das, wenn Sie mir doch nicht glauben?«

»Überzeugen Sie mich.«

Eddie zögerte.

»Ich werde nicht lachen. Ich werde Sie nicht verurteilen. Ich möchte einfach nur die Wahrheit erfahren. Wenn Sie diese Morde nicht begangen haben, aber den Täter kennen, erzählen Sie mir von ihm. Was haben Sie zu verlieren? Im besten Fall kann ich beweisen, dass Sie schuldunfähig sind.«

»Indem Sie mich für verrückt erklären.«

»Halten Sie sich für verrückt?«

»Als ich ein Junge war, tat ich es. Heute weiß ich, dass es ihn tatsächlich gibt und dass er diese Menschen ermordet hat.

Also gut, ich erzähle Ihnen meine Geschichte. Entweder glauben Sie mir am Ende, oder eben nicht. Ich weiß, dass ich kein Mörder bin, aber ich bin dennoch schuldig.«

»Wer hat die Morde begangen, Eddie?«

»Der Unheimliche Mann.«

Meiners notierte. »Ist er eine Stimme in Ihrem Kopf?«

Eddie schnaufte. »Er ist mein Schatten. Er ist immer da, selbst wenn ich ihn nicht sehe. Es gibt Dämonen, Doktor Meiners, und Sie müssen sich im Klaren sein, dass auch Sie in Gefahr sind, wenn ich Ihnen von dem Unheimlichen Mann erzähle. Wollen Sie mir dennoch zuhören?«

»Das möchte ich.« Meiners spürte die Aufregung in ihm aufwallen. Er wollte diese Geschichte unbedingt hören. Trotzdem zogen sich seine Eingeweide ein Stück weit zusammen. Hatte er etwa Angst davor? Nie zuvor hatte ein Patient derartiges Interesse in ihm geweckt. Was war es, das Eddie besonders machte?

»Wieso halten Sie sich für schuldig, Eddie?«

»Weil ich den Unheimlichen Mann beschworen habe.«

 

Kapitel 2 – Eddie und der Tod

 

Eddie betrachtete den großen Mann mit der sportlichen Figur, der markanten Nase und den grau melierten Haaren. Er wirkte wie ein Anwalt oder Bankangestellter auf ihn. Doch sobald Meiners den Mund aufmachte, gab es keinen Zweifel mehr: Vor ihm saß ein Seelenklempner.

Trotzdem. Irgendetwas an dem Psychiater faszinierte Eddie. Waren es die traurigen Augen oder doch die Schrammen auf den Fingerknöcheln der rechten Hand. Auf den ersten Blick wirkte Meiners sauber, bei genauerer Betrachtung schimmerte jedoch etwas Dunkles hindurch. Etwas, das Eddie anzog und bannte. Der Psychiater gab an, nicht an paranormale Phänomene zu glauben, doch er sprach über das Böse wie von einer Art Dämon, der in den Menschen hauste. Und wie er davon redete, schien es, als lebte so ein Dämon in ihm.

»Was haben Sie schon zu verlieren?«, fragte Doktor Meiners.

Er hatte recht. Entweder wurde er schuldig gesprochen und zu Unrecht angeklagt, seine Mutter und weitere nahestehende Bekannte ermordet zu haben, oder aber, man erklärte ihn für verrückt. Er würde Meiners in seine forensische Psychiatrie begleiten, wo er unter Beobachtung stehen würde für den Rest seines Lebens. Sollte es so sein, wäre sein Umfeld sicher. Vielleicht würde es den ein oder anderen Patienten erwischen. Mörder. Schänder von Frauen und Kindern. Von den Unschuldigen, falls es sie gab, würde er Abstand halten. Keine Freundschaften erlauben. Ja, der Gedanke gefiel ihm. Vielleicht würde auch Er dann endlich verschwinden.

Meiners wirkte wie ein Mann, der fähig war, eine Schuldunfähigkeit vor Gericht zu beweisen. Er müsste nur lange genug überleben, um es tatsächlich zu schaffen.

 

* * *

 

Das erste Mal sah ich den Unheimlichen Mann, als ich acht Jahre alt war. Wir begruben gerade meinen Goldfisch, Eddie Junior, und meine Mutter sprach ein paar liebe Worte, weil mir nichts eingefallen war.

Eddie Junior war mein erster Goldfisch gewesen, ich hing wirklich sehr an ihm. Trotzdem weinte ich nicht. Ich wollte es, aber es ging nicht. Ich kann mich nicht erinnern, als Kind jemals geweint zu haben.

Das ist seltsam, nicht wahr? Ma hatte es befremdlich gefunden. Jedes Mal, wenn ich gestürzt war, oder mir das Knie aufgeschürft hatte, hatte sie mich mit diesem prüfenden Blick betrachtet. Gefragt, ob ich nicht weinen müsste. Wenn ich dann verneinte, sah sie mich immer seltsam an. Mit einer Mischung aus Sorge und Abschätzigkeit, so als fragte sie sich, ob ihr Junge ganz richtig im Kopf wäre.

Meine Mutter war eine tolle Frau. Sie zog mich ganz alleine groß, seit mein Erzeuger uns verlassen hatte. Damals war ich drei Jahre alt.

Ma sprach nie darüber, doch Kinder sind neugierig und als ich an einem Tag gar nicht aufhören wollte, Fragen zu stellen, erzählte sie mir, es habe eine andere Frau in seinem Leben gegeben. Danach hatte ich mich entschieden, in meinem Vater nur noch einen Erzeuger zu sehen.

Während wir an Eddie Juniors Grab standen und meine Mutter erzählte, was für ein toller Goldfisch er gewesen war, ließ ich den Blick über den Garten schweifen. Da sah ich ihn. Neben dem Brombeerstrauch stand eine Gestalt. Ein Mann. Er war groß und trug einen langen Mantel, der bis zum Boden reichte und in dessen Taschen er seine Hände vergraben hatte. Außerdem einen Hut mit breiter Krempe wie ein Cowboy, die das Gesicht vor mir verborgen hielt. Im ersten Augenblick dachte ich an einen Schatten, weil die Gestalt sich nicht regte und aus reiner Dunkelheit zu bestehen schien, doch je länger ich hinsah, desto sicherer war ich mir, dass dort drüben ein Mann stand, der uns beobachtete.

»Wer ist das, Ma?«, fragte ich und zeigte auf die Gestalt neben dem Brombeerstrauch.

Mas Blick folgte der Richtung, in die mein Finger deutete. »Wen meinst du?«

»Den Mann da, Ma. Der in dem Mantel.«

Sie strich mir über den Kopf. Ich wandte den Blick von der Gestalt ab, um ihr in die Augen zu sehen. Sie betrachtete mich mit demselben Blick, wie jedes Mal, wenn sie sich fragte, weshalb ich nicht weinen konnte.

»Da ist niemand, Schatz. Nur der Busch.«

»Doch, Ma. Guck!« Ich sah wieder zum Brombeerstrauch – die Gestalt war verschwunden. »Wo ist er hin?«

»Geh schon mal ins Haus, ja? Ich schütte noch schnell die Erde zu.«

»Ist Eddie Junior jetzt im Himmel, Ma?«

»Ja. Er ist jetzt bei ganz vielen anderen Goldfischen und schwimmt in einem gewaltigen Meer, viel größer als das kleine Goldfischglas.«

»Warum liegt er dann da unten?« Ich blickte auf den winzigen orangeroten Körper hinab, der so regungslos im Dreck lag. Sandkörner bedeckten seine Schuppen. Mir war, als starrte er mich mit weit aufgerissenem Auge und offenen Mund an. Ich möchte nicht in die Erde, schien er zu schreien und mit einem Mal wollte ich nicht länger, dass Eddie Junior begraben wird.

