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An einem dieser stillen Tage

von Olaf Hauke (Autor:in)
175 Seiten

Zusammenfassung

Die Trennung von seiner Frau hat den Komponisten Andreas Jahn völlig aus der Bahn geworfen. Sie hat ihn mit seinem langjährigen Manager betrogen und für Chris, den künftigen Schwiegersohn von Andreas, hat es den Eindruck, als wären die beiden dabei, den Komponisten auch finanziell in den Ruin zu treiben. So hat Chris nicht nur die Aufgabe, die Betrügereien zu beweisen, er muss auch dafür sorgen, dass Andreas nicht völlig den Lebensmut verliert. Die Ideen, die er hat, sind allerdings reichlich unkonventionell...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

„Ich habe dich gewarnt. Noch hast du die Chance, zurück zum Wagen zu gehen und dort auf mich zu warten.“

Chris schüttelte den Kopf, rollte die Augen und tippte sich an die Stirn. „In letzter Zeit neigst du ein wenig dazu, die Drama-Queen zu spielen“, stellte er trocken fest und folgte Zoe, die die Treppe mit ausgewählt langsamen Schritten in den zweiten Stock empor stieg. Vermutlich hatte sie viel mehr Angst vor dem, was sie dort oben erwarten würde als er.

Er verschwieg ihr, dass er sich, nachdem sie bereits in den letzten Tagen immer wieder düstere Andeutungen über den Zustand ihres Vaters gemacht hatte, eine ältere Jeans angezogen und Gummihandschuhe eingesteckt hatte. Auch sie trug eine einfache, schwarze Jeans und einen Sweater, den sie normalerweise an einem faulen Sonntag trug, wenn sie gemeinsam vor dem Fernseher auf dem Sofa lagen und sich irgendwelche Filme ansahen.

Seit fast einem Jahr waren die beiden nun ein Paar, doch ihren Vater hatte Chris nie kennengelernt. Sie hatte auch kaum über ihre Familie gesprochen, obwohl sie, so vermutete es zumindest Chris, eine tiefe Liebe für ihren Vater empfinden musste. Er hatte von sich aus einige Male gefragt, doch in der Regel nur ausweichende Antworten erhalten. Schließlich hatte er es aufgegeben und die Entscheidung gefällt, dass sie ihm alles erzählen würde, wenn sie fand, dass die Zeit dazu gekommen war.

Und dann, vor wenigen Tagen, hatte sie erklärt, dass sie sich Sorgen um ihren Vater machen würde. Eine genauere Erklärung hatte sie nicht gegeben, aber das war nicht ihre Art. Sie war in Frankfurt zu einem Shooting gewesen, sie hatten sich am Abend per Video unterhalten.

Sofort hatte Chris sich bereit erklärt, nach ihm zu sehen, doch seine Freundin hatte nur energisch mit dem Kopf geschüttelt und erklärt, dass sie ihn nach ihrer Rückkehr, wenn sie einige Tage frei wäre, aufsuchen würde. Chris musste zugeben, dass er nicht locker gelassen hatte, bis sie sich eher zähneknirschend bereit erklärt hatte, ihn als Begleitung zu akzeptieren.

Nach ihren einsilbigen Schilderungen hatte Chris mit einem abgestürzten Trinker gerechnet, der in den schlechten Ecken der Stadt zu Hause war. Zoe war in ihrem Beruf als Model überaus erfolgreich, vielleicht hatte das Geld die beiden getrennt.

Doch die kurze Fahrt hatte in der Südstadt geendet, in einer Tiefgarage eines teuren Appartement-Hauses. Sie hätten auch mit einem Fahrstuhl nach oben fahren können, doch Zoe hatte zunächst einen ziemlich überfüllten Briefkasten geleert und danach die Treppe genommen. Das Haus machte einen gepflegten, luxuriösen Eindruck. Es hatte sogar eine Art Hausmeister oder Sicherheitsmenschen gegeben, der Zoe freundlich gegrüßt hatte.

Nein, das hier war mit Sicherheit keine Absteige, in der ein Trinker sein bescheidenes Leben fristete.

Chris formulierte in seinem Kopf einige Fragen, doch ein Blick in Zoes Augen verriet ihm, dass es besser war, den Mund zu halten. Ihre vollen Lippen waren schmal geworden, ihre Schultern spannten sich, die aufrechte, sportliche Haltung war leicht in sich zusammengesunken.

Im zweiten Stock bog sie ohne eine Erklärung nach rechts ab und lief mit noch zögerlicheren Schritten einen hellen, breiten Flur entlang. Die Türen lagen in weitem Abstand voneinander und ließen vermuten, dass die Wohnungen dahinter groß und geräumig waren.

Möglicherweise hatte sie für ihren Vater hier eine Wohnung angemietet? Von ihren Einkünften hätte sie es sich leisten können, daran hatte Chris nicht den geringsten Zweifel. Ihre Finanzen hatte sie bisher selbst geregelt, wie in anderen Dingen war sie sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht.

Niemand war zu sehen, alles wirkte ruhig und entspannt. Vermutlich waren die meisten Bewohner jetzt am späten Vormittag bei irgendeiner gut bezahlten Arbeit.

Auch Chris hätte um diese Zeit ein Gespräch mit einem Mandanten gehabt, doch er war zu neugierig gewesen und hatte seine Sekretärin gebeten, den Termin zu verschieben. Er war gut genug im Geschäft um sich diesen Freiraum nehmen zu können.

Um ein Haar hätte er Zoes schlanke, hoch gewachsene Gestalt umgelaufen, denn sie war unvermittelt vor einer Tür stehengeblieben und hatte einen Schlüssel aus der Hosentasche gezogen.

Chris konnte sehen, wie sich ihr Kiefer ganz leicht bewegte, so, als würde sie unhörbar mit sich selbst sprechen. Seit ihrer Rückkehr aus Frankfurt wirkte sie angespannt und in sich gekehrt. Sie war nie eine Plaudertasche gewesen, aber ihr Schweigen hatte sich seit ihrer Offenbarung über ihren Vater noch verstärkt. Chris hatte bemerkt, dass sie mehrmals in der Nacht wach gewesen war, doch er hatte nicht weiter nachgefragt.

„Hier ist es“, sagte Zoe und ließ ihren Worten einen leichten Seufzer folgen. Chris nickte nur und trat instinktiv einen Schritt zurück, so als würde im nächsten Moment ein bissiger Hund durch die geöffnete Tür springen. Sie schob mit ihren langen, schlanken Fingern den Schlüssel in das Schloss und brauchte tatsächlich zwei Anläufe, bis sie ihn herumgedreht hatte.

Es knackte, die Tür sprang leise auf. Chris spürte, wie die Nervosität nach seinem Kopf griff und ihn fest umklammerte. Was zum Teufel würde ihn hier erwarten.

„Bringen wir es hinter uns“, stellte Zoe trocken fest und drückte die Tür auf.

Kapitel 2

Die ersten Dinge, die Chris durch die offene Tür bemerkte, waren der kahle, weiß gestrichene Flur und die warme, säuerliche Luft, die ihm entgegen schlug. Instinktiv hielt er den Atem an und drehte den Kopf leicht zur Seite. Zoe schenkte ihm keine Beachtung. Er hatte den Eindruck als würde sie die Luft anhalten und mit zwei entschlossenen Schritten die Wohnung betreten.

Ehe er ihr folgen konnte, war sie im Inneren verschwunden.

„Oh mein Gott“, hörte er von drinnen ihren Ausruf. Für einen Moment kam ihm das Bild eines toten Mannes in den Sinn, der in seinem Erbrochenen reglos auf dem Bett lag und an die Decke starrte. Hastig folgte er ihr, nahm die Tür, die links von dem kleinen, kahlen Flur abzweigte und stand in einem völlig vermüllten Schlafzimmer.

Der Mann auf dem ungemachten Bett sah zwar aus, als hätte er sich irgendwann in den letzten Stunden übergeben, aber er machte einen lebendigen, wenn auch müden und geistesabwesenden Eindruck. Zoe war inzwischen durch den Raum geeilt, hatte die Vorhänge beiseite gerissen und das Fenster geöffnet. Kalte Frühlingsluft drang ins Innere des muffigen Raumes.

„Bist du verrückt geworden?“ beschwerte sich ihr Vater mit brüchiger Stimme und riss die Arme hoch, um sich vor der einfallenden Sonne zu schützen. Er stieß ein eigentümliches Röcheln aus und sank in sich zusammen wie ein Vampir in einem schlechten Horror-Film.

Zoe drehte sich um, ihre grünen, großen Augen funkelten. Mit einem Mal war das Grübeln der letzten Tage aus ihnen verschwunden und einer trotzigen Kampfeslust gewichen. Vielleicht hatte auch sie einen Moment daran gedacht, dass sie ihren Vater hier leblos vorfinden würde?

„Darf ich vorstellen – mein Vater!“ Ihre Stimme zerschnitt den Raum wie ein frisch geschärftes Messer und ließ den Mann auf dem Bett noch mehr in sich zusammensinken. Er stieß lediglich ein Grunzen aus, das man mit etwas Fantasie als eine Art Begrüßung werten konnte.

Chris wollte etwas entgegnen, doch niemand schien Interesse an ihm zu haben. Zoe bückte sich und hob zwei leere Flaschen auf. Der Teppich machte den Eindruck, als wäre er seit Monaten nicht mehr abgesaugt oder anders gereinigt worden. Auch die anderen Möbel zeigten eine dicke Schicht an Staub und klebrigem Schmutz. Chris bemerkte allerdings sofort, dass sie vor einigen Jahren bestimmt nicht billig gewesen sein mussten. Und damals, so überlegte er sofort, hatte Zoe noch kein Geld verdient.

Der Mann auf dem Bett sah auf und schaute Chris aus müden, rot geäderten Augen an. Er war unrasiert, hatte erstaunlich volle, dunkle Haare, durch die sich einzelne silberne Fäden zogen. Vermutlich wäre er ein attraktiver Mann gewesen, wenn er nicht all die Flaschen geleert hätte, die sich im Raum verteilt hatten.

