Lade Inhalt...

Wer glaubt schon an Vampire?

von Sabineee Berger (Autor:in)
420 Seiten

Zusammenfassung

Emmeline fliegt im Auftrag ihres Großvaters nach Portugal und soll für ein sagenumwobenes Artefakt aus dem fünften Jahrhundert recherchieren. Bereits im Flugzeug begegnet ihr der düstere Aron Jäger, der sie total nervt und der zu allem Unglück in ihrem Hotel absteigt. Ständig begegnet sie dem unheimlichen Mann und liefert sich einen Schlagabtausch nach dem anderen. Dabei ist das noch das geringste Übel, denn seit ihrer Ankunft in Lissabon steht ihr Leben Kopf. Sie träumt in Sequenzen von einem früheren Leben, sieht am helllichten Tag blutäugige Monster und wird sogar mit einem schockierenden Mord konfrontiert. Doch plötzlich entpuppt sich ausgerechnet der arrogante Aron Jäger als möglicher Verbündeter.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Vampire ... ich meine,

wir wissen alle, dass es sie nicht gibt.

Und doch sind wir fasziniert von der Möglichkeit einer düsteren Existenz

und einer Interpretation, die sie auch

zur Liebe befähigt.



1. Kapitel

Der Flieger war das Letzte! Nie mehr wollte sie sich zu solch einem Billigstflug überreden lassen. Budgetwahnsinn hin oder her, das konnte er kein zweites Mal von ihr verlangen!

Seit fast zwei Stunden war sie nun gefangen in dieser miesen Klapperkiste und ausgerechnet knapp vor dem ersehnten Landeanflug kamen noch verfluchte Luftturbulenzen dazu! Am liebsten hätte sie geschrien oder einen Verantwortlichen (den lieben Gott?) fest an den Haaren (oder am Bart?) gezogen. Stattdessen zerrte sie hektisch an ihrem zerfransten Gurt und fluchte laut, während bereits eine freundliche Stewardess zu ihr trippelte und mit ein paar gezielten Handgriffen die Schnalle sicherte.

„Keine Angst! Der Gurt hält und die Turbulenzen sind nur von kurzer Dauer. Bitte beruhigen Sie sich!“, meinte sie lächelnd und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder nach hinten zu ihrem pipifeinen, sicheren Sitzplatz.

Miststück! dachte Emmi, weil sie in ihrer Panik ALLE anderen Sitze sicherer einstufte als ihren eigenen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst ausgestanden und das zu Recht! Der alte Flieger pfiff ja auch aus dem letzten Loch und die gute Frau meinte, sie solle sich beruhigen! Dabei war die Ausstattung ein Witz, der Sitz zu eng, der Gurt zerfranst und der Pilot vermutlich ein alter Greis, kurz vorm Herzstillstand.

Hilfe! wollte sie schreien und Scheiße! ... laut und derb. Mit den Fäusten wollte sie gegen irgendetwas trommeln, aber für beides war sie nicht so recht der Typ. Überhaupt war sie kein Typ für irgendwas, außer vielleicht für Flugangst. Ihre Finger krallten sich nervös ineinander, wollten Halt finden.

Wo war noch schnell die verfluchte Tüte? ... überlegte sie krampfhaft, weil ihr übel geworden war und der Würgereflex kaum zu stoppen schien. Hektisch durchsuchte sie das Zeitschriftenfach vor ihr und hantierte dabei so wüst herum, dass ihr Vordermann verärgert grunzte.

Idiot! Schaff das mal mit Flugangst! ... zischte sie in Gedanken und blickte überrascht auf, als der Kerl sich abrupt zu ihr umwandte. Der gelbliche Stich seiner Augen war nicht zu übersehen und automatisch spulte sie sämtliche Krankheitsbilder ab, die ihr zu gelben Augen in den Sinn kamen.

Leberleiden! ... lautete ihre Enddiagnose und ein arroganter Blick war ihre offensichtliche Reaktion. Ein Blick, der bisher noch jeden in die Flucht geschlagen hatte ... außer diesen Kerl! Der schien von ihrer nonverbalen Kampfansage wenig bis gar nichts zu halten. Beeindruckt war er jedenfalls nicht.

„Würden Sie das bitte lassen?“, meinte er trocken, mit einer arrogant hochgezogenen Augenbraue, die jedes Weibchen erröten und jede Emanze zur Waffe hätte greifen lassen.

„Was denn?“

„Dieses idiotische Rütteln an meinem Sitz!“

„Wie bitte? Idiotisch?“

„Hmhm.“

„Das ist ja wohl die Höhe! Wir befinden uns in höchster Lebensgefahr und Sie fahren mich wegen ein bisschen Sitzrütteln an? Haben Sie eigentlich schon bemerkt, dass der ganze Flieger bebt?“ ... Sie Depp? wollte sie noch hinzufügen, ließ es bei seinem strengen Blick aber doch lieber sein. Der Kerl hatte etwas Finsteres an sich und auch wenn sie gerade die Hölle durchlebte, musste sie ja nicht noch unbedingt den Teufel heraufbeschwören.

„Seien Sie nicht albern! Sie haben nur Flugangst.“

„Pah! Was wissen Sie schon von meiner Angst!“, zischte sie und vergaß, aus unerfindlichen Gründen, weiter nach der Tüte zu suchen. Der Kerl hatte aber auch Nerven, sie hier blöd anzumotzen, wo doch der Flieger kurz vor dem Abschmieren stand ... oder flog ... oder was auch immer.

„Sie sollten mal zum Arzt, Beste. Und Ihre Ängste sind offensichtlich.“

„Beste?“

„Hmhm.“

„Offensichtlich?“

„Hmhm.“

„Sie sind ja wohl der arroganteste, frechste ... ach, was verplempere ich meine Zeit mit Ihnen? Wenn Sie mir nicht gleich Ihre Kotztüte reichen, wird ihnen Hören und Riechen vergehen!“

„Hören und Riechen?“

„Hmhm.“ Das tat vielleicht gut, dass sie mal mit diesem dämlichen „Hmhm.“ dran war, und dass der grantige Kerl sich wieder nach vorne drehte. Und wie schnell auch noch! Selbst er hatte endlich geschnallt, dass es ihr verdammt ernst war mit ihrer Übelkeit.

Was für grässliche Augen und was für ein leberkranker Kotzbrocken! ... dachte sie, wobei ihr bei dem letzten Wort gleich noch eine Spur schlechter wurde.

„Hier, bitte!“, ertönte es schroff von vorne. Emmi blickte hoch, denn sie hatte sich weit vorgebeugt, um ihren verkrampften Bauch zu halten. So schwach und schlecht hatte sie sich noch nie gefühlt. Womöglich hatte sie ja gar keine Flugangst, sondern nur einen Darmvirus erwischt. Oder aber sie reagierte allergisch auf idiotische Vordermänner.

Trotz ihres Elends würdigte der gelbe Typ sie keines Blickes, warf aber wenigstens die gewünschte Kotztüte nach hinten. Das Ding traf sie genau am Kopf.

„Hey ...“, rief sie empört und fischte die wohl kleinste Tüte der Welt aus ihren roten Haaren.

„Danke genügt auch!“, konterte der Mann mit heiserem Lachen, worüber Emmi sich so ärgerte, dass sie mit einem lauten „Hmpf!“ protestierte und knapp davor war, die Zunge herauszustrecken.

„Was? Geht es etwa schon los?“, ätzte er und drehte sich doch glatt noch einmal zu ihr, um zu prüfen, ob ihr Protestgeräusch nicht doch ein Würgegeräusch war.

„Ach, Sie! Lassen Sie mich in Ruhe! Gucken Sie nach vorne und spielen Sie mit Ihren Zehen!“, zischte sie und richtete sich mehr auf. Dann presste sie die Tüte vor den Mund, inhalierte kurz und wartete darauf ihr Leben auszuhauchen. Ihre Antwort war kindisch, doch ihr war so übel, dass ihr das egal war. Dem Mann aber wurde das Geplänkel offensichtlich zu albern und Emmis leidende Miene zu viel. Genervt rollte er mit den Augen und wandte sich ab.

Idiot! ... feixte Emmi gerade in Gedanken, weil der Typ sie so aufregte, als plötzlich ein Ruck durch den vorderen Sitz ging. Der Fremde schien regelrecht zu explodieren und wandte mit einem Mal nicht nur seinen Kopf zu ihr, sondern fast seinen ganzen Oberkörper. Wie er diese Drehung so schnell in dem miesen, engen Sitz bewerkstelligte, war ihr ein Rätsel, aber er wirkte dadurch plötzlich wie ein dunkler Riese, unheimlich und aggressiv und ... er war genau vor ihr.

Außerdem mussten die Augen des Mannes unter ziemlichen Druck gestanden haben, denn sie waren plötzlich nicht nur gelbstichig, sondern auch noch rötlich. Wahrscheinlich waren ihm ein paar Sicherungen durchgebrannt und deswegen auch noch Äderchen geplatzt.

Herr im Himmel, rotgelbe Augen! So etwas sollte verboten werden! Die düstere Eindringlichkeit die dieser Mann nun ausstrahlte, machte ihr ehrlich Angst.

„Huch!“, entschlüpfte es ihr und sie versuchte automatisch mehr Abstand zu dem Spinner zu bekommen. So fest sie konnte, presste sie sich gegen ihre Rückenlehne und ließ sogar die Tüte fallen. Selbst ihre Übelkeit war verschwunden.

Der Mann aber machte mehr und mehr den Eindruck als wäre er nicht ganz bei Sinnen und durchaus bereit Gewalt anzuwenden. Dabei hatte Emmi dieses „Idiot“ doch nur gedacht! Und Gedanken waren frei, oder etwa nicht?

Verwirrt blickte sie zu ihm auf, denn mit solch offener Aggression hatte sie nicht gerechnet. Gut, sie hatte Flugangst und war womöglich ein klitzekleines bisschen hysterisch. Aber solch eine Reaktion? Der Mann musste ja eine Macke haben! Zwar sagte er kein Wort, nicht mal leise, aber seine Mimik sprach dafür Bände. Fest zusammengepresste Lippen und Pupillen, die nur noch stecknadelgroß und eindringlich waren.