»Das ist nur sein Körper, Schatz. Seine Seele, die ist jetzt im Himmel.«

»Was ist eine Seele?«

»Das was ihn zu dem tollen Fisch gemacht hat, der er war.«

»Habe ich auch so eine?«

»Ja, wir alle haben eine Seele.«

»Uii!«

»Und jetzt marsch, marsch ins Haus. Ich koche uns gleich was Schönes.«

»Gibt es Pizza?«

Ma seufzte. »Nein.«

Ich zog einen Schmollmund, gehorchte jedoch.

 

* * *

 

Am Abend lag ich im Bett und starrte zur Decke. Eddie Juniors Tod beschäftigte mich. Zuvor war ich nie mit dem Tod konfrontiert worden, aber anstatt traurig zu sein, war Neugier in mir entflammt.

Ich fragte mich, was mit den Menschen geschah, nachdem sie starben. Ob alle Lebewesen an denselben Ort gelangten? Die Toten konnten unmöglich auf ewig in einem Meer schwimmen. Der Gedanke ließ mich frösteln, denn ich fürchtete mich vor Wasser. Ich fürchtete mich, vor der Dunkelheit, die unter der Oberfläche lauerte und vor dem, was sich darin verbarg. Diese Angst hatte ich schon, seit ich denken konnte.

Weil er mich gruselte, schüttelte ich den Gedanken an das Meer ab, fragte mich stattdessen, ob ich Eddie Junior wiedersehen würde, sobald auch ich eines Tages gestorben wäre.

Ob mein Erzeuger noch lebt?

Der Gedanke traf mich wie aus dem Nichts. Ich dachte selten über ihn nach und wenn es doch mal passierte, überraschte es mich immer wieder. Manchmal war mir, als spräche jemand anderer diese Gedanken aus. Als wollte diese Stimme in mir, dass ich mich erinnerte. Daran, dass ich einen Vater hatte. Irgendwo.

Bei der Überlegung, ob mein Erzeuger tot sein könnte, regte sich nichts in mir. Ma hatte mir erzählt, dass er fortgelaufen war. Wieso also, sollte er gestorben sein. Sicher lebte er irgendwo mit einer anderen Ma und einem anderen Sohn.

Aber wenn er gestorben wäre … Besaß jemand wie er überhaupt eine Seele? Hatte sie ihn verlassen, weil er so etwas Schreckliches getan hatte, wie Frau und Kind zurückzulassen? Vielleicht lag sein Körper jetzt an einem unbekannten Ort unter der Erde mit den gleichen glasigen Augen und dem geöffneten Mund, wie Eddie Junior.

Die Vorstellung machte mir Angst. Ich zwang mich, wieder an meinen Goldfisch zu denken. Es gelang mir nicht so recht, also schloss ich die Augen, um ein wenig zu schlafen.

Mitten in der Nacht schreckte ich auf. Ich hatte geträumt, langsam zu ertrinken. Es war kalt gewesen und meine Kleidung hatte sich mit Wasser vollgesogen, sodass sie mich nach unten zog. Über mir konnte ich die Oberfläche sehen und den Mond, der verzerrt auf mich herabsah. Meine Lunge füllte sich mit Wasser, ich versuchte, zu schreien, mich nach oben zu kämpfen. Und während ich hinabsank, wusste ich, dass sich unter mir etwas bewegte. Etwas so Schreckliches, dass es mich wahnsinnig machen würde, sobald ich es erblickte. In diesem Moment hallten die Worte durch meinen Kopf, so laut, dass ich glaubte, er würde zerspringen: SIEH, WAS DU GETAN HAST, EDDIE!

Etwas umfasste meinen Knöchel, zog, zerrte mich tiefer und tiefer in die Dunkelheit. Und dann …

… erwachte ich.

Nicht zum ersten Mal war ich von diesem Traum heimgesucht worden. Seit ich denken konnte, träumte ich ihn jede Nacht. Immer war da diese verzerrte, unmenschliche Stimme. Jedes Mal spürte ich das Wasser in meinen Lungen, spürte die Kälte, die meine Glieder erstarren lässt.

Ich lag da und weinte stumm. Obwohl ich schwitzte, fror ich. Ich hatte ins Bett gemacht. Der Gestank von Urin setzte sich in meiner Nase fest, doch ich blieb einfach liegen und wartete. Wartete auf den Tag, der die Dunkelheit vertreiben würde. Wartete darauf, dass sich mein Herzschlag normalisierte.

Kapitel 3 – Wut

 

»Ich möchte sie doch bloß sehen, Sarah.« Meiners schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu bleiben.

»Auf keinen Fall!«

»Es sind auch meine Kinder.«

»Ich werde jetzt auflegen, Phill.«

»Sarah, bitte. Ich möchte meine Jungs sehen, bevor sie mich vergessen haben. Du kannst das nicht einfach entscheiden. Sie brauchen ihren Vater!«

Sarah schnaufte. »Ich kann und das weißt du. Das Gericht hat mir das alleinige Sorgerecht zugesprochen und wenn ich nicht möchte, dass du die Jungs siehst, dann hast du das zu akzeptieren.«

»Sei nicht so ein Drachen!« Meiners biss sich auf die Zunge. Verflucht, warum konnte er nicht einmal die Klappe halten?

»Bis dann, Phill«, sagte Sarah.

So viel zum Thema, sie dieses Mal weichklopfen zu können. Er hatte es erneut geschafft, das genaue Gegenteil zu vollbringen. Ein Hoch auf Phill. Hurra.

»Sarah, entschuldige, ich …«

»Weißt du, Phill«, sagte Sarah. Aus ihrer Stimme war jegliches Gefühl verschwunden. »Vielleicht ist es ja gar nicht allein mein Wunsch, dass du die Kinder nicht siehst.«

Er öffnete die Augen und umklammerte sein Handy. »Wie meinst du das?«

»Wer sagt denn, dass die Jungs dich sehen wollen?«

»Haben sie das gesagt?« Er wurde laut, hasste den hysterischen Ton in seiner Stimme. Es gelang ihm nicht, ihn zu unterdrücken. »Haben sie das gesagt, Sarah?«

Statt zu antworten, erklang am anderen Ende der Leitung ein Klicken, Freitöne folgten.

Meiners nahm das Handy vom Ohr und starrte auf das Display. Ein Foto von ihm und seinen Jungs war darauf zu sehen, wie sie im Gras hockten und grinsten. Sie sahen ihm beide sehr ähnlich. Zufrieden wirkten sie, glücklich. Er hatte seine Arme auf ihre Schultern gelegt und auch er war glücklich gewesen. Und das, obwohl die Ehe damals schon bröckelte. Immerhin hatte er seine Jungs gehabt. Ruben und Marcel.

Au, Papa, du tust mir weh! Lass los, lass los!

Meiners schüttelte den Kopf und legte das Handy mit dem Display nach unten auf den Küchentisch.

Was hast du getan? Mein Gott, was hast du getan, du Saukerl?

Weinen. Kreischen. Er, der sich zu seinem Sohn hockt.

Es tut mir so leid! Ist alles okay? Es tut mir leid. Leid!

»Ich habe alles verkackt. Ich hab’s verkackt, so einfach ist das.« Meiners vergrub das Gesicht in den Händen.

Wer sagt, dass die Jungs dich sehen wollen?

Meiners verkrampfte sich, das Blut rauschte durch seine Adern. Auf dem Küchentisch stand ein Glas, er nahm es in die Hand und warf es mit voller Wucht. Es prallte gegen die Wand, zersprang mit lautem Klirren in viele kleine Scherben.

Meiners blickte darauf hinab. Sein Atem ging stoßweise. Dann erschlafften seine Muskeln und er sank auf den Stuhl zurück.