Für eine Sekunde bildete sich Chris ein, das Gesicht zu kennen, aber dabei konnte es sich nur um einen Irrtum handeln. Es war ein Trinker, der sich die Wohnung nicht leisten konnte, sondern von seiner Tochter unterstützt wurde, die sich auch ein wenig für ihn schämte.

„Ich habe einige Müllsäcke dabei, dort werde ich den gröbsten Dreck entsorgen“, sagte Zoe, wobei Chris nicht wusste, ob sie mit ihm oder ihrem Vater sprach. Doch der war nach wie vor damit beschäftigt, sich vor dem Sonnenlicht zu verstecken. In den hellen Lichtstrahlen tanzte der Staub, immerhin besserte sich die Qualität der Luft im Raum zusehends.

Chris nahm einen der Säcke entgegen und ging mechanisch nach nebenan. Das Wohnzimmer war in zwei Räume geteilt mit einem hübsch gemauerten Durchgang. An den Wänden hingen einige geschmackvolle Bilder. Chris trat näher und betrachtete sie. Er war kein Experte, aber er sah sofort, dass es sich um Radierungen handelte, die man hinter teurem Museumsglas vor dem Licht schützte. Chris war sich spontan sicher, dass es sich um Originale handelte.

Die Möbel waren mit einer Staubschicht überzogen, aber sie machten keinen kaputten Eindruck. Auch die Elektrogeräte waren teuer und, sobald man den Staub von ihnen entfernte, machten einen modernen Eindruck. In einer Ladestation entdeckte Chris ein Mobiltelefon der neuesten Generation, das aufgeregt mit grünem Blinken verkündete, neue Nachrichten bereitzuhalten.

Chris fand auch hier einige Flaschen, doch selbst die Spirituosen waren nicht billig gewesen. Immerhin ging Zoes Vater stilvoll seinen Weg in den Abgrund, dachte Chris.

Er warf sie in den Müllsack und stieß auf einer Anrichte neben zwei hübschen, afrikanisch wirkenden Statuetten auf einen Haufen Post, der achtlos und ungeöffnet abgelegt worden war. Offenbar machte sich Zoes Vater schon länger nicht mehr die Mühe, an ihn adressierte Briefe zu öffnen.

Eher beiläufig überflog Chris einen großen Umschlag. Er war davon ausgegangen, irgendein Inkassounternehmen oder eine Firma als Absender zu lesen. Umso verwunderter blieben seine Augen an der geschwungenen Schrift über der Adresse von Zoes Vater hängen.

„Das ist von einem Musik-Verlag“, meinte Chris zu Zoe, die ebenfalls ins Wohnzimmer kam, einen vollgestopften Sack in der Hand.

Mit einem Brummen griff Zoe den Umschlag und riss ihn auf, obwohl er nicht an sie gerichtet war. Sie zog ein kleines Bündel Unterlagen hervor.

„Es ist ein Vertrag, den er unterschreiben sollte“, sagte sie mit einem Kopfschütteln.

Chris konnte ihr nicht folgen.

„Ein Vertrag?“

Zoe machte ein wütendes Geräusch und legte die Papiere achtlos beiseite. Sie zögerte einen Augenblick, dann sah sie Chris nachdenklich an. „Ich weiß, dass der Zeitpunkt ein wenig verrückt ist – aber hast du das ernst gemeint mit der Verlobung?“

Chris zuckte zusammen. Sofort verkrampfte sich sein Magen, sein Mund trocknete schlagartig aus. Verdammt, dachte er, warum muss sie mir ausgerechnet jetzt einen Korb geben? Er brachte lediglich ein Nicken zustande. Wie konnte er jetzt sein Gesicht wahren? Was sollte er sagen? Sollte er kühl bleiben, möglichst schnell den Rückzug antreten?

„Ich habe deine Frage damals nicht beantwortet.“ Sie sah ihn ruhig an, ihre schmalen Lippen zuckten leicht. „Ja, Chris, ja, ich könnte mir gut vorstellen, dich zu heiraten“, sagte sie ohne jede Vorwarnung.

Chris glaubte für einen Moment, dass sein Herz stehenbleiben würde. Er schnappte leicht dümmlich nach Luft und verharrte eine Sekunde ängstlich in der Erwartung, dass nun ein ‚aber’ folgen würde. Doch es folgte nicht, es kam tatsächlich nicht.

Sie zauberte für einen Moment ein Lächeln auf ihr schönes Gesicht, Chris trat auf sie zu und küsste sie. Er war noch immer wie betäubt von ihren Worten. Längst hatte er es aufgegeben, auf eine Antwort zu hoffen, noch dazu eine, die so positiv und überraschend kam.

Schon nach wenigen Sekunden löste sie sich von ihm und streichelte ihm noch einmal über den Kopf. „Ich wollte wenigstens mit der Antwort warten, bis du meinen Vater gesehen hast“, stellte sie fest und wirkte jetzt schon wieder ruhig und beherrscht.

War daher die Anspannung gekommen? Hatte sie erst seine Reaktion auf ihren Vater abgewartet um ihm dann ihr Ja zu schenken?

„Dein Vater scheint etwas Unterstützung zu brauchen“, stellte Chris fest und hörte selbst, wie albern seine Worte klangen. „Du hast ihm zwar diese Wohnung besorgt, aber ... “

Zoe sah ihn einen Moment irritiert an, dann fing sie schlagartig und aus vollem Halse an zu lachen.

„Du meinst, ich bezahle hierfür?“ Sie sah sich um, griff nach einigen der ungeöffneten Briefe. Schnell schien sie die Passenden gefunden zu haben und riss sie ziemlich respektlos auf.

„Zoe, das sind immerhin Briefe an deinen Vater, die kannst du nicht so einfach ... “ Chris griff mechanisch nach dem Schreiben, das ihm das Model mit hochgezogenen Augenbrauen reichte.

„Das ist eine Abrechnung für deinen Vater, die ... mein Gott, das sind Tantiemen!“

Chris war für einen Moment sprachlos. „Das sind über zehntausend Euro“, brachte er heiser hervor. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch plötzlich traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er ging mit schnellen Schritten nach nebenan und starrte auf den Mann, der noch immer auf dem Bett saß, aber sich immerhin inzwischen aufgerichtet hatte.

„Andreas Jahn“, sagte er und bekam den Mund nicht mehr zu. „Sie sind Andreas Jahn, DER Andreas Jahn! Zoe Jahn – Andreas Jahn!“ Dreimal musste er sich wiederholen, ehe er die Worte begriff.

Kapitel 3

„Ich habe nicht mal auf das Klingelschild geachtet, ich ... hatte ja keine Ahnung.“

Chris hatte sich neben den Mann auf das Bett gesetzt, denn er hatte das Gefühl, sich unmöglich weiter auf den Beinen halten zu können. Sein Blick wanderte zwischen Andreas Jahn und Zoe, die im Türrahmen lehnte, hin und her. Er fasste sich an die Stirn und massierte sie.

„Und Sie sind ... ?“ fragte Andreas Jahn und kratzte sich am Kinn. Er sah seine Tochter an und nickte in Richtung Fenster. Aber sie schüttelte nur stumm den Kopf. Seine Stimme war rau, sie klang, als wäre sie lange nicht benutzt worden. Er wirkte fremd in seiner eigenen Wohnung.

„Chris ... Chris Brenner. Ich bin ... ich bin der Freund Ihrer Tochter, Herr Jahn. Sie hat gerade ... ich meine, wir wollen ... meine Herren, das ist alles ein bisschen viel auf einmal.“

Zoe trat an das Fenster und schloss es. „Er wollte sagen, dass er nicht ahnte, wer mein Vater ist. Ach ja, und dass ich seinen Heiratsantrag angenommen habe.“

Die Worte schienen nur langsam in das Bewusstsein des Mannes auf dem Bett zu dringen. „Ach, dann sind Sie so etwas wie mein künftiger Schwiegersohn, nicht wahr? In diesem Fall – ich heiße Andreas!“ Er gähnte, schien für einen Moment versucht, sich wieder auf das Bett zu legen. Ein drohender Blick seiner energischen Tochter hielt ihn davon ab.

Er wartete die Antwort von Chris nicht ab, sondern stemmte sich vom Bett hoch und verließ das Schlafzimmer. Wenige Augenblicke später konnte man hören, wie eine Tür ins Schloss fiel, danach folgten dezente Würge-Geräusche.

„Es geht ihm tatsächlich nicht gut“, sagte Chris gedehnt, noch immer unter dem Bann der letzten Minuten stehend.

Zoe stieß einen langgezogenen Seufzer aus. „Hast du in den letzten Monaten etwas von Andreas Jahn gehört? Gab es neue Soundtracks oder etwas in der Art?“

Chris zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ich bin da nicht so auf dem Laufenden. Aber du weißt, dass ich mehrere Playlists mit deinem Vater habe. Oh Mann, es liefen doch immer seine Lieder, wenn wir ... “

Zoe zuckte mit den Schultern. „Ich bin ein wenig aus der Art geschlagen, ich bin völlig unmusikalisch.“

„Ich weiß, ich sitze manchmal neben dir im Auto, wenn du einen Song im Radio mitsingst, wenn man es Singen nennen kann.“

Zoe verzog ihr hübsches Gesicht. „Ich kann eigentlich hervorragend singen, du hast nur ein schlechtes Gehör. Aber im Ernst: Ich weiß häufig nicht, welche Songs von ihm sind, obwohl ich die älteren Sachen natürlich alle kenne. Ich habe manchmal im Arbeitszimmer gespielt, während er komponierte.“

„Du bist ja auch ein Verrückter, der solche Sachen hört. Der breiten Masse ist mein Vater unbekannt – was vielleicht ganz gut so ist.“

„Was hast du eigentlich gedacht, wenn ich von ihm erzählt habe?“ Chris überlegte, ob er sauer darüber sein sollte, dass Zoe ihm nie gesagt hatte, wer ihr Vater war, auch als er von ihm geschwärmt hatte. Aber die Situation erschlug ihn derart, dass er davon Abstand nahm.