Sorry! ... dachte sie automatisch und duckte sich noch etwas mehr in ihren Sitz hinein. Zum Sprechen kam sie irgendwie nicht, weil sie permanent schlucken musste und sowieso kein verständliches Wort herausgebracht hätte. Dabei sah es ihr gar nicht ähnlich, so schnell die Fassung zu verlieren oder klein beizugeben. Aber genau in dem Moment, wo sie mit ihrem gedachten „Sorry“ fertig war, verschwand auch der extrem beängstigende Ausdruck in seinen Augen. Als hätte er sich gerade noch in den Griff bekommen und seine rotgelbe Aggression hinter eine halbwegs normale Fassade gezwängt. Selbst ein Lächeln schaffte er plötzlich, wenn auch nicht wirklich freundlich und ohne jeden Humor.

Emmi blinzelte und fasste sich unbewusst ans Herz. Dieser Mann war total unheimlich, oder aber schlicht verrückt, denn für einen kurzen Moment hatte sie die blanke Mordlust in seinen Augen gesehen.

Irre.

„Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Die Turbulenzen sind längst vorüber. Also hören Sie auf so hysterisch zu sein! Im Übrigen können Sie sich wieder abschnallen!“

„Wie, was, ... hä?“, stotterte Emmi benommen, weil sie noch durcheinander war und nicht aufhören konnte in seine seltsamen Augen zu starren. Rot und gelb. Was für eine Krankheit war das bloß?

„Abschnallen ... Sie!“, befahl er und Emmi tippte automatisch auf die Schnalle ihres Gurtes. Das „Yes, Sir!“, konnte sie gerade noch unterlassen, obwohl sie auch für automatisiertes Reden nicht der Typ war.

„Ja ... äh ... na so was“, brabbelte sie dann verlegen, während der Gurt zur Seite schnalzte und ein überlautes Geräusch erzeugte. Die Fahrgäste aus den umliegenden Reihen starrten sie daraufhin an, als wäre sie meschugge. SIE! Beschämt senkte Emmi den Blick und entdeckte am Boden die kleine Tüte, die sie vor Schreck fallengelassen hatte. Brummig kickte sie das Ding ein Stückchen weiter nach vorne. Schließlich war ihre Übelkeit verschwunden.

Kein Wunder nach solch einem Schock! ... dachte sie und wollte es alleine auf den seltsamen Kerl vor ihr schieben. Ein kurzer Rundumblick zeigte ihr jedoch, dass der Flug tatsächlich ruhiger geworden und das Anschnallzeichen längst erloschen war.

Seltsam! Emmi konnte gar nicht begreifen, dass ihr solch ein wesentliches Detail entgangen war, hatte aber plötzlich das Gefühl, dass mehr Zeit vergangen sein musste, als sie geglaubt hatte. Ratlos nestelte sie an ihrer Armbanduhr herum, konnte sich aber nicht erinnern, zu welchem Zeitpunkt die Konfrontation mit dem Typen überhaupt begonnen hatte. Also ließ sie das Grübeln sein, lehnte sich erschöpft zurück und begann sich – gegen jede Erwartung – zu entspannen.

Wenigstens blickte der böse Vordermann nun endlich nach vorne und das Klapperflugzeug hatte aufgehört zu klappern. Trotzdem fühlte Emmi sich so benommen, als hätte jemand ein paar Elektroden in ihren Kopf geschossen und Bereiche ihres Gehirns mit hoher Energie geschockt. Ein Brzzzzl hier, ein Brzzzzl dort. Entspannung war ja gut, aber woher das ganze Valium plötzlich in ihrem Blut kam, konnte sie nicht verstehen.

Gott, bin ich erledigt! Kein gesunder Mensch konnte nachvollziehen, was für ein Kampf es war, sich seiner Flugangst zu stellen ... oder einem gelbsüchtigen, hepatitiskranken Macho.

Der verhielt sich inzwischen gar so, als hätte es nie Streit gegeben, oder als würde es SIE überhaupt nicht geben. Was dann ja wohl auch wieder eine Frechheit war, wenn man bedachte, dass er sie mindestens eine halbe Stunde dumm angepflaumt ... und nebenbei von ihrer Flugangst kuriert hatte. Ups, das wollte sie ihm dann doch nicht zugestehen. Schließlich war er ein Aggressor und kein Samariter.

Spontan streckte sie ihm die Zunge heraus, weil er sich so danebenbenommen hatte, und weil sein dunkler Hinterkopf nicht ganz so bedrohlich wirkte wie seine Vorderseite. Da war also sicher kein lautes Bäh oder Schmatzen zu hören, kein Rütteln am Vordersitz oder sonst eine Auffälligkeit ... und doch schaffte dieser seltsame Mann es, genau in dem Moment laut zu seufzen. Gerade so, als hätte er ihr Verhalten mitbekommen.

Schnell zog sie ihre kleine, rosa Zunge wieder ein und ertappte sich dabei, wie sie den dunklen Haarwuschel ihres Vordermanns auf Anzeichen von Wimpern und Pupillen untersuchte. Wie sonst hätte er etwas von ihrer Zunge bemerken können?


2. Kapitel

In Portugal erwartete sie herrlichstes Wetter. Kein Wölkchen trübte den Himmel und es hatte über 28 Grad.

Schon im Flieger hatte Emmi ihren Langarmpulli gegen ein gelbes T-Shirt getauscht, ihre Haare zu einem Pferdeschweif zusammengebunden und sich auf den ersehnten Hitzeschwall eingestellt. Sie liebte den Sommer und sogar die Gluthitze, obwohl sie als Rothaarige in der Sonne ein wenig aufpassen musste.

Nach der beißenden Kühle im klimatisierten Flugzeug war der Schritt ins Freie jedenfalls wie eine Erlösung. ALLES war nach solch einer plumpen Landung eine Erlösung. Der Pilot hatte wahrlich keine Glanzleistung hingelegt und sich nahtlos in ihre Bewertung des miesesten Billigstfluges aller Zeiten eingereiht. Das Klatschen der Passagiere schob sie auf geistige Umnachtung, zu viele Drinks oder auf hysterische Freude, überlebt zu haben. Sie selbst hätte sich nach der Landung am liebsten aufs Flugfeld geschmissen und den sicheren Erdboden geküsst. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie daher, warum der Papst so etwas tat. Vermutlich hatte der ebenfalls Flugangst. Doch zur Theatralik neigte sie nur in ihrer Fantasie. Im wirklichen Leben verhielt sie sich meist nüchtern und unauffällig – außer vielleicht, wenn sie gerade in ihrer Flugangst gefangen war.

Emmeline war keine schrille Schönheit, trug weder Make-up noch aufreizende Kleidung. Auf den ersten Blick wirkte sie daher unscheinbar, obwohl sie mit ihrer schlanken, aufrechten Statur, den grünen Augen und ihrem ovalen Gesicht durchaus attraktiv war. Dazu hatte sie ein sehr angenehmes, feinfühliges Wesen mit nur wenigen Tendenzen zur weibischen Zänkerei. Sie war also eine Frau, deren Attraktivität natürlich war und in der Regel erst entdeckt werden musste. Die meisten Menschen aber hatten wenig Zeit und noch viel weniger Interesse für längere Entdeckungstouren und genau das war in ihrem Interesse. Zu viel Aufmerksamkeit konnte sie nämlich auf den Tod nicht leiden. Selbst die lässig lächelnde Stewardess oder der finstere Kerl von vorhin hatten sie mit Sicherheit längst vergessen.

Aber genau damit lag sie falsch!

„Entschuldigung, aber das ist meines!“, rief jemand hinter ihr beim Taxistand und klopfte ihr penetrant auf die Schulter. Emmi drehte sich verärgert um.

Sie schon wieder?“, empörte sie sich, als sie den finsteren Mann aus dem Flieger erkannte. In ganzer Lebensgröße wirkte er noch einmal so unheimlich und einschüchternd, aber auch sie war mit schottischen Vorfahren gesegnet und nicht gerade klein gewachsen. Außerdem war weit und breit kein anderes Taxi zu sehen und sie nicht gewillt, es ihm einfach so zu überlassen.

Sicher nicht! ... dachte sie keck, machte blitzschnell einen Schritt auf das Auto zu, riss die hintere Türe auf und machte so ihren alleinigen Besitzanspruch klar. Nur ein Idiot hätte das nicht verstanden ... oder eben dieser Kerl, der ihr offenbar um jeden Preis eins auswischen wollte. Seine Augen wurden sofort schmal.

„M E I N E S!“, brüllte er so laut, dass sie zusammenzuckte und jeden Moment mit einem Übergriff rechnete. Lediglich die vielen Menschen rundum gaben ihr ein wenig Zuversicht. In aller Öffentlichkeit würde er es nicht wagen Hand an sie zu legen! Aber auch so war er einschüchternd genug, denn er blaffte nicht nur laut, er machte sich auch noch so groß wie ein Bär. Gerade das Brummen fehlte noch. Ein riesiges Tier, mit viel zu dunklen Haaren und gelb leuchtenden Augen.

Schwarze Teufelshaare ... schoss es ihr durch den Kopf. Vermutlich am ganzen Körper. Igitt. Außerdem waren die Augen ein Witz und sie reimte sich endgültig zusammen, dass er aus einer Intensivstation entkommen sein musste, obwohl er kurz vor einer Lebertransplantation stand. Was ihr natürlich herzlich egal war, solange er nicht mit ihrem Taxi ins Krankenhaus oder gar zum Friedhof wollte.

Diese idiotischen Bewertungen halfen ihr, um sich nicht gleich wieder einschüchtern zu lassen. Nach außen hin zeigte sie sich daher kein bisschen beeindruckt von seinem gewaltbereiten Auftreten.