»Scheiße.«

 

* * *

 

Nachdem Meiners die Scherben beseitigt hatte, saß er eine Weile ruhig auf dem Küchenstuhl und starrte in die Leere. Gott, er brauchte einen Drink. Doch er trank nicht mehr. Er sah sich nicht als Alkoholiker, dafür hatte er sich zu unregelmäßig in Bars aufgehalten und auch zuhause hatte er nie einen Tropfen angerührt, außer an Silvester. Trank er, endete es immer gleich. Er verlor die Kontrolle. Als es das letzte Mal passiert war, hatte er sich über seinem Sohn stehen sehen, der in der Ecke kauerte und sich den Arm gehalten hatte. Ruben hatte gekreischt, geheult vor Schmerzen. Der rote Schleier, der eben noch über Meiners’ Augen gelegen hatte, hatte sich augenblicklich aufgelöst und Scham und Reue seinen Platz eingenommen.

Er hatte sich geschworen, nie wieder die Kontrolle zu verlieren. Was ihm nur bedingt gelungen war. Seit der Sache mit Ruben schien er noch schneller aus der Haut zu fahren. Sein Geduldsfaden besaß die Dicke eines Nähzwirns. Eines porösen Nähfadens. Antwortete ein Patient während der Exploration nicht schnell genug, spürte Meiners bereits, wie etwas in ihm aufwallte. Etwas, das dafür sorgte, dass er mit den Zähnen knirschte und die Fäuste ballte.

Vor nicht allzu langer Zeit galt Meiners als der am härtesten arbeitende Psychiater seiner Institution. Er hatte Ansehen genossen, sowohl bei den Patienten als auch beim weiteren Fachpersonal und dem Gericht. Wurde ein strafrechtliches Gutachten benötigt, dann von ihm. Die Leitung der Einrichtung hatte schon so gut wie ihm gehört. Doch es sollte sich alles verändern.

Der Job hatte ihn ausgefüllt. Eine 64-Stunden-Woche war normal gewesen. Ständig musste er sich in die Köpfe von Mördern hineinversetzen, während ihm sein Zuhause als Ruhepol diente. Das Haus und Sarah.

Sie hatten immer Kinder gewollt und gewusst, dass er seine Arbeitszeit kürzen müsste, wenn es so weit war. Dann kam Marcel auf die Welt. Meiners’ 64-Stunden-Arbeitswoche reduzierte sich auf eine 32-Stunden-Woche, und plötzlich wusste er nichts mehr mit sich anzufangen. Er liebte seinen Sohn, er liebte Sarah, dennoch fehlte ihm die Arbeit. Das ließ er seine Familie spüren. Die Ehe kriselte bereits einige Monate nach Marcels Geburt. Ruben zu zeugen, war ein törichter Versuch gewesen, sie geradezubiegen. Anstatt besser zu werden, wurde alles schlimmer. Sarah und er stritten sich täglich. Meiners erwachte mit Wut im Bauch und ging mit ihr zu Bett. Eine Wut, die sich selbst auf der Arbeit nicht legte. Und sein erster Ausbruch hatte dafür gesorgt, dass sein Ruf nie wieder derselbe sein sollte.

»Erzählen Sie mir von seinen Neigungen«, sagte Meiners und ließ den Kugelschreiber zwischen Zeige- und Mittelfinger tanzen. Er betrachtete den Neuankömmling, der mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen dasaß, als würde er Reue empfinden. Seine Betreuerin, eine schwarzhaarige Frau mit Fliegerbrille, ergriff das Wort. »Es fängt meist mit kleinen Dingen an. Er geht zu einem Jungen und bietet ihm an, sein Shirt in die Hose zu stecken oder den Gürtel zu richten. Und dann …«

Der Patient hob ruckartig den Kopf. »Ich habe nichts getan, was sie nicht wollten.«

Meiners verengte die Augen zu Schlitzen. »Erzählen Sie mir gerade, die Jungen wollten sich anfassen lassen?«

»Ich habe nur die Kleidung gerichtet.«

»Laut Ihrer Akte haben Sie weit mehr getan.«

»Mir sind ein-, zweimal die Finger ausgerutscht.«

Die Betreuerin legte eine Hand auf die Schulter des Patienten und er sank zurück in seine reuevolle Haltung. Meiners nahm einen tiefen Atemzug. Er hatte schlecht geschlafen und das Haus vor seinem ersten Kaffee verlassen, weil er Sarah nicht antreffen wollte. Er brauchte einen Kaffee, und zwar sofort. Er umklammerte den Kugelschreiber.

Die Betreuerin fuhr fort. »In der letzten Einrichtung hatte es Probleme gegeben. Einige der anderen Patienten wurden handgreiflich ihm gegenüber. Wir hoffen, hier mehr Glück zu haben.«

Glück, dachte Meiners und unterdrückte ein Schnaufen. Wieder ein Pädophiler, der die Schuld bei den Kindern sucht, nie bei sich selbst.

Der Patient fing an, vor sich hin zu murmeln. Meiners versuchte, es auszublenden, aber er verlor immer wieder den Faden, kämpfte gegen den Zorn, der in seinem Inneren loderte und irgendwann hörte er nicht mehr, was die Betreuerin sagte. Er hörte nur noch das Gemurmel und seinen eigenen Puls. Dann explodierte er: »Halten Sie endlich Ihre gottverdammte Schnauze!«

Der Patient und die Betreuerin wichen zurück. Meiners bemerkte, dass er aufgesprungen war, dass er wild schnaufend über die beiden gebeugt stand, mit zu Fäusten geballten Händen, so als würde er jeden Moment auf sie losgehen.

Zu Meiners’ Leidwesen war sein Wutausbruch nicht unbemerkt geblieben. Professor Doktor Seidel war auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum gewesen und gerade als Meiners brüllend aufgesprungen war, am Sprechzimmer vorbeigelaufen.

Seinem guten Ruf hatte er es zu verdanken, dass er nicht gekündigt worden war. Trotzdem blieb sein Ausbruch nicht ohne Folgen.

»Nicht nur mir ist aufgefallen, dass sie seit einer Weile …«, Seidel suchte nach den passenden Worten, »ein wenig unkonzentriert und reizbar wirken. Ich halte es für angebracht, Ihren Patientenumgang zu reduzieren. Nur bis Sie sich besser fühlen.«

Meiners hatte stumm dagesessen und genickt. Das Ganze war mittlerweile zwei Jahre her. Professor Doktor Seidel war vor 13 Monaten in Rente gegangen und ein anderer Professor hatte seine Nachfolge angetreten. Eine Nachfolge, die für ihn bestimmt gewesen war.

Noch immer wurden ihm die meisten Patienten entzogen. Und das, obwohl es keinen weiteren Ausbruch dieser Art gegeben hatte. Gut, er war ungeduldig und hatte an Höflichkeit eingebüßt. Die Leute trauten ihm nicht mehr wie früher, aber er war immer noch ein verdammt guter Psychiater! Der beste! Es musste ihm nur gelingen, seine Wut unter Kontrolle zu bekommen.

Meiners seufzte. Was war nur mit ihm los? Wann hatte das angefangen? Dieser Zorn, diese ständige Wut. Die Scheidung hatte alles verschlimmert. Neuerdings waren Visionen dazu gekommen. Augenblicke, in denen er vor sich sah, wie er auf Leute losging. Wie er auf sie eindrosch.

Was stimmt nicht mit mir?

Er rieb sich die Stirn. Seine Kehle fühlte sich trocken und kratzig an. Er brauchte diesen Drink wirklich.

