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Chimärenjagd

Der Wolf und die Katze

von Gerd Hoffmann (Autor:in)
290 Seiten

Zusammenfassung

Bryson und Chloe sehen aus wie zwei gewöhnliche Menschen, gehören aber zu Mischwesen, Chimären genannt. Sie leben innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, ohne dass diese von ihrer Existenz eine Ahnung hat. Nur eine kleine Geheimorganisation namens NESOM und deren Mitglieder wissen von den Chimären und machen unbarmherzig Jagd auf sie, die nur noch über wenige Rückzugsgebiete verfügen. Obwohl Bryson und Chloe zu verfeindeten Untergruppen gehören, müssen sie sich zusammenraufen, um ihr eigenes Überleben und das ihrer gesamten Art zu sichern.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


  1. Kapitel 1

Chloe

Zufrieden betrachtete ich den aufgeschichteten Holzstapel direkt neben dem offenen Kamin und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Die nächsten Tage würde ich die vorhergesagte Kaltfront neben einem prasselnden Feuer verbringen können, eingemummelt in einer warmen Decke. Dazu eine schöne heiße Tasse Tee und etwas zu lesen ... ich konnte es kaum erwarten.

Überhaupt war es mir im letzten Jahr gelungen, aus der heruntergekommenen Blockhütte ein behagliches Heim zu schaffen. Es war harte Arbeit gewesen und ich hatte viele Stunden im benachbarten Dorf Handlangertätigkeiten durchgeführt, um notwendige Einrichtungsgegenstände zu kaufen, die ich nicht in Eigenregie herstellen konnte. Doch nun war alles so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Vorratskammer war ebenfalls gut gefüllt und ich würde für eine recht lange Zeit nicht mehr in das Dorf fahren müssen. Selbst die wenigen Menschen, denen ich dort begegnete, verursachten mir Unbehagen. Das lag natürlich an dem Wesen meiner Art, die von der Veranlagung her Einzelgänger waren. Ich suchte nur dann die Nähe von Artgenossen, wenn es Zeit zur Paarung war. Aber diese spezielle Zeit des Jahres lag noch in weiter Ferne. Ich erinnerte mich auch nicht gerne an die zurückliegenden Ereignisse, weil mein ganzes Denken dann nur noch darauf gerichtet gewesen war, ein passendes Gegenstück zu finden. Jedes Mal nahm ich mir danach vor, mich nicht mehr von den Hormonen zu etwas zwingen zu lassen, aber jede Gegenwehr war hoffnungslos. Möglicherweise gab es eine medizinische Behandlung dagegen, aber wie sollte ich so etwas einem menschlichen Arzt begreiflich machen?

Ich verscheuchte die Gedanken an die Zukunft, weil ich es doch nicht verhindern konnte, und strich lieber durch das gemütliche Heim. Mit den Fingerspitzen liebkoste ich die weiche, warme Decke auf dem Sofa und hätte beinahe zu schnurren begonnen - eine weitere Eigenheit meiner Art. Aus der Ferne drangen mir Motorengeräusche an die Ohren. Zunächst ignorierte ich sie. Die Straße war weit entfernt und ein normaler Mensch hätte kein Geräusch vernommen, aber schließlich wurde ich unruhig, als sich die Fahrzeuge näherten. Es führte nur ein kleiner Waldweg zur Hütte, in der ich untergeschlüpft war. Ich hatte sie vor einigen Monaten bezogen und seitdem hatte sich niemand hier blicken lassen, von ein paar Wanderern abgesehen.

Ich huschte ans Fenster und spähte nach draußen. Noch konnte ich nichts sehen, aber die Geräusche waren eindeutig lauter geworden. Mittlerweile war ich mir sicher, dass sich die ungebetenen Gäste meinem Standort näherten. Für einen Moment versuchte ich mir einzureden, dass es harmlos sein würde und die Typen sich nur verfahren hätten, aber schon schüttelte ich den Kopf über mich selbst. Zu oft hatte ich nun schon Berichte über eine Gruppe gehört, die Jagd auf meinesgleichen machte. Vielleicht war ich während der Arbeit im Dorf unvorsichtig gewesen oder jemandem aufgefallen. Jedenfalls musste ich hier verschwinden. Sofort!

Ich raffte ein paar Vorräte zusammen und stopfte sie in einen kleinen Rucksack. Nachdem ich in eine dicke Jacke geschlüpft war, sah ich mich noch einmal in der Hütte um, auf deren Instandsetzung ich so viel Mühe verwandt hatte. Es widerstrebte mir, einfach so von hier zu verschwinden. Erneut fragte ich mich, ob ich mir zu viel Sorgen machte, und lauschte nach draußen. Die Geräusche waren nun in unmittelbarer Nähe und es gab keinen Grund, mein Glück herauszufordern. Ich öffnete die Tür und verließ die Hütte.

Bemüht, keine Spuren zu hinterlassen, schlich ich in den Wald hinein und verbarg mich im Dickicht hinter einem Baumriesen. Von dort hatte ich einen guten Blick auf die Blockhütte und den Waldweg. Insgeheim hoffte ich noch immer, dass es blinder Alarm war, doch diese Hoffnung zerstob sofort, als ich die drei offenen Transporter erblickte. Es waren mehr als ein Dutzend Männer, bewaffnet und in meinen Augen nicht sehr vertrauenserweckend. Das allein wäre schon schlimm genug gewesen, doch erschrocken registrierte ich, dass die Kerle drei oder vier Hunde mit sich führten. Sie wussten also, wen sie hier anzutreffen hofften.

Tränen der Wut schossen mir in die Augen, als ich mich von der Hütte abwandte und tiefer in den Wald hineineilte. Vor wenigen Minuten hatte ich mich noch auf Winterabende vor einem prasselnden Kaminfeuer gefreut und nun stand mir wieder eine Flucht bevor.

Ich hatte noch keine Meile zurückgelegt, als es mir kalt über den Rücken lief. Es lag nicht nur an dem Kläffen der Hunde, das ich hinter mir hörte. Ich traute mir durchaus zu, diese dummen Tiere in die Irre zu führen. Schließlich kannte ich mich in dem Waldgebiet sehr gut aus. Was mich aber erschreckte, war die Erkenntnis, dass ich auch zu meiner linken Seite lautes Gebell hörte. Kreiste man mich ein? Waren sich die Schweinehunde ihrer Sache so sicher gewesen, dass sie mich nicht nur mit einer Gruppe jagten? Wo und wann hatte ich einen Fehler begangen?

Ich wandte mich nach rechts und verdoppelte meine Anstrengung, während ich nach einem Ausweg suchte. Den Versuch, die Köter mittels des nahe gelegenen Flusses abzuschütteln, konnte ich vergessen. Ich benötigte einen Alternativplan, und zwar schnell. Doch als ich auch noch von rechts infernalisches Kläffen hörte, da wurde mir bewusst, dass ich in der Falle saß. Sie hatten mich tatsächlich eingekreist. Unerbittlich näherten sich meine Verfolger, und als das Bellen in unmittelbarer Nähe ertönte, stoppte ich ab und riss mein Jagdmesser aus der Gürtelschlaufe. Ich fand gerade noch die Zeit, mich mit dem Rücken an einen großen Baum zu stellen, als auch schon die ersten beiden kalbsgroßen Hunde aus dem Dickicht brachen. Eigentlich sollte diese Rasse das Jagdwild aufspüren, verbellen und am Platz halten, aber diese Exemplare schienen daran kein Interesse zu haben. Vielleicht lag es an dem, was sie an mir witterten, möglicherweise waren sie vom Jagdfieber gepackt und wollten ihre Beute zur Strecke bringen - jedenfalls griffen sie an.

Auch in mir ging eine Veränderung vonstatten, die ich nur zu gut kannte. Meine menschliche Hülle, die mein inneres Wesen abschirmte, fiel von mir ab und ließ meine Urinstinkte an die Oberfläche dringen. Es war fast so, als würde alles um mich herum in Zeitlupe ablaufen. Die Hunde sprangen mich an, ich wich dem ersten Angreifer aus und zog dem anderen Köter das Messer quer über die Flanke. Mit einem Winseln fiel er zu Boden und leckte seine Wunde. Der erste Hund hatte sich herumgeworfen und schoss erneut auf mich zu, während zwei weitere Artgenossen von der linken Seite auf mich zustürmten.

Einem konnte ich ausweichen, stich nach dem Zweiten, aber der Dritte biss mir in den Oberschenkel. Es war das Letzte, was er in diesem Leben tun würde, denn ich jagte ihm mein Messer zielsicher ins Herz, sodass er zuckend zu Boden fiel. Immerhin hielt ich damit die Angreifer auf Abstand, aber der Schmerz im Bein sagte mir nur zu deutlich, dass meine Flucht hier beendet war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mich die Bestien in Stücke reißen würden. Die Mistkerle, von denen sie abgerichtet worden waren, hatten sie in Killer verwandelt. Schon brachen drei weitere Hunde aus dem Dickicht hervor, bellten und winselten, hochgradig erregt und berauscht vom Blutgeruch.

Bei mir fielen die letzten menschlichen Wesenszüge. Ich fauchte und zischte wie eine in die Enge getriebene Raubkatze, bevor mir der Instinkt den einzig möglichen Fluchtweg zu nutzen befahl, der mir noch offen stand: nach oben. Ich drehte den Hunden für Sekundenbruchteile den Rücken zu, sprang mit dem gesunden Bein ab und bekam so eben den untersten Ast zu fassen. Ich zog mich gerade nach oben, als einer der Angreifer vorschoss und nach meinem Bein schnappte. Er verbiss sich in meiner Hose, doch bevor sich seine Artgenossen ihm anschließen konnten, trat ich ihm mit dem freien Fuß zielsicher auf die Nase. Aufjaulend fiel er auf den Boden zurück und ich nutzte die Gelegenheit, um mich nach oben zu ziehen.

Das Messer war mir bei der Kletterei entfallen und lag nun auf dem Boden, direkt neben dem Baumstamm. Zitternd klammerte ich mich an den dicken Ast und versuchte schließlich, mich weiter nach oben zu arbeiten. Vergeblich. Schmerzen und Erschöpfung machten es mir unmöglich, mich auf einen höheren Ast zu ziehen. Unter mir war die Meute auf ein gutes Dutzend Exemplare angewachsen, die um ihren toten Artgenossen herumliefen und mich dabei nicht aus den Augen ließen. Hin und wieder sprang einer von ihnen in die Höhe und ich hörte das Klicken seiner Kiefer, als er nach mir schnappte und mich nur knapp verfehlte. Aber ich war in Sicherheit - vorerst.

Wie lange klammerte ich mich am Ast fest? Zehn Minuten? Fünfzehn? Noch länger? In Armen und Beinen spürte ich die ersten Krämpfe und die Wunde blutete auch immer noch, schwächte mich weiter.

»Platz! Ruhig!«, hörte ich nach einer gefühlten Ewigkeit menschliche Stimmen rufen.

Wie durch dichten Nebel sah ich ein halbes Dutzend Männer aus dem Wald kommen. Die Hunde zogen sich etwas vom Baum zurück, behielten mich aber immer noch im Auge und winselten vor Erregung.

»Schaut euch nur an, was das Miststück getan hat!«, rief einer der Kerle empört aus, derweil er dem Hund, den ich getötet hatte, einen verächtlichen Tritt verpasste.

»Reg dich nicht künstlich auf, Jason«, sagte einer der Männer, während er umständlich ein Gewehr vom Rücken nahm. »Wenn wir die Belohnung haben, kauf ich dir einen neuen Köter.«

Der Angesprochene knurrte nur etwas Unverständliches, bevor er zum Baum hintrat und mich ergreifen wollte. Ich fauchte laut und biss ihm in die Hand, als sie in meine Reichweite kam.

»Verdammt! Elendes Dreckstück!«, rief er aus und hielt die Hand an seinen Körper gepresst. »Mach schon, Doug! Schieß sie endlich von dort runter!«

»Immer mit der Ruhe.«

Ich sah, wie der Mann das Gewehr auf mich anlegte, und noch einmal kehrte das Leben in mir zurück, als mein Gehirn die Gefahr registrierte. Ich griff nach einem Ast über mir, wollte mich trotz der Schwäche und des Blutverlustes hochziehen, als ich einen scharfen Schmerz im Rücken fühlte. Zischend versuchte ich die Stelle zu erreichen, doch nach wenigen Augenblicken wurden meine Glieder so schwer wie Blei. Die ganze Welt begann sich zu drehen und ich verlor den Halt. Hart schlug ich auf dem Boden auf und spürte, wie warmes Blut über mein Gesicht rann. Ich merkte kaum noch, wie mich schwielige Hände vom Boden hochrissen.

»Miss Cramer wird sich freuen«, hörte ich eine raue Stimme sagen, gefolgt von einem heiseren Lachen. Danach hörte und sah ich nichts mehr.