„Na, sicher nicht, Mister! Träumen Sie weiter!“, erwiderte sie bissig, besann sich auf ihre kämpferischen, schottischen Gene und stellte sich zur Sicherheit noch auf die Zehen, um etwas mehr an Höhe zu gewinnen. Von dem Typen wollte sie sich gar nichts sagen lassen. Doch der Blick des Mannes verfinsterte sich so schlagartig, dass Emmi automatisch wieder auf ihre Fersen heruntersackte. Wie schaffte der Kerl das bloß, so einschüchternd zu wirken?

„Sie sind wirklich die lästigste Person, die mir je unter die ...“, setzte er an und wollte gerade lauter und lauter werden, als Emmi sich einfach von ihm abwandte und mit ihrer Reisetasche ins Taxi plumpsen ließ. Wozu reden, wenn sie doch gleich handeln konnte? So schnell konnte der Mann nicht mal blinzeln, hatte sie das Gefährt schon für sich okkupiert.

Ha! Welch genialer Schachzug ... dachte sie gerade, als sich der widerliche Kerl mit seinem kleinen Koffer auch schon zwischen die Tür klemmte.

So nicht, Lady! Also, entweder fahren wir gemeinsam, oder sie erfahren gleich was es heißt einen Flug ohne Flugzeug zu bekommen!“

„Das wagen Sie nicht! Wenn sie mich auch nur anfassen, dann Gnade Ihnen ...“ Emmi konnte nicht mal mehr Luft holen, als sie ein lauter Schwall portugiesischer Schimpfworte unterbrach. Der Taxifahrer war offenbar nicht länger gewillt sich den Streit der beiden anzuhören. Mit der sonst so üblichen, südländischen Gemütlichkeit war der gute Mann jedenfalls nicht gesegnet. Zu allem Überfluss ließ er auch noch den Motor im Leerlauf so laut aufheulen, dass Emmi ganz nervös wurde.

„Verflucht, lassen Sie das!“, zischte sie nach vorne, als der aufdringliche Riese die Ablenkung nutzte und sich ins Wageninnere drängte. Rücksichtslos schubste er Emmi zur Seite und ließ sich sogleich neben ihr in den Sitz fallen ... mit seinem breiten Arsch, dachte Emmi, weil er sie einfach mit allen Mitteln zur Seite drängte.

„Hey! Humpf ...“, schrie sie aufgebracht, weil sie mit solch einer Unverfrorenheit nicht gerechnet hatte. Von Gentleman-Manieren war der Typ ja ganze Galaxien entfernt!

„Mund zu und ab ins Hotel!“, forderte der Mann grimmig und knallte die Autotür mit solcher Wucht zu, dass Emmi die Ohren schlackerten. Leicht geschockt und sprachlos, starrte sie den Eindringling an. „Mund zu!“, hatte er gesagt und es wie einen Befehl ausgesprochen. Seltsamer Weise konnte Emmi ihren Mund tatsächlich nicht mehr öffnen. Oder aber ihre Zunge war plötzlich gelähmt. Sie war so durcheinander, dass sie das nicht erfassen konnte. Emmi wusste nur, dass sie weder sprechen, noch schreien konnte. Ihre Augen wurden weit vor Entsetzen, weil sie eine weitere Panikattacke vermutete. Wie konnte der Kerl mit nur zwei Worten und einem kräftigen Türknallen so etwas bei ihr erreichen?

„Willkommen in Lissabon! Wohin darf’s denn gehen?“, tönte der Taxifahrer plötzlich so freundlich und unpassend, dass Emmi und der schwarzhaarige Mistkerl sich gleichzeitig zu ihm nach vorne wandten. Der Fahrer verblüffte aber nicht nur mit guten Deutschkenntnissen, sondern auch mit einem charmanten Lächeln. Jetzt, wo er gleich zwei Passagiere im Auto hatte und mit einer teureren Fahrt rechnete, hatte er offenbar doch noch auf Touristenmodus umgeschaltet.

Für Emmi aber wurde dieser Irrsinn zu viel. Zuerst der furchtbare Flug, dann dieser rücksichtslose, brutale Kerl neben ihr und nun auch noch ein Taxifahrer im Touristenmodus. Ihr Kreislauf drohte verrückt zu spielen, obwohl sie sich kaum bewegte. Sie hatte sogar das Gefühl in ein enges Korsett geschnallt und zur Erstarrung verdammt worden zu sein. Emmi verstand es selber nicht, aber sie hatte keine Kontrolle mehr über ihren Körper. Zuerst überlegte sie noch um Hilfe zu schreien, dann wieder auszusteigen und schließlich sogar auf den Mann neben sich einzuschlagen. Doch aus irgendeinem Grund konnte sie nichts von alledem in die Tat umsetzen. Entweder erlag sie wirklich gerade einer handfesten Panikattacke oder aber sie war schlicht gelähmt vor Angst.

„Sie verstehen? Halloooo, da hinten?“, fragte der Taxifahrer nun doch wieder etwas ungeduldig geworden. Das Schnalzen in seiner Stimme erinnerte an das Antreiben von Pferden.

„Wohin-Sie-wollen?“, fragte er deutlich lauter und holpriger. Für ihn waren die beiden nicht mehr als ein übermüdetes Touristenpaar, das gerade Streit hatte.

„Sana Capitol Hotel in der Rua Eça de Queiróz”, befahl der finstere Mann mit fließender Zunge und zischenden Lauten, die sich in Emmis Ohren perfekt portugiesisch anhörten. Also nicht, dass an diesem Mann irgendetwas perfekt sein konnte, aber die Sprache schien er ganz gut zu beherrschen. Zu allem Überfluss deutete er dem Fahrer auch noch endlich loszufahren, obwohl Emmeline noch nicht einmal „Muh!“ gesagt hatte. Etwas Schweres schien weiterhin ihre Zunge zu lähmen und in der Mundhöhle festzukleben. Vielleicht hatte ihr der aufdringliche Mann im Gerangel ja einen kräftigen Stoß auf den Kopf verpasst oder gar etwas Giftiges in die Vene gespritzt. Im Tumult ließ sich ein dezenter Picks recht gut kaschieren. Sie hatte zwar nichts Derartiges mitbekommen, wusste aber, dass so etwas prinzipiell möglich war.

Mit aller Macht wollte sie Luft holen und endlich etwas erwidern, doch gegen ihren fast schon katatonischen Zustand konnte sie einfach nichts ausrichten. Lediglich ihre weit aufgerissenen Augen ließen darauf schließen, dass sie in Panik war. Nur, wer sollte schon darauf achten? Ein Taxifahrer, der in Gedanken bereits die Euroscheine zählte oder ein finsterer Kerl, der nichts anderes wollte, als sein ganz persönliches Ziel erreichen?

Die Steigerung von alledem aber war, als der Taxifahrer das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat und Emmi wie eine Puppe zurückgeschleudert wurde. Ihr Kopf knallte hart gegen eine Kante und das rüttelte Emmi allmählich wach. Zuerst spürte sie natürlich vor allem den Schmerz, doch dann begann ihre Hand plötzlich zu kribbeln und sogar zu zucken. Als sie sich endlich wieder bewegen ließ, beglückte sie nicht etwa den rüpelhaften Entführer an ihrer Seite mit einer Ohrfeige, sondern schnappte sich automatisch den Sicherheitsgurt, um die wilde Fahrt in einem Stück zu überleben.

Ein Schlagloch ließ Emmis Zähne hart aufeinanderschlagen und ein lautes, klackerndes Geräusch erzeugen. Der widerliche Mann neben ihr schmunzelte und brachte Emmi damit erneut auf die Palme. Wenigstens löste sich durch das Klackern auch endlich ihre Sprechblockade.

„Was ... was fällt Ihnen ein?“, stotterte sie heiser und noch immer mit viel zu schwerer Zunge. „Sie ... Sie...“

„Na, einer musste ja schließlich einmal eine Adresse sagen. Sie haben ja überhaupt nichts von sich gegeben. Gott sei Dank, wie ich bemerken darf, denn eine weitere Kotztüte hätte ich nicht anbieten können“, ätzte er und zeigte ein böses Lächeln mit weißen Zähnen. „Sie waren so gut wie nicht vorhanden und ziemlich sprachlos, Gnädigste. Ich vermute, dass sie während dem Flug einen kleinen Kurzschluss mit Brandfolgen hatten und die Leitfähigkeit einiger Synapsen eingebüßt haben. Also war ich so frei und habe dem Taxifahrer mein Hotel genannt.“

„Sie ... Sie ... Unhold! Nicht vorhanden, sagen Sie? Ich glaube ich spinne! Wohl eher vergraben ... unter ihrem fetten Hintern, Sie ... Sie...! Das ist Entführung! Zumindest Körperverletzung ...“

„Mund zu!“

„Was?“

„Still sein! Bitte!“, seufzte er und Emmi fielen fast die Augen aus den Höhlen.

„Aber Sie ... Sie haben ...!“

„Pssssst!“, deutete er mit seinem Finger vor dem Mund und zog den Ton in solch ungewöhnliche Länge, dass sie sich seltsamer Weise zu entspannen begann. Dabei wurde sein Blick schon wieder total eindringlich und Emmi reagierte mit Gänsehaut darauf. Wer hatte aber auch so derart winzig kleine Pupillen? Damit konnte ja noch nicht mal ein Hamster etwas anfangen.

Der Taxifahrer begann inzwischen fröhlich zu singen und machte die Situation nur noch skurriler. Für Emmi war es das reinste Narrenhaus und sie innerlich total aufgewühlt. Zumindest so lange, bis ihre Gedanken allmählich leichter wurden. Der Fremde stierte ihr immer noch in die Augen, drang in sie ein, bezwang ihren Geist. Nicht ein einziges Mal zwinkerte er und Emmi bemerkte es mit Staunen, ehe ihr Blick endgültig ins Leere driftete und dort wie selbstverständlich verharren wollte.