Meiners dachte an Ruben und Marcel. Er dachte daran, wie er über seinem Sohn gebeugt dagestanden hatte, wie sich langsam der rote Schleier gelichtet hatte. Wie der Junge geweint hatte.

Dann fiel sein Blick auf Eddies Akte. Eigentlich müsste er arbeiten. Er schluckte und hustete. Nur ein Drink. Es würde schon gut gehen.

»Ich kann mich nicht von meiner Wut beherrschen lassen«, sagte er in den leeren Raum hinein. Die Wände antworteten, indem sie schwiegen. Es stimmte. Es war nicht gut, in einer Welt voller »Was wäre, wenn …« zu leben. Er lebte nur einmal und bei Gott, er würde nicht wieder einen Abend damit verbringen, die Nase in irgendwelche Unterlagen zu stecken.

Heute war ihm alles egal. Seine Arbeit, die Akten, die es zu bearbeiten galt, die Notizen zu seinem Gespräch mit Eddie, seine Ex-Frau, sogar die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Alles, was er jetzt wollte, war, sich hoffnungslos zu betrinken. Schmerzen und Sorgen zu ertränken. Es würde schon gutgehen.

Also erhob Meiners sich erneut und machte sich auf den Weg in die nächste Bar.

 

* * *

 

Kurz nach 21 Uhr traf Meiners ein. Er hatte sich entschieden, nicht den Wagen zu nehmen, obwohl er darüber nachgedacht hatte, auf den Heimweg volltrunken Schlenker zu fahren, lautstark zu alter Rockmusik zu grölen und gegen den nächsten Baum zu brettern. Letztlich hing er jedoch genug am Leben, um solch ein armseliges Ende nicht in Kauf zu nehmen.

In seiner Brieftasche befanden sich zwei 50-Euro-Scheine. Die galt es zu versaufen und genug Kleingeld für ein Taxi übrig zu lassen.

Meiners betrat die Bar. Sofort schlugen ihm laute Stimmen und Hells Bells von AC/DC entgegen. Die Kneipe war rappelvoll, obwohl es Mittwoch war. Drei Kerle standen zwischen zwei Stehtischen, sie führten einen wilden und unrhythmischen Tanz auf. Einige unterhielten sich lautstark in Grüppchen. Die meisten Leute versammelten sich um die Bar. Meiners verschwendete keine Zeit mehr, er lief ebenfalls direkt darauf zu, dabei wurde er von einem kleinen Mann mit Glatze angerempelt. Der hielt ein Glas in der Hand, dessen Inhalt bedrohlich schwappte. Er blickte mit zu Schlitzen verengten Augen zu Meiners auf und wankte. Der Farbe seiner Nase nach, war er kein Gelegenheitstrinker.

»Ey, passs doch au-auf, du Pisss-pissss-pisskopp, du!«

»Entschuldigung«, sagte Meiners. Er wollte weiterlaufen, als der Glatzkopf ihn am Arm packte.

Meiners biss sich von innen auf die Lippen, bemühte sich, ruhig zu bleiben und wandte sich dem Mann erneut zu.

»Du hasssd mein Gedränk verschüddet, Pissskopp.«

Meiners betrachtete das Glas, dann wieder den Mann.

»Schpendia mir ’n Neues.«

»Ja, wie Sie meinen«, sagte er und riss sich los. Der Glatzkopf hob abwehrend die Arme und grinste schief. »Enschuldiggen Se, feiner Herr, dass ich es wahgen konne, Se ansufassen.«

Meiners ließ ihn stehen. »Ich ziehe Idioten an«, murmelte er, da wurde er erneut am Arm berührt und unsanft nach hinten gezogen. »Hey!«, rief er und wirbelte herum. »Lass gefälligst deine dreckigen Griffel bei dir!«

Da schoss bereits eine Faust auf ihn zu. Weil sein Angreifer, der Glatzkopf, aber schon zu betrunken war, gelang es ihm mühelos, auszuweichen.

»Wadde, du …!« Wieder holte Glatzkopf aus.

»Es reicht!« Meiners brüllte und stieß den Betrunkenen so kräftig, dass er zurücktaumelte und auf dem Hintern landete. Der rote Vorhang war wieder da, machte ihn rasend. Meiners beugte sich über Glatzkopf und schlug zu. Der Kopf des Mannes schnellte zur Seite. Der hob abwehrend die Hände, versuchte, Meiners von sich zu stoßen, doch der ließ sich nicht beirren. Er schlug erneut zu. Wieder und wieder. Spürte, wie Glatzkopfs Nase unter seiner Faust brach, fühlte warmes Blut auf seinen Knöcheln. Da wurde er bei den Schultern gepackt und zurückgerissen. Meiners wehrte sich mit Händen und Füßen, doch immer mehr Männer hielten ihn fest.

Langsam verblasste der rote Vorhang und Meiners kam zu sich. Alle starrten ihn an. Auf dem Boden lag Glatzkopf, bewusstlos und blutüberströmt.

»O mein Gott ...« Ich habe ihn umgebracht. Meiners wollte sich losreißen, um nach ihm zu sehen – die Männer ließen ihn nicht. Glatzkopf regte sich und stöhnte. Erst jetzt fiel Meiners auf, dass die Musik verstummt war. Zwei Männer halfen dem Betrunkenen auf, der kein klares Wort mehr zustande brachte. Einer von ihnen hielt ein Handy in der Hand und telefonierte.

Das war’s, dachte Meiners, ich komme in den Knast. Doch statt ihn weiter festzuhalten, drängten ihn die Kerle quer durch die Kneipe und warfen ihn auf die Straße.

»Lass dich hier nicht mehr blicken!«, rief einer von ihnen, ein muskulöser Bursche mit schulterlangem schwarzen Haar.

Meiners betrachtete seine Hände. Das meiste Blut daran, war nicht seins.

»Es ist schon wieder passiert.«

Er hatte das Bedürfnis zu weinen, doch nicht einmal das gelang ihm. Er fühlte sich leer und nutzlos. Wie hatte er dermaßen die Kontrolle verlieren können? Schon wieder. Und das ohne einen einzigen Tropfen Alkohol.

Aus der Bar drangen die gewohnte Rockmusik und lautes Grölen. Meiners wandte sich ab, um sich auf den Heimweg zu machen. Erneut betrachtete er seine Fingerknöchel. Die letzte Verletzung war noch nicht komplett verheilt gewesen. Ein Schlag gegen die Wand. Zwei gebrochene Finger.

»Wem mache ich etwas vor?«

Ein Taxi rief er nicht.

 

* * *

 

»Was ist denn mit Ihnen passiert?« Eddie betrachtete ihn mit prüfendem Blick, wie er es schon während ihrer ersten Sitzung getan hatte.

Meiners verkrampfte sich, ein säuerlicher Geschmack brodelte in seiner Kehle. Er schluckte ihn hinunter. »Fahren Sie mit Ihrer Geschichte fort, Eddie. Dieses Mal nehme ich unser Gespräch auf, ist das in Ordnung für Sie? Wenn ich mir bloß Notizen mache, entgehen mir Einzelheiten.« Ohne eine Antwort abzuwarten, holte er einen Kassettenrekorder hervor und legte ihn vor sich auf dem Boden.

»Kassetten?«, fragte Eddie. »Sie sind wohl irgendwo in den 90ern steckengeblieben, was?«

Meiners reagierte nicht darauf, drückte auf Aufnahme, lehnte sich zurück und holte Stift und Notizbuch aus der Jackett-Innentasche hervor.