 

  1. Kapitel 2

Bryson

Genüsslich setzte ich das Glas an die Lippen und trank durstig das kühle Bier. Den ganzen Tag hatte ich mich schon auf den Moment gefreut. Es war wieder einer der Arbeitstage gewesen, an denen ich es bereute, diese Laufbahn eingeschlagen zu haben. Aber die Anführerin meines Clans - wenn man sie so nennen wollte - hatte mich nun einmal für diese Arbeit bestimmt und an ihren Entscheidungen gab es nichts zu kritisieren. Was sie sagte, war für uns Gesetz. Sie hatte ja auch nicht unrecht. Als Cop war ich in der Lage, dem Rudel zu helfen und Gefahren bereits in der Entstehung zu erkennen. Wahrscheinlich könnte ich diese Aufgabe noch effektiver erledigen, wenn ich mich besser auf die menschlichen Gepflogenheiten verstehen würde. Aber ich fühlte mich nach Feierabend nicht zu ihnen hingezogen und hatte kein Interesse an den abendlichen Beschäftigungen, denen sie sich hingaben. Deswegen hatte ich bereits die Bezeichnung »Einsamer Wolf« verpasst bekommen. Sie ahnten gar nicht, wie sehr es einerseits zutraf und andererseits auch völlig verkehrt war. Ich war keineswegs darauf erpicht, meine Abende alleine zu verbringen, aber wenn ich Gesellschaft suchte, dann bestimmt nicht die von Kollegen.

Ich bestellte mir gerade ein zweites Glas, als ich einen der wenigen Menschen zur Tür hereinkommen sah, deren Gegenwart ich ertragen konnte. Stephen Tremper war nicht nur der Mediziner, der uns im Morddezernat mit seiner Expertise aushalf, er war auch einer aus der überschaubaren Anzahl von Menschen, die wussten, was ich war. Dadurch war er auch für das Rudel sehr wertvoll, denn Ärzte gab es in unserem Kreis keine, sodass wir ihn heranzogen, wenn sich jemand von uns schwerere Verletzungen zuzog.

Mit einer Handbewegung orderte er ein Bier, zog einen Barhocker heran und setzte sich neben mich.

»Wusste ich doch, dass ich dich hier finde«, sagte er.

»Das war jetzt aber auch nicht schwer herauszufinden. Schließlich komme ich jeden Tag hierher.«

»Sei mal nicht so knurrig und bell mich nicht direkt an.«

»Wölfe bellen nicht!«, ging ich auf seinen kleinen Insiderwitz ein. »Hast du schon eine Spur?«

Er nickte, während er sein Bier in Empfang nahm. »Ich fürchte nur, es wird dir nicht gefallen. Mein Kollege meint, er wäre spät abends zu einem Patienten gerufen worden, der dem Mann ähnelt, den du suchst.«

So etwas hatte ich schon befürchtet. »Da stecken wahrscheinlich unsere speziellen Freunde dahinter.«

»Vermutlich«, erwiderte Stephen und trank sein Glas halb aus. »Sie haben sich nicht mit Name und Ausweis vorgestellt.«

»Wer sollte es sonst sein?«

Es war eine rein rhetorische Frage und ich dachte an meine erste Begegnung mit dieser Gruppe zurück, damals, als ich noch jung und völlig ahnungslos gewesen war. Necamus somnia - wir töten die Chimären. Oder abgekürzt: NESOM. Es war ein Zusammenschluss von Männern und Frauen, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, jeden von uns zu töten. Und das betraf nicht nur mein Rudel, denn es gab viele verschiedene Mischwesen, die so waren wie ich, nur eben in anderer Kombination. Zudem waren sich viele Gruppierungen von uns spinnefeind - als ob wir nicht schon genug Probleme hätten. Oft genug hatte ich die Unsinnigkeit dieser Zwistigkeiten angesprochen, aber mit Vernunft konnte man leider keine tiefgehenden Feindschaften bekämpfen.

Stephen legte ein Blatt Papier vor mich hin. »Ich habe dir mal seine Telefonnummer aufgeschrieben, falls du mit ihm sprechen willst. Er weiß nur, dass du Polizist bist und dich um vermisste Personen kümmerst.«

Ich bedankte mich und sprach noch ein paar Minuten mit ihm, bevor er austrank, seine Rechnung zahlte und die Bar verließ. Nachdenklich schob ich den Zettel in meine Jackentasche. Irgendwie brachte ich in die Geschichte keinen Sinn hinein. Wie der Name unserer Feinde schon sagte, wollten sie uns eigentlich töten. Warum riefen sie dann einen Arzt, um jemanden von uns behandeln zu lassen?

Ich trank noch zwei weitere Gläser und war im Begriff, aufzubrechen, als sich eine Frau neben mich setzte. Selbst ohne meinen besonders gut entwickelten Geruchssinn hätte ich bemerkt, dass sie ziemlich stark angetrunken war. Im nächsten Moment fuhr sie mir mit ihren langen Fingernägeln sanft über die Wange und blickte mich mit glasigen Augen an.

»Wo kommst du denn her, mein Großer?«

»Ohio«, erwiderte ich unbestimmt. »Wenn Sie mich nun entschuldigen würden ...«

»Wohin so eilig?«, fragte sie und versuchte dabei, möglichst viel Timbre in ihre Stimme zu legen, scheiterte damit aber kläglich. Sie packte mir an den Oberschenkel und ließ ihre Hand langsam nach oben wandern. »Wir könnten doch noch sehr viel Spaß miteinander haben.«

'Und ich würde mir höchstwahrscheinlich etwas einfangen', dachte ich nur und brachte ein verkniffenes Lächeln zustande. »Tut mir leid, Miss, aber ich habe eine Verabredung, die ich nicht verschieben kann!«

Ihre Gesichtszüge verzerrten sich und ich sah die Verwüstungen, die der Alkohol und das Leben bei ihr hinterlassen hatten. Warum nur taten sich Menschen ein solches Leben an? Ich wollte mich gerade ein weiteres Mal entschuldigen, als sich ein vierschrötiger, ungeschlachter Kerl zu uns heranschob. Breitbeinig pflanzte er sich vor mir auf und blickte mich herausfordernd an.

»Du bittest die Lady gefälligst um Verzeihung!«

Ich war nicht in der Stimmung, einen Streit vom Zaun zu brechen. »Tut mir wirklich leid, Miss!«, sagte ich daher und wollte zur Tür gehen.

Der Kerl packte mich am Arm und brachte mich dazu, ihm in die Augen zu blicken. Obwohl ich noch verhältnismäßig ruhig war, hatten sich meine Pupillen wohl schon verändert. Jedenfalls sah ich die Verwirrung auf seinem Gesicht und er löste den Griff um meinen Arm. »Das war keine Entschuldigung! Wir sprechen uns noch«, brabbelte er kaum verständlich, drehte sich um und zerrte die Frau hinter sich her.

Ich nutzte die Gelegenheit, wandte mich ab und verließ die Bar.

*****

Während der Zeit als Cop hatte ich viele Geschichten von Menschen gehört, die man nach einem Besuch in einer Bar aufgelauert und ausgeraubt hatte. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, selbst mal in eine solche Situation zu geraten. Ich sah nicht wie das übliche Opfer aus, und wenn ich auf der Straße meinem Dienst nachging, überlegte es sich auch der übelste Schläger mehrmals, sich mit mir anzulegen. Doch nun, auf dem dunklen Parkplatz hinter der Bar, wirkte ich wohl nicht so einschüchternd. Jedenfalls lungerten auf dem schlecht ausgeleuchteten Platz zwei Gestalten herum, die kaum etwas Gutes im Schilde führten. Es war mir auch nicht entgangen, dass der Verteidiger der betrunkenen Frau kurz nach mir die Bar verlassen hatte und nun in meinem Rücken auftauchte. Er stieß einen Pfiff aus, der die beiden Kerle dazu veranlasste, sich mir zu nähern.

Etwas in mir drängte an die Oberfläche, freute sich auf die bevorstehende Auseinandersetzung, während ich den Schaden in Grenzen halten wollte. Ich hatte kein Interesse an dem Papierkram, der auf mich wartete, wenn ich die Kerle ins Krankenhaus beförderte.

»Ich sagte doch, dass wir uns noch sprechen werden!«, sagte der Typ aus der Bar und grinste dabei schmierig.

»Und was willst du von mir?«

Er rieb Mittelfinger und Daumen aneinander. »Dreimal darfst du raten. Ich habe gesehen, dass du ganz schön viel Papier in der Brieftasche mit dir rumschleppst. Von dem Ballast würde ich dich gerne befreien!«

Hinter mir hörte ich ein leises Schnappen, das typische Geräusch, wenn ein Messer aufgeklappt wird. In mir brodelte es immer stärker und ich wusste nicht, wie lange ich noch die Kontrolle behalten würde.

»Ihr solltet lieber verschwinden!«, stieß ich hervor, während ich auf einmal die ganze Umgebung viel deutlicher wahrnahm, so als ob meine Sinne um ein Vielfaches geschärft wurden. »Letzte Chance für euch!«

Es war eine Ahnung, vielleicht auch nur das Pfeifen in der Luft, was mich herumwirbeln und dem eisernen Feuerhaken ausweichen ließ, mit dem einer der Kerle auf meinen Kopf gezielt hatte. Er schrie überrascht auf, als er nur Luft traf. Im gleichen Moment riss ich ihm das Schlaggerät aus der Hand und wich dem Messer aus, mit dem der dritte Typ nach mir stach. In einer fließenden Bewegung holte ich mit dem Feuerhaken aus und schlug ihm damit mit voller Wucht ins Gesicht. Ein hässliches Knacken ertönte, als der Kiefer des Mannes brach und es klang wie reife Popcornkörner, als seine Zähne auf das Pflaster fielen. Dem ersten Angreifer, der das Gleichgewicht nach dem fehlgeschlagenen Versuch noch nicht wiedererlangt hatte, trat ich so heftig in die Seite, dass ich die Rippen brechen hören konnte. Nun stand nur noch der Kerl aus der Bar, aber der hatte genug gesehen und lief wie von allen Höllenhunden gehetzt die Gasse entlang. Schon wollte ich dem Mann nachlaufen, den Instinkten nachgeben und ihn hetzen, bis er halbtot vor mir lag, aber allmählich erlangte ich die Kontrolle über meine Handlungen zurück. Daher zog ich nur das Handy aus der Tasche und alarmierte die Kollegen und einen Rettungswagen.

*****

Die Formalitäten waren schnell erledigt, zumal die Typen bei den Cops bereits eine dicke Akte hatten und ich ein Arbeitskollege war. So verlor ich kaum mehr als eine halbe Stunde, bevor ich mich auf den Weg machen konnte. Unser Rudel hatte in den letzten Jahren einiges an Geld beschaffen können und wir waren somit in der Lage gewesen, ein geräumiges Wohnhaus am Rande der Stadt zu kaufen. Wahrscheinlich war es dabei nicht ganz legal zugegangen, aber trotz meines Jobs interessierte ich mich nicht für die Details. Wir benötigten einen Unterschlupf, einen Treffpunkt, wo wir ungestört sein konnten. Unangemeldet und unbemerkt drang hier niemand ein. Sollte es jemand versuchen, so würde er sein blaues Wunder erleben. Mit meinen Kameraden war nicht zu spaßen. Selbst die Angehörigen des NESOM würden sich hier die Zähne ausbeißen - zumindest war das meine Hoffnung. Keiner von uns wusste genau, wer hinter der Organisation steckte, doch es war an der Zeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen - besonders nach dem letzten Vorfall.

Ich nickte dem Pförtner zu, als ich das Gebäude betrat. Er wirkte reichlich verschlafen, aber falls sich das irgendein Einbrecher zunutze machen wollte, käme der lebensmüde Kerl nicht sehr weit. Ich stieg in den Fahrstuhl, drückte den Knopf für die obere Etage und fuhr in den achten Stock, wo Luna residierte. Vor der Eingangstür zum geräumigen Penthouse standen zwei meiner Kameraden Wache. Sollte jemand am Pförtner vorbeikommen - hier wäre spätestens für ihn Endstation. Mir schenkten sie aber nur ein kurzes Kopfnicken, bevor einer von ihnen die Tür für mich öffnete. Luna wusste, dass ich sie besuchen wollte.

Das Penthouse war außerordentlich geräumig und ein Inneneinrichter mit Geschmack und großem Budget hätte hier Wunder gewirkt. Da sich aber niemand von uns viel aus Luxus machte, war die Wohnung eher zweckmäßig eingerichtet. Luna stand am Fenster und blickte auf die Dachterrasse. In der Stadt würde sie jetzt auf die Fassaden von Wolkenkratzern blicken, aber hier am Stadtrand war dieses Haus das höchste in der näheren Umgebung. Das war mit ein Grund, warum wir uns entschieden hatten, es zu kaufen.