Als das Taxi hielt, war sie immer noch käseweiß. Sie hatte sich nicht übergeben, aber nur, weil sie sich so weit als möglich von dem Mann entfernt und an ihrer Reisetasche festgehalten hatte. Wer wusste schon, ob seine Krankheit nicht ansteckend war?

Erst nach einer Weile bemerkte sie, dass sie alleine im Taxi saß und offenbar die ganze Zeit ins Nichts gestiert hatte. Heftig blinzelnd guckte sie nun aus dem Fenster und erkannte Schilder eines Hotels. Ihre Augen tränten und die Zunge glich einem Reibeisen. Sämtliche Geschmackspapillen auf ihrem guten Stück waren getrocknet, als hätte sie einen Schnupfen und keine Luft bekommen. Aber vielleicht war das sogar die Lösung! Ein Schnupfen, eine Grippe oder ein schlichter Jetlag.

Emmi riss sich zusammen, sammelte ihre ganze Kraft und öffnete die Türe des Taxis. Wie eine Traumwandlerin stolperte sie ins Freie und atmete die Luft mit tiefen Zügen ein. Sie war noch am Leben! Immerhin! Ein Beinahe-Flugzeugabsturz war die reinste Lappalie gegen eine Entführung in einem tief fliegenden Taxi. Tapfer setzte sie einen Fuß vor den anderen und blickte sich um. Der finstere Typ schien endgültig verschwunden zu sein.

„Geschlafen, hm? Ja, ja ... lange Flug“, mischte sich der Taxifahrer in ihre Gedanken, während er mit ein paar schnellen Schritten zu ihr kam, um – wie sie annahm – das Geld für die Fahrt zu kassieren.

„Geschlafen?“, fragte Emmi verwirrt, weil sie sich noch nie so unausgeschlafen gefühlt hatte. Zugleich funktionierte ihr Körper wie auf Knopfdruck, denn ihre Hand begann in ihrer Tasche nach der Börse zu suchen.

„Alles schon bezahlt, Miss“, rief der Fahrer, weil er bemerkte, dass die Dame nicht wirklich fit, womöglich sogar betrunken war. „Ihr Mann schon vorgegangen ... wegen Zimmer“, kicherte er und stellte sich vermutlich gerade irgendetwas Schweinisches mit den beiden vor. Emmi schnaubte entrüstet, kramte aber weiter in der Tasche wegen der Börse. Doch der Taxifahrer schüttelte nur den Kopf, drehte sich um und stieg in sein Taxi. Erst als er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, nahm sie die Hand aus der Tasche.

Ehemann! So ein Idiot! ... ärgerte sie sich und versuchte auch die letzte Erinnerung an die schreckliche Fahrt abzuschütteln. Sicherheitshalber flüsterte sie noch ein leises „Ooooooohhhhhhhmmmmmmmm“, um die Kraft des heilenden Urlautes in sich aufzunehmen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte inzwischen ein groß gewachsener Mann in der Uniform eines Hotelportiers.

„Ja, danke! Welches Hotel ist das hier?“

„Sie befinden sich vor dem Sana Capitol Hotel.“

„Oh! Das ist ... das ist ja meines!“, erwiderte sie verblüfft, weil sie nicht mitbekommen hatte, dass der Entführer genau ihr Hotel genannt hatte.

Was für ein Zufall! Und was für ein Gott verdammtes Pech! Schließlich konnte das nur bedeuten, dass der Mistkerl im gleichen Hotel abgestiegen war.

„Danke – äh – dann bin ich ja richtig“, erklärte sie dem Portier und fügte in Gedanken hinzu, dass das auf ihren Kopf nicht mehr ganz so zutraf. Der Mann aber lächelte freundlich und ließ sie mit einer eleganten Handbewegung in die Aula des Hotels ein. Emmeline nickte ihm zu und ging mit ihrem spärlichen Gepäck weiter zur Rezeption.

Die Vorhalle war riesengroß und voller Menschen. Emmi liebte es, wenn die unterschiedlichsten Sprachen durcheinander wirbelten, ineinander überflossen und eine interessante Mischung aus Tönen und Lauten produzierten. Selbst beherrschte sie nur drei Sprachen, aber jede hatte so ihren Reiz. Auch die Unterschiedlichkeit der Menschen faszinierte sie und brachte sie oft zum Schmunzeln. Bei Japanern spähte sie automatisch nach einer Menge von Fotoapparaten, bei Franzosen nach gut duftenden Croissants, und bei Amerikanern nach riesigen Cowboyhüten. Emmi liebte diese Klischees und dachte gar nicht daran, sie zu bestreiten, sondern eher Bestätigungen dafür zu finden.

Und tatsächlich! Da war er schon, der emsig wuselnde Japaner, der alles knipste, was er vor die Linse bekam und dabei so glücklich und zufrieden lächelte, dass Emmi endlich den finsteren Mann aus Flugzeug und Taxi vergessen konnte.


3. Kapitel

Sie hatte geschlafen wie ein Murmeltier. Das Bett war sauber, wunderbar weich und duftete nach Lavendel. Der Rest vom Zimmer war keine Sensation, aber in Ordnung. Ihr Großvater hatte ein gutes Hotel gebucht, aber bei der Größe und Lage des Zimmers offensichtlich erneut gespart. Die Ausrede von irgendeinem Kongress in der Stadt und den vielen, ausgebuchten Hotels hatte sie nie geglaubt.

Das Fenster ihres Zimmers ließ sich öffnen, zeigte aber nur hässliche Wände eines gemauerten Luftschachts. Zum Glück war ihr Opa nicht allzu empfindlich, denn sie hatte vor, ihm nach ihrer Rückreise ordentlich die Meinung zu sagen. Zuerst der klapprige Flug und dann ein Zimmer mit null Aussicht! Immerhin war sie wegen seiner Recherchearbeiten hier und wurde nicht annähernd so gut dafür bezahlt, wie eine richtige Angestellte. Für Emmi war es mehr ein Verwandtschaftsdienst, der zufällig auch ihrer Liebe zu mystischen Artefakten entgegenkam. Nicht einmal einen freien Tag in diesem schönen Land wollte er ihr gönnen. Dabei befand sich der berühmte Wallfahrtsort Fátima gerade mal zwei Autostunden von Lissabon entfernt.

Emmi ballte unwillkürlich die Hände und brummte leise. Für die privaten Interessen seiner Enkelin hatte ihr Großvater noch nie sehr viel übriggehabt und für Wunder oder heilige Orte noch weniger. Er mochte ja mystische Artefakte lieben, aber ‚Orte der Kraft‘ fürchtete er ganz gehörig. Entweder war ihm einmal etwas Schlimmes widerfahren oder aber er witterte dort den Hauch der Göttlichkeit und damit den seiner eigenen Vergänglichkeit. Gesprochen hatten sie darüber noch nie, denn mit Grundsatzdiskussionen brauchte sie ihrem alten Herrn erst gar nicht kommen. Dafür war er viel zu stur und engstirnig. In Diskussionen neigte er stets zu Monologen und redete sich darauf aus, schwerer zu hören, obwohl er in Wirklichkeit wie ein Luchs hörte. Doch egal wie streng, exzentrisch oder geizig er auch sein mochte: Emmi liebte ihren Großvater über alles. Mit seinen 78 Jahren war er noch erstaunlich fit, aber nicht mehr gewillt längere Reisen zu unternehmen oder in öffentliche Verkehrsmittel zu steigen. Also würde Emmi wohl auch in Zukunft bei anstehenden Auslandsreisen für ihn einspringen.

Speziell in Portugal sollte sie nun in den Bibliotheken Lissabons und weiter nördlich in der Region von Tomar nach einer begehrten Nephrit-Maske mit dem Namen Felim forschen. Als typisches Seefahrervolk hatten die Portugiesen eine Menge Schätze in ihren Museen und Büchereien verwahrt. In den legendären Bibliotheken Lissabons gab es für Emmeline also sicherlich historisches Material in unschätzbarer Vielfalt.

Eine Recherche zu dieser Maske war, ohne entsprechendes Wissen und Kontakte, vermutlich ein Unterfangen von Wochen, wenn nicht sogar von Monaten. Emmeline hatte daher schon im Vorfeld viel recherchiert und von ihrem Großvater zusätzlich eine Liste von wichtigen Büchern und Bibliotheken bekommen. Tomar hatte er wegen der geheimen Bibliothek des Convento de Cristo besonders hervorgehoben. Von dieser ehemaligen Klosteranlage wusste Emmi nur, dass sie 1162 von den Tempelrittern zu einer Festung umgebaut und 1983 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden war. Aber alleine durch das historische Mitspielen der Templer erwartete Emmi sich von dieser Burg und ihrer Geheimbibliothek viel. Dennoch machte es keinen Sinn ihre Arbeit in Tomar zu beginnen, ohne vorab ein paar Basics in Lissabon zu erarbeiten.

Alles schön der Reihe nach ... pflegte ihr Großvater stets zu sagen, denn erst wenn Emmi die Grundlagen in Lissabon studiert hatte, würde sie die Werke in Tomar richtig lesen können.

Aufzeichnungen über Felim gab es nur wenige, weil die Maske seit dem zwölften Jahrhundert als verschwunden galt. Aus diesem Grund hatte ihr plötzliches Auftauchen auf der Berliner Fachmesse vor ein paar Wochen für gehörigen Wirbel gesorgt. Das außergewöhnliche Stück hatte kaum einer der Besucher zu Gesicht bekommen, aber die detaillierte Beschreibung dazu auf einer der Bestandslisten nachlesen können.