»Ganz ehrlich, Doktor, was ist mit Ihnen? Sie wirken ganz schön grummelig und die roten Augen sprechen entweder für Schlafmangel oder dafür, dass sie geweint haben. Wirklich, sagen Sie es mir, es interessiert mich.«

Meiners ging die letzten Notizen durch und begann mit weiteren Stichpunkten, die aus sinnlosen Kritzeleien bestanden, um Eddie zu demonstrieren, dass es an der Zeit war, fortzufahren. Außerdem, um ihn nicht anzubrüllen. Am heutigen Morgen war seine Wut mit ihm erwacht und es gelang ihm kaum, sie zu bändigen.

»Haben Sie sich geprügelt, Doktor?«, fragte Eddie. »Die Abschürfungen an Ihren Fingern sind …«

»Es reicht!« Meiners erschrak vor dem Zorn in seiner Stimme. Er nahm einen tiefen Atemzug. Auch Eddie war zurückgewichen. Wie beim letzten Mal, saß er neben dem Bett auf dem Boden, jetzt zog er wieder die Knie an.

Meiners lehnte sich vor und drückte die Stopp-Taste des Kassettenrekorders. »Ich arbeite gerne auf altmodische Art mit Notizbüchern und Kassetten. Das braucht Sie aber nicht zu interessieren, Herr Quinn. Alles, was Sie zu tun haben, ist, mir Ihre Geschichte zu erzählen, damit ich sie auswerten kann.«

»Das würde mir leichter fallen«, sagte Eddie und streckte die Beine aus, »wenn ich auch etwas über Sie wüsste. Sie wissen schon, ›quid pro quo, Clarice‹.«

Meiners schnaufte. Sie hatten sich also beide durch diese Situation an Hannibal Lecter erinnert gefühlt.

»Ich meine, schließlich weiß ich doch gar nicht, ob ich Ihnen trauen kann, Doktor. Sie erzählen mir etwas von Ihnen und ich erzähle Ihnen im Gegenzug einen Auszug aus meiner Lebensgeschichte.«

»Sie haben mir doch gestern schon etwas erzählt.«

»Ja, aber ich habe darüber nachgedacht. Es würde mir leichter fallen, wenn die Situation zwischen uns nicht so angespannt wäre. Sie wissen am Ende alles über mich und ich weiß nicht das Geringste über Sie. Dadurch vergesse ich im schlimmsten Fall Einzelheiten, weil ich zu verkrampft bin oder so was. Ich finde es seltsam, wenn Sie alles wissen und ich gar nichts. Das ist doch unfair, finden Sie nicht?«

»Nein.«

Eddie betrachtete ihn erneut prüfend, das spülte den säuerlichen Geschmack zurück in Meiners Kehle. Er umklammerte den Kugelschreiber, bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. »Unfair ist das ganz und gar nicht, denn es hat Sie nicht zu kümmern, was für ein Mensch ich bin und wie meine Kindheit ausgesehen hat.«

»Es müssen ja nicht …«

»Nein! Wir befinden uns nicht in irgendeinem Film, in dem wir uns annähern und am Ende beste Freunde werden, verstehen Sie das? Das hier ist das reale Leben. Sie haben vermutlich Menschen getötet, darunter Ihre Mutter und Sie können froh sein, dass ich hier bin, um die Wahrheit herauszufinden, andernfalls haben Sie nämlich ein sehr langes oder auch sehr kurzes Leben im Gefängnis zu erwarten. Ich bin imstande, Ihnen da rauszuhelfen, wenn Sie mich lassen. Und zwar nur ich. Denn entweder sind Sie ein Mörder und wissen das. Oder sie morden, ohne sich dessen gewahr zu sein. Möglicherweise haben Sie niemanden umgebracht, kennen dafür aber den Täter, was auch nicht gerade für Sie und Ihre Situation spricht. Darum bin ich hier. Nicht, um über mich zu sprechen. Nur darum. Also reißen Sie sich zusammen und fangen Sie endlich an.«

Eddie funkelte ihn an. Ein Blick, wie er ihn schon oft gesehen hatte – bei Sarah. Dieser Zorn mit einer Spur Enttäuschung darin. Es machte Meiners rasend. Er sprang auf, wodurch der Stuhl krachend auf dem Boden landete, und preschte auf Eddie Quinn zu. Dieser hob abwehrend die Hände, doch Meiners schlug sie zur Seite und versetzte ihm einen Kinnhaken. Eddie lag vor ihm, ohne etwas zu erwidern, weiterhin mit diesem Blick, der Meiners’ Blut zum Kochen brachte. Er drosch und drosch wieder und wieder auf Eddie ein, bis er das Nasenbein und die Wangenknochen unter seinen Fäusten bersten spürte.

Meiners blinzelte und die Vision war verschwunden. Eddie betrachtete den Boden. Hatte er sich den Blick ebenfalls eingebildet? Genau wie den Wutausbruch? Meiners holte zitternd Luft. Was passierte mit ihm?

»Also gut«, sagte Eddie. »Sie haben mich überzeugt. Schalten Sie Ihren Retro-MP3-Player ein. Ich werde reden.«

»Danke«, sagte Meiners, ohne zu wissen, wofür er sich bedankte. Weil du ihn sonst zu Brei schlagen würdest, du Irrer, hörte er eine Stimme in sich. Dann beugte er sich vor und drückte auf Aufnahme.

Kapitel 4 – Der Unheimliche Mann

 

Mas beste Freundin hieß Kristina Eiing. Sie kam ständig zu Besuch und spielte sich auf, als wäre sie der Mittelpunkt der Welt.

Es war der Morgen nach der Erscheinung und Eddie Juniors Tod, und ich war nicht in der Stimmung für Kristina. Als ich in die Küche kam und sie sah, wäre ich am liebsten direkt wieder umgedreht und hätte mich in meinem Bett verkrochen.

Sie stand am Fenster und stützte sich mit den Ellbogen am Fensterbrett ab. Wie immer, trug sie ein zu enges Oberteil, bei dem ich fürchtete, der BH – wenn sie denn einen anhatte – könnte jeden Moment platzen und ihre gewaltigen Brüste sprängen hervor, um mich zu erschlagen. Ihr Mondgesicht wurde von falschen roten Locken umrahmt und ihr knalliger Lippenstift verfolgte mich jahrelang in meinen Träumen. Als sie mich bemerkte, schlug sie ein Bein über das andere. Sie glaubte, damit Eindruck zu schinden. Kristina versuchte, jeden Mann zu beeindrucken, selbst wenn er erst acht Jahre alt war.

Mich beeindruckte allerdings nichts an ihr, eher empfand ich sie als abschreckend und fragte mich, wie bei jedem ihrer Besuche, warum Ma sich mit ihr abgab. Sie konnten unterschiedlicher kaum sein: Kristina das Barbie-Püppchen gegen meine unscheinbare Mutter, die man wohl gemeinhin als graue Maus bezeichnen konnte.

Ich erinnere mich an ein Foto von ihr, auf dem sie schwanger gewesen war. Damals, als ihre Welt noch in Ordnung schien. Sie trug ein blaues Kleid mit weißen Blumen darauf und ich bin mir sicher, dass sie glücklich aussah. Mein Erzeuger stand ihr zur Seite. Sein Äußeres habe ich verdrängt. Wenn ich an das Foto denke, sehe ich an der Stelle, an der er stehen sollte, nichts als einen Schatten. Ma hat das Foto kurz nach seinem Verschwinden entsorgt. An weitere Fotos erinnere ich mich nicht.

Doch was ich weiß, ist, dass sie auf diesem alten Bild wunderschön ausgesehen hat, nicht aufgehübscht wie Kristina, deren Motto lautete »Je mehr Schminke, desto besser.«, sondern wie eine natürliche Schönheit. Zu dieser Zeit war sie glücklich gewesen. Jetzt aber, wo sie keinen Mann mehr hatte, dafür einen Sohn, der mit acht Jahren noch ins Bett pinkelte, sah sie müde und ausgezehrt aus. Die dunklen Ringe unter ihren Augen wechselten zwischen den Tönen grau und lila hin und her und sie wirkte mindestens um fünf Jahre älter, als sie in Wirklichkeit war.