Zoe trat neben ihm, legte ihre kühle Hand in seinen Nacken und lächelte. „Ach weißt du, du hast hunderte von diesen Musikern, von denen du erzählst. Ich weiß, dass Musik deine heimliche Leidenschaft ist. Du hast alleine drei Plattenspieler. Insofern ist es wenig überraschend, dass du meinen Vater kennst. Aber von hundert Leuten auf der Straße würden ihn kaum mehr als einer oder zwei als den Komponisten und Songwriter Andreas Jahn erkennen.“

„Aber er hat die Musik für Kommissar Müller komponiert!“

„Er wird nur im Abspann erwähnt“, wandte Zoe sofort ein. „Ja, ich hätte es eher sagen sollen, ich habe einfach den richtigen Zeitpunkt verpasst. Aber es war mir wichtig, dass du ihn siehst, ehe ich dir das Ja-Wort gebe.“

Chris stand auf und nahm sie in den Arm. Er hatte die wundervollste Frau der Welt in seinen Armen, egal, wer er Vater war. Doch er konnte nicht umhin, ein gewisses Hochgefühl bei dem Gedanken an den Namen des Mannes zu finden, dessen Musik er immer gerne gehört hatte.

Sie gab ihm einen Kuss. „Du bist also nicht sauer, weil ich dir meinen Vater verschwiegen habe?“

Chris konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Nun ja, nach dieser Überraschung kann ich dir kaum böse sein. Allerdings wäre ich auf deine Mutter gespannt. Welche Prominente kommt da wohl zum Vorschein? Tina Turner?“

„Die Frau ist achtzig und dunkelhäutig, das weiß sogar ich!“

Chris hatte mit seiner Albernheit die Spannung aus der Situation nehmen können. Er sah sich um und wurde wieder ernster. „Es scheint ihm allerdings nicht sonderlich gut zu gehen“, meinte er.

„Seit der Trennung von Mutter hat er sich mehr und mehr hierher zurückgezogen. Ich fürchte, dass er nur noch trinkt und alten Erinnerungen nachhängt. Hier gibt es nicht mal mehr ein Klavier, an dem er Musik machen könnte. In den letzten Monaten ist es zunehmend schlimmer geworden, heute ist noch ein echt guter Tag.“

Darüber hatte Chris noch gar nicht nachgedacht. Die Wohnung wirkte, abgesehen von der Unordnung, alten Pizza-Kartons und leeren Flaschen, Tüten mit irgendwelchem Müll und ungeöffneten Briefen, seltsam steril, eher wie ein Hotelzimmer als ein Heim.

Zoe schien seine Gedanken zu erraten. „Die Wohnung hier war früher für Gäste gedacht, für Musiker, die einige Wochen in der Stadt waren und sich entweder kein Hotel leisten konnten oder die Zimmer dort hassten. Hier waren sie nah an der City, konnten kommen und gehen wann sie wollten.“

„Dann wohnt dein Vater hier eigentlich nicht?“

„Ja, es gibt ein Haus, das ein Stück außerhalb liegt und seit einem Jahr quasi in eine Art Dornröschen-Schlaf gefallen ist. Nur eine Haushälterin kümmert sich um alles.“

Sie hörten die Spülung der Toilette im Badezimmer, danach ein leises Rauschen in der Wasserleitung.

„Ich muss mich um Vater kümmern“, sagte Zoe entschlossen und sah Chris sanft in die Augen.

„Das soll wohl eine Art netter Rauswurf sein“, kommentierte der. „Ich habe allerdings wirklich noch einige Termine, die kaum einen Aufschub dulden. Ich werde heute Abend hier vorbeikommen, okay?“

„Ruf besser vorher an, ja? Sei so lieb.“

Chris nickte, küsste sie noch einmal und überlegte, ob er einen Abschiedsgruß hinter die noch immer geschlossene Badezimmertür schicken sollte. Er hob die Hand, entschied sich dann jedoch dagegen und ließ Zoe mit ihrem Vater allein.

Sein Kopf schwirrte von all den Eindrücken und Ereignissen, die er aus der Wohnung mitnahm. Nie hätte er erwartet, dass eine einzige Stunde an einem Vormittag sein Leben derart verändern würde. Er nahm die Treppe nach unten, sah wieder den Hausmeister, der ihn, da er ihn mit Zoe gesehen hatte, freundlich grüßte. „Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen“, sagte er routiniert.

„Ein herrlicher Tag, finden Sie nicht“, brach es aus Chris hervor. Der Mann sah ihn leicht irritiert an und nickte zögernd. Chris jedoch hatte ihn bereits passiert und den Ausgang erreicht.

„Ja wirklich, ein herrlicher Tag!“

Kapitel 4

Andreas kam aus dem Badezimmer und sah sich müde um. Seine Schultern hingen tief, das Licht, das durch die schmutzigen Fenster brach, schmerzte in den Augen.

„Na, hat dein Freund schon den Rückzug angetreten?“ fragte er mit spröder Stimme. Auch ein Räuspern schaffte es nicht, die Stimmbänder zu reinigen. In seinem Kopf herrschte noch immer dieser dumpfe Schwindel nach, ein klebriger, zäher Nebel, der jeden Gedanken umhüllte und überlagerte. Zoe marschierte in Richtung der Fenster und riss sie auch in diesem Zimmer mit einem unbarmherzigen Ruck auf. Andreas wäre am liebsten zurück ins Bad geflüchtet, doch seine Tochter war schneller und versperrte ihm den Weg.

„Er hat noch Termine. Und Chris und ich werden übrigens heiraten!“

Der Stolz in ihrer Stimme war unüberhörbar. Sie strahlte ihren Vater an, für einen Moment verlor das elende Gefühl in Andreas all seine Bedeutung. Er musste lächeln und richtete sich ein Stück auf.

„Und er hat den Vater der künftigen Braut nicht vorher gefragt?“

Zoe lachte ihn mit funkelnden, weißen Zähnen an. „Der Vater der Braut war über die Klo-Schüssel gebeugt und sieht aus wie ein überfahrener Hirsch.“

Andreas merkte, wie sein Kopf von einem Schwindel erfasst wurde. Zoe sprang hinzu und führte ihm zum einzigen freien Sessel im Raum. „Wann hast du zuletzt etwas gegessen?“ fragte sie besorgt.

Andreas dachte kurz nach und kam zu dem Schluss, dass er keine Ahnung hatte. Seine Tochter brummte etwas, ging in die Küche. Er hörte ihren kleinen, spitzen, angewiderten Aufschrei.

„Das Zeug in deinem Kühlschrank kannst du unmöglich essen“, stellte sie energisch fest und kam, ihr Mobiltelefon am Ohr, zurück ins Zimmer.

„Mein Gott, das Übliche,“ hörte er sie sagen und fühlte dabei, wie sich eine sanfte Schläfrigkeit über sein Hirn legte. „Milch, Obst, ein wenig Käse, Brot, Wurst – was man halt so braucht! So schwer kann das doch nicht sein, oder?“

Mit einem Augenrollen beendete sie das Gespräch. „Und jetzt marschierst du ins Bad, rasierst dir diesen widerlichen, grauen Flaum aus dem Gesicht, duscht dich und – hast du überhaupt frische Klamotten?“

Sie stapfte ins Schlafzimmer, wieder folgte der unvermeidliche Aufschrei. Doch sie schien etwas zu finden, was sie beruhigte und kam mit Kleidung auf dem Arm zurück.

„Wie heißt diese nette, kleine Frau, die sich um das Haus kümmert? Ach ja, Anni. Die werde ich herholen, während du wieder einen Menschen aus dir machst. Und lass dir nicht einfallen, hier im Sessel ein Nickerchen zu halten. Das ist jetzt vorbei!“

Energische Arme schoben ihn in die Höhe, um ein Haar hätte Andreas das Gleichgewicht verloren. Als er halbwegs zur Besinnung kam, hatte er weißen Schaum im Gesicht und einen Rasierer in der Hand. Mechanisch kratzte er sich damit über die Wange. Immer wieder hatte er in den letzten Monaten diese Aussetzer, fand sich plötzlich bei einer Tätigkeit und hatte nicht die geringste Ahnung, wie es dazu hatte kommen können.

Ohne Vorwarnung kam Zoe ins Bad, er brummte einen leisen Protest. „Du bist mein Vater, stell dich nicht so an“, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Raum für Diskussionen ließ. „Anni kommt heute Nachmittag. Sie hat eine Rolle Müllsäcke dabei, ich habe sie ungefähr auf das vorbereitet, was sie erwartet.“

Dabei schob sie den Duschvorhang beiseite und warf einen Blick in die Dusche. Sie rümpfte deutlich die Nase, gab jedoch keinen Kommentar von sich. Andreas fühlte sich in seiner Nacktheit hilflos und verletzlich.

„Du bist größer als ich“, stellte er unvermittelt fest. Zoe drehte sich halb um, sah ihn einen Moment verwundert an.

„In der Schule haben sie mich damit aufgezogen, ich war größer als die meisten Jungen. Sogar die Lehrer haben mich geärgert, einen Freund fand ich sowieso nicht. Ich weiß noch, wie mal der Sportlehrer sagte: Zoe braucht nicht springen, die kann breitbeinig über den Bock steigen. Das habe ich bis heute nicht vergessen.“

Ein düsterer Schatten flog über ihr Gesicht, Andreas war völlig überrascht von der Traurigkeit, die man fast mit den Händen greifen konnte. Zoe sah ihn mit ihren großen, grünen Augen an.