Seit Jahrhunderten rankten sich um diese Maske die schrägsten Legenden und Spekulationen, aber die glaubwürdigste war die von einer muslimischen Prinzessin, die mit der Maske ihren Geliebten aus dem Reich der Toten hatte erwecken wollen. Ob dieser Zauber damals funktioniert hatte oder wie, konnte natürlich nie geklärt werden. Geschichtliche Fakten, aber vor allem Mystisches war aus dieser Zeit kaum nachweisbar. Es gab nur immer vereinzelte Hinweise in alten Schriftrollen, die Kunsthistoriker schließlich zu der Überzeugung gebrachte hatten, dass die Maske ihren Ursprung im Marokko des fünften Jahrhunderts haben musste und im Laufe der Zeit nach Portugal gelangt war. Dort verschwand sie dann im zwölften Jahrhundert endgültig von der Bildfläche ... und tauchte schließlich jetzt wieder in Berlin auf.

Das Ungewöhnliche an der Maske aber war nicht nur die Legende dazu oder ihr Alter, sondern das Gestein aus dem sie gefertigt worden war. Nephrit gilt auch heute noch als eine Art Jade, obgleich die International Mineralogical Association Nephrit nie als eigenständiges Mineral akzeptiert hatte. Die Farben des Gesteins reichen in der Regel von grau- und dunkelgrün bis hin zu schwarz und werden durch Chrom und Eisen verursacht. Der Legende nach hatte die Felim-Maske eine besonders unvergleichliche Farbe, weil ihr Material auch Magnetit-Einschlüsse besaß, die eine Kategorisierung als Magnetit-Jade zuließ. Genau diese Nephrit-Beschreibung auf der Liste der Messe hatte Fachleute schließlich auch davon überzeugt, es mit der richtigen Maske zu tun zu haben.

Dem Volksglauben nach besaß der Stein heilende und stark kräftigende Wirkung – wenn auch hauptsächlich auf Niere, Blase und Harnwege. Von Totenkult und Erweckungen war in der Vorgeschichte daher bisher nie die Rede gewesen. Dabei war es gar nicht so abwegig die Niere und damit die Wirkung des Gesteins mit dem Leben und dem Tod in Verbindung zu bringen. Schließlich galt und gilt die Niere in den verschiedensten Kulturen seit jeher als DAS Lebensorgan schlechthin. Einen Beweis für Heilkräfte des Steins hatte es dennoch nie gegeben, ebenso wenig wie für die magische Kraft, Tote zum Leben erwecken zu können.

Vieles zur Maske war also ein Rätsel und lag im Verborgenen. Selbst jene, die der Legende Glauben schenkten, konnten sich nicht erklären, warum eine muslimische Prinzessin ausgerechnet Nephrit für eine magische Maske gewählt hatte, wenn dieses Gestein noch nicht einmal in ihrem eigenen Land zu finden gewesen war. So mancher vermutete daher einen Fehler in den spärlichen Aufzeichnungen oder gar gefälschte Pergamente, andere wiederum glaubten an ein sehr ursprüngliches Wissen und Grenzen überschreitende Magie. Und wer wusste schon, ob diese schöne Prinzessin nicht eine Zauberin mit ungeahnten Kräften gewesen war?

Nach dem mysteriösen Auftauchen der Maske in Berlin, verschwand sie kurz darauf erneut. Der Besitzer hatte über Raub geklagt, andere wiederum über einen lukrativen Verkauf getuschelt. Letztendlich aber konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, was genau passiert war oder wo sich die Maske im Moment befand.

Genau solche Vorkommnisse aber waren es, die das Interesse von Emmis Großvater weckten. Er war ein Forscher wie er im Buche stand und weit davon entfernt verwirrt zu sein. Der Hang zur Exzentrik machte ihn nicht unbedingt beliebt, aber damit konnte Emmi und er leben.

Johannes Myrthe war immer noch ein hoch gewachsener Mann mit deutlich schottischer Abstammung. Sein rotes Haar war mit der Zeit weiß geworden und seine Haut faltig, aber seine stolze Haltung machte aus ihm noch heute eine beeindruckende Erscheinung. Was nichts daran änderte, dass die Leute ihn für einen komischen Kauz hielten. Er war ein Querdenker auf allen Linien, vernachlässigte absichtlich seinen Garten, um das Unkraut wuchern zu sehen, aß zu viel Junkfood und trank reichlich schottischen Whiskey, um den Ärzten eins auszuwischen. Die Menschen mieden ihn und er die Menschen, aber niemand wusste etwas über seine überdurchschnittlich hohe Intelligenz und über seinen Reichtum. Denn, allem Anschein und jedem Geiz zum Trotz, hatte er Geld, Geld und nochmals Geld.

Emmeline machte sich sehr zeitig auf den Weg zum Frühstücksraum. Sie wollte keinen Trubel am Morgen und genoss es, eine der Ersten zu sein. Auf gesalzene Butter und labbriges Weißbrot hatte sie sich schon eingestellt, aber mit Eierspeise und leckeren Würstchen hatte sie nicht gerechnet. Der Duft alleine war schon eine Bereicherung und versetzte sie in Hochstimmung. Schon immer hatte sie Salziges vor Süßem bevorzugt – auch beim Frühstück. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen schubberte sie sich eine ordentliche Portion Eierspeise mit Würstchen auf ihren Teller und roch genussvoll daran. In Gedanken war sie bereits beim ersten Bissen, als ein dunkler Schatten hinter ihr auftauchte.

„Na? Essen Sie neuerdings mit der Nase?“, höhnte der Mann mit tiefer Stimme und Emmi fuhr herum. Er, schon wieder!

„Allmählich glaube ich, dass Sie mich verfolgen, Werteste. Und überhaupt ... was machen Sie eigentlich in Lissabon?“, fragte der unverschämte Kerl aus dem Flugzeug, der offenbar eine teuflische Freude daran hatte sie zu erschrecken und anzupöbeln. Doch auf einen Quickie der streitbaren Art hatte Emmi keine Lust. So tat sie das einzig Richtige und ... ignorierte ihn. Nicht einmal einen zweiten Blick gönnte sie ihm, da gab es kein Zittern der Lippen oder gar eine geballte Faust. Sie bewunderte sich für ihre Selbstbeherrschung und genoss es, ohne Antwort an ihm vorbeizugehen und in scheinbarer Gelassenheit zurück zu ihrem Tisch zu gehen. Worüber sollte sie sich auch mit einem brutalen Entführer und Spinner unterhalten? Etwa über die mangelnde Vielfalt am Buffet und den Vorschlag für gelbstichige Bestien rohe Steaks zu servieren? Ein dezentes Schnauben bestätigte ihr, dass ihre Taktik aufging.

Punkt für mich! ... dachte sie zufrieden, denn der Mann war ziemlich frustriert zurückgeblieben. Wobei ihr ‚zurückgeblieben‘ in diesem Zusammenhang mehr als treffend erschien. Lächelnd setzte sie sich an ihren Tisch und widmete sich endlich ihrem Frühstück. Mit der Zeit vergaß sie den finsteren Typen und begann ihr Essen richtig zu genießen, ebenso wie den schwärzesten Kaffee, den sie je gesehen hatte. Irgendwann blickte sie freilich schon durch den Raum, um den Störenfried zu suchen. Schließlich konnte man nur gezielt ignorieren, wenn man überhaupt wusste, wo sich der Gegner befand. Doch entweder war er der schnellste Esser der Welt oder er hatte sich beleidigt zurückgezogen und erst gar nicht gefrühstückt.

Aber das soll mir nur recht sein! ... dachte sie und stocherte wüst in ihrer Eierspeise herum. Je weniger sie mit dem düsteren Kerl zu tun hatte, desto eher und konzentrierter konnte sie sich ihrer Arbeit widmen.

Schon eine Stunde nach ihrem herrlichen Frühstück saß sie in einer der 27 städtischen Straßenbahnlinien von Lissabon. Die Linie 28 war legendär für ihre Fahrt durch schmalstes Gassenwerk und stellenweise mussten selbst Fußgänger in Hauseingänge flüchten, um den Schienenfahrzeugen auszuweichen. Für Emmi war es zwar ein kleiner Umweg, aber die Fahrt mit dieser Linie gönnte sie sich.

Eine halbe Stunde später stieg sie bei einer der drei Seilbahnen Lissabons aus und fuhr Richtung Gloria, um zum Bairro Alto zu gelangen, dem ältesten Stadtteil Lissabons. Dieser Teil war früher der Stadtteil der Reichen gewesen, hatte sich aber im Laufe der Zeit allmählich zum Stadtviertel der Kreativen und Künstler gewandelt. Genau dort gab es auch ein paar interessante Bibliotheken, die bis zum Abend geöffnet hatten.

Der kleine, weißgelb gestrichene Waggon der Seilbahn brachte sie zum Aussichtspunkt San Pedro de Alcántara, wo sich Emmeline wie im siebenten Himmel wähnte. Der Ausblick war herrlich, das Flair ein Traum. Sie fühlte sich wie eine Touristin und musste sich regelrecht zwingen, die geplante Tour durch die Bibliotheken zu starten. Viel lieber wäre sie durch die Straßen flaniert, hätte die Menschen beobachtet und in einem der süßen Literatur-Cafés einen kleinen Happen gegessen.

Aber das Leben war nun einmal voller Verpflichtungen und abgerungener Leistungen! Mit Freiheit oder etwas Urlaubsanspruch konnte sie bei ihrem exzentrischen Herrn nicht rechnen.

„Vergnügen ist Gift für die Disziplin!“, pflegte er stets zu sagen, wenn er seine Enkelin zur Ordnung mahnte und sie seine Appelle an Disziplin, Verantwortung und Aufrichtigkeit hinnehmen musste. Schon in jungen Jahren hatte sie erkannt, dass Rebellion nur schlecht für ihre eigenen Nerven war. Außerdem fühlte sie sich ihm verpflichtet, weil er sie aufgenommen und großgezogen hatte. Und zu allem Übel kam noch hinzu, dass sie ihn wirklich mochte – nein, liebte – Ihn ... den sturen, alten Bock, der so schwer Herzlichkeit zeigen konnte und doch mehr Liebe bewiesen hatte als ihre Eltern, die an einem grauen, kalten Novembertag einfach aus ihrem Leben verschwunden waren.