»Du kommst spät, Bryson«, sagte sie und drehte sich zu mir um. Ihre Gestalt konnte ihr hohes Alter nicht verbergen, aber in den Augen lag immer noch die kühle Härte, die ihr ganzes Wesen widerspiegelte. Sie war die Anführerin des Rudels und keiner von uns wäre je auf die Idee gekommen, es infrage zu stellen.

»Tut mir leid, Luna. Ich hatte noch eine kleinere Diskussion auf dem Parkplatz und musste ...«

Sie winkte nur ab und gab mir damit zu verstehen, dass es nicht so wichtig sei. »Wie weit bist du mit den Nachforschungen? Gibt es eine Spur von Gaiden?«

Sie sprach über unseren Kameraden, der vermutlich entführt worden war und dessen einzige Spur ein Zettel war, den mir Stephen vorhin in der Bar gegeben hatte. Ich zeigte ihn Luna und teilte ihr auch meine Befürchtungen mit.

Sie wiegte bekümmert den Kopf hin und her. »Es war mir klar, dass so etwas passieren musste. Warum hat er nicht auf mich gehört? Sein Platz ist bei uns, im Rudel, nicht in einer anderen Stadt!«

Sie hatte mehr zu sich selbst als zu mir gesprochen, daher blieb ich nur respektvoll im Raum stehen und schwieg. Schließlich sah sie mich an.

»Wie willst du weiter vorgehen?«

Es wunderte mich, dass sie meinen Rat hören wollte. Normalerweise entschied sie ganz allein über unsere Vorgehensweise.

»Ich werde einen meiner Vorgesetzten um Erlaubnis bitten, die dortige Dienststelle zu kontaktieren, um Näheres herauszufinden. Außerdem spreche ich mit Stephens Kollegen.«

Luna verzog ihr Gesicht. »Menschen!«, stieß sie hervor, als ob sie eine Beleidigung aussprechen würde. »Von denen haben wir kaum etwas Gutes zu erwarten.«

»Wir leben mitten unter ihnen«, erwiderte ich vorsichtig. »Es spricht nichts dagegen, sich deren Hilfe zu bedienen.«

»Ich weiß ... aber damals war noch eine andere Zeit, als wir ...«

Ihre Stimme brach ab und sie blickte versonnen an mir vorbei, als ob sie gar nicht mehr im Raum wäre.

»Kümmer dich weiter darum«, sagte sie schließlich. »Ich möchte wissen, ob Gaiden etwas zugestoßen ist. Sollten diese menschlichen Jäger dahinterstecken, werden sie dafür bezahlen! Bitter bezahlen!«

Mit einer herrischen Handbewegung bedeutete sie mir, dass ich mich entfernen durfte. Ich verließ das Penthouse mit gemischten Gefühlen. Luna war die unbestrittene Anführerin des Rudels, aber sie verstand die Welt um sich herum nicht mehr. Sie lebte noch in der Vergangenheit, als wir die Herren der weiten Steppen und für die Ureinwohner die Geister der Savannen waren. Unsere Lebensspanne betrug mehr als fünfhundert Jahre und Luna war mit Abstand die Älteste von uns. Zu alt, um zu begreifen, dass wir uns nicht mit den Menschen anlegen, sondern lieber unter dem Radar bleiben sollten.

Nachdenklich betrachtete ich Stephens Notiz, während ich mit dem Aufzug ins Erdgeschoss fuhr. Ich würde mich heute noch mit dem Mann in Verbindung setzen. Vermutlich musste ich mich selbst dorthin begeben, um nach Gaiden zu suchen.

 

  1. Kapitel 3

Chloe

In meinem Kopf hämmerte es und die Zunge klebte mir am Gaumen. Geronnenes Blut verklebte mir die Augenlider, und als ich die Hände benutzen wollte, um sie zu säubern, merkte ich, dass man mich an irgendeinen Gegenstand angebunden hatte. Mit einem ärgerlichen Zischen trat ich sinnloserweise mit den Beinen um mich, so weit es die Fesseln zuließen.

»Bleib gefälligst liegen, du Miststück!«, hörte ich die raue Stimme eines Mannes sagen.

Also war ich nicht alleine im Raum. Das eröffnete mir ganz neue Möglichkeiten und ich war gewillt, diese Chance zu nutzen.

»Könntest du mir bitte die Augen säubern, damit ich sie öffnen kann?«, fragte ich und legte all den sanften Schmelz in die Stimme, von dem ich wusste, dass er auf Männer anziehend wirkte.

»Und warum sollte ich das tun?«

»Weil ich gerne den Mann sehen würde, der so unglaublich gut riecht!« Ich sog die Luft in meine Nase und bäumte mich etwas auf, als ob mich der Geruch um den Verstand bringen würde.

»Willst du mich veralbern?«

»Du weißt doch, dass jemand wie ich weitaus bessere Geruchssinne hat als ein Mensch ... und außerdem ist es diese besondere Zeit im Jahr ... du verstehst ... bitte!«

Ich bewegte mich weiter wie in Ekstase und gab Geräusche von mir, als wäre ich eine rollige Katze. Gleichzeitig spitzte ich die Ohren und hoffte, dass meine schauspielerische Leistung einen durchschlagenden Erfolg auf ihn haben würde. Ich musste nicht lange warten und hörte zufrieden mit an, wie ein Stuhl zurückgeschoben und eine Wasserflasche geöffnet wurde. Schritte näherten sich meinem Lager und nun roch ich die Ausdünstungen des Kerls nur zu deutlich. Sie sagten mir, dass die Vorstellung ihren Zweck erfüllt hatte. Sein Blut war wohl bereits aus dem Gehirn in den Unterleib geflossen.

Grob rieb er mir mit einem feuchten Tuch über die Augenlider, und auch wenn ich mir eine sanftere Behandlung gewünscht hätte, so war es doch wirkungsvoll. Ich konnte nun die Augen öffnen und sah über mir das unrasierte Gesicht eines Mannes, der seinen Blick ungeniert über meinen Körper wandern ließ. Ich zog alle Register, um seine Erregung weiter anzuheizen, leckte mir über die Lippen und sah ihn an, als ob er Apollo und Adonis in einer Person wäre.

»Danke!«, flüsterte ich. »Was hältst du davon, wenn ich mich für die Hilfe erkenntlich zeige?« Ich spreizte meine Beine und hob den Hintern etwas an. »Wenn du jemanden wie mich gehabt hast, wirst du es niemals im ganzen Leben vergessen!«

Die erste Stufe des Plans hatte schon funktioniert, denn der Kerl vergaß alles um sich herum. Er löste die Fesseln um meine Knöchel, öffnete gierig den Gürtel meiner Hose und zog sie hastig nach unten.

»Ja ... beeil dich ... zieh sie mir aus!«, heizte ich ihn weiter an und wand mich auf dem Bett, als könnte ich es kaum erwarten, seinen schwitzenden Körper auf meinem zu spüren.

Ohne lange nachzudenken befolgte er die Bitte und warf die Hose achtlos vom Bett herunter. Er legte sich mit dem vollen Körpergewicht auf mich drauf, zwischen meine gespreizten Beine - genau dorthin, wo ich ihn haben wollte. Damit saß er in der Falle, und als er gerade begann, an dem Gürtel seiner Hose herumzunesteln, schnappte die Falle zu. Ich schlang ihm die Beine um die Hüfte und drückte zu. Zuerst blickte er mich nur überrascht an, doch als die erste Rippe knackste, wimmerte er vor Schmerzen. Ich zerrte an den Handschellen, mit denen ich am Bett gefesselt war, um seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

»Du wirst mich jetzt losbinden, hast du verstanden?«

Er versuchte immer noch, sich aus der Umklammerung zu befreien, also verstärkte ich den Druck noch etwas und hörte eine zweite Rippe brechen.

»Wenn du mich nicht schleunigst befreist, werde ich dir deine sämtlichen Knochen entzweibrechen, sodass sie sich in deine Lunge bohren und du hier krepierst.«

Immerhin schien er nun zu begreifen, dass es mir ernst war. Trotz der Qualen, die er bestimmt verspürte, gelang es ihm, die Schlüssel für die Handschellen zu benutzen. Erleichtert zog ich die Hände aus den Fesseln, lächelte den Mann über mir freundlich an und schlug ihm mit voller Wucht eine Faust an das Kinn. Ich stieß den halb bewusstlosen Kerl von mir herunter, legte ihm einen Arm um den Hals und presste so die Luftzufuhr zum Gehirn ab. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er sich nicht mehr rührte.

Hastig schlüpfte ich in die Hose und lauschte gleichzeitig ins Haus hinein. Waren noch mehr von diesen Kerlen anwesend? Es war eigentlich anzunehmen, denn bei der Hetzjagd im Wald waren es mindestens sechs Typen gewesen - von den Hunden mal abgesehen.

Ich eilte zum Fenster und warf einen vorsichtigen Blick hinaus. Das Zimmer lag im ersten Stock und ich erkannte in kaum dreihundert Yards Entfernung eine schmale Straße, die sich am Grundstück vorbeischlängelte. Weiter links führte eine Brücke über einen breiten Fluss und selbst von meinem Standort aus sah ich, wie wild das Gewässer war. Offensichtlich hatte man mich nicht in eine Großstadt verschleppt. Leider sah ich keinerlei Fahrzeuge im Innenhof parken, die ich mir hätte ausleihen können.

Ein leises Stöhnen vom Bett her rief mir den Ernst der Situation ins Bewusstsein zurück. Ich musste hier schleunigst verschwinden. Der Weg durch das Haus schien mir gefährlicher zu sein als ein Sprung aus dem ersten Stock. Mit etwas Glück würde es niemand mitbekommen.

Also öffnete ich so leise wie möglich das Fenster und spähte hinaus. Auch jetzt konnte ich keine Menschenseele sehen.

Ein Klopfen an der Tür ließ mich herumfahren. »Ist alles in Ordnung da drin? Jason? Alles klar?«

Ich konnte nicht mehr warten und sprang über das Fensterbrett hinweg ins Freie, während beinahe gleichzeitig in meinem Rücken die Zimmertür aufschwang. Federnd kam ich im Hof auf, als auch schon ein warnender Ruf aus dem ersten Stock alle im Haus alarmierte. Ich drehte mich nicht um und verlor keine Zeit mehr, sondern rannte, so schnell ich konnte, in Richtung der Straße. Dank meines ausgezeichneten Gehörs vernahm ich die Flüche hinter mir und hörte den ersten Schuss krachen. Es versetzte mir einen Schock, denn anscheinend wollte man mich nicht unter allen Umständen lebend einfangen. Ich hatte gerade die Landstraße erreicht, als ich Motoren aufheulen hörte. Meine Chancen waren damit rapide gesunken. Ich konnte kaum darauf hoffen, sie zu Fuß abzuhängen. Die Flucht über die Brücke war sinnlos geworden, dort hätten mich die Kerle im Nu eingeholt. Wie all meine Artgenossen war ich kein Freund von Wasser, schon gar nicht von einem so reißenden Strom, wie er sich vor mir erstreckte. Aber ich hatte keine andere Wahl mehr. Ich eilte die Böschung hinunter und wollte gerade in den Fluss springen, als erneut ein Schuss krachte und ich wie von einer unsichtbaren Keule getroffen nach vorne gestoßen wurde.

Meine ganze Seite war wie gelähmt und ein unheimlicher Schmerz zog sich von der rechten Schulter abwärts durch den gesamten Körper. Ich wurde unter die Wasseroberfläche gezogen, das brackige Flusswasser drang mir in die Lungen und löste einen krampfartigen Hustenreflex aus. Irgendwie gelang es mir, mich zurück an die Oberfläche zu kämpfen. Die Geschwindigkeit des Wassers war unheimlich hoch und die Strömung riss mich unbarmherzig mit sich fort. Ich sah noch vier Gestalten in großer Entfernung am Ufer stehen, als ich auch schon um eine Biegung gezogen wurde. Mir war eiskalt und allmählich schwanden mir die Sinne. Ich kämpfte dagegen an, denn mir war klar, dass ich sterben würde, wenn ich dieser Schwäche nachgab.

Stromschnellen! Die hatten mir gerade noch gefehlt. Wie eine Puppe wurde mein Körper hin- und hergeschleudert und prallte gegen aus dem Wasser ragende Felsen. Äste peitschten mir ins Gesicht, wenn ich in die Nähe des Ufers getrieben wurde, und rissen meine Haut auf. Immer weiter ging die Reise und ich hätte nicht sagen können, wie lange mich die Strömung im Griff hielt. Erst allmählich ließ das Brausen nach und mein zerschundener Leib prallte ein letztes Mal auf einen blank gewaschenen Felsen, der nun die Endstation der wilden Fahrt markierte. Es war der letzte Rest Überlebenswille, der noch in mir steckte und der bewirkte, dass ich mich mit dem halbwegs einsatzfähigem linken Arm ein Stück die Böschung hochzog. Dort brach ich zu Tode erschöpft zusammen.