„Aber alles hat seine zwei Seiten: Heute bin ich gut im Geschäft und verdiene vermutlich mehr als sie alle. Und ich habe einen Mann, der mich so liebt wie ich bin.“

Andreas nickte. „Das ist gut, mein Schatz, das ist gut“, brachte er mühsam hervor und stellte sich ohne einen weiteren Protest unter die Dusche. Wenigstens ließ sie ihn jetzt allein.

Obwohl ihm einige Male erneut schwindlig wurde, schaffte er es, sich einzuseifen und anschließend abzuspülen. Nachdem er die Dusche verlassen und sich abgetrocknet hatte, hatte er sogar das dringende Bedürfnis, sich die Zähne zu säubern.

Andreas sah in das müde, eingefallene Gesicht, in dem die kantigen Schatten die Oberhand gewonnen hatten. Wie lange hatte er sich hier eingeschlossen? Eine Woche, einen Monat oder ein Jahr? Er fühlte sich ein wenig besser, doch noch immer hatte er keine sonderliche Lust darauf, andere Menschen zu sehen oder auch nur vor die Tür zu gehen.

Vielleicht hatte er sich wirklich ein bisschen zu sehr gehen lassen nach seiner Flucht aus dem Haus. Doch die Wände hatten gedroht, zusammenzustürzen und ihn unter sich zu begraben. Alles hatte nach ihr gerochen, in jedem Glas hatte er ihr Gesicht gesehen, in jedem Raum ihren Duft gerochen.

Er hatte sich immer wieder an den Flügel gesetzt, war jedoch kaum in der Lage gewesen, eine Tonleiter fehlerfrei zu spielen. An eine Melodie, an eine neue Komposition war nicht mal im Traum zu denken. In den Jahren zuvor hatten ihn die Ideen nur angesprungen, hatten hinter jeder Ecke gelauert. Doch jetzt war sein Kopf leer, weil sein Herz tot war.

Daran würde auch Zoe nichts ändern. So sehr er sich über ihren überfallartigen Besuch, ihre bevorstehende Hochzeit auch freute, so sehr war er sich im Klaren, dass es an seiner Lage, an seinem leeren Herzen nichts ändern würde. Irgendwann würde sie es begreifen und ihn in Ruhe lassen. In der Zwischenzeit musste er sie ertragen wie Schnee im Winter oder Glückwünsche zu seinem Geburtstag.

Er rang sich ein Lächeln ab und prüfte es im Spiegel. So ähnlich hatte er auf dieser merkwürdigen Preisverleihung ausgesehen, als er die Pressefotos hatte machen müssen, weil sein Manager ihn gescheucht hatte. Hatte er damals eigentlich gewonnen oder nicht? Andreas stellte zu seinem Schrecken fest, dass er es vergessen hatte. Dabei ging es ihm nicht um den Preis, solche Dinge waren ihm immer herzlich egal gewesen, sie zählten nur für die Umwelt.

Andreas nahm ein Rasierwasser und rieb es über seine Wangen, eher aus alter Erinnerung denn aus einem inneren Bedürfnis.

Wenn er überhaupt etwas aus dem Haus vermisste, dann war es das Musikzimmer, seinen Flügel, die anderen Instrumente. Er hatte immer wieder mit elektronischen Klängen experimentiert, nun waren sie nur graue Schatten seiner Erinnerung.

Er zuckte zusammen als die Klingel anschlug. Aber Zoe schien die Tür bereits zu öffnen, er hörte ihre Stimme, eine kurze Diskussion, dann fiel sie zurück ins Schloss. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass er nicht nur Hilfe brauchte, sondern sie auch annehmen musste.

Kapitel 5

Als Andreas endlich allein war, fühlte er sie völlig erschöpft. Obwohl er die meiste Zeit über gesessen hatte, hatte er Schwierigkeiten, sich aufrecht auf den Beinen zu halten und suchte immer wieder den Halt an irgendwelchen Möbelstücken.

Seine Tochter hatte ganze Arbeit geleistet, natürlich unterstützt von der Reinigungskraft, die normalerweise bei ihm im Hause arbeitete. Alle Räume waren von Unrat befreit, die Möbel zeigten keinen pelzigen Belag mehr, wie Zoe es genannt hatte, der Kühlschrank war voller Lebensmittel. Leider gab es nicht mal eine Flasche Bier in der ganzen Wohnung. Merkwürdig, dachte er, dabei bin ich mir sicher, dass ich diesen Geschmack nicht mal besonders mag.

Andreas kämpfte mit sich, ob er den Gang in einen der nahegelegenen Supermärkte auf sich nehmen sollte, doch seine Sohlen brannten und fühlten sich an, als hätte man sie mit Blei gefüllt.

Er hatte den Schnaps nie besonders gemocht, doch die Belohnung am Grunde einer jeden Flasche war das Vergessen gewesen, das es gratis dazu gab und das auf keinem Etikett vermerkt worden war. Obwohl er vermutete, dass er es in den letzten Monaten übertrieben hatte, war er sich sicher, nicht vom Alkohol abhängig zu sein. Aber glaubten das nicht alle Abhängigen?

Immerhin, er hatte saubere Fingernägel und Zoe hatte ihm angedroht, ihn in den nächsten Tagen zu einem Friseur zu schleppen. War er tatsächlich zu einem kleinen Kind mutiert, das man selbst für solche einfachen Dinge an die Hand nehmen musste?

Sie hatte sogar Teile seiner Post geöffnet. Er hatte es zu spät gemerkt und protestiert, doch als Antwort hatte sie ihm nur einige Schreiben unter die Nase gehalten, die er längst hätte beantworten müssen. Früher hatte das Justus erledigt – ausgerechnet Justus!

Andreas ließ sich in einem Sessel nieder und starrte auf die Dächer der gegenüberliegenden Straßenseite. Er hatte sich immer wieder erheben wollen, doch seit Anke ihn verlassen hatte, schien es, als wäre mit ihr jede Freude, jeder Lebensmut durch die Tür gegangen.

Andreas hatte die Post beiseite gelegt, um sich wenigstens einen Rest Stolz zu bewahren. Zoe mochte seine Tochter sein, aber wenn sie schon seine Verträge und Konten durchging, fühlte er sich vollkommen entmündigt. Wobei er sich eingestehen musste, dass er von diesen Dingen tatsächlich keine Ahnung hatte.

Nach einer Weile hatte er es geschafft und sämtliche Schreiben aus den Umschlägen befreit. Dabei hatte er einen Haufen mit Werbung und seiner Meinung nach unwichtigen Schreiben beiseite geräumt. Er würde jemanden anrufen und ihn um Unterstützung bitten. Ohnehin ging er irgendwie davon aus, dass er keineswegs pleite war, obwohl Geld in seinen Gedanken nie eine größere Rolle gespielt hatte. Nein, die Briefe mussten nur von jemandem gesichtet werden, der mehr davon verstand als er.

Andreas unterdrückte ein Gähnen. Er haderte mit dem Gedanken, sich ins Bett fallen zu lassen. Der Tag war in seinen Augen anstrengend genug gewesen. Doch gerade als er sich erhob, durchschnitt das Läuten der Türglocke die herrliche Stille, nach der er sich den ganzen Tag derart gesehnt hatte.

Mein Gott, Zoe kommt zurück, schoss es ihm augenblicklich durch den Kopf. Aber sofort begriff er, dass sie einen Schlüssel zu der Wohnung hatte. Und nach ihrem Benehmen während des Tages wurde ihm sofort klar, dass sie sich kaum damit aufhalten würde, die Klingel zu drücken und zu warten.

Andreas schlurfte zur Tür und bemühte sich, eine aufrechte Position einzunehmen. Er öffnete und brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er dem jungen Mann gegenüberstand, der am Morgen seine Tochter begleitet hatte und offenbar im Begriff war, Zoe sogar zu heiraten.

„Entschuldigen Sie,“ meinte Andreas müde, „ich habe Ihren Namen vergessen.“ Er ging zurück ins Wohnzimmer und ließ sich schlaff in den ersten Sessel fallen.

Erst jetzt betrachtete er den jungen Mann, der offenbar zu schüchtern war, einfach Platz zu nehmen. Er war bestimmt eins neunzig groß, passte zwar von der Größe zu Zoe, machte ansonsten jedoch einen ganz anderen Eindruck als seine Tochter. Er trug ein dunkelgrünes Sakko, dazu ein farblich abgestimmtes Hemd mit Krawatte. Seine Hände steckten tief in den Taschen seiner dunklen Hose mit sauberer Bügelfalte.

„Chris“, sagte er und fing plötzlich an zu grinsen. „Ich kann es nach wie vor nicht fassen, dass ausgerechnet Sie der Vater von Zoe sind. Wissen Sie, dass ich einige Playlists habe, in denen Titel von Ihnen auftauchen? Ich habe sie ihr vorgespielt, aber sie hat nie auch nur einen Ton gesagt.“

Andreas überlegte, was genau eine Playlist war, aber er wagte es nicht, den jungen Mann zu fragen. Allerdings war der Gedanke, dass Zoe die Titel von ihm gehört hatte, nicht ohne eine gewisse Komik. Bestimmt hatte der junge Mann mehrfach den Namen von Andreas erwähnt und Zoe hatte es geschafft, dabei keine Miene zu verziehen. Doch irgendwie passte das zu seiner Tochter.

Andreas musste schmunzeln. „Ja,“ meinte er und nickte. „Ja, das ist wirklich komisch, ich gebe es zu. Aber zu ihrer Verteidigung muss ich sagen, dass Zoe nicht sonderlich musikalisch ist, sie kennt bestimmt viele meiner Titel gar nicht.“ Ein Lächeln der Erinnerung huschte über sein Gesicht. „Als sie kleiner war, habe ich ihr einige Male Sachen auf dem Flügel vorgespielt. Sie fand es natürlich immer toll, aber vielleicht lag das auch an der Schokolade, die sie bekam.“

Andreas machte eine einladende Handbewegung, doch Chris wandte sich noch einmal um, ging nach draußen und kam mit zwei großen Tüten zurück, in denen sich offensichtlich Lebensmittel befanden.