Verärgert wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel und stapfte in die erste Bibliothek, die auf ihrer Liste stand. Die Erinnerung an ihre Eltern erfüllte sie selbst nach Jahren noch mit Zorn und dem Gefühl im Stich gelassen worden zu sein. Dabei hatten sie keine Schuld an dem Autounfall gehabt. Niemand hatte das. Blitzeis war der Grund gewesen, warum Emmeline die zwei wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren hatte. Aber die Wut, die sie seitdem auf ihre Eltern empfand, war allemal besser, als der furchtbare Schmerz dahinter.

Die Luft in der Bibliothek war abgestanden und erinnerte an altes Gestein und Moder. Die dunkle Inneneinrichtung schien über hundert Jahre alt zu sein und die Beleuchtung war schlecht. Emmi begann zu zweifeln, ob sie hier auch nur einen einzigen Satz lesen würde können. Personal war auch keines zu sehen.

„May I help you?“, rief jemand plötzlich in perfekt britischem Englisch aus dem Hintergrund und Emmi wirbelte herum. Zuerst konnte sie in der Düsternis der dunkelroten Vorhänge niemanden erkennen, doch dann entdeckte sie zwischen den Falten des Stoffs einen kleinen alten Mann mit überdimensional großem Schädel und durchscheinender Haut. Sein spärliches Haar hatte er sorgsam in ein paar Strähnen über den Kopf gekämmt, seine Brille auf den untersten Rand seiner Nasenspitze gehängt. Mit strengen Augen betrachtete er die junge Besucherin. Durch seine Kopfform und den vielen Äderchen auf der Haut wirkte der Mann wie von einem anderen Stern. Lediglich die Brille schien real ... und mindestens so alt wie er.

Überrascht, aber auch seltsam betreten, stand Emmi da und wusste nichts zu sagen. Das Aussehen des Mannes überrumpelte sie total und beschwor in ihr ein beklemmendes Gefühl, wie zuletzt bei der Taxifahrt mit Mr. Finster. Weil Emmi aber keinen Ton herausbrachte und nur dumm glotzte, zogen sich die Augenbrauen des Mannes unwirsch zusammen.

„Hmmmm?“, brummte er ungeduldig und Emmi erwachte aus ihrer Erstarrung. Dornröschen wurde ja angeblich stets von einem schönen Prinzen wachgeküsst, aber bei Emmeline funktionierte das auch mit dem grantigen Brummen eines alten Schreckschrauberichs.

„Oh, ... äh, ... sorry! Hello and so. Do you speak German?”, fragte Emmi, weil sie zwar Englisch sprechen konnte, in ihrer Muttersprache aber doch versierter war – zumindest dann, wenn keine seltsamen Sprechblockaden ihre Zunge lähmten oder seltsame Formulierungen wie „Hallo und so“ auf Englisch rauspolterten.

„Oh, Sie sind Deutsche! Na, dann ist ja alles klar“, grinste der alte Wicht und machte dabei eine Miene, als würde er eher etwas Anzügliches denken, als die Sprache beherrschen.

„Nein. Ich komme aus Österreich, nicht aus Deutschland ... das ist aber so ähnlich.“

„So ähnlich? Werte Dame, dann wissen Sie aber nicht allzu viel über Ihr Land, oder?“, belehrte der Alte sie unverschämt und machte Emmi erneut sprachlos. Was für eine Frechheit war das nun wieder? Seit sie in dieses Land gekommen war, schien es nur noch Idioten der Gattung Mann zu geben. Sie aber wollte keinen Ärger, sondern die richtige Information. Also schluckte sie die bissige Bemerkung herunter, die ihr auf den Lippen lag, und versuchte ein Lächeln.

„Ich brauche bitte Zugang zu diesen Büchern hier auf der Liste!“, sagte sie freundlich und deutete auf das Blatt von ihrem Großvater. Der Mann horchte auf und schob sich die Brille weiter hinauf.

„Hm, zeigen Sie mal her!“, forderte er knapp und riss ihr das Blatt unfreundlich aus der Hand. Zuerst wirkte er noch weiter arrogant, doch dann schossen seine Augenbrauen überrascht in die Höhe und zogen sich sogleich wieder konzentriert zusammen.

„Warum haben Sie nicht gleich gesagt, dass Sie im Auftrag von Johannes Myrthe kommen?“, fuhr er sie an. „Mädchen, dann wäre ich sicher nicht so abweisend gewesen. Sie müssen verstehen ... die Touristen heutzutage wissen eine gute Bibliothek nicht zu schätzen, haben keinen Sinn für das Besondere und zerstören aus purer Langeweile wertvolle Werke mit ihren unwissenden, schmutzigen Händen!“

„Unwissende Hände?“

„Ach, papperlapapp! Sie wissen schon was ich meine! Und nun ... kommen Sie! Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“


4. Kapitel

Es war nicht gerade das berauschendste Erlebnis und auch nicht das effizienteste, aber im Laufe des Tages hatte sie ein paar wertvolle Informationen zusammengetragen und nebenbei den besten vinho tinto aller Zeiten getrunken. Der Bibliothekar hatte ihr um die Mittagszeit ein kleines Restaurant empfohlen, wo sie eben diesen köstlichen Rotwein und die Nationalspeise, den „bacalhau“, probiert hatte, der sich jedoch als wenig erquicklicher Stockfisch herausgestellt hatte. Die kleine Portion „sardhinas assadas“, also die gebratenen Sardinen, hatten sich hingegen zu einer wahren Gaumenfreude entwickelt. Dazu waren die Kellner nett und sichtlich erfreut über Emmis beherzten Versuch, alles in Landessprache zu bestellen. In Frankreich wäre sie für diesen Versuch eher mit Arroganz und Ignoranz bestraft worden, doch hier schenkte man ihr sogar einen netten Flirt. Und der entschädigte sie für all die Unannehmlichkeiten, die sie in letzter Zeit mit der Spezies Mann erlebt hatte.

In Gedanken noch bei dem guten Essen und dem hübschen Kellner ging Emmeline zurück in ihr Hotel und stieß prompt ... ja klar ... mit Nervensäge Nummer Eins zusammen. Nein, eigentlich rannte sie plump in seine Seite hinein, weil sie von einer Gruppe kichernder und knipsender Japaner abgelenkt worden war.

„Oh, Gott! Das ist mir aber jetzt toootal peinlich“, scherzte sie, weil sie ein wenig beschwipst war und nicht verstehen konnte, einen Betonpfeiler wie ihn übersehen zu haben. Er reagierte zwar mit einem unterdrückten Fluch, schien sich aber nicht einmal mehr an sie erinnern zu können. Mr. Finster erinnert sich nicht an mich? Aber hallo! Was war das nun wieder für eine Frechheit? Das machte sie ja fast noch wütender, als wenn er sie gleich dumm angemotzt hätte.

„Ach so! SIE sind das!“, scherzte er dann doch auf seine üblich herablassende Art, während er sie mit einem schiefen Grinsen von oben bis unten taxierte.

„Wissen Sie, so betrunken habe ich Sie nicht gleich erkannt“, lachte er hart und verstörend unangenehm. Emmi blieb vor Empörung der Mund offen.

Betrunken? Das bisschen Rotwein konnte er unmöglich bemerkt haben und überhaupt: Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Sengende Wut bahnte sich den Weg durch ihren Körper und verlieh ihrer Zunge Flügel, wenn auch auf recht primitive Art.

„SIE brauchen mir über Alkohol gar nichts zu erzählen, Sie leberkranker Idiot!“, keifte sie und hätte sich danach am liebsten auf die Zunge gebissen, weil sie es nicht ganz so schlimm hatte formulieren wollen. Aber dieser Typ schaffte es einfach stets ihre unterste Schublade zu öffnen. Seine Antwort wollte sie jedenfalls lieber nicht abwarten, denn seine Augen blitzten sofort böse auf. Mit einer raschen Schrittfolge versuchte sie an ihm vorbei zu huschen und einer aggressiven Revanche zu entkommen. Doch das war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit bei einem Holzklotz von Mann. Mit nur einem gezielten Schritt verstellte er ihr gleich wieder den Weg.

„Leberkrank? ... Idiot?“, zischte er mühsam beherrscht, während seine Augen gefährlich blitzten und sein massiger Körper eine einzige Bedrohung darstellte. Emmi hatte Angst vor ihm, das spürte sie deutlich an ihrem flattrigen Gefühl, doch aus irgendeinem Grund konnte sie nicht aufhören, schnippisch zu sein. Der Alkohol nahm ihr die Hemmung und im Schoß der Empfangshalle, unter all den Leuten, fühlte sie sich sicher. Zumindest sicherer als in einem engen Taxi.

„Hmhm!“, brummte sie daher mit keck hochgezogener Augenbraue, weil sie ihm das gestern schon so genussvoll an den Kopf geworfen hatte. Und das funktionierte auch heute bestens, denn seine letzten, noch verbliebenen Tassen im Schrank schienen augenblicklich zu bersten. Die Explosion im Oberstübchen ließ seine Pupillen wieder auf Stecknadelgröße schrumpfen und den Augapfel ungewöhnlich groß und hervorquellend aussehen. Es wirkte so, als würde der schwarze Teil seiner Augen in sich hineingezogen werden und dieser Vorgang war so erschreckend und unheimlich, dass Emmi laut zu keuchen begann.

„Sie!“, brüllte er und zeigte mit seinem großen Finger auf Emmis Kopf. „Sind wirklich die absolut größte, unmöglichste ...“ Er stockte und wurde etwas leiser. „... und dürrste Nervensäge, der ich je begegnet bin!“ Was Emmi dann wieder total überraschte, weil sie mit einem Frontalangriff gerechnet hatte und nicht etwa mit einem kleinen Seitenhieb. Für ihr Verständnis hatte er nur gezeigt, dass er selber durcheinander war, denn er hatte nichts Schlimmes gesagt, sondern lediglich ihren schlanken Körper bemerkt. Trotzdem konnte sie das natürlich nicht auf sich sitzen lassen.