*****

Mein gequälter Körper rief mir zu, dass er Ruhe brauchte und nicht mehr in der Lage wäre, sich auch nur einen Meter weit zu bewegen. Dagegen forderte mich das Unterbewusstsein auf, den faulen Arsch hochzubekommen und die Flucht fortzusetzen. Also stemmte ich mich mühsam in die Höhe und kletterte die Böschung hinauf. Bunte Punkte tanzten mir vor den Augen und mehr als einmal stöhnte ich auf, als ich den rechten Arm bewegte. Die Kugel, die mir die Schweinehunde verpasst hatten, war wohl am Knochen entlanggeschrammt.

Ich verdrängte die Frage, wie ich in dem Zustand eigentlich irgendwohin gehen wollte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. Für einen Moment sah ich die gemütliche Blockhütte vor mir, die von mir so sorgfältig eingerichtet worden war und wo ich ursprünglich hatte überwintern wollen. Aber ich schob den Gedanken beiseite. Wenn die Kerle auf der Suche nach mir waren - und davon musste ich ausgehen - dann würden sie dort zuerst nachsehen.

Endlich hatte ich den Straßenrand erreicht, warf noch einen Blick zum Fluss hinunter und wunderte mich, dass ich es in meinem Zustand bis hierhin geschafft hatte. Ich durfte mich aber nicht allzu lange an der Straße aufhalten, doch viel weiter würde ich nicht mehr gehen können. Irgendwo verstecken? Ohne ein Dach über dem Kopf würde ich die kalte Nacht kaum überstehen. Schon jetzt machte sich das Fieber bemerkbar und in der Schusswunde pochte und hämmerte es. Nein, hier in dem Waldstück durfte ich nicht bleiben. Außerdem würden mich die Hunde aufspüren, falls sie hier nach mir suchten.

Als Anhalter mitfahren? Kam auch kaum in Betracht. Selbst wenn mich jemand trotz meines wenig vertrauenserweckenden Aussehens mitnehmen würde, konnte ich ihm kaum vertrauen. Zu schlechte Erfahrungen hatte ich in dieser Hinsicht gemacht. Von Menschen sollte ich mich fernhalten. Zudem war während der ganzen Zeit kein einziges Auto vorbeigefahren. Wahrscheinlich könnte ich lange auf eine Mitfahrgelegenheit warten.

Ein Fieberschauer schüttelte mich und ich wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn. In einiger Entfernung sah ich einen Rastplatz - zumindest glaubte ich einen solchen zu erkennen. Die Sehkraft schien durch das Fieber, was in meinem Körper tobte, zu leiden. Ich biss die Zähne zusammen und schleppte mich in Richtung der Lastwagen, die dort parkten. Ich nutzte auf dem Weg die Deckung durch das Dickicht am Straßenrand aus, falls mich die Feinde suchen sollten. Doch zu viel Zeit durfte ich auch nicht verlieren, sodass ich einen Kompromiss zwischen Sicherheit und Schnelligkeit eingehen musste.

Der Weg zum Parkplatz hatte meine restliche Kraft komplett aufgebraucht und mein Verstand arbeitete nur noch auf Sparflamme. Die verletzte Schulter schmerzte höllisch und blutete immer noch. Ich achtete nicht auf die Nummernschilder der Lastwagen, sondern kroch unter die Plane des erstbesten Fahrzeugs und schleppte mich in eine Ecke, wo ich vor neugierigen Blicken geschützt sein würde. Dort wollte ich mich um die Wunde kümmern, sie mit irgendwas verbinden, aber ich kam nicht mehr dazu. Ich spürte nur noch die aufsteigende Übelkeit, bevor die Welt um mich herum dunkel wurde.

 

  1. Kapitel 4

Bryson

Ich hatte die halbe Nacht wachgelegen und überlegt, ob ich nicht einfach der Spur folgen und auf die Suche nach Gaiden gehen soll. Aber das hätte unter Umständen meine Suspendierung zur Folge haben können und das wollte ich nicht riskieren. Also war ich den vorschriftsmäßigen Weg gegangen und hatte am Morgen beim Leutnant einen Urlaubsantrag eingereicht. Ab übermorgen hatte ich nun eine Woche Zeit, Gaiden aufzuspüren, oder wenigstens dem Geheimnis seines Verschwindens auf den Grund zu gehen.

Stephens Anruf kurz vor der Mittagspause und sein dringender Wunsch, mich in der Pathologie zu sehen, überraschte mich. Ich bearbeitete derzeit keinen Fall - zumindest keinen, der eine frische Leiche beinhaltete. Dennoch folgte ich der Aufforderung und beeilte mich, um es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Die medizinische Abteilung war kein Ort, an dem ich mich gerne aufhielt.

Ich hatte kaum die Tür zur Pathologie geöffnet, als mir auch schon klar wurde, warum Stephen mich so dringend zu sich gebeten hatte. Die Frau, die vor ihm auf dem Tisch lag, war nur rein äußerlich ein Mensch. Sie war zwar auch nicht von meiner Art, aber mir war trotzdem klar, um was es sich dabei handelte.

»Ich wette, du hast ein paar Dinge in ihr gefunden, die in einem menschlichen Körper eigentlich nicht vorhanden sind«, sagte ich anstelle einer Begrüßung.

»Bist du Hellseher?«, fragte Stephen und reichte mir den Obduktionsbericht.

Während ich das Papier studierte, glitt mein Blick immer wieder über das tote Wesen.

»Was hältst du davon?«, fragte er mich schließlich. »Ist dir so jemand schon mal begegnet?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, zumindest habe ich es nicht bemerkt. Allerdings haben unsere verschiedenen ... Arten auch keinen engen Kontakt zueinander.« Ich gab ihm das Papier zurück. »Sie ist also halb Mensch, halb Vogel. Den Bericht kannst du unmöglich abgeben!«

»Hatte ich auch nicht vor.« Er deutete auf einen zweiten Ausdruck. »Dies wird der offizielle Obduktionsbericht. Niemand wird eine tiefergehende Untersuchung fordern. Es war ja nur eine arme, obdachlose Unbekannte, die keiner vermisst.«

»Und warum wolltest du mich sehen?«

»Weil es mir sonderbar erscheint, dass eine Chimäre aus Mensch und Vogel das unbändige Verlangen verspürt, mitten in der Nacht aus dem sechsten Stockwerk zu springen. Zudem habe ich etwas in ihrem Körper gefunden, was da ebenfalls nicht hingehört.« Stephen zeigte mir eine kleine Kapsel.

»Und was bedeutet das? Wurde sie angeschossen?«

»Nein. Ich würde eher sagen, dass man ihr dieses winzige Spielzeug implantiert hat. Ich vermute, es war irgendeine Substanz drin enthalten, die über einen gewissen Zeitraum hinweg in ihr Blut gelangt ist.«

Ich strich mir durch die Haare. »Worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Meine Schlussfolgerung ist, dass es eine Organisation gibt, die mit Wesen wie euch herumexperimentiert. Dafür spricht auch das Verschwinden deines Freundes.«

»Die Annahme scheint mir ziemlich weit hergeholt zu sein.«

Er zuckte mit den Schultern. »Möglich. Du hast mir doch von der Gruppe erzählt, die hinter euch her ist. Vielleicht wollen sie euch nicht mehr einfach nur töten, sondern ... irgendwie benutzen.«

*****

Ich fand seine Theorie absurd, dennoch ging sie mir den ganzen restlichen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Daher war ich froh, als ich mich am frühen Nachmittag bei meinem Vorgesetzten abmelden und mich auf die Fahrt zu Stephens Kollegen Dr. Horten machen konnte. Die Autofahrt dauerte kaum mehr als eine Stunde und die Praxis des Arztes war noch geöffnet. Ich meldete mich bei der Sprechstundenhilfe an, setzte mich ins Wartezimmer und vertrieb mir die Zeit, indem ich sämtliche Illustrierten durchlas. Nach zwei langweiligen Stunden war endlich auch der letzte Patient aus der Praxis verschwunden und ich saß Horten gegenüber. Das Gespräch mit dem Mann war nicht sonderlich ergiebig. Wahrscheinlich lag es an seiner Angst vor den Typen, die ihn an das Bett des Verletzten gerufen hatten. Falls es sich dabei tatsächlich um Gaiden gehandelt hatte und die Männer zu NESOM gehörten, war die Furcht auch berechtigt. Zumindest gab er mir - wenn auch zögerlich - die Adresse heraus, zu der man ihn bestellt hatte. Die recht säuerliche Laune, mit der er mich verabschiedete, deutete darauf hin, dass er Stephen wohl nicht mehr anrufen würde, wenn er mit jemandem über merkwürdige Dinge reden wollte.

Das Haus, zu dem mich Horten geschickt hatte, war ein unscheinbarer Backsteinbau aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Es lag in keiner besonders guten Gegend der Stadt und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wieso sich der Arzt hier in der Nacht nicht gerade wohlgefühlt hatte. Am Klingelschild, die zu der Wohnung im zweiten Stock gehörte, war kein Name angebracht - aber das hatte ich auch nicht erwartet. Unschlüssig sah ich mich um, bevor ich auf irgendeine Türklingel drückte. Nur wenige Augenblicke später ertönte ein Summen und ich konnte den Hausflur betreten. Unwillkürlich musste ich an die Belehrung denken, die ich einem Mieter vor nicht allzu langer Zeit hatte zuteilwerden lassen: Öffnen sie niemandem die Haustür, wenn sie nicht wissen, wer eigentlich ins Haus will. In dem Fall kam es mir zugute, dass sich der betreffende Wohnungsbesitzer nicht daran hielt.

Ich wartete ab, ob sich mein freundlicher Türöffner noch zeigen würde, bevor ich die Treppen nach oben stieg. Im Hausflur des zweiten Stocks schloss ich die Augen und konzentrierte mich, nutzte dabei vor allem den Geruchssinn, der mir schon so oft eine große Hilfe gewesen war. Auch diesmal ließ er mich nicht im Stich und führte mich zielsicher zu einer der Wohnungstüren. Um Sicherzugehen drückte ich auf die Türklingel und klopfte noch gegen das Holz, als sich nichts tat. Anscheinend hatte ich damit aber eine neugierige Nachbarin aufgescheucht, denn schräg hinter mir öffnete sich eine Tür und eine Frau um die vierzig schaute heraus.

»Da werden Sie kein Glück haben, Mister«, sagte sie. »Die Wohnung steht leer. Falls Sie sie mieten wollen, sollten Sie sich an die Hausverwaltung wenden.«

Ich lächelte freundlich und bedankte mich für die Auskunft. »Man hat mir aber gesagt, dass zumindest in den letzten Tagen mehrere Personen hier gewohnt haben.«

Ihr Blick wurde um einige Grade misstrauischer. »Wer sind Sie eigentlich? Woher wollen Sie das überhaupt wissen?«

Ich zeigte ihr meinen Dienstausweis, doch wenn ich gehofft hatte, ihre Auskunftsfreude zu vergrößern, so wurde ich schnell eines Besseren belehrt.

»Sie sind nicht von hier!«, sagte sie, nachdem sie den Ausweis studiert hatte. »Ich weiß nichts und ich habe auch keine Ahnung, ob was passiert ist. Tut mir leid.«

Sie wollte die Tür ins Schloss werfen, doch es gelang mir nach alter Vertretersitte einen Fuß in den Türspalt zu stellen.

»Was soll das?«, fragte sie verunsichert. »Ich habe nichts getan!«

»Das weiß ich und Sie stecken auch nicht in Schwierigkeiten - vorerst. Allerdings ermittel ich in einem Entführungsfall, und wenn Sie Informationen zurückhalten, machen Sie sich strafbar!«
Nun gut, ein großer Teil meines Geschwätzes war gelogen oder zumindest übertrieben, aber es erfüllte seinen Zweck. Sie gab ihre Bemühung auf, die Tür ins Schloss zu ziehen, und ließ die Schultern hängen.

»Sie haben nichts zu befürchten!«, versicherte ich ihr noch einmal. »Sagen Sie mir einfach, was Sie beobachtet haben, und Sie sind mich sofort wieder los.«

Wahrscheinlich verwünschte sie ihre Unvorsichtigkeit und Neugier, die sie die Tür hatten öffnen lassen, aber mir war ihre Befindlichkeit egal. Stockend begann sie zu erzählen. Anscheinend hatte sie wie gebannt am Türspion gehangen, denn sie konnte mir minutiös berichten, wer mit wem und wann in die Wohnung gegangen war. Besonders interessant war die Stelle, an der sie den Mann beschrieb, der offensichtlich bewusstlos gewesen war, als man ihn hineingetragen hatte.

»Gaiden!«, flüsterte ich. Daran bestand kein Zweifel. Das flammend rote Haar und der alte, abgetragene Trenchcoat waren fast so etwas wie sein Markenzeichen. Zudem war ihr auch die enorme Körpergröße aufgefallen, die ebenfalls zu meinem Kameraden passte.