„Die Welt scheint heute in dem Glauben zu leben, dass ich verhungere“, brummte Andreas, stellte jedoch zu seiner eigenen Überraschung fest, dass ihm dieser Gedanke nicht einmal unangenehm war. Ein wenig klang die Feststellung mit, dass die Welt da draußen vor der Tür ihn noch nicht ganz vergessen hatte.

„Ich wollte eigentlich auch ein paar Bier mitbringen, aber ich fürchte, das hätte Ärger mit Zoe bedeutet“, meinte Chris mit einem missmutigen Blick auf die Tragetaschen.

„Haben Sie zufällig ein paar Zigaretten dabei?“ fragte Andreas.

„Ich fürchte nein, aber ich kann nach unten laufen, dort gibt es einen Kiosk. Haben Sie eine spezielle Marke?“

Er nahm den Schlüssel mit und war kaum zehn Minuten später zurück. Obwohl es an den Abenden noch reichlich frisch wurde, saßen sie bei Zigaretten und Schoko-Keksen auf dem Balkon.

„Wenn meine Tochter Sie so sieht mit all den Keksen wird sie sSie totsicher erschlagen“, lachte Andreas, der den Nachmittag mit ihr noch gut im Ohr und vor Augen hatte. Er fühlte sich erstaunlich lebendig. Unten an der Straße hielt ein Wagen, er hatte für einen Moment den Eindruck, jemand würde ihn durch die getönte Scheibe beobachten. Doch er musste sich getäuscht haben.

„Sollten Sie mir nicht eher zureden, weil ich sie doch heiraten will?“ Chris hatte inzwischen die Krawatte gelockert und die Beine überschlagen, was etwas merkwürdig aussah, da der Klappstuhl auf dem Balkon eher für kleinere Menschen gebaut worden war.

Andreas zog lange und entschlossen an seiner Zigarette und sah hinauf in den sternenklaren Nachthimmel. Von hier hatte man wirklich einen wunderschönen Blick auf die Stadt. Wie lange war es her, dass er hier gesessen hatte? Und dabei bestand in dieser Höhe kaum die Gefahr, dass man auf unliebsame Menschen traf.

„Sie werden schon wissen, worauf Sie sich einlassen“, sagte er mit einem breiten Grinsen.

„Natürlich, sicher doch“, antwortete Chris und schob sich einen weiteren Keks in den Mund.

Kapitel 6

„Wo warst du? Ich habe den ganzen Abend versucht, dich zu erreichen?“ Chris konnte nur vermuten, ob die Stimme von Zoe in ehrlicher Sorge um ihn klang oder eher wütend war.

Er hatte sich auf dem Nachhauseweg eine halbwegs passable Geschichte ausgedacht, die in sich zusammenfiel, sobald seine künftige Frau vor ihm stand. „Ich war bei deinem Vater“, sagte er einfach.

Zoe atmete tief durch. „Du hast ihm hoffentlich weder Schnaps noch Zigaretten gebracht“, meinte sie mit einem düsteren Grollen in der Stimme.

Auf diese Feststellung zur Begrüßung war Christ nicht vorbereitet gewesen. „Natürlich hat er von mir keinen Alkohol bekommen, ich habe doch gesehen, wie er dagelegen hat.“ Er fand, dass seine Empörung halbwegs glaubhaft rüberkam und auch Zoe stellte keine weitere Frage in dieser Hinsicht. Auf das Nikotin ging er vorsichtshalber nicht ein.

Chris schlüpfte aus seiner Jacke und lockerte die Krawatte. Er folgte Zoe in das Wohnzimmer, sie hatte bereits den Tisch gedeckt.

Im Gegensatz zu den meisten Frauen in ihrer Branche musste Zoe nicht ständig eine strenge Diät halten. Sie hatte das unverschämte Glück, dass es kaum Essen gab, das bei ihr ansetzte. So gab es zwar auch Salat, aber auch nahrhaftere Dinge.

Chris hatte aus seiner Tasche einen Stapel Papiere mit an den Tisch gebracht. Zoe rollte mit den Augen.

„Och nein, bitte keine Arbeit beim Essen, du weißt, wie sehr ich das hasse“, maulte sie.

„Das stammt nicht aus meinem Büro, es ist die Post, die dein Vater in den letzten Wochen erhalten hat. Er hat sie bereits geöffnet und ich habe sie grob sortiert.“ Er nahm einen Teller entgegen, den Zoe ihm gefüllt hatte. Der maulige Gesichtsausdruck bei ihr verschwand.

„Er hat dir deine Post anvertraut?“

„Ich habe halt ein gewinnendes Wesen und außerdem den richtigen Beruf“, grinste Chris und füllte seine Gabel. Die Schokokekse hatten ihm zwar den Appetit geraubt, doch das wollte er vor Zoe lieber nicht zugeben.

„Wir können uns die Sachen auch nach dem Essen anschauen“, meinte Zoe, doch es klang eher halbherzig. Chris hatte also eine gute Begründung, seine Gabel beiseite zu legen und die Post zu überfliegen.

Andreas schien tatsächlich froh gewesen zu sein, jemanden zu haben, der ihn bei diesen geschäftlichen Dingen unter die Arme griff. „Dein Vater ist wohl eher ein Künstler als ein Bürokrat“, stellte Chris fest, ohne den Blick von einer Abrechnung zu nehmen.

„In diesen wirtschaftlichen Dingen hatte er seinen Manager und seine Frau – meine Mutter“, meinte Zoe nachdenklich.

„Und warum hat sich sein Manager nicht um diese Dinge gekümmert?“

„Er ist mit meiner Mutter durchgebrannt“, kam die ruhige Antwort. Chris zuckte leicht zusammen.

„Oh“, meinte er nur, ein anderer Kommentar wollte ihm nicht über die Lippen kommen. Chris überflog den Brief.

„Dann hat er also mit einem Schlag seine Frau verloren und den Mann, der für die Organisation seines Lebens und seine Finanzen verantwortlich war?“

Krachend biss Zoe auf ein Blatt Salat. „Du hast es treffend in einem Satz zusammengefasst.“ Das warme, gelbliche Licht der Lampe, die sie gemeinsam vor einigen Wochen gekauft hatten, zauberte einen geheimnisvollen Schatten auf die untere Hälfte ihres Gesichtes.

„Und er hat sich als Reaktion darauf zurückgezogen und ist quasi vor der Welt geflüchtet?“

„Ich habe ihn die erste Zeit besucht, aber er war nicht wirklich ansprechbar. Was mit dem Geld wurde, kann ich dir auch nicht beantworten. Das Haus ist nach wie vor da, ebenso die Wohnung.“

„Sind die beiden denn offiziell geschieden?“

Zoe zuckte mit den Schultern. „Ich habe meine Mutter, als ich von der Trennung erfahren habe, natürlich sofort angerufen. Aber das Gespräch endete in einem fürchterlichen Streit. Im Wesentlichen hat sie mich beschuldigt, zu meinem Vater zu halten. Ich gebe zu, so ganz falsch lag sie damit allerdings nicht.“

Chris legte den Brief beiseite. Er nahm seine Gabel, legte sie jedoch sofort wieder beiseite. „Würde es dich stören, wenn sich mein Büro um deinen Vater kümmert, zumindest in finanzieller Hinsicht? Ich weiß, es könnte einen komischen Eindruck hinterlassen, daher habe ich ihn noch nicht so direkt nach einem Mandat gefragt. Du dagegen weißt, dass ich nicht auf ihn angewiesen wäre, weil ... na ja, du verstehst schon, was ich meine.“

Zoe fand Chris Hemmungen wegen des Mandates eher amüsant als schockierend. „Es würde mich beruhigen, wenn sein Leben zumindest in dieser Hinsicht geordnet würde. Es tat mir immer leid, dass wir keinen Kontakt mehr hatten. Deshalb hatte ich ja auch den Entschluss gefasst, ihn noch einmal aufzusuchen – mit dir im Schlepptau.“

Chris nickte. „Er hat übrigens nichts dagegen, wenn ich dich heirate. Ich glaube, er kann mich ziemlich gut leiden.“

„Hast du ihn mit Fragen zu seiner Musik genervt?“

„Ich habe mich bisher zurückgehalten. Aber das könnte sich bald ändern!“ Chris wurde sofort wieder ernst. „Ich hoffe, dass ich diesen ehemaligen oder noch immer tätigen Manager auftreibe. Hast du einen Namen?“

„Willst du seinen Job übernehmen?“

„Ich? Nein, ich betreibe keine Künstleragentur – obwohl der Gedanke nicht von der Hand zu weisen wäre. Aber wenn der Mann deinen Vater mit seiner Frau hinterging drängt sich der Verdacht auf, dass er auch sonst zumindest in letzter Zeit nicht gerade im Interesse seines Mandanten handelt.“

Jetzt legte auch Zoe die Gabel beiseite, der Gedanke schien ihr auf den Magen geschlagen zu haben. Sie starrte auf das Essen vor ihr auf dem Teller. „Ich habe nie darüber nachgedacht, aber die Überlegung drängt sich ja förmlich auf. Er könnte meinen Vater auch in finanzieller Hinsicht betrogen haben.“

„Du hast dir das nie überlegt?“

„Nein, nicht wirklich. Ja, irgendwie habe ich daran gedacht, aber in dieser Zeit hatte ich so viel mit mir zu tun, mein Vater war schroff zu mir, meine Mutter brach sofort nach dem Telefonat das Verhältnis ab.“ Sie biss sich auf die Lippe, so stark, dass ein Tropfen Blut sichtbar wurde. Chris stand auf, nahm eine Serviette und betupfte damit ihren Mund.

„Du machst dir Vorwürfe?“ fragte er sanft.