Ich sorgte mich um meine Mutter, doch was konnte ich schon ändern? Ein Kind! Ich bemühte mich, es ihr leichter zu machen, indem ich ihr im Haushalt unter die Arme griff, so gut dies mit acht Jahren eben möglich war.

»Guten Morgen, Kleiner«, sagte Kristina. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Ich brummte etwas, dass ›guten Morgen‹ heißen sollte und lief zum Küchenschrank, um mir Cornflakes zu nehmen. Nachdem ich mir eine Schüssel, einen Löffel und Milch gegriffen hatte, wollte ich mich an den Tisch setzen, doch aus dem Augenwinkel registrierte ich etwas hinter Kristina, die genau vor dem Fenster stand.

Und da sah ich sie erneut. Die vermummte Gestalt, die gestern neben dem Brombeerstrauch verharrt hatte, stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schien genau in meine Richtung zu sehen. Wie zuvor, blieb ihr Gesicht unter der breiten Hutkrempe verborgen.

»Da ist er wieder!«, rief ich und zeigte nach draußen.

Kristina hob eine Augenbraue und drehte sich um. »Wen meinst du?«

»Den Mann da! Der in dem Mantel und dem breiten Hut.«

Kichernd wandte Kristina sich wieder vom Fenster ab, da betrat Ma die Küche.

»Was ist so witzig?«, fragte sie.

»Dein Sohn möchte mich auf den Arm nehmen.« Dann an mich gerichtet: »Bist du nicht schon etwas alt für einen Fantasiefreund?«

Ich erwiderte nichts, sondern blickte weiterhin auf die andere Straßenseite, wo der Mann regungslos wartete. Sein Mantel bewegte sich leicht im Wind. Das war auch schon alles, was vermuten ließ, dass es sich nicht um eine Statue handelte.

Weil die Gestalt beim letzten Mal verschwunden war, nachdem ich geblinzelt hatte, kämpfte ich damit, die Augen offen zu halten, obwohl sie schon brannten.

»Was für ein Fantasiefreund?«, fragte Ma. In ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit, den ich damals nicht zu deuten wusste. Allerdings hatte ich keine Zeit, darüber nachzudenken, da ich mich zu fest auf das Nicht-Blinzeln konzentrierte.

Kristina kicherte wieder. »Er denkt, vor dem Fenster steht ein Cowboy.«

Eine kurze Pause entstand.

»Schatz«, sagte Ma, ohne auf Kristinas Kommentar einzugehen, »du solltest langsam frühstücken, sonst schaffst du es nicht, aufzuessen, bevor du in die Schule musst.«

»Gleich, Ma.«

»Nein, Eddie. Jetzt!«

Ich fuhr zusammen. Dabei blinzelte ich. Als ich sie wieder öffnete, war die Gestalt verschwunden.

Mist.

Mit hängenden Schultern drehte ich mich um und schlurfte zum Tisch.

Ma kam zu mir, sie befühlte meine Stirn, sagte aber nichts. Ich wusste, sie machte sich Sorgen. Schlimm genug, dass ich dauernd von Albträumen gequält wurde, in denen ich ertrank, und immer noch ins Bett machte, jetzt fing ich zudem an, unsichtbare Männer zu sehen.

Mich dagegen faszinierte die Erscheinung. Hätte ich sie nur einmal gesehen, wäre sie schnell in Vergessenheit geraten, doch es war wieder passiert. Damit war für mich klar, dass ich sie mir nicht eingebildet hatte, dass es kein seltsamer Schatten gewesen war, den der Brombeerstrauch geworfen hatte. Nein, es gab diesen Mann mit dem breiten Hut, und aus irgendwelchen Gründen erschien er nur mir. Warum? Hatte ich eine Mission zu erfüllen? Galt es, die Welt zu retten und allein ich war in der Lage dazu?

Ich freute mich darauf, den Mann ein weiteres Mal zu sehen, dann würde ich ihn fragen. Damals wusste ich nicht, welches Grauen der Wunsch nach sich ziehen würde.

 

* * *

 

In der folgenden Nacht ging ich früh ins Bett, um in meinen Spider-Man-Comics zu lesen. Ich liebte Superhelden und besonders ihn, weil er wendig war und ich den Gedanken ungeheuer aufregend fand, von einer radioaktiv verseuchten Spinne gebissen zu werden, Spinnennetze zu verschießen und an Wänden hochzukrabbeln.

Während ich mit einer Taschenlampe in der Hand unter der Bettdecke Spider-Man dabei beobachtete, wie er eine Frau aus den Fängen des Kobolds befreite, drifteten meine Gedanken immer wieder zu der Gestalt ab, die ich gesehen hatte.

Ihre Regungslosigkeit war unheimlich gewesen. Ich hoffte, dass mir ihr Gesicht noch eine Weile verborgen bliebe. Vielleicht war es verbrannt oder entstellt, warum sonst, sollte sie es verstecken?

Ich gähnte und klappte das Comicheft zu. Wenn die Konzentration fehlte, konnte ich genauso gut schlafen.

Etwas kratzte über den Fußboden.

Kratz-kratz.

Was war das? Ich hielt die Luft an. Kälte breitete sich in meinen Gliedern aus, die langsam jeden Teil meines Körpers beschlich.

Kratz-kratz.

Sofort schaltete ich die Taschenlampe aus und schnappte nach Luft. Was auch immer in meinem Zimmer über dem Boden schabte, würde mich nicht sehen, solange ich mich unter der Decke versteckte. Oder?

Mit angehaltenem Atem lauschte ich. Nichts passierte. Vorsichtig zog ich an der Bettdecke, lugte hervor. Mein Blick huschte von links nach rechts, während mein Herz gegen den Brustkorb hämmerte, als wäre darin ein kleiner Vogel gefangen.

Nichts.

Dann richtete ich mich auf, um auch den Boden überschauen zu können.

Kratz-kratz-kratz.

Japsend zog ich die Bettdecke wieder über den Kopf.

Tränen rannen meine Wangen hinunter, trotzdem gab ich keinen Laut von mir. Das Schaben nahm an Geschwindigkeit zu. Es hörte sich an, als versuchte sich jemand mit bloßen Fingernägeln einen Weg in die Freiheit zu schaufeln – oder in mein Zimmer. Mein Körper zitterte unkontrolliert. Wie sehr ich mich auch bemühte, es zu unterdrücken, es wurde immer schlimmer. Meine Angst, von dem Wesen entdeckt zu werden, raubte mir den Verstand. So fest ich konnte, presste ich meine Handflächen gegen die Ohren, kniff die Augen zusammen, biss mir auf die Lippen.

Plötzliche Stille.

Ich lauschte mit angehaltenem Atem. Einige Zeit passierte nichts mehr. Dann erklang ein schleifendes Geräusch. So, als würde ein Gegenstand über den Boden gezogen werden. Es begann links neben dem Bett und wanderte dann weiter.

Ich verspürte den Impuls, aus dem Bett zu springen und schreiend zu meiner Mutter zu rennen, doch ich war wie gelähmt.

Schritte.

Sie schienen von der Tür aus zu kommen und sich langsam dem Fußende des Bettes zu nähern. Etwas kroch zu mir. Ich spürte, wie sich die Matratze senkte, hörte das Wesen atmen. Es klang rasselnd wie von einem Raucher oder einer erkälteten Person, deren Kehle mit Schleim verklebt war.

Ich hielt es kaum aus.