Dürr? Sie spinnen ja wohl! Ich esse genug ...“

„... und trinken zu viel!“, unterbrach er sie gekonnt und Emmi holte tief Luft, um nicht an ihren verschluckten Worten zu ersticken. Außerdem musste sie an sich halten, ihm nicht eine Grimasse zu schneiden. Die zwei Gläschen Rotwein waren doch ein Scherz für einen Alkoholiker wie ihn! Wieso also sprach er immerzu davon? Sie roch vielleicht nach etwas Wein, aber er dafür wie nach einem ganzen Fass voll penetrantem Aftershave. Die längste Zeit schon verstellte er ihr den Weg und verbreitete mit seinem Geruch Übelkeit.

„Jetzt gehen Sie mir endlich aus dem Weg, Sie ... Sie Intensivler!“, rief sie aufgebracht, fuchtelte mit den Händen herum und machte einen demonstrativen Schritt zur Seite. Ursprünglich hatte sie „Intensivstationsflüchtiger“ sagen wollen, doch dieses lange Wort hätte sie, bei all dem Ärger und dem vielen vinho tinto, nicht fehlerfrei herausgebracht. Durch ihren Sidestep musste also selbst ein Bekloppter merken, dass jetzt Schluss war mit lustig. Doch der Kerl war einfach ein Meister der Ignoranz. Schon wieder verstellte er ihr den Weg, nur dieses Mal mit einem deutlich hörbaren Knurren.

„Verzeihen Sie schon, Missi!“, ätzte er und rückte etwas näher. Emmi ging einen Schritt zurück. „Was meinen Sie wohl genau mit dem Wort Intensivler?“, fragte er mit gefährlicher Präzision und setzte ihr nach. Sein Atem war viel zu nahe, sein Geruch zu stark. Wie unsichtbare Nebelschwaden schien etwas Giftiges aus diesem Mann zu strömen und in ihre Richtung zu wabern. Emmi spürte den Alkohol in ihrem Blut und wankte etwas, aber sie gab nicht auf und ging weiter zurück. Der Mann aber folgte ihr, als würde er an ihrer Aura kleben, parierte jeden Schritt mit einem Gegenschritt und tat so, als würde er mit ihr tanzen. Es war ein befremdender Gleichklang zweier Körper, die sich auf Distanz hielten und doch eigentlich verbunden schienen.

Zu Emmis Erstaunen waren seine Augen heute kein bisschen mehr gelbstichig. Vielmehr leuchteten sie jetzt in einem kalten Weiß, das an hart gekochte und geschälte Eier erinnerte. Mit jeweils einem winzigen Zeck in der Mitte, der ihr zuwinkte und nur darauf lauerte seine vergifteten Zähne in ihre Haut zu bohren. Von Dekorationsmaterial für Halloween waren diese Dinger jedenfalls nicht weit entfernt.

Schnell schüttelte sie diese absurden Gedanken ab, blieb stehen und straffte ihre Schultern. Einschüchtern wollte sie sich nicht lassen. Nicht von ihm oder sonst wem.

„Was ich damit meine? Nun, gestern haben Sie ausgesehen, als wären Sie geradewegs aus einem Krankenhaus abgehauen, kurz vor Ihrer Lebertransplantation. Derart gelbstichige Augen sind ja wohl das Letzte! Ich vermute daher, dass Ihnen der Arsch auf Grundeis gegangen ist und Sie aus der Intensivstation abgehauen sind. Daher die Bezeichnung Intensivler. Comprendre?“ Emmi war zwar stolz, wie flüssig sie diesen Schwachsinn von sich gegeben hatte, dachte aber eigentlich nur noch daran, dass sie diese Konfrontation nicht länger wollte. Auf der einen Seite war der Typ nicht normal und sie eingeschüchtert von seinem seltsamen Auftreten, auf der anderen Seite aber reizte sie etwas an ihm, ständig weiterzumachen und das kostete allmählich Kraft. Außerdem war sie müde und nur noch darauf aus in ihr Zimmer zu kommen, um das Informationsmaterial aus der Bibliothek zu sortieren. Hunger hatte sie auch schon wieder, also wollte sie hier nicht länger stehen und streiten.

Mit seiner Reaktion auf ihre Worte hatte sie jedoch nicht gerechnet. Denn er wurde nicht laut oder noch wütender, sondern begann zu lachen. So herzhaft und ungezwungen, dass Emmi vollkommen baff dastand und sich gar nicht mehr auskannte.

„Ich spreche zwar kein Französisch, Lady, aber das habe ich verstanden“, lachte er in Bezug auf ihr Comprendre und schien weiterhin in plötzlicher Heiterkeit zu verharren. Der Typ war aber schon etwas sonderbar, wenn er so einfach von „Ich töte dich, ich töte dich!“ auf „Okay, ich lach jetzt!“ umschwenken konnte. Wirklich spaßig fand Emmi das nicht.

„DAS war es also!“, lachte der Kerl inzwischen weiter und zwinkerte Emmi fröhlich zu. Die brauchte aber noch etwas, um die veränderte Atmosphäre für echt zu halten. Auf Heiterkeit war sie bei dem finsteren Freak irgendwie nicht programmiert.

„Deswegen haben Sie mich im Flugzeug so angeekelt angesehen! Wegen trüber Augen nach einer durchzechten Nacht! Jetzt verstehe ich alles“, erklärte er gespielt empört und lachte weiter.

„Ich habe Sie nicht angeekelt angesehen“, konterte Emmi automatisch, obwohl sie bereits begriffen hatte, dass es ihm mit der Fröhlichkeit ernst war.

„Ach, Lady!“, grinste er immer noch und guckte dabei so verwirrend freundlich, dass Emmi endlich ein erstes Lächeln versuchte.

„Nun gut, vielleicht ein bisschen. Sie waren aber auch ein Ekel ... äh ... sind ein Ekel. Oh verflucht, ich wollte nicht schon wieder anfangen. Entschuldigung!“, meinte sie erschrocken und hielt sich den Mund zu, obwohl sie nun ebenfalls kichern musste. So ungeschickt hatte sie sich ja noch nie beim Streitschlichten angestellt! Sie probierte einen neuerlichen Ausfallschritt zur Seite, denn die Konfrontation war ja offenbar vorbei.

„Sie wollen schon gehen?“, fragte er sogleich mit tiefer Stimme und einem Glitzern in den Augen, das plötzlich interessant wirkte und so gar nicht zu den kleinen Pupillen passte.

„Äh, wieso? Wollen Sie noch weiter streiten?“, fragte Emmi ehrlich erstaunt und mit solch großen Augen, dass sie einen neuen Lachanfall bei ihm provozierte.

„Also wirklich. Es gehört schon eine Menge dazu, derart frech zu kommen und mich trotzdem zum Lachen zu bringen“, meinte er und schüttelte leicht den Kopf. „Aber Ihre Beschimpfungen will ich mal nicht so ernst nehmen“, ergänzte er mit einem Lächeln, das Bezug nahm auf viel vinho tinto. Er schob offensichtlich alles auf den Wein und damit auf Emmi. Aber gerade als sie etwas darauf erwidern wollte, mahnte er mit einer milden Handbewegung zur Ruhe.

„Schon gut. Ich mache ja Platz. Also dann ... auf Wiedersehen, würde ich sagen“ Damit verneigte er sich spöttisch und ging einen Schritt zur Seite. Emmis spontaner Impuls wäre ein „Auf Nimmerwiedersehen“ gewesen, doch sein Blick hielt sie davon ab. Nicht weil er so streng war, sondern im Gegenteil, so freundlich! Das war schon sehr ungewöhnlich. Aber womöglich war es ja ein halbwegs gut gelungener Abschluss für ein ständiges Hickhack zwischen zwei Menschen, die sowieso nichts miteinander zu schaffen hatten.

Mit einem schlichten Nicken ging sie daher an ihm vorbei, meinte aber noch lange seinen bohrenden Blick in ihrem Rücken zu spüren.

Was für ein seltsamer Mann! Und wie sehr er ihren Kampfgeist anzusprechen wusste! Das charmante Lachen war freilich eine ziemliche Überraschung gewesen, aber davor kannte der Mann nur Arroganz und Wut. Außerdem hatte er etwas Unheimliches an sich, das sie nicht in Worte fassen und noch weniger begreifen konnte.


5. Kapitel

In der Zeit um Mitternacht wurde Emmeline von einem Geräusch an der Tür geweckt. Jemand versuchte ganz klar in ihr Zimmer einzubrechen.

Mit einem Satz war sie aus den Federn und schnappte sich ihre Taschenlampe vom Nachttisch. Die hatte sie immer dabei, weil sie so gut wie nachtblind war und die grelle Zimmerbeleuchtung in Hotels nicht ausstehen konnte. Wie eine Waffe hielt sie das klobige Ding nun in der Hand und schlich sich damit zur Tür.

Als diese aufsprang und grelles Licht sie blendete, wollte sie im ersten Moment mit der riesigen Taschenlampe zuschlagen. Doch ein Mann wich erschrocken zurück und schrie ein lautes „Zimmerservice!“ zu seiner Verteidigung.

„Was?“, blaffte Emmi und sah dabei so grimmig und zugleich verdutzt aus, dass der Kellner sich ein dezentes Grinsen nicht verkneifen konnte. Emmi, mit Taschenlampe als Waffe, dunkelgrünem Seidennachthemd und einer unglaublichen Strubbelfrisur war sicher ein Anblick für sich.

„Wie kommen Sie dazu ohne Anklopfen hier einzudringen?“, fragte sie etwas leiser, obwohl ihr Puls immer noch raste. So ein Schreck ließ sich eben nicht gleich so mir nichts dir nichts vom Tisch wischen. Die Taschenlampe senkte sie trotzdem und auch ihr Haar brachte sie schnell in Ordnung.

„Nun, Sie haben uns doch angerufen“, antwortete der Kellner trocken.