„Ja, im Nachhinein schon. Weißt du, ich habe diesen Besuch immer und immer wieder aufgeschoben, eigentlich viel zu lange. Wir lernten uns kennen und ich hatte nicht den Mut zu sagen, wer mein Vater ist und in welchem Zustand er sich befindet.“ Sie griff wieder zu ihrer Gabel, stocherte damit im Essen herum. Chris sah, wie ihre Hand zitterte. Er nahm sie ihr aus der Hand, legte seine Hände auf ihre schmalen Schultern und küsste sie sanft auf den Kopf.

„Du hast mir heute die Zusage gemacht, meine Frau zu werden“, flüsterte er mit einem Schmunzeln. Sie sah ihn an und nickte mit einem leichten Lächeln.

„Ja, das habe ich. Und es war völlig ernst gemeint.“

„Hast du schon eine Idee, wo und wann wir heiraten werden?“ fragte er. Sie erhob sich, stellte in übertriebener Sorgfalt den Stuhl an den Tisch und drehte sich zu ihm um.

„Nein, ich denke, das sollten wir uns gemeinsam überlegen. Aber zunächst könnten wir daran gehen, für die Hochzeitsnacht zu üben!“

Kapitel 7

Mitten in der Nacht wachte Andreas auf. Er hatte tief und erstaunlich fest geschlafen wie lange nicht mehr. Erst als er sich auf das Kissen gelegt hatte, hatte er begriffen, wie übel sein Laken gerochen haben musste, nachdem er es monatelang nicht gewechselt hatte.

Mit einem Schlag war er hellwach. Er streckte sich noch einmal aus, drehte sich um, doch er begriff schnell, dass er keinen Funken Müdigkeit mehr in seinem Körper spürte.

Nach einem weiteren vergeblichen Versuch, den Rest der Nacht doch noch schlafend zu verbringen, stand Andreas auf und rieb sich das Gesicht. Er starrte auf den hellen Fleck, der sich hinter dem Vorhang abzeichnete. Stille umgab ihn. Normalerweise hätte sie derart in seinen Ohren gedröhnt, dass er sie gleich mit einer Flasche betäubt hätte. Aber heute verspürte er nicht den Drang nach dem bitteren Geschmack, nach der schnellen Flucht durch kräftige, brennende Schlucke in die eigene Stille.

Andreas ging in die Küche und bemerkte, dass er, obwohl er barfuß ging, nicht am Boden festklebte. Erst jetzt kam ihm das Bild von Anni in den Sinn, die ihn freundlich gegrüßt und sich dann ohne ein Klagen an die Arbeit gemacht hatte. Alle hatten sich Arbeit gemacht, einzig und allein um ihn.

Für einen Augenblick huschte das Bild von Anke durch seinen Sinn, aber er schaffte es, es abzuschütteln wie ein Hund einen lästigen Floh. Er konzentrierte sich ganz darauf, sich Wasser heiß zu machen und damit das lösliche Kaffee-Pulver, das ihm Chris mitgebracht hatte, zu übergießen.

Als er sich hinsetzte und in kleinen Schlucken trank, war es ihm, als bekäme er mit jedem Schluck ein Stück seines Lebens zurück. Er lehnte sich zurück und genoss den simplen Fertig-Kaffee, als wäre er ein edler Wein.

Seine Gedanken kreisten um den jungen Mann, der Zoe begleitet hatte. Wie war doch gleich sein Name gewesen? Auf jeden Fall war er ziemlich groß und dünn gewesen, irgendwie passte er gut zu ihr, denn er schien das Gegenteil von ihr zu sein: entspannt und zurückhaltend, freundlich und verbindlich. Lediglich der verdammte Name wollte ihm nicht mehr einfallen.

Dafür wurde sein Kopf von einer Melodie erfasst, einer schwebenden Muse, die über seinem Schädel zu fliegen schien. Er hörte zunächst ein Klavier, doch die Tasten mit ihrer hölzernen, federnden Mechanik waren nicht in der Lage, sie so wiederzugeben, dass ihr Ausdruck zum Tragen kam. Oder täuschte er sich?

Seine Augen, die er geschlossen gehalten hatte, öffneten sich und starrten vor sich auf die Tischplatte. Er brauchte einen Moment bis er verstand, dass sich dort keine Tasten befanden – natürlich nicht, denn er saß in der Küche der Gästewohnung, nicht an seinem Flügel.

Schwerfällig stemmte er sich hoch und ging ins Wohnzimmer. Erst jetzt verstand er, dass er gar nicht in seinem Haus, seiner bekannten Umgebung war. Dieser Fehler unterlief ihm nicht zum ersten Mal. Aber heute war es anders, sein Gehirn war klar, nicht vernebelt durch irgendwelche Getränke.

Andreas sah aus dem Fenster auf die nächtliche Straße. Von der Wohnung waren es an die zwanzig Kilometer bis zu seinem Haus. Es war verrückt, doch die Melodie in seinem Kopf ließ ihm einfach keine Ruhe. Er fühlte sich klar wie lange zuvor nicht mehr.

Ein Auto hatte er nie besessen, da er nie einen Führerschein gemacht hatte. Also sah er sich nach seinem Telefon um und fand schon rein aus alter Gewohnheit die Nummer der Taxi-Zentrale. Erstaunlich leicht kam ihm die Adresse der Innenstadt-Wohnung über die Lippen. Er zog sich eine Jacke an, steckte sich seine Börse und die Schlüssel ein. Der Wagen kam nur wenige Minuten später.

„Ach, Herr Jahn!“

Andreas kannte den Mann mit der grauen Schirm-Mütze, doch auch hier fehlte ihm der passende Name. Er nickte nur und lächelte.

„Na, zu Ihnen ins Grüne?“ fragte der Chauffeur, der ihn schon öfter gefahren hatte, dessen war sich Andreas sicher. Er versuchte, eine möglichst freundliche Zustimmung zu geben, ließ sich in den Fond des Wagens sinken und lauschte der Plauderei des Fahrers, der auf seine Schilderungen anscheinend keine sonderlich aufwendigen Antworten erwartete.

Andreas liebte es, mit dem Taxi gefahren zu werden. Er musste sich um nichts kümmern, konnte aus dem Fenster sehen, wie sich der Wagen geschickt durch den Verkehr gleiten ließ, und seine Gedanken waren frei, jederzeit an jeden Ort zu wandern.

Schnell hatten sie die nächtliche Innenstadt hinter sich gelassen. Die Strecke kam Andreas vertraut vor, auch wenn er gleichzeitig das Gefühl hatte, in eine neue Welt vorzudringen.

Sie fuhren einige Minuten auf einer breiten Straße an mehreren Dörfern vorbei. Kein Fahrzeug kam ihnen entgegen oder behinderte sie in ihrer ruhigen, schnellen Fahrt.

„Soll ich Sie vor dem Tor herauslassen oder soll ich warten, bis Sie aufgeschlossen haben?“

Der Wagen hatte seine Fahrt in einem kleinen Waldstück ziemlich unvermittelt beendet, Andreas schreckte hoch und musste über die Frage, die der Mann ihm gestellt hatte, nachdenken. Natürlich, es gab das Tor, es war verschlossen. Andreas stieg aus. „Nein, das ist in Ordnung“, sagte er und war sich nicht sicher, ob es wirklich in Ordnung war.

Er zog einen größeren Geldschein heraus, der Mann wollte zu seiner schwarzen Börse neben dem Sitz greifen. „Nein, nein, vielen Dank“, sagte Andreas und erntete einen mehr als freundlichen Dank für sein vermutlich üppiges Trinkgeld.

„Einen schönen Abend noch, Herr Jahn!“

Sekunden später verschwanden die roten Bremslichter in der Dunkelheit. Andreas blieb ratlos an der Einfahrt zurück, brauchte einen Moment, ehe er verstand, was geschehen war.

Dann griff er zu seinem Schlüssel und marschierte auf das hohe, geschmiedete Tor zu. Instinktiv fand er den passenden Schlüssel, auch wenn er wusste, dass es an der Seite die Möglichkeit gab, das Tor mit einem Zahlencode und einem Sensor zu öffnen. Anke hatte wegen der Schlüssel stets mit ihm geschimpft, doch im Augenblick war er viel zu fasziniert von der Zeit, die vergangen war, seit er zuletzt auf seinem Anwesen, so nah an seinem Haus gewesen war. Anke war nur ein Geist, der über allem schwebte und in der Luft tanzte.

Andreas zog eine Hälfte des Tores auf und spürte, wie die Melodie wieder in seinem Kopf zu schweben begann. Er begriff, dass er so schnell wie möglich an sein Klavier musste, um die Töne einzufangen wie ein Cowboy, der auf der Jagd nach einer entlaufenden Kuh ist.

Er zog das Tor hinter sich zu und machte sich auf den Weg. In der Dunkelheit konnte er den Teich zu seiner Linken nur als schwarzen Fleck erahnen, ebenso die beiden runden Blumenbeete und den kleinen Streifen für Gemüse direkt unterhalb der hohen Mauer, die das Grundstück von der Straße abschirmte.

Die Musik in seinem Kopf trieb ihn vorwärts. Er erreichte das Haus, blieb vor dem Eingang stehen und holte erneut seine Schlüssel heraus. Doch zu seiner Verwunderung sah er kein Schloss, in das er ihn hätte einführen können. Unter der massiven Klinke befand ich nur eine freie, glatte Fläche aus Metall. Sein Blick wanderte nach links zu dem Kasten für den Sicherheitscode.

Andreas legte die Stirn in Falten. Er war sich zwar ziemlich sicher, dass er die Tür stets mit einem Schlüssel geöffnet hatte, aber die Realität sprach dagegen. Er atmete tief durch und drückte dann ohne zu zögern eine Kombination in das Tastenfeld. Andreas war sich sicher, dass er automatisch und quasi wie im Schlaf die richtigen Ziffern finden würde.