Auf der Mitte des Bettes verharrte das Wesen eine Weile. Schien es sich bequem zu machen, als wäre es ein Hund, der die Nähe seines Herrchens sucht. Wir hatten keinen Hund.

Ich hörte es weiter atmen, während es in der Mitte meines Bettes hockte, ohne sich zu rühren. Was hatte es vor? Beobachtete es mich? Wartete es auf den passenden Moment, um mich anzugreifen wie ein Raubtier? Ich konnte nicht schreien, ich konnte kaum atmen, nie zuvor hatte ich eine ähnliche Angst verspürt.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort ausharrte, irgendwann fand ich mich auf dem Grund des Meeres wieder. Wasser drang durch Nase und Mundhöhle ein, füllte meine Lungen, und irgendetwas packte meinen Knöchel.

»SIEH, WAS DU GETAN HAST, EDDIE!«

Dieses Mal schrie ich. Ich kreischte, bis mein Hals kratzte und meine Stimme brach. Ich schlug um mich, als gäbe es kein Morgen mehr. Da wurde die Bettdecke von mir gerissen, das Wesen packte mich an den Schultern, schüttelte mich. Ich brüllte noch immer, wagte es nicht, die Augen zu öffnen.

»Eddie, um Gottes willen!«

Ma? Endlich beruhigte ich mich. Vorsichtig öffnete ich die Augen und blickte in das sorgenvolle Gesicht meiner Mutter. Sie hatte das Licht eingeschaltet, draußen war es dunkel. Sie half mir auf und drückte mich an sich. Langsam erwiderte ich die Umarmung. Mein Zimmer ließ ich dabei nicht aus den Augen.

Es war niemand da. Kein Kratzen, kein Schleifen mehr, nur Ma, die leise in mein Ohr schluchzte. Endlich entspannte ich mich, vergrub das Gesicht in ihrer Schulter und ließ die Tränen ungehindert fließen.

So weinten wir gemeinsam.

 

* * *

 

Die Geräusche kehrten wieder. Nacht für Nacht. Mal hörte ich ein stetes Atmen, mal Kratzen oder Schlurfen und hin und wieder, wie in jener Nacht, alles zusammen. Ich litt Todesängste.

Der wiederkehrende Traum vom Ertrinken besaß eine gewisse Eintönigkeit. Er war schrecklich, ja, aber ich wusste, sobald die Kreatur mich gepackt hatte, wachte ich auf. Das Wesen in meinem Zimmer dagegen war unvorhersehbar.

Es gab Nächte, in denen hörte ich kaum etwas. Dafür spürte ich, wie es mich beobachtete. Wie es meinen Körper durch Blicke fesselte und mit irgendeiner Macht paralysierte. Nächte, in denen ich dalag, mit weit geöffneten Augen und schwerem Atem. Erstarrt. Und ich wusste, dass er es war. Der Mann, der mir an jenen zwei Tagen erschienen war. Ich wusste es einfach. Ich kann nicht erklären wieso, es war so ein Gefühl. Er war immer da, beobachtete jeden meiner Schritte.

Die Gewissheit folgte, als ich ihn in einer der folgenden Nächte in der Ecke meines Zimmers stehen sah. Wieder verharrte er regungslos und die Finsternis verschluckte ihn so weit, dass bloß seine Umrisse erkennbar waren. Ich sah den Mantel, den Hut mit der breiten Krempe. Er rührte sich nicht und starrte mich an, bis der Schlaf mich packte und mit sich riss.

Nächte, in denen der Unheimliche Mann – wie ich ihn mittlerweile nannte – regungslos in den Schatten lauerte, häuften sich. Manchmal redete ich mit ihm. Fragte, was er von mir verlangte – er antwortete nie. Ich hielt seinem Starren stand, aus Furcht, er fiele über mich her, sobald ich ihm den Rücken kehrte. Trotz der Angst, übermannte mich der Schlaf letztlich doch jedes Mal und am nächsten Morgen wachte ich auf, als wäre alles nur ein schrecklicher Traum gewesen.

Eines Morgens schlug Ma vor, Tante Anna einen Besuch abzustatten. Sie war seit einigen Jahren bettlägerig und litt an Demenz.

Wir brachen relativ früh auf, um Tante Annas Pflegekraft nicht in die Quere zu kommen, denn die hasste es, bei ihrer Routine unterbrochen zu werden. Ma besaß einen Schlüssel für das Haus. Manchmal fuhr sie hin, um für Tante Anna Einkäufe zu erledigen oder die Blumen zu gießen. Auch dieses Mal trugen wir ein paar Lebensmittel mit uns – Kartoffeln, Joghurt, Reis, Fleischbällchen. Tante Annas Geschmackssinn hatte sich durch die Demenz verändert, oft fehlte ihr die Lust, überhaupt Nahrung zu sich zu nehmen. Sie musste gefüttert werden und wenn ihre Apathie zu stark war, blieb noch Flüssignahrung als Möglichkeit. Trank sie, dann mit einem Strohhalm.

Ma und ich fanden Tante Anna tot in ihrem Bett. Sie sah aus, als würde sie schlafen, außer, dass ihre Augen offen gewesen waren und ihr Blick zur Decke gerichtet war.

Ma bemerkte sofort, was vor sich ging, und wollte mich in den Flur drängen. Ich versuchte, einen letzten Blick auf meine Tante zu erhaschen, auf ihre blasse Haut, die trüben Augen, als der Unheimliche Mann erschien. Zunächst tauchte seine Hutspitze auf, als habe das Wesen neben dem Bett gelegen. Der Rest des Hutes folgte, der langsam nach oben schwebte, dann die Schultern. Der Unheimliche Mann wuchs und wuchs, bis er aufrecht dastand. Wie immer blieb mir sein Gesicht verborgen, doch ich spürte seinen Blick regelrecht auf mir. Er hob den Arm und trug schwarze Handschuhe. Seine Hand schwebte über Tante Anna. Ich schrie auf: »Nein! Nein!«

Ma redete beruhigend auf mich ein und drückte mich weiter aus dem Zimmer.

»Geh weg von ihr!«, rief ich. Ma zuckte zusammen. Sie umfasste mich fester und schob mich in den Flur.

»Warte hier«, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie weinte. »Warte einfach.«

»Ma«, schluchzte ich. »Ma, er ist da drin, er …«

»Still jetzt!« Mas Stimme brach. Sie sah gleichzeitig wütend und unbeschreiblich traurig aus. Augen, Nase und Wangen waren gerötet, der Rest ihrer Gesichtsfarbe glich der weißen Tapete in Tante Annas Zimmer.

»Sei einfach still«, flüsterte sie und ließ mich allein im Flur zurück.

Einige Zeit später wurde meine Tante auf einer Liege abtransportiert. Ma versperrte mir die Sicht auf sie, indem sie sich vor mich stellte. Ich hatte genug gesehen.

Der Unheimliche Mann hatte sie geholt.

 

* * *

 

Seit jener Nacht, in der ich kreischend erwacht war, suchte meine Mutter nach einem passenden Psychotherapeuten für mich. Sie probierte alles durch, auch Psychologen und Psychiater. Es war schwierig, einen Termin zu bekommen, der nicht erst Monate in der Zukunft lag.

Ich sah den Unheimlichen Mann weiterhin. Tagsüber selten, dafür besuchte er mich jede Nacht.

Irgendwann hatte Ma die Anrufe satt und nahm einen Termin bei einem Psychiater mit dem Namen Doktor Stanislav Wassili an. Die Wartezeit betrug sechs Monate.

Doktor Wassilis Praxis wirkte kalt und abstoßend auf mich. Die Wände waren in einem sterilen Weiß gestrichen. Hier und da hingen Bilderrahmen mit Fotos, auf denen Kinder zu sehen waren. Sie grinsten oder lachten. Jede dieser Emotionen wirkte gestellt.