„Hä?“

„Vor genau 12 Minuten kam ein Anruf aus ihrem Zimmer mit einer Bestellung für Champagner und Erdbeeren.“

„Was? Aus meinem Zimmer? Das muss ein Irrtum sein!“

„Nein, tut mir leid. Unser Computer druckt die Zimmernummer immer automatisch aus. Es wurde eindeutig aus ihrem Zimmer angerufen. Sehen Sie ... hier ... Zimmernummer 53!“ Mit einem Lächeln überreichte er Emmi das Stück Papier auf dem tatsächlich ihr Zimmer und sogar die entsprechende Anrufzeit stand. Natürlich konnte das irgendein Wisch aus irgendeinem Computer sein, aber er sah eigentlich korrekt aus. Also dachte Emmi kurz nach wo der Fehler liegen könnte und guckte auf das Schild ihrer Türe. Doch auch dort stand die richtige Zahl in goldenen Ziffern – Nummer 53!

„Der Mann hat außerdem um Diskretion gebeten, daher habe ich nicht geklopft.“

„Der MANN?“, kreischte Emmi und scherte sich nicht mehr um die Nummer ihres Zimmers, schließlich konnte ja auch ein Eindringling tatsächlich von ihrem Zimmer aus angerufen haben. Alleine die Vorstellung machte ihr schon Angst und sie hatte das massive Bedürfnis das Licht anzudrehen, zurück ins Bett zu springen, nach einer geeigneteren Waffe zu suchen und sich in ihrer Decke einzuwickeln. Am besten alles auf einmal. Das Licht aber war das Einzige, was sie tatsächlich aktivierte und das auch nur, um zurück in ihr Zimmer zu blicken. Entweder lag hier ein dummer Computerfehler vor oder jemand hatte sich heimlich in ihr Zimmer geschlichen. Und Champagner bestellt? Wie blöd war das denn? Der gedankliche Einwurf war nicht von der Hand zu weisen, aber ihr Herz raste dennoch. Hektisch stierte sie in dem kleinen Vorraum umher, während der Kellner sich erstmals fragte, ob die gute Frau ein paar Schrauben locker hatte. Zu sehen war jedenfalls niemand, außer den beiden. Emmeline aber wollte sicher gehen und weil sie keine Lust hatte alle Räumlichkeiten alleine zu durchsuchen, forderte sie den Kellner energisch auf, ihr zu folgen. Zuerst zog sie ihn ins Bad und fand dort ... nichts, außer der üblichen Unordnung, zu der sie nun einmal neigte. Danach zerrte sie den verdutzten Mann weiter und forderte ihn auf, hinter alle Vorhänge und in den Kasten zu sehen. Doch auch hier fand sich keine Spur eines Eindringlings oder gar eines nächtlichen Techtelmechtels.

Vielleicht hatte ja ein bösartiger Schlaumeier den Hotelcomputer manipuliert, um den Gästen mitternächtliche Streiche zu spielen? Möglich war alles und ihre Gedanken automatisch beim freundlich lächelnden Mr. Finster, der ihr zwar auf die Nerven ging, letztendlich aber auch nicht für alles verantwortlich gemacht werden konnte.

„Ich habe nichts bestellt und, wie sie sehen können, ist hier auch kein Mann“, stellte Emmi nun hoch erhobenen Hauptes fest, obwohl ein kleiner Teil ihres Wesens sich auch dafür schämte, weil es so wirkte, als hätte sie keinen abbekommen.

„Entschuldigen Sie Madame, dann muss wohl doch ein Irrtum vorliegen“, antwortete der Kellner höflich, weil er Profi war und schon genug seltsame Gäste erlebt hatte.

„Gute Nacht!“, zischte Emmi, schob ihn hinaus, schloss die Türe sorgfältig und lehnte sich erschöpft gegen das massive Holz.

An Einschlafen war jedoch nicht mehr zu denken. Dafür hatte sie der Vorfall zu sehr verstört. Außerdem kam sie erst jetzt auf die glorreiche Idee auch unter dem Bett nachzusehen, obwohl der Spalt für einen Mensch eigentlich zu schmal war. Alleine der Gedanke an solch eine Möglichkeit war jedoch Grund genug, sich erneut mit der Taschenlampe zu bewaffnen und aus einiger Entfernung auf den Boden zu schmeißen.

Sie leuchtete in den schmalen Schlitz und … sah vorerst einmal nur den üblichen Lurch. Dann aber erfasste der Lichtstrahl etwas unerwartet Großes und eine plötzliche Bewegung. Vor lauter Schreck fuhr Emmi zusammen und fuchtelte mit der Taschenlampe genau in diese Richtung. Es war nur ein kurzer Moment, aber der genügte, um etwas rot Glühendes und auch so etwas wie Augen erkennen zu lassen.

WAS?

Der Schock fuhr Emmi mit aller Gewalt durch den Körper, ließ sie aufschreien und noch in Bauchlage soweit sie konnte vom Bett fortrutschen. Wie ein schlüpfriges Reptil wand sie sich am Boden und kroch rückwärts bis zur Mauer. Nur viel schneller, hektischer. Dort stieß sie dann mit ihren Zehen hart an, verschwendete aber keine Zeit für den Schmerz, sondern nur auf den Versuch, in die Höhe zu kommen. Die Panik machte es ihr nicht leicht. Zuerst stieß sie den kleinen Tisch zu ihrer Rechten um, dann stieg sie sich selbst aufs Nachthemd und drohte der Länge nach hinzufallen. Doch als ein lautes Knurren unter dem Bett hervorgrollte, fand sie wie durch Zauberhand ihr Gleichgewicht wieder, rappelte sich in die Höhe und lief vorwärts. EINFACH NUR VORWÄRTS, war die Devise. Schneller und immer schneller hastete sie zum Bad, wo die Türe offenstand und sie letztendlich mit einem kühnen Hechtsprung im Inneren landete.

Danach knallte sie die Türe zu und sperrte ab.

Was für ein Albtraum! Am ganzen Körper zitternd und schwer atmend lehnte sie sich gegen die kalten Fliesen und stierte auf die dünne Tür. Der lächerlich kleine Badezimmerriegel, der so schön von Weiß auf Rot springen konnte und eigentlich nur für etwas Intimsphäre beim Pinkeln gedacht war, würde jeden Moment über Leben oder Tod entscheiden. Denn, dass es um ihr Leben ging, wusste sie, seit sie in diese grässlich roten Augen ohne jeden Hauch von Menschlichkeit gesehen hatte.

Herrgott! Wie war so etwas nur möglich? Kein normaler Mensch konnte sich in den schmalen Zwischenraum unter ihr Bett zwängen, kein größeres Tier unauffällig und über längere Zeit in einem Hotelzimmer einnisten. Außerdem hatten Ratten nicht solch infernalische Augen.

Etwas kratzte an der Tür, knurrte. Emmeline zuckte zusammen, löste sich aus ihrer Erstarrung und stolperte ein paar Schritte nach hinten zur Toilette. Sie schrie laut um Hilfe und fragte sich, warum sie das nicht schon längst getan hatte. Das Knurren wurde bösartiger und sie wusste nichts Besseres, als weiter zu schreien. Was hätte sie auch sonst tun können?

Duschen vielleicht? Sie war immerhin panisch und saß in einer Falle ohne Fenster, Hintertür oder doppelten Boden. In diesem Bad konnte sie weder vor noch zurück und nur darauf hoffen, dass die Tür hielt, das Schloss nicht brach. In ihrer Angst hatte sie automatisch die offene Badetür gewählt und nicht die Zimmertür, die sie nie im Leben so schnell hätte entriegeln können.

Ein weiteres Schaben am Holz trieb ihr den kalten Schweiß auf die Stirn, ließ ihre Hände zittern und die Taschenlampe verräterisch klappern. Außer sich vor Angst stieg sie auf die geschlossene Toilette und hockte sich darauf, als wäre der Boden nicht fest genug und würde sie jeden Moment verschlingen. Die Klinke wurde von außen ein paar Mal heftig nach unten gedrückt und an der Tür gerüttelt. Emmi schrie aus Leibeskräften weiter um Hilfe und wirkte dabei wie ein Roboter mit Systemcrash, gefangen in einer Dauerschleife aus seltsamen Kreischlauten. Die Taschenlampe hielt sie wie eine Pistole und wartete darauf, dass das Holz der Türe jeden Moment splittern würde.

„Verschwinde oder ich rufe die Polizei!“, brüllte sie in ihrer Verzweiflung, obwohl die Lüge klar herauszuhören war und niemand ein Telefon am Klo oder in der Dusche hatte. Sie schluchzte und erstickte beinahe an dem gurgelnden Laut, der sich aus ihrer Kehle quälte. Das Beben an der Tür wurde indessen leiser, das Knurren dafür lauter. Allem Anschein nach schien das Monster nun an der Klinke zu schnüffeln und womöglich sogar daran zu lecken. Emmi hörte es laut schmatzen. Vor lauter Ekel musste sie eine Hand von der Taschenlampe lösen und auf ihren Mund pressen. In ein paar Sekunden würde dieses Vieh sie mit Haut und Haaren fressen und niemand, absolut niemand würde ihr helfen.

Trotzdem gab sie nicht auf, schrie immer wieder um Hilfe und hoffte einfach, dass endlich jemand in diesem – Gott verdammten – Hotel reagieren würde.

Heftiges Klopfen an ihrer Zimmertüre rüttelte sie irgendwann aus der Dauerschleife ihrer Hilfeschreie, obwohl automatisiertes Kreischen nicht so leicht abzustellen war. Das Knurren und die Schmatzlaute waren verstummt, oder so leise geworden, dass sie all das nun nicht mehr hörte. Wieder klopfte es – lauter, eindringlicher – und dennoch auf eine Art, die ‚zivilisiert‘ klang und an einen Menschen erinnerte. Emmis Hoffnung wuchs und als ein klackendes Geräusch an ihrer Zimmertüre bestätigte, dass sich jemand Zutritt verschaffte, hätte sie am liebsten laut gejubelt. Doch dazu war sie noch