Das er falsch gelegen hatte, wurde ihm erst bewusst, als unvermittelt der Ton einer schrillen Sirene die nächtliche Stille durchschnitt und das gesamte Grundstück in ein helles, kaltes Licht getaucht wurde. Andreas taumelte zurück und öffnete den Mund. Doch die Sirene war so laut, dass sie sogar sein eigenes Schreien übertönte.

Kapitel 8

Chris brauchte einen Moment, bis er begriff, welches fürchterliche Geräusch sich in seinen schweren, tiefen Schlaf bohrte. Er versuchte, sich zurück in die Welt zu tasten, drehte sich dabei und wickelte die Hände in die Decke ein. Ehe er sie befreit hatte, klingelte das Mobiltelefon lange genug, um auch Zoe aus den Träumen zu reißen.

Chris stieß mit einem leisen Fluch das Deckbett zur Seite und griff verschlafen nach seinem Handy. Der Wecker zeigte ihm, dass es halb drei in der Frühe war. Auf dem Display blinkten lediglich die Worte ‚externer Anruf’.

„Kannst du das verdammte Scheiß-Ding nicht auf stumm schalten?“ kam der heisere Protest jenseits der Kissen.

Chris war nicht in der Lage, eine Antwort zu finden, sondern drückte im Halbschlaf das Telefon an sein Ohr. „Hm?“ machte er, obwohl er es normalerweise hasste, wenn sich jemand am Telefon mit einem derartig idiotischen Geräusch meldete. Doch es war nicht die Uhrzeit für derartige Feinheiten.

Die Stimme in seinem Ohr ließ ihn von einer Sekunde auf die andere jeden Gedanken an Schlaf vergessen, sofort saß er aufrecht im Bett. Er hatte zwar den Namen des Mannes nicht verstanden, doch das spielte auch keine Rolle.

„Sie kennen einen Herrn Andreas Jahn?“

„Ja, natürlich, er ist mein ... mein künftiger Schwiegervater. Was ist mit ihm?“

Auch Zoe begriff inzwischen, dass es sich um keinen banalen Anruf handelte. Sie richtete ihre schlanke Gestalt auf und schaltete das Nachtlicht an.

„Wir haben ihn aufgegriffen“, kam die lakonische Antwort. Der Mann nannte die Adresse. Inzwischen hatte Chris das Gespräch auf Lautsprecher geschaltet.

Zoe schoss vor. „Aber er wohnt dort“, sagte sie sofort mit einem wütenden Unterton.

„Das haben wir inzwischen herausfinden können. Allerdings hat er die Alarmanlage ausgelöst, konnte sie nicht ausschalten, hatte keine Papiere bei sich und macht noch immer einen eher verwirrten Eindruck! Wir haben eine Visitenkarte mit Ihrer Nummer in seiner Tasche gefunden.“

Zoe sprang aus dem Bett. „Warte, bis ich dort auftauche, dann machen einige von den Herren einen ziemlich verwirrten Eindruck“, schnappte sie.

Chris war vernünftiger, fragte vorsichtshalber nach der Adresse und erklärte, dass sie in wenigen Minuten dort erscheinen würden. Dann beendete er das Gespräch und zog sich, so schnell er es vermochte, an.

„Die sind wohl übergeschnappt, meinen Vater festzunehmen“, schnaubte Zoe, die mehr Übung darin hatte, sich innerhalb von Sekunden anzukleiden. Sie war fast schon im Begriff, aus der Wohnung zu stürmen. Chris hatte die größte Mühe, ihr zu folgen.

Im Gegensatz zu ihr dachte er an die Papiere und die Wagenschlüssel. Zoe hatte bereits die Wohnung verlassen und rief den Fahrstuhl, der direkt in die Tiefgarage führte.

„Ich werde sie einzeln ... “

„Du wirst das Reden mir überlassen, denn du bist dazu nicht in der Lage.“

Zoe wollte etwas erwidern, doch Chris schüttelte energisch den Kopf. „Lass mich das machen, vertrau mir.“ Er griff nach ihrer Hand, um sie zu beruhigen, und schob sie in die Kabine des Fahrstuhls. „Immerhin haben sie ihn aufgegriffen, er hatte keinen Ausweis und konnte offenbar nicht erklären, wie man die Alarmanlage ausschaltet. Wir sollten uns freuen, dass sie so schnell reagiert haben und bei mir anriefen, findest du nicht auch?“

Ein Blick in Zoes Augen genügte um zu sehen, was sie fand, aber sie deutete ein Nicken an, denn die Vernunft gewann in ihrem Denken langsam die Oberhand.

In der Tiefgarage schob Chris sie auf die Beifahrerseite. In ihrer Stimmung war sie eine Gefährdung für den Straßenverkehr, auch wenn es Nacht war und sie sich zunehmend beruhigte.

„Ich hatte dir gesagt, du sollst ihm keinen Alkohol mitbringen“, giftete Zoe unvermittelt, als sie die Tiefgarage verließen und auf die leere Straße einbogen. Chris warf ihr einen abschätzigen Seitenblick zu.

„Ich habe ihm keinen Alkohol mitgebracht“, erklärte er mit aller Ruhe, zu der er zu dieser frühen Stunde fähig war. Zoe brummte etwas Unverständliches und begann, an ihrem Sitz herumzuspielen, den sie offensichtlich als zu unbequem, zu hoch, zu tief, zu hart oder zu weich empfand. Chris ließ sie in Ruhe und konzentrierte sich darauf, möglichst schnell zum angegebenen Revier zu kommen.

„Warum hast du nicht das Navi eingeschaltet?“ stellte Zoe fest, als sie sich am Sitz abgearbeitet hatte. Chris gab ihr keine Antwort, setzte den Blinker und bog auf den fast leeren Parkplatz vor der Polizei ein.

Sie kamen an einen Glaskasten, hinter dem ein Uniformierter saß, der sie missmutig bei ihrem Eintreten betrachtete. Ehe Zoe etwas Unpassendes von sich geben konnte, schob Chris sie sanft beiseite und stellte sich vor die Öffnung des Glaskastens.

„Ah so, Sie wollen also um KDD“, sagte der Polizist und zeigte auf eine große Glastür, die in einen Raum mit mehreren Schreibtischen führte. Schon beim Eintreten sah Chris Andreas, der beinahe teilnahmslos auf einem der Stühle vor einem Schreibtisch saß.

„Papa!“ Zoe rannte los und umarmte Andreas, der beim Anblick seiner Tochter hochschreckte, sich hastig erhob und von Zoe förmlich aufgefangen wurde. Erst jetzt verstand Chris, welche Sorgen sich seine Freundin in der letzten halben Stunde um ihren Vater gemacht haben musste. Warum hatte sie ihre Angst nicht einfach ausgesprochen?

Chris wandte sich an den Polizisten, der Andreas gegenübergesessen hatte. Es war ein älterer, rotgesichtiger Mann mit einem dunklen Backenbart und einer schmalen Lesebrille.

„Chris Brenner“, sagte er und reichte dem Mann die Hand. „Wir hatten telefoniert!“

Sie traten ein Stück zur Seite, der Polizist erklärte, dass eine Streife aufgrund des ausgelösten Alarms zu dem Anwesen von Andreas Jahn gefahren war. Man hätte Herrn Jahn an der Schwelle zum Eingang gefunden. Er wäre nicht bewusstlos, aber offenbar durch das Licht und die Sirenen verwirrt gewesen. Einen Ausweis hätte er nicht bei sich gehabt. So hätte man den Alarm ausgeschaltet und ihn mit zum Revier genommen, um die Personalien festzustellen, da man von Anfang an davon ausgegangen war, dass es sich bei ihm nicht um einen Einbrecher handelte.

„Ein Kollege hat ihn angesprochen, daher ahnten wir zumindest, wer es ist. Sie haben nicht zufällig einen Ausweis von ihm dabei?“

„Nein, wir waren nicht bei ihm zuhause“, sagte Chris und erntete dafür einen misstrauischen Blick. „Nein, nein, Sie verstehen das falsch, Herr Jahn hat eine Wohnung in der Innenstadt und das Haus, vor dem Sie ihn gefunden haben.“

„Mein Kollege sagte, er wäre so was wie ein Promi?“

Chris musste auflachen. „Irgendwie schon, obwohl er nicht der Typ ist, der sich in das Licht der Öffentlichkeit drängt. Kennen Sie Kommissar Müller?“

Der Beamte überlegte. „Den Kollegen vom Raub?“

Chris schüttelte den Kopf. „Nein, die Serie.“

„Ach ja, das sind doch die Geschichten, in der alle Polizisten Trottel sind bis auf diesen Kommissar und seine Frau?“

„Genau die. Andreas Jahn hat die Filmmusik komponiert.“

„Ach, jetzt verstehe ich. Er ist eher hinter den Kulissen tätig. Und damit kann man soviel Geld verdienen? Ich mache den falschen Job.“ Er nahm den Ausweis von Chris und überflog ihn. „Und das ist seine Tochter?“

„Ja, ja, falls Sie ihren Ausweis auch benötigen ... “

„Nein, nein, ist schon okay. Wir haben übrigens seinen Atem-Alkohol getestet, er war völlig nüchtern. Nimmt er andere Drogen?“ Der Polizist spielte auf den benommenen Zustand an, der offensichtlich nicht von einem zu hohen Promille-Wert rührte.

„Soweit ich weiß nicht. Er hat eine schwere Trennung hinter sich, hat ein paar Mal einen über den Durst getrunken, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Der schwergewichtige Mann zog seinen Sweater glatt, der sich über seinen mächtigen Bauch spannte und sich bei jeder Bewegung ein Stück nach oben schob. „Kenne ich, meine Scheidung ist ein halbes Jahr her.“

„Liegt gegen ihn noch was vor oder können wir gehen?“

Der Polizist erklärte, dass alles in Ordnung sei und ließ die drei ziehen. Zoe hielt ihren Vater fest als sei sie eine überfürsorgliche Mutter, die auf ihr Kind aufpassen muss, nachdem es vom Klettergerüst gefallen ist. So gelangten sie zurück zum Wagen.