Ich hatte keine Lust, einen Psychiater aufzusuchen, wollte nicht, dass irgendwer davon wusste, und ich hasste es, dass meine Mutter mich zwang, zu ihm zu gehen. Gleichzeitig sollte sie sich nicht länger um mich sorgen. Die Ringe unter ihren Augen waren dunkler geworden und sie schien jede Freude verloren zu haben.

Ich wollte nicht der Grund für ihren Kummer sein, also hatte ich aufgehört, von dem Unheimlichen Mann zu sprechen. Ma erwischte mich weiterhin, wie ich probierte, die Bettwäsche ohne ihr Wissen, zu säubern, wenn ich hineingemacht hatte. Sie saß nach wie vor häufig an meinem Bett, nachdem ich aus Albträumen hochgeschreckt war. Aber ich sprach nicht mehr von den Geräuschen in der Nacht und der Gestalt, die hin und wieder in der Ecke meines Zimmers lauerte. Zumindest das wollte ich ihr ersparen.

Obwohl ich mich bemühte, wie ein normales Kind zu wirken, sollte ich den Termin bei Doktor Wassili wahrnehmen. Wir hatten schließlich lange darauf warten müssen und Ma hoffte, eine Lösung gegen meine Albträume zu finden.

Ich fuhr bereitwillig mit zur Praxis. Ließ mir nicht anmerken, dass ich diesen Ort hasste.

Doktor Wassili empfing uns einige Minuten nachdem die Empfangsdame uns gebeten hatte, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Er war mir direkt unsympathisch. Der Psychiater sah aus wie eine Mischung aus Einstein und Herrn Schleicher, meinem Geschichtslehrer, der sich für allwissend und atemberaubend hielt. Wassilis Haar stand ungebändigt ab. Er trug einen Anzug, der ihm eine Nummer zu groß war.

»Guten Tag, Frau Quinn«, sagte er und reichte Ma die Hand. »Und du musst wohl Eduard sein.« Er blickte zu mir herunter und lächelte dünn.

»Eddie«, sagte ich und wollte ihm ebenfalls die Hand reichen, doch der Psychiater zog ein Brillenputztuch aus dem Jackett, nahm die Brille von der Nase und putzte die Gläser. Wir warteten, bis er das Tuch wieder verstaut hatte und die Sehhilfe zurückgesetzt worden war.

»Hereinspaziert«, sagte er und führte uns in sein Sprechzimmer.

Hier waren die Wände ebenso kalt und abstoßend wie im Wartebereich. Am liebsten hätte ich Ma an die Hand genommen, um sie zurück zum Auto zu ziehen. Bloß weg von hier. Der Ort war mir zu unheimlich. Bilder hingen hier keine mehr, nur diverse Urkunden und ein gewaltiger Schrank mit Büchern bekleidete die Wand hinter Wassili, die sich alle um die Psyche der Menschen drehten. Es erstaunte mich, dass so viele Bände über das Thema existierten.

»Nun«, sagte Wassili und bedeutete uns, dass wir uns hinsetzen sollten. Er selbst nahm gegenüber auf einem Lederstuhl Platz und schlug die Beine übereinander. Er wirkte erstaunlich groß, trotz der Armee von Büchern in seinem Rücken.

Ich ließ meinen Blick wandern und wunderte mich, dass es keine Liege in diesem Zimmer gab. Musste man sich nicht hinlegen, wenn man nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte?

»Deine Mutter erzählte mir, dass du immer mal wieder einen Mann siehst, den, allem Anschein nach, nur du sehen kannst.«

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf den Psychiater, der jetzt ein Notizbuch vor sich liegen hatte. Er drückte auf das hintere Ende eines silbernen Kugelschreibers, sodass die Spitze mit einem Klicken hervorschnellte.

»Ich sehe ihn nicht mehr«, sagte ich. Ich saß mit durchgedrücktem Rücken da, mit angespannten Schultern und erhobenem Kinn. Das musste seltsam aussehen, daher zwang ich mich, in eine entspanntere Position zu wechseln. Es gelang mir nur bedingt.

»Achso«, sagte Wassili und kritzelte etwas in sein Notizbuch. Der Kugelschreiber kratzte über das Papier, wodurch sich überall auf meinem Körper eine feine Gänsehaut bildete. Kratz-kratz-kratz.

»Seit wann siehst du ihn nicht mehr?«

Ich bemerkte, dass ich mich wieder versteift hatte, und legte die Hände in den Schoß. »Schon seit einer ganzen Weile. Ich weiß, dass er nur eine Fantasiegestalt war. Jetzt geht es mir besser.«

»Was war der Auslöser dafür?«

Ich rutschte unruhig hin und her. Mas Anwesenheit machte mich nervös. Sie saß da wie eine Statue, den Blick auf den Psychiater gerichtet und sagte kein Wort.

»Was?«, fragte ich, obwohl ich die Frage klar und deutlich verstanden hatte, nur um etwas Zeit zu gewinnen.

»Was war der Grund für deine Besserung? Wie kommt es, dass du den Mann nun nicht mehr siehst?«

»Ich weiß nicht. Ich … es ist einfach so.«

»Achso«, sagte Wassili wieder und erneut kratzte der Kugelschreiber über das Papier. Kratz-kratz-kratz.

»Erzähl mir ein bisschen was von dir, Eddie«, fuhr der Psychiater fort. »Was ist deine erste Kindheitserinnerung?«

Kurz blitzte das Meer vor meinem inneren Auge auf und für den Bruchteil einer Sekunde wurde ich in den Albtraum zurückversetzt. Ich schluckte. Warum musste ich ausgerechnet jetzt an diesen Traum denken?

»Ich weiß nicht genau«, erwiderte ich.

»Lass dir ruhig Zeit.«

Ich überlegte. »Ich glaube … ich glaube, es ist Ma, die mir mein Frühstück vor die Nase setzt. Es ist Bananenbrot. Früher stand ich auf das Zeug, heute finde ich es abartig.«

Kratz-kratz-kratz.

Wie in meinem Zimmer. Ich erschauerte.

»Was ist so besonders an dieser Erinnerung?«, fragte Wassili. »Warum ist sie dir im Gedächtnis geblieben?«

»Keine Ahnung.«

Wassili wartete.

»Das muss kurz nach dem Verschwinden von meinem Vater gewesen sein«, fuhr ich fort. »Vielleicht auch später, ich bin mir nicht sicher. Ich schätze, ich war da ungefähr vier.«

»Und was tat deine Mutter, als sie dir das Frühstück hingestellt hat?«

»Sie weinte.«

Ma rührte sich neben mir, erstarrte aber direkt wieder.

Kratz-kratz-kratz.

Der Psychiater nickte, ohne von seinen Notizen aufzusehen. »Wann ist dein Vater verschwunden?«

»Er ist gegangen, als ich drei war.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752124866
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Deutschland Serienkiller Trenchcoat Serienmörder Forensiker Psychiatrie Psychiater Mann mit Hut Mörder unschuldig Psychothriller

Autor

  • Nicole Siemer (Autor:in)

Nicole Siemer hat schon in der Grundschule unheimliche Geschichten geschrieben. Nachts schlich sie sich vor den Fernseher und sah sich heimlich Horrorfilme an. Tagsüber las sie R. L. Stine und Stephen King. Angst fasziniert Nicole, nun möchte sie ihren Lesern ebenfalls das Fürchten lehren. Wenn sie nicht gerade für Angst und Schrecken sorgt, oder durch Wälder wandert, lebt Nicole zusammen mit ihren Stubentigern und ihrer Mitbewohnerin im schönen Emsland.