Ich bedankte mich schließlich bei ihr und sicherte ihr noch einmal zu, dass niemand erfahren würde, was sie mir erzählt hatte, und dass ihr Name nicht im Report auftauchen würde. Letzteres zu versprechen fiel mir nicht schwer, da ich nicht plante, darüber einen offiziellen Bericht aufzusetzen. Ich sah ihr die Erleichterung an, als sie endlich die Tür ins Schloss ziehen konnte, und wandte mich der anderen Wohnung zu, wo ich hoffentlich ein paar Spuren finden würde. Die kleine Sammlung an Dietrichen und sonstigen Instrumenten, die ich nun aus der Jackentasche zog, hatte mir schon früher gute Dienste geleistet. Auch jetzt hielt das Türschloss meinen Bemühungen keine dreißig Sekunden lang stand. Insgeheim musste ich lachen, als ich die Tür aufstieß. Wahrscheinlich presste die gute Frau von schräg gegenüber in diesem Moment ein Auge an den Türspion und sah mir dabei zu, wie ich in die Wohnung eindrang.

Kaum hatte ich die Diele betreten, da war ich mir sicher, dass Gaiden tatsächlich hier gewesen war. Es war kein Zweifel mehr möglich. Ich wusste auch, wo er hauptsächlich die Zeit verbracht hatte, nämlich auf dem alten, abgewohnten Sofa. Die Geruchsspuren in der Luft sagten mir außerdem, dass vier weitere Personen die letzten Tage hier gewohnt hatten. Die Erzählung der Frau entsprach also der Wahrheit.

Ich durchsuchte die Wohnung gründlich und hoffte auf irgendwelche Spuren, die mich zu den Entführern führen würden, aber es war umsonst. Ich war in einer Sackgasse gelandet. Entmutigt ließ ich mich auf das Sofa fallen und stützte den Kopf in die Hände. Umgebracht hatten ihn die Kerle offensichtlich nicht, zumindest nicht hier in der Wohnung. Meine Zeugin hatte zwar nicht beobachtet, ob er wieder abtransportiert worden war, aber ansonsten hätte ich ihn ja gefunden. So klein war er schließlich nicht.

Ich gab mir einen Ruck und stand auf. Es war sinnlos, hier weiter meine Zeit zu vergeuden. Ich würde Gaiden kaum aufspüren, wenn ich auf dem Sofa saß und Löcher in die Wände starrte. Meine Hand lag bereits auf der Klinke der Haustür, als mich etwas davon abhielt, die Wohnung zu verlassen. Es war so etwas wie ein sechster Sinn und ich hatte mittlerweile gelernt, auf diese inneren Eingebungen zu hören. Zunächst wusste ich nicht, wonach ich suchen sollte und ging im Geiste noch einmal jeden Fleck durch, den ich gründlich untersucht hatte. Schließlich sah ich die Toilette vor mir.

»So etwas Albernes«, murmelte ich, zog aber dennoch meine Tasche mit Werkzeug hervor und löste die Abdeckung der Wasserspülung. Waren die Typen wirklich so vergesslich und unvorsichtig gewesen? Im Wasserkasten fand ich ein mit Tape befestigtes und wasserdicht umhülltes Päckchen, kleiner als eine Zigarettenschachtel. Vorsichtig löste ich es vom Kasten und betrachtete es genauer. Es sah völlig unscheinbar aus, aber ich war dennoch wie elektrisiert. Ich hatte eine erste Spur!

 

  1. Kapitel 5

Chloe

Ich wachte auf, wahrscheinlich, weil es auf einmal so still geworden war - was das gleichmäßige Brummen des Motors betraf. Stattdessen drangen haufenweise andere Geräusche an meine Ohren, die mich verwirrten. Vielleicht lag es auch am Fieber, dass ich sie nicht einordnen konnte, denn mein Kopf fühlte sich unheimlich heiß an, während ich gleichzeitig vor Kälte am ganzen Körper zitterte.

In dem Moment wurde die Plane am Eingang fortgezogen und ein heller Strahl aus einer Taschenlampe traf direkt meine Augen.

»Was zur Hölle ...«, fluchte eine derbe Männerstimme. Bevor ich reagieren konnte, packte mich jemand am Knöchel und zog mich nach vorne. »Was zum Teufel hast du auf dem Lastwagen zu suchen? Wolltest du was stehlen? Antworte gefälligst!«

Ich konnte es mir selbst nicht erklären, aber anstatt eine Entschuldigung zu stammeln, fauchte ich den Kerl an. Immerhin erreichte ich so, dass der Mann mein Bein losließ und überrascht einen Schritt zurückwich. So schnell wie es mir mein Zustand erlaubte, rutschte ich von der Ladefläche, stieß ihn beiseite und floh.

»Blöde Kuh!«, hörte ich ihn mir nachrufen, aber es kümmerte mich nicht.

Viel mehr überwältigte mich die Umgebung, in die ich geraten war. Mein ganzes Leben hatte sich in einsamen Hütten oder winzigen Dörfern abgespielt, weitab von dem, was die Menschen unter Zivilisation verstanden. Und nun brausten alle möglichen Autos in großer Anzahl an mir vorbei, während ich mich gleichzeitig innerhalb wahrer Menschenmassen wiederfand. Der Lärm drang mir in die Ohren und verstärkte meine Kopfschmerzen. Das grelle Licht trug sein übriges dazu bei, dass ich völlig unkontrolliert durch die Gegend stolperte.

»Pass doch auf! Bist du besoffen?« Das waren nur zwei von vielen Bemerkungen, mit denen mich die Menschen bedachten, an denen ich vorbeitorkelte.

Lautes Reifenquietschen und Schimpfkanonaden ertönten, als ich halb blind über die Straßen taumelte und dabei fast überfahren wurde. Ich musste weg, fort von diesem Höllenlärm und irgendwo einen ruhigen Platz finden. Ohne lang zu überlegen, betrat ich eine kleine Gasse. Der Gestank war fürchterlich und benebelte mir die Sinne noch mehr. Was hätte ich darum gegeben, in meiner gemütlichen Blockhütte zu liegen. Stattdessen verkroch ich mich in eine Ecke, möglichst weit weg von dem infernalischen Lärm und den vielen Menschen, hinter ein paar Eisenkübeln, von denen ein penetranter Geruch ausging. Aber hier war ich wenigstens vor direkten Blicken geschützt und würde mich etwas ausruhen können. Ich griff mir an die linke Schulter, und als ich meine Hand wieder wegzog, da sah ich, dass die Wunde erneut zu bluten begonnen hatte. Auch spürte ich den brennenden Schmerz, den ich während meiner Flucht verdrängt hatte. Tränen traten mir in die Augen und ich hasste mich für die Schwäche, aber es gelang mir nicht, sie zurückzuhalten. Ich kauerte mich eng an die schmutzige Mauer, kroch förmlich in mich hinein, um die gefährliche und mir unbekannte Welt fortzuhalten, zu verdrängen. Morgen würde ich diesen Höllenort verlassen und mich auf die Suche nach Hilfe begeben. Irgendwo in der Umgebung, in den Wäldern, mussten doch Artgenossen leben, die mir weiterhelfen würden. Ich war müde, da die Bewusstlosigkeit während der Fahrt auf dem Lastwagen kein erholsamer Schlaf gewesen war. Mein Körper verlangte nach Ruhe und ich gab dem Verlangen schließlich nach.

*****

Ich wachte durch Lärm und heiseres Gegröle auf. Vier offensichtlich angetrunkene Menschen kamen in die stinkende Gasse getorkelt, rissen Witze und machten sich über einen Begleiter lustig, der an der Wand lehnte und sich übergab. Der saure Gestank drang bis in meine Nase und verursachte mir Übelkeit. Vorsichtig stemmte ich mich hoch, um mich tiefer in die Dunkelheit zurückzuziehen. Dabei stieß ich mit der verletzten Schulter an die Mauer - und schrie vor Schmerzen auf. Die Wunde musste sich entzündet haben und die Qualen waren unbeschreiblich. Zu allem Überfluss hatte ich auch noch die Menschen auf mich aufmerksam gemacht. Aber vielleicht würden sie mir auch helfen? Mittlerweile war ich mir sicher, dass ich es allein nicht schaffen konnte. Die Verletzung war zu schwer. Mit was man mich auch vollgepumpt und angeschossen hatte; es breitete sich in meinem Körper aus und tötete mich langsam.

»Bitte ...«, flüsterte ich daher, als sie mich erreicht hatten und aus fünf Augenpaaren anstarrten. »Helfen Sie mir!« Es fiel mir sehr schwer, diese Bitte auszusprechen. Meine Erfahrungen waren nicht gerade gut, was solche Begegnungen anging.

»Nun schaut euch mal an, was wir hier gefunden haben«, grölte einer der Kerle. »Eine zugedröhnte Nutte liegt hier wie bestellt und nicht abgeholt!«

»Dafür sieht die aber echt noch brauchbar aus«, meinte ein anderer Typ und war bereits mit seinem Gürtel zugange.

Nein, von denen hatte ich bestimmt keine Hilfe zu erwarten. Mühsam zog ich mich an der rissigen Wand nach oben, als auch schon der erste dieser Mistkerle nach mir griff.

»Komm schon, du wirst es lieben!«

Ich wartete ab, bis er direkt vor mir stand und ich den alkoholgeschwängerten Atem im Gesicht spürte, und rammte ihm mein Knie in den Unterleib. Er riss die Augen auf und schnappte nach Luft, bevor er in sich zusammensackte. Die Überraschung seiner Kumpane nutzte ich aus, sprang aus dem Stand auf den Müllcontainer und kletterte die Mauer hoch. Im Vollbesitz meiner Kräfte wäre ich problemlos entkommen, da die Wand mit ihren Unebenheiten sehr viele Vorsprünge bot, an denen ich mich hochziehen konnte. Zudem war ich schon von den Genen her eine begnadete Fassadenkletterin. Aber wenn man einen Arm nicht benutzen kann und ein hohes Fieber durch den Körper rast, dann ist man langsamer, schwächer und zu solchen Aktionen kaum in der Lage.

Jedenfalls gelang es mir nicht, mich mit dem ersten Klimmzug aus der Reichweite dieser Kerle zu entfernen. Ich rutschte ab und jemand griff mir an den Knöchel, zog an meinem Bein, sodass ich mich nicht mehr festhalten konnte. Mit einem Wutschrei schleuderte mich der Mann vom Container. Meine Kopfschmerzen potenzierten sich noch und ich sah bunte Sterne, als ich mit dem Schädel auf den harten Asphalt krachte. Plötzlich drang mir ein charakteristischer Geruch in die Nase. Ein Feind war ganz in der Nähe. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Instinktiv fauchte ich warnend. Wie erbärmlich! Als ob ich ihn damit in dem Zustand verjagen könnte.

»Nun hör dir mal die kleine Raubkatze an!«, höhnte einer der Kerle. »Es wird Zeit, dass dich mal jemand zähmt und ... was?«

Etwas geschah mit meinen Peinigern, aber ich konnte nichts erkennen. Blut aus einer Platzwunde lief mir in die Augen und der Aufprall auf das Pflaster war so hart gewesen, dass ich kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig war. Ich hörte nur lautes Geschrei und den typischen dumpfen Klang, wenn Gegenstände auf Körperteile trafen. Dann war alles ruhig und der Geruch des Feindes wurde intensiver. Ich hatte ihn schon oft genug gerochen, immer dann, wenn ein Kampf bevorstand. Noch einmal fauchte ich und versuchte, vor ihm wegzukriechen, aber es war natürlich vergeblich. Ich sah eine riesenhafte Gestalt direkt über mir auftauchen. In seinem Gesicht funkelten diese gelben Augen, die ich fürchtete und hasste.

»Beende es, worauf wartest du noch?«, zischte ich, während ich spürte, wie mein Bewusstsein schwand. Ich wehrte mich nicht dagegen, wusste, dass mich das Ende hier und jetzt ereilen würde. Er schien über irgendwas nachzudenken, aber vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, so geschwächt, wie ich vom Blutverlust, den Schmerzen und den Schlägen auf den Kopf war. Alles in mir schaltete sich langsam ab und ich bekam nur noch wie durch Watte mit, dass er mich vom Boden aufhob und aus der Gasse trug. Es war mir gleich. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen und fühlte mich so leicht wie eine Feder, während sich mein Denken in den Neonlichtern verlor, die ich hoch über mir sah.

 

  1. Kapitel 6

Bryson

Während der ganzen Fahrt zu meiner Wohnung ging mir der Fund nicht aus dem Kopf. Ich hatte den Inhalt vorsichtig aus der Schachtel entfernt und zwei winzige Ampullen darin gefunden. Hoffentlich konnte mir Stephen damit weiterhelfen oder zumindest jemanden nennen, der die Ausrüstung besaß, um die darin enthaltenen Wirkstoffe zu analysieren.

Es war bereits spät am Abend, als ich müde auf die Hauptstraße der Stadt einbog. An einer Ampel musste ich warten und lenkte den Blick auf einen Pub, der von außen urgemütlich wirkte. Nach kurzem Zögern suchte ich mir einen Parkplatz und stieg aus. Dann würde ich eben mal meiner Stammkneipe untreu werden.

Ich war noch keine zwei Schritte weit gekommen, als ich innehielt und prüfend die Luft in die Nase sog. Neben den üblichen Gerüchen der Stadt witterte ich etwas, was ich hier nicht erwartet hätte. Mein gesamtes Inneres geriet in Aufruhr und ein dumpfes Knurren drang mir unabsichtlich aus der Kehle. Adrenalin pumpte durch die Adern und versetzte den ganzen Körper in Kampfbereitschaft. Ich roch einen Todfeind!

Ich folgte dem Geruch, der immer intensiver wurde, je näher ich einer dunklen Nebengasse kam. Wollte man mich in eine Falle locken? Ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Wenn ich mich nicht völlig täuschte, dann war mein Feind schwer verletzt - jedenfalls interpretierte ich die verschiedenen Geruchsstoffe so. Lautes Krachen und Flüche drangen an meine Ohren, und als ich an der Ecke der Gasse angekommen war, sah ich einige Menschen um jemanden herumstehen. Meine Beute! Niemand sollte sich zwischen mir und mein Opfer stellen, wenn er weiterleben wollte.

Ich packte den ersten Kerl und warf ihn mit voller Wucht an die Wand, dem zweiten Mann rammte ich seinen Kopf gegen den Müllcontainer. Es gab einen lauten Knall, der Typ verdrehte die Augen und fiel in sich zusammen. Mittlerweile hatten die übrigen Kerle gemerkt, dass sich jemand eingemischt hatte, denn drei von denen drehten sich zu mir um, während der vierte wimmernd am Boden kauerte.

»Was willst du ...«

Ich ließ ihnen keine Zeit, um zur Besinnung zu kommen. Viel schneller, als sie reagieren konnten, packte ich die ersten beiden an den Köpfen und hämmerte sie gegeneinander. Es gab einen lauten Knall und sie fielen zu Boden wie Marionetten, denen man die Schnüre abgeschnitten hatte. Der letzte noch aufrecht stehende Kerl wollte wohl nicht das Schicksal seiner Kumpane teilen, denn er wandte sich um und lief vor mir weg. Ich lächelte grimmig, während mich das Jagdfieber packte. Schon eilte ich ihm nach, trat dem auf dem Boden kauernden Mann wuchtig an das Kinn, ohne mich länger mit ihm zu beschäftigen. Mit drei, vier Sätzen hatte ich den Fliehenden eingeholt, ergriff seinen Arm, wirbelte ihn um die eigene Achse und ließ ihn mit voller Wucht gegen eine Wand laufen. Ich roch das Blut, das aus der zerschmetternden Nase des Mannes strömte, und die Urinstinkte in mir wollten zur Oberfläche durchbrechen. Ich bekämpfte sie mit aller Macht, denn ich durfte unter keinen Umständen tote Menschen zurücklassen. Es erforderte größere Anstrengungen von mir als die vorangegangene Auseinandersetzung und ich lehnte keuchend an der Mauer, als ich es endlich geschafft hatte. Doch nun witterte ich wieder meinen Feind und knurrend wandte ich mich der Stelle zu, an der der bewusstlose Körper lag.

Mein animalischer Instinkt forderte mich auf, diese Katze in Menschengestalt in Stücke zu reißen ... aber ich konnte es nicht. Eigentlich gab es keinen Grund, sie weiterleben zu lassen. Sie war in unser ... in mein Revier eingedrungen und jede von denen wusste, was dies für Konsequenzen hatte. Doch als ich sie so blass und blutend vor mir liegen sah, da brachte ich es nicht über mich. Vielleicht sollte ich sie erst einmal gesund werden lassen, um nachher eine Herausforderung zu haben, wenn ich sie tötete. Möglicherweise hatte sie auch Informationen und konnte mir sagen, was hinter den letzten Aktionen des NESOM steckte.

»Sei nicht so albern!«, sagte ich zu mir, während ich sie vom Boden aufhob. Es kostete mich sehr viel Überwindung, den von ihr ausgehenden Geruch zu verdrängen, aber es gelang mir. In gewisser Weise tat sie mir sogar leid, als ich sie schlaff in meinen Armen liegen sah.

*****

Stephen war wohl bereits ins Bett gegangen, denn er sah reichlich verschlafen aus, als er mir die Tür öffnete.

»Was um alles in der Welt willst du um diese Uhrzeit?«, fragte er mürrisch, bevor er die Frau sah, die ich mit mir herumtrug. »Heilige Scheiße! Hast du sie so zugerichtet?«

»Nein!« Ich drängte mich an ihm vorbei in seine Wohnung und ging ins Wohnzimmer, da ich nicht noch länger vor dem Haus herumstehen wollte.

»Was hast du vor? Willst du sie nicht lieber in ein Krankenhaus bringen?«

»Das geht nicht.« Ich legte sie auf das Sofa, wobei ich mir Mühe gab, ihre verletzte Schulter nicht zu berühren. Dennoch wimmerte sie leise.

»Sie sieht aus, als wäre sie von einem Bus überrollt worden. Wer ist sie und warum bringst du sie hierher? Ist sie eine Artgenossin von dir?«

»Ganz bestimmt nicht! Sie gehört zu meinen Todfeinden!«

»Dann verstehe ich jetzt gar nichts mehr ...«

»Das musst du auch nicht!«, erwiderte ich reichlich grob. »Sie kann mir bei der Suche eventuell helfen. Es muss einen Grund geben, warum sie hier in der Stadt aufgetaucht ist, obwohl sie wusste, dass sie hier in Lebensgefahr schwebt.«

»So, wie sie aussieht, war das wohl ihre geringste Sorge.« Stephen hatte die Frau oberflächlich untersucht und schüttelte den Kopf. »Mit dem Bus lag ich falsch, denn dann wäre sie in besserem Zustand.«

»Kannst du ihr helfen?«

Er fuhr sich nachdenklich durch die Haare. »Ich habe unten im Keller ein paar medizinische Instrumente von meiner ehemaligen Praxis und eine Liege steht dort auch herum. Aber besonders keimfrei ist die ganze Umgebung nicht.«

»Da muss sie durch. Du bist ihre einzige Hoffnung. Wenn sie jemand aus meinem Rudel wittert ...«

Stephen wurde blass. »Das wird doch hoffentlich nicht passieren, oder? Es wird doch niemand hier auftauchen und alles in Stücke fetzen.«

»Nein, hier wird sie keiner von uns aufspüren.«

Er sah immer noch reichlich skeptisch auf die Frau, zuckte aber schließlich mit den Schultern. »Na schön, dann trag sie bitte in den Keller. Du kannst echt froh sein, dass meine Frau auf Geschäftsreise ist. Sie würde es bestimmt nicht gutheißen, was wir hier veranstalten.«

*****

Eigentlich war der Kellerraum geradezu ideal, um sie zu behandeln ... und einzusperren. Die Tür zum Raum war aus massivem Stahl und es gab keine Fenster. Stephen hatte eine provisorische OP-Lampe an die Liege geschoben und versorgte in diesem Moment die zahlreichen Wunden der Frau.

»Das hier wird dich bestimmt interessieren«, sagte er auf einmal und hielt eine Zange mit einer kleinen Kapsel in die Höhe, die er aus dem Körper entfernt hatte.

»Das sieht mir nicht wie eine normale Kugel aus.«

»Da hast du recht. Das Material ist viel weicher und anscheinend war dieses Geschoss mit irgendwas gefüllt, so ähnlich wie die Kapsel, die ich aus dem Vogelwesen herausgeholt habe.«

Ich tastete nach dem kleinen Päckchen in meiner Jackentasche. Vielleicht hatte NESOM neue Munition für den Kampf gegen uns entwickelt. Ich musste Stephen unbedingt fragen, ob er mir damit weiterhelfen konnte - nach der Operation.

*****

Es dauerte über eine Stunde, bis er die letzte Wunde versorgt und vernäht hatte. Besonders die Schulterwunde hatte ihn viel Zeit gekostet.

»Das war es«, sagte er schließlich und wischte sich über die Stirn. »Wir können sie wieder nach oben bringen.«

Ich deutete auf die Kellertür. »Kann man die abschließen?«

»Natürlich, aber wieso ...«

»Sie ist viel gefährlicher, als sie aussieht. Ich möchte sie jedenfalls nicht frei in deinem Haus herumlaufen lassen.«

»Und wie stellst du dir das vor? Sie muss ja wohl mal essen und auf die Toilette. Das ist ein Keller und keine komplett eingerichtete Zelle mit einer Durchreiche.«

»Es ist besser so.« Ich sah mich um und rüttelte prüfend an einem Eisenrohr. »Wir brauchen etwas, um sie festzubinden. Stabile Riemen, eine Eisenkette, irgendwas in der Art.«

»Übertreibst du nicht etwas? Ich meine, sieh sie dir doch an. Die Frau hat in den nächsten Tagen bestimmt andere Sorgen, als hier Amok zu laufen. Außerdem wirkt die Narkose sicher noch einige Zeit.«

Ich grinste etwas überheblich. »Vertrau mir, ich habe mit ihrer Art genug Erfahrung.«

Immerhin hatte ich ihn wohl überzeugt und nach einer halben Stunde hatten wir sie ans Rohr gefesselt, ohne dass es zu unangenehm gewesen wäre. Ich überprüfte noch einmal die Stabilität der Fesseln und nickte befriedigt.

»Das dürfte reichen.« Ich blickte ihn warnend an. »Du befreist sie nicht, hörst du? Ganz gleich, worum sie dich bittet oder wie schwach sie auf dich wirkt. Wenn sie etwas will oder braucht, dann informierst du mich. Geh nicht einmal in ihre Nähe, hast du verstanden?«

»Ja, Papa!«, sagte er grinsend und salutierte dabei.

»Es ist zu deiner eigenen Sicherheit!« Ich griff in die Tasche und holte das kleine Päckchen heraus. »Jetzt müsste ich dich noch um etwas bitten.«

Stephen verdrehte theatralisch die Augen. »Und dabei wollte ich mir heute einen gemütlichen Tag machen.«

 

  1. Kapitel 7

Den beiden Männern, die zu dieser frühen Tageszeit den Backsteinbau betraten, war deutlich anzusehen, dass sie sich nicht besonders wohl dabei fühlten. Einer von ihnen sah sich ständig um, geradeso, als ob er Verfolger fürchten würde.

»Nun komm schon, Alex!«, forderte ihn sein Begleiter auf, der gerade die Haustür geöffnet hatte.

»Ich habe kein gutes Gefühl dabei, Greg. Als ob uns jemand beobachten würde.«

»Wenn du noch länger auffällig in der Gegend rumstehst, ziehst du bestimmt noch die Aufmerksamkeit von irgendwelchem Gesindel auf uns. Was soll denn schon passieren?«

Sie stiegen die steilen Stufen des Treppenhauses nach oben, bis sie den zweiten Stock erreichten. Zielstrebig wandten sie sich einer Wohnung am Ende des Flurs zu. Alexander Vasin, der nervöse Mann, sah seinem Begleiter ungeduldig dabei zu, wie der in aller Gemütsruhe die Tür aufschloss. Kaum war der Weg frei, da drängte er sich auch schon an Greg vorbei und betrat die Diele. Ohne Zeit zu verlieren, eilte er ins Badezimmer und schraubte bereits die Abdeckung der Wasserspülung ab, als der zweite Mann das Zimmer erreichte. Hastig riss er das Plastikteil herunter ... und stutzte.

»Scheiße!«, entfuhr es ihm, bevor er im nächsten Moment eine Hand in den Wasserkasten steckte und mit wachsender Panik darin herumtastete. »Es ist weg!«

»Wie ... weg?«, fragte Greg. »Wie kann das sein? Du hast es doch da drinnen verstaut, oder?«

»Natürlich! Hältst du mich für blöd? Ich weiß doch noch, wo ich es angebracht habe.«

»Dann kann es ja auch nicht verschwunden sein.«

»Es ist aber nicht hier!«

Greg verdrehte die Augen, drängte sich an seinem Begleiter vorbei, und untersuchte nun selbst den Kasten. Ohne Erfolg. »Das ist doch nicht möglich.«

»Vielleicht wurde es hinuntergespült.«

Greg schnaubte höhnisch durch die Nase. »Red doch nicht so einen Scheiß! Nein, es gibt nur eine logische Erklärung. Jemand war nach uns hier und hat das Päckchen mitgenommen.« Wütend trat er gegen die Abdeckung des Wasserkastens.

Alex sackte an der Wand in sich zusammen. »Die Cramer wird mich umbringen!«, murmelte er.

»Das liegt im Bereich des Möglichen.« Sinnierend sah sich Greg im engen Badezimmer um. »Und du bist dir wirklich ganz sicher, dass du es hier versteckt hast?«

»Natürlich bin ich das! Vielleicht hat sie bereits jemanden beauftragt, es hier abzuholen.«

»Klar, weil sie ja wusste, dass wir es hier vergessen würden.«

Alex schlug wütend mit der Faust gegen die Wand. »Wenn dieses dumme Schwein nicht aufgewacht wäre, dann hätten wir bestimmt daran gedacht, es mitzunehmen.«

»Es war deine Aufgabe, daran zu denken.«

»Ja, so ist es richtig. Lass mich nur im Stich. Aber wenn die Cramer mich zur Rechenschaft zieht, wirst du sicher auch nicht ungeschoren davonkommen. Sie duldet keine Fehler!«

»Ich weiß!«, sagte Greg seufzend. »Ich kenne sie ja länger als du. Lass uns die Wohnung auf den Kopf stellen. Vielleicht finden wir das Päckchen ja hier irgendwo.«

»Glaubst du, es hat Flügel bekommen und in einem Schrank häuslich eingerichtet?« Er erhielt keine Antwort von seinem Kollegen, der bereits das Badezimmer verlassen hatte und mit der Suche begann. Vasin schloss sich ihm an. Sie hatten ohnehin keine andere Wahl mehr.

*****

Sharon Cramer, Leiterin der NESOM, schaltete ihr Handy aus und versuchte dabei, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Das war nun schon die dritte schlechte Nachricht, die sie in den letzten vierundzwanzig Stunden erhalten hatte. Diese Idioten! Nicht genug, dass sie die Ampullen einfach in der Wohnung vergessen hatten, nein, anscheinend waren sie sogar zu dumm gewesen, das Päckchen anständig zu verstecken. Dazu kam noch der Fehlschlag mit der Mutantin, die ihren Männern entwischt und von ihnen anschließend erschossen worden war. Jedenfalls nahmen es die Spatzenhirne an, denn sie hatten trotz angeblich gründlicher Suche keine Leiche gefunden. Cramer konnte sich vorstellen, wie die intensive Suchaktion abgelaufen war. Zehn Minuten am Ufer entlangspazieren, eine ausgiebige Pause einlegen und anschließend bedauernd Meldung machen. Sie vollführte auf ihrem Drehstuhl eine Wende um hundertachtzig Grad und blickte aus dem Fenster. Es war zum Teil auch ihre Schuld. Die letzten Kampfeinsätze gegen diese Mutantenbrut hatten einigen ihrer besten Männer das Leben gekostet. Sie tanzten auf zu vielen Hochzeiten und deswegen musste sie manchmal Leute aus dem zweiten Glied einsetzen. Und die verbockten eben auch schon mal die einfachsten Aufträge.

»Hör auf zu jammern!«, fuhr sie sich an, gab sich einen Ruck und stand auf. Es war an der Zeit, sich um das dritte Problem zu kümmern. Der Mischling, den sie vor kurzem geschnappt hatten, sprach auf das neue Mittel nicht besonders gut an. Sie musste mit dem zuständigen Leiter ein paar Takte reden und ihn ermahnen, mit den Versuchsobjekten pfleglicher umzugehen. Nachschub an Mutanten wuchs begreiflicherweise nicht auf Bäumen.

*****

»Was hat die Cramer gesagt?«, fragte Greg, nachdem Alexander das Gespräch beendet hatte.

»Was wohl?«, knurrte der, während er mit saurer Miene das Handy in die Jackentasche stopfte. »Sie war hellauf begeistert, dass wir das Päckchen verloren haben. Wer weiß, wer es jetzt hat und was für einen Unsinn derjenige damit anstellt.«

»Sollen sie das Zeug halt demnächst mit UPS oder FedEx schicken, anstatt uns als Boten zu missbrauchen.«

»Das kannst du ihr gerne ins Gesicht sagen, wenn du dich traust.«

Missmutig verließen die beiden Männer die Wohnung. Greg hatte gerade die Tür ins Schloss gezogen, als sein Kollege bemerkte, dass sie von jemandem beobachtet wurden.

»Hast du deine Ausweissammlung dabei?«, fragte Alexander leise.

»Natürlich. Was willst du denn damit?«

»Gib sie mir!«

Greg zog eine dicke Brieftasche aus der Jacke und reichte sie ihm. Der Mann nahm einen Ausweis heraus, wandte sich um und marschierte zur Wohnungstür schräg gegenüber, die bis vorhin noch einen Spalt offengestanden hatte. Greg sah ihm zuerst verwundert nach, folgte ihm aber schließlich.

Alexander klopfte energisch an die Tür. »Öffnen Sie bitte, Ma'am.«

Sie mussten einige Zeit warten und die Aufforderung noch einmal wiederholen, bevor die Wohnungstür zögernd geöffnet wurde.

»Sie wünschen?«

Alexander hielt der Frau den Ausweis hin. »Special Agent Vasin, FBI. Das ist Agent Gillespie. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Die Bezeichnung 'FBI' und der täuschend echt aussehende Ausweis wirkten wahre Wunder, wie immer, wenn sie zum Einsatz kamen. Die Frau öffnete die Tür komplett und aus ihr sprudelte ein Wortschwall heraus, sodass Greg sie hin und wieder bremsen musste.

»Dann war das wohl kein richtiger Polizist?«, fragte sie zum Schluss.

Alexander schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, Ma'am. Haben Sie vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen.«

Die beiden Männer verabschiedeten sich und verließen das Gebäude. Greg zündete sich eine Zigarette an und betrachtete nachdenklich die Fassade.

»Was hältst du von der Geschichte? Ob der Bulle echt war?«

Alexander zuckte mit den Schultern. »Möglich. Vielleicht war der Mutant ein Freund von ihm und er hat eine Spur verfolgt. Und von wem kann er es nur gewusst haben?«

»Von dem Arzt, diesem Horten.« Greg warf die nur angerauchte Zigarette auf das Straßenpflaster und trat sie aus. »Wir sollten uns besser noch einmal mit dem Kerl unterhalten. Anscheinend haben wir uns nicht deutlich genug ausgedrückt.«

Alexander stimmte dem Vorschlag zu und holte sein Handy aus der Tasche. »Danach bringen wir in Erfahrung, ob es einen Bullen namens Bryson Skelton in Clarksville gibt. Ich informier die Cramer, was wir herausgefunden haben. Vielleicht vertreibt es ihre schlechte Laune.«

 

  1. Kapitel 8

Chloe

Ich wachte aus einem tiefen, unruhigen Schlaf auf und benötigte einige Zeit, bis mir die vergangenen Ereignisse wieder einfielen. Es war ein Wunder, dass ich noch lebte. Vorsichtig bewegte ich die Glieder und stellte zu meinem Unwillen fest, dass man mich erneut gefesselt hatte. Allmählich wurde das zur Normalität. Ich war an einem fensterlosen Ort, der nur durch ein funzeliges Nachtlicht erhellt wurde.

Ich sog die Luft tief in meine Nase und nahm den schwachen Geruch eines Menschen war, der sich irgendwo in der Nähe befand. Ob man mich aufgespürt hatte? Unwahrscheinlich, denn dann wäre ich wohl nicht mehr am Leben. Wieso hatte mich mein Feind nicht getötet? Nicht, dass es mich störte, noch unter den Lebenden zu weilen, aber im umgekehrten Fall hätte ich wohl nicht gezögert und ihn umgebracht. Es waren Urinstinkte, die uns so handeln ließen.

Für einen Moment schloss ich die Augen und überlegte. Sollte ich mich weiter bewusstlos stellen? Aber was konnte ich dabei gewinnen? Vielleicht gelang es mir erneut, meinen Bewacher zu übertölpeln.

»Hallo!«, rief ich schließlich. »Ist da irgendwer? Ich habe Durst! Hallo!«

Schritte! Nach einer gefühlten Ewigkeit reagierte endlich jemand und stieg eine Treppe hinab. Also war ich in einem Keller untergebracht, was das Fehlen von Tageslicht erklärte. Ein Schlüssel klapperte und die Tür öffnete sich mit einem leisen Scharren. Es war offensichtlich eine recht schwere Stahltür, also würde ich von hier nur entkommen können, wenn sie nicht verschlossen war.

Ein Mann näherte sich mir vorsichtig, blieb aber in einiger Entfernung stehen. Das war ungünstig. Anscheinend hatte man ihm gesagt, was ich war.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er.

Er war höflich und freundlich, also sollte ich versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen und betont harmlos wirken, damit er irgendwann einen Fehler beging. Daher setzte ich mein strahlendstes Lächeln auf, von dem ich wusste, dass die meisten Männer dem kaum widerstehen konnten - und einige Frauen auch nicht.

»Es geht mir schon besser. Haben Sie mich behandelt?« Er nickte stumm. Mein Lächeln wurde noch breiter. »Sie müssen ein Zauberer sein, weil meine Schmerzen schon viel geringer geworden sind.«

»Brauchen Sie etwas?«

»Wenn Sie etwas Wasser für mich hätten.« Ich hob die Arme, soweit es mir möglich war. »Warum bin ich denn gefesselt?«

»Eine Vorsichtsmaßnahme. Hat mir Ihr Freund empfohlen.«

Freund! Ich musste mich höllisch anstrengen, dass mir nicht ein aggressives Fauchen entfuhr, was den ganzen Plan ruiniert hätte. »So sehr kann er mich ja nicht mögen, wenn er mir eine solche Behandlung angedeihen lässt.« Es gelang mir sogar, dem Mann zuzuzwinkern.

»Ich hole Ihnen ein Glas Wasser«, sagte er schließlich, während er mich irritiert anblickte.

Die Entwicklung gefiel mir. Anscheinend brachte er mein Benehmen nicht in Einklang mit der Geschichte, die ihm dieser dreckige Wolf bestimmt erzählt hatte. Jedenfalls musste ich mit der Scharade fortfahren, um ihn nicht zur Besinnung kommen zu lassen.

»Vielen Dank!«, rief ich ihm daher nach. Während ich auf die Rückkehr des Wolfsfreundes wartete, überlegte ich mir die weiteren Schritte. Sollte ich ihn direkt darum bitten, mir die Fesseln zu lösen? Nein, das würde ihm bestimmt verdächtig vorkommen. Für so schlau schätzte ich ihn ein. Ich hob meinen rechten Arm etwas an und betrachtete die stabile Kette, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Wenn er mir nahe genug kam, könnte ich die Eisenkette um seinen Hals legen und ihn erwürgen, aber diese Vorgehensweise widerstrebte mir. Immerhin hatte er mich zusammengeflickt. Ich schuldete ihm etwas und ich pflegte meine Schulden zu bezahlen.

»Ich habe nur stilles Wasser«, sagte der Mann, als er den Keller betrat. »Ist das in Ordnung?«

»Aber natürlich! Vielen Dank!«

Er näherte sich mir, unsicher, wie er weiter vorgehen sollte. Erneut lächelte ich ihn an.

»Sie können mir die Flasche an den Mund setzen«, schlug ich vor. »Dafür müssen Sie mich ja nicht losbinden.«

Betont vorsichtig trat er zu mir an die Liege, zog einen Hocker heran, setzte sich und schraubte den Verschluss von der Wasserflasche. Ich rührte keinen Finger, sah ihn nur treuherzig an und öffnete den Mund. Er griff mir mit der linken Hand unter den Kopf und hob ihn etwas an, bevor er mir die Flasche an die Lippen setzte. Wenn ich es darauf angelegt hätte, wäre er nun so gut wie tot, allerdings konnte ich nicht sicher sein, dass er den Schlüssel für die Fesseln bei sich trug. Ich musste mich in Geduld üben.

Das Wasser tat mir gut, denn ich war tatsächlich ziemlich durstig gewesen. Erneut lächelte ich ihn dankbar an, nachdem ich genug getrunken hatte.

»Vielen Dank. Das habe ich gebraucht.« Suchend blickte ich mich um. »Wo bin ich eigentlich? Nach einem Krankenhaus sieht das ja nicht aus.«

»Sie sind in meinem Keller. Bryson hat Sie hierher gebracht, weil ich mit ... na ja, mit Wesen wie Ihnen und ihm ein paar Erfahrungen habe.«

Er wusste also, was ich war. Umso erstaunlicher, dass er sich in meine Nähe traute. »Und wo ist dieser Bryson?«

»Er ist bei der Anführerin seines Rudels, Bericht erstatten.«

'Was für ein braves Hündchen!', dachte ich spöttisch. 'Wahrscheinlich darf er zur Belohnung an ihrem Hinterteil schnuppern.' Jedenfalls war mir klar, dass ich nicht allzu viel Zeit hatte, um von hier zu verschwinden. In fieberhafter Eile ging ich meine Optionen durch. Den Menschen dazuzubringen, mich zu besteigen, wäre wohl nicht von Erfolg gekrönt. Er machte nicht den Eindruck eines notgeilen Typen auf mich. Mit harmloser Freundlichkeit käme ich bei ihm wohl weiter, also strahlte ich ihn unverwandt an.

»Ich habe mich bei Ihnen noch gar nicht für die Behandlung bedankt und kenne nicht einmal Ihren Namen. Ich bin Chloe!«

»Stephen. Sie müssen sich aber nicht bedanken, ich habe es gern getan.« Er rückte den Hocker tatsächlich näher zu meiner Liege und tätschelte mir freundschaftlich die Hand. »Benötigen Sie noch etwas?«

»Ich könnte etwas zu essen vertragen. Eine Scheibe Brot, ein Sandwich oder so was in der Art.«

»Ich schau mal nach, was ich im Kühlschrank habe.« Er drückte noch einmal meine Hand, bevor er aufstand und den Keller verließ.

*****

Es dauerte ziemlich lange, bis ich ihn die Treppe herunterkommen hörte. In der Zwischenzeit saß ich wie auf heißen Kohlen. Falls der missratene Zwergpinscher inzwischen aufgetaucht wäre, hätte er meinen Fluchtplan sabotiert. Mit einem voll beladenen Tablett betrat Stephen den Raum.

»Das wäre aber doch nicht nötig«, sagte ich, aber mein Bauchknurren erzählte etwas anderes. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie lange ich schon nichts mehr zu mir genommen hatte. Schon griff ich nach dem ersten Brot ... und wurde von der Eisenfessel daran gehindert.

Stephen schien zu überlegen, ob er riskieren konnte, mich loszubinden. Im ersten Impuls wollte ich ihn darum bitten, aber es wäre wohl ein taktischer Fehler gewesen.

»Schon in Ordnung«, sagte ich daher. »Sie können mich ja füttern, wenn es für Sie okay ist.«

Tatsächlich führte er mir das erste Brot zum Mund und ich aß es mit wahrem Heißhunger. In der Hinsicht musste ich ihm nichts vorspielen.

Er sah mich verlegen an, während ich an der dritten Scheibe kaute. »Es ist ziemlich unbequem, ich weiß, aber Bryson hat mir gesagt, ich soll Ihnen die Fesseln nicht abnehmen.«

»Kein Problem. Er ist eben sehr vorsichtig, wie die meisten Wölfe.« Es war natürlich Unsinn, was ich da von mir gab, aber je harmloser ich mit ihm plauderte, desto leichter würde ich meinen Plan umsetzen können. »Ich habe genug gegessen, vielen Dank.« Ich zog mich etwas höher, verzog das Gesicht, als ob ich Schmerzen hätte und keuchte wie eine alte Frau.

Stephen sah mich entsetzt an. »Tut es weh? Ist es die Schulterwunde?«

Ich schüttelte den Kopf und schaffte es sogar, meine Augen feucht werden zu lassen. »Es geht schon ... ich fühle mich nur zerschlagen und unheimlich schwach.«

»Sie waren ja auch schwer verwundet.«

'Nein, wirklich?', dachte ich nur, während ich meine Leidensmiene noch etwas intensivierte. Nun sollte ich es riskieren. Mehr Zeit durfte ich nicht mehr verlieren. Also riss ich die Augen weit auf und öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei.

»Da ist so eine Druckstelle ... direkt am Rücken ...«

Ich schrie leise auf und verzog das Gesicht. »Was ist das nur? Es tut so weh!«, sagte ich schluchzend. »Meine Arme! Ich ... kann sie nicht mehr bewegen!« Ich bäumte mich auf, soweit es die Fesseln zuließen, als ob ich an schweren Krämpfen leiden würde. Dabei beobachtete ich Stephen möglichst unauffällig. Der Mann schien in Panik zu geraten. Gut so!

»Warten Sie, halten Sie durch, ich sehe es mir sofort an!«

Hastig griff er in die Tasche und zog einen kleinen Schlüsselbund heraus.

»Bitte beeilen Sie sich!«, rief ich und schrie anschließend vor Schmerzen. »Ich kann nicht mehr!«

Ich hörte, wie er das große Vorhängeschloss öffnete und die Eisenkette löste. Während ich meine Schauspieleinlage weiter perfektionierte, beeilte er sich, auch die restlichen Fesseln zu lösen.

»Drehen Sie sich auf den Bauch! Warten Sie, ich helfe Ihnen dabei.«

»Das brauchen Sie nicht!«

Viel schneller, als er reagieren konnte, war ich von der Liege gesprungen, hatte sein linkes Handgelenk gepackt und ihm den Arm auf den Rücken gedreht. Er fiel vornüber und landete mit dem Gesicht seitlich auf der Stelle, wo ich bis gerade eben noch gelegen hatte.

»Was tun Sie da? Hören Sie auf, Sie brechen mir den Arm!«, sagte er ächzend, da ich ihm wohl einige Schmerzen bereitete.

Ich beugte mich zu ihm runter, bis mein Mund direkt an seinem Ohr war. »Sie hätten auf das kleine Wölfchen hören sollen!«, flüsterte ich ihm zu. »Sie werden mir jetzt den Schlüssel zu Ihrem Wagen geben und Ihr Bargeld. Wenn Sie hübsch artig sind, kommen Sie mit heiler Haut aus dem Schlamassel raus.«

»Sie können doch nicht ...«

»Ich kann!«, erwiderte ich kalt und zog den Griff noch etwas an, sodass er vor Schmerzen aufschrie. »Wenn Sie keine gebrochenen Knochen riskieren wollen, dann werden Sie jetzt keine weiteren dummen Bemerkungen machen, verstanden? Und jetzt hoch mit Ihnen!«

Lammfromm ließ er sich von mir in Richtung Zimmertür dirigieren.

»Wo sind die Autoschlüssel?«, fragte ich.

»Wohnzimmer ... Erdgeschoss ...«

Wir waren bereits die halbe Treppe nach oben gestiegen, als sich jemand an der Haustür zu schaffen machte. Der typische Geruch eines Wolfes drang mir in die Nase. Mit einem leisen Fluch zog ich meinen Begleiter die Treppenstufen wieder hinunter und verbarg mich mit ihm im Schatten hinter ein paar Regalen. »Keinen Mucks will ich von dir hören, ist das klar?«

Er nickte nur. Gut. Anscheinend war er wirklich klug.

»Hallo Stephen!«, vernahm ich die Stimme meines Feindes. »Bist du zuhause?«

 

  1. Kapitel 9

Bryson

Die völlige Stille im Haus alarmierte mich, noch während ich die Haustür ins Schloss zog. »Hallo Stephen! Bist du zuhause?«

Keine Antwort. Doch ich roch etwas. Angstschweiß, und zwar den eines Menschen. Außerdem flaches Atmen, als ob derjenige Schmerzen erlitt. Schon wollte ich die Treppe hinabstürmen, doch ein anderer Geruch hielt mich zurück. Der Eindringling, diese Katze, sie war immer noch im Haus.

»Ich weiß, dass du noch hier bist!«, rief ich. »Lass uns reden!«

Keine Antwort. Ich ging zur Treppe und schaltete die Beleuchtung ein. Da standen sie, direkt an der hinteren Wand, neben ein paar Regalen.

»Ich komm jetzt runter.«

Stephens Schmerzensschrei ließ mich abstoppen, als ich gerade den ersten Schritt nach unten gegangen war.

»Bleib, wo du bist, du verlauster Straßenköter!«, rief sie. »Oder dein Menschenfreund wird ein paar Wochen im Krankenhaus zubringen müssen.«

Immerhin hatte sie nicht 'Leichenhalle' gesagt. Ich nahm es als ein gutes Zeichen. Womöglich verspürte sie Hemmungen, ihn zu töten, weil er sie zusammengeflickt hatte.

»Wir sollten in aller Ruhe miteinander reden. Es gibt Dinge, die uns beide etwas angehen.«

»Ich wüsste nicht, was ich mit einem Hund zu besprechen hätte. Wenn du deinem Freund nicht schaden willst, dann gehst du jetzt schön langsam ins Obergeschoss und lässt mich von hier verschwinden.«

Allmählich gingen mir ihre netten Bezeichnungen für mich auf den Wecker. Wenn sie sich unbedingt umbringen lassen wollte, dann sollte es eben so sein.

»Du kannst gerne von hier verduften. Ich halte dich bestimmt nicht auf. Wenn ich tippen müsste, dann würde ich sagen, dass du ungefähr eine Stunde überleben wirst. In dieser Stadt laufen sehr viele von meinem Rudel durch die Straßen. Sie wittern dich auf eine Meile gegen den Wind und es wird ihnen eine wahre Freude sein, dich zu Tode zu hetzen. Wir haben schon lange keinen Schmusetiger mehr gejagt. Wer weiß, vielleicht hängt sogar einer von uns deinen Kopf an die Wand. Du bist für eine Katze ja gar nicht mal so hässlich und gibst bestimmt einen beeindruckenden Wandschmuck ab, wenn man dich anständig ausstopft.«

Immerhin schien ich sie zum Nachdenken gebracht zu haben, denn sie gab keinen weiteren Kommentar ab.

»Wenn ich auch mal einen Vorschlag machen dürfte ...«, meldete sich Stephen zu Wort.

»Was hättest du schon Interessantes zu sagen?«, erwiderte die Frau kalt.

»Lass ihn reden«, forderte ich sie auf. »Er ist einer der klügsten Menschen, die ich kenne.«

»Das hat ja nicht viel zu bedeuten!«

»Was haltet Ihr von einem Waffenstillstand?«, meldete sich Stephen wieder zu Wort. »Wir setzen uns gemütlich in das Wohnzimmer und plaudern ein wenig. Sonst kommen wir doch ohnehin nicht weiter.«

»Einverstanden!«, sagte ich sofort.

»Wenn es denn sein muss«, kam es reichlich zögernd aus dem Mund der Frau. »Aber wenn einer von euch einen dummen Trick versucht, werdet ihr es bereuen! Wir kommen jetzt nach oben.«

Ich trat von der Treppe zurück, lehnte mich an die Wand und verschränkte die Arme. Zuerst sah ich Stephen auftauchen, der etwas zerzaust im Griff der Katzenfrau hing, und mich ziemlich niedergeschlagen anblickte.

»Sie ist ganz schön raffiniert«, sagte er.

»Klappe halten!«, zischte sie und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Wohnzimmer. »Du gehst vor.«

Ich zuckte mit den Schultern und ging gleichmütig in das Zimmer. Sie folgte mir, wobei sie Stephen immer noch wie einen Schild vor sich herschob. Ich ließ mich in das Sofa fallen.

»Du könntest ihn jetzt eigentlich auch loslassen.«

Sie überlegte noch einen Moment, bevor sie der Bitte nachkam und den Arzt aus ihrem eisernen Griff entließ. Stephen taumelte ein paar Schritte auf den Wohnzimmertisch zu und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm. Ich hatte nur wenig Mitleid mit ihm.

»Das kommt davon«, sagte ich nur.

»Was hätte ich denn tun sollen?«

»Auf mich zu hören wäre ein guter Anfang gewesen.«

Die Frau blieb in Lauerstellung in der Nähe der Tür stehen, immer bereit, sich zu verteidigen, falls ich sie angreifen würde. Meine Nackenhaare waren schon die ganze Zeit gesträubt und wenn Stephen nicht im Raum gewesen wäre ...

»Nun?«, fragte sie. »Wie geht es jetzt weiter?«

Ich griff langsam in die Tasche und holte die Kapsel heraus, die mein Freund ihr herausoperiert hatte.

»Weißt du, was das ist?«

»Eine Kugel, was sonst?«

»Das ist das Projektil, was dir die Männer während deiner Flucht in die Schulter geschossen haben.«

»Und? Willst du sie mir jetzt als Andenken überreichen? Glaubst du vielleicht, ich sammle die Dinger?«

»Ich habe die gleichen Patronen in einer Wohnung gefunden, in der NESOM einen Kameraden von mir verschleppt hat. Stephens Kollege analysiert gerade die Flüssigkeit, die in den Kapseln enthalten ist.«

»Er meint, es wird ungefähr zwei Tage dauern«, sagte Stephen, der sich immer noch den Arm massierte.

Ich nahm es ohne Reaktion zur Kenntnis. »Außerdem haben wir in der Leichenhalle eine vogelartige Chimäre liegen, der man eine ähnliche Kapsel eingepflanzt hat. Aus irgendeinem Grund hat die arme Kreatur wohl gedacht, sie könnte fliegen, und ist aus dem sechsten Stock gesprungen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752140170
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Freundschaft Jagd Spannung mischwesen Zuneigung Angst Chimären Verfolgung Dystopie Utopie Science Fiction Krimi Thriller

Autor

  • Gerd Hoffmann (Autor:in)

Der Autor lebt in Köln und schreibt seit 2015 Mystery und SF-Romane.
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Titel: Chimärenjagd