Es hatte angegangen leicht zu regnen. „Wohin sollen wir fahren? In die Stadtwohnung oder zum Haus?“ fragte Chris.

Zoe schob ihren Vater mit fast übertriebener Behutsamkeit in den Fond ihres Wagens. „Nein, wir fahren zu uns. Das ist doch kein Problem, oder?“

Chris hob die Schultern und klemmte sich hinters Steuer. „Aber nein, vielleicht ist das eine gute Idee. In seinem Zustand sollte er nicht unbeobachtet bleiben.“ Er dachte darüber nach, dass Andreas nach wie vor einen leicht betrunkenen Eindruck machte, aber nicht so roch und auch keinen Alkohol im Blut hatte. Seltsam, ging es ihm durch den Kopf.

Kapitel 10

Die Nacht wurde kurz, denn zunächst fand Chris nicht zurück in den Schlaf, und mit einem Mal wurde er von einem lauten, polternden Geräusch in der Küche hochgeschreckt.

Zoe lag beinahe quer über dem Bett und schnarchte leise, wobei sie beharrlich erklärte, genau diese Eigenschaft nicht an sich zu haben. Vorsichtig schob Chris sie zur Seite und zwang sich, aus dem Bett zu kommen, denn schon wieder hörte er etwas Klirren.

Als er in die Küche kam, stand Andreas erschrocken neben einem geöffneten Schrank vor den Scherben eines Kaffeebechers, der zum Glück ohne Füllung gewesen war. Chris zog die Tür hinter sich zu.

„Kein Problem“, sagte er, „passiert mir auch hin und wieder. Daher haben wir fast nur billiges Geschirr!“ Er lachte aufmunternd, bückte sich und hob die größten Scherben auf. Er verschwieg, dass die Kaffeebecher Sammlerstücke waren. Geld war im Moment nicht ihr entscheidendes Problem.

„Möchtest du einen Kaffee?“ Er warf die Scherben in den Mülleimer und schaltete den Vollautomaten an. Andreas Jahn wirkte blass und abgespannt, fast so, wie er ihn kennengelernt hatte. Er hatte sich in der Nacht zwar bis auf die Unterwäsche ausgezogen, war jetzt jedoch bereits wieder vollständig bekleidet. Es war unübersehbar, dass seine Hand leicht zitterte.

„Setz dich doch“, sagte Chris aufmunternd, denn er hatte das Gefühl, dass die unaufgeregte Lockerheit seines Plaudertons beruhigend auf den Mann wirkte. Der Mann ließ sich auf den äußersten Rand eines der Küchenstühle nieder und starrte ins Leere.

„Ich habe geträumt, dass ich mit dem Taxi gefahren bin“, sagte er mit spröder Stimme. Chris zog die inzwischen gefüllte Tasse unter der Düse hervor und stellte sie vor den Komponisten. Er hatte dieses Mal eines der billigeren Exemplare gewählt und schob sie auch ein Stück weg von der Kante des Tisches.

„Du bist mit dem Taxi gefahren“, erklärte Chris und setzte sich ihm gegenüber. „Und du bist bei deinem Haus draußen im Wald angekommen. Dann hast du anscheinend den falschen Code für die Alarmanlage getippt, das hat den Alarm ausgelöst. Vor Schreck bist du zusammengebrochen, die Polizei hat dich gefunden. Wir haben dich dann abgeholt und erst mal mit zu uns genommen.“

„Ich habe mich heute Morgen gar nicht zurechtgefunden“, sagte Andreas und sah sich noch einmal um, als müsste er sich seiner eigenen Worte versichern. Dann hob er seine Hand und betrachtete sie. Sie zitterte noch immer leicht.

„Ich hatte eine Melodie im Kopf, aber ich habe sie verloren. Bin ich krank? Bin ich Alkoholiker?“

Chris schüttelte leicht den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Allerdings solltest du das Trinken lieber lassen in nächster Zeit, dein Körper muss erst mal wieder in die Spur finden. Ich bin zwar kein Experte, aber ich denke, du müsstest mal wieder unter Menschen kommen, raus aus dieser Wohnung in der Innenstadt. Obwohl, dein Haus draußen im Wald liegt jetzt auch nicht gerade dort, wo das Leben pulsiert.“

Chris trank seinen Kaffee, Andreas tat es ihm nach. „Ich habe mir übrigens einige Unterlagen von dir mitgenommen, geht das in Ordnung? Ich würde sie mir gerne mal anschauen.“

„Ich glaube, seit damals hat sie niemand mehr angesehen. Ich ... ich habe so wenig Ahnung von Geld und allem, was damit zusammenhängt. Wenigstens hat mir bisher niemand das Haus weggenommen.“

„Wo sind denn die restlichen Unterlagen?“

Andreas zuckte mit den Schultern. „Justus, mein Manager hat das immer geregelt. Dann ... na ja, er ist mit meiner Frau im wahrsten Sinne durchgebrannt. Einige Tage oder vielleicht auch Wochen nach ihrem Auszug kamen zwei Kisten mit Papieren. Ich hatte noch nicht die Kraft, sie zu öffnen.“

Das war immerhin ein Jahr her. In dieser Zeit konnte alles Mögliche geschehen sein. Chris war inzwischen hellwach. Der Mann brauchte seine Hilfe, das wurde ihm mehr und mehr klar. Und er brauchte die Hilfe so schnell wie möglich.

„Ich könnte jemanden von meinem Büro losschicken. Er würde die Kisten holen und sichten, wäre das in Ordnung.“

Im Grunde war die Frage überflüssig, aber Chris musste sie stellen. Andreas drehte nur den Kopf. „Natürlich, natürlich, ich habe ja niemanden, der mir ... “

Ganz instinktiv griff Chris zu seiner Hand. „Alles gut, das kriegen wir schon hin. Ich schicke meine beste Mitarbeiterin los. Wie kommt sie ins Haus?“

Andreas sah ihn hilflos an. „Daran bin ich ja anscheinend gescheitert. Ich erinnere mich noch an dieses infernalische Licht, wie eine Explosion. Dazu dieser Krach, dieses Heulen – dann verliert sich meine Erinnerung.“

Chris dachte kurz nach. „Gut, ich frage Zoe, sie kennt die Haushälterin. Die wird ja einen Weg gefunden haben, ins Haus zu kommen.“ Er versuchte, sein Gesicht betont optimistisch wirken zu lassen.

„Ist dieser Manager denn noch in irgendeiner Form für dich tätig? Hast du ihm je ordentlich gekündigt?“ Er erntete nur einen fragenden Blick, der für Chris bereits Antwort genug war.

Bei Andreas Jahn ging es um viel Geld, er hatte schließlich einige der Abrechnungen gesehen. Und er hatte keine Ahnung, was alles an Verwertungsrechten in der Welt herumschwirrte. Dieser Manager und seine Frau konnten sich ein schönes Leben machen auf Kosten von Andreas, also ein doppelter Betrug. Doch diesen Verdacht wollte er jetzt noch nicht aussprechen.

„Du musst mir jetzt als Erstes eine Vollmacht unterschreiben, dass ich für dich tätig sein darf. Ist das in Ordnung?“

Zoe kam in die Küche, gähnte herzhaft und ging zu ihrem Vater. Sie redete auf ihn ein, doch ihre Worte schienen nur halb bei ihm anzukommen. Schließlich brachte sie ihn dazu, sich noch eine Dusche zu gönnen.

„Ich glaube, dein Vater braucht dringend Hilfe“, sagte Chris und reichte ihr ebenfalls einen frisch aufgebrühten Kaffee. „Er hat sich seit einem Jahr nicht um seine finanziellen Angelegenheiten gekümmert. Der Manager hat, wenn ich es richtig sehe, noch immer vollen Zugriff auf alle Konten, alle Rechte. Und dabei kann es um richtig große Beträge gehen, die er deinem Vater stiehlt.“

Zoe nickte. „Und was wird aus ihm?“

„Ich glaube nicht, dass dein Vater krank ist“, stellte Chris nüchtern fest. „Er ist sensibel, hat sich zurückgezogen, leidet noch immer unter der Trennung. Daher würde ich sagen, dass er vor allem eines muss: Er muss zurück ins Leben und unter Menschen kommen.“

Zoe verstand das sofort als Angriff auf sich. „Ich habe auch meinen Job, bin kaum hier, genau wie du.“

„Ich habe auch nicht gemeint, dass wir ihn wie ein Kind behandeln sollen. Was hältst du von einem Urlaub? Irgendein schickes Hotel in der Karibik? Oder Griechenland, da wo wir im Herbst waren?“

„So willst du meinen Vater unter Leute bekommen? In einem Hotel weit weg und ohne jede Bekannte?“

Chris musste zugeben, dass sein erster Einfall nicht eben der Beste war. Im Hintergrund hörte er die Dusche rauschen. „Hat dein Vater denn irgendwelche Freunde, wo er sich ein oder zwei Wochen aufhalten könnte? Man könnte ja für seine Unterkunft ein Hotel mieten.“ Er zuckte selbst über diese Feststellung zusammen, denn sie klang nicht besser als sein Urlaubs-Plan.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752140163
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Unterhaltung Betrug Romantik Spannung Liebe Krimi Thriller

Autor

  • Olaf Hauke (Autor:in)

Olaf Hauke, geboren 1965, ist studierter Betriebswirt und arbeitet in der Verwaltung. Er schrieb zunächst Krimis, für die er mit dem Förderpreis der Stadt Seelze ausgezeichnet wurde. Mittlerweile handeln seine Erzählungen jedoch von Schicksalen und Gefühlen, menschlichen Beziehungen, Romantik und Sehnsucht. Eine Kritik bezeichnete seine Geschichten als 'Krimis der Herzen'. Olaf Hauke lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Göttingen.
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Titel: An einem dieser stillen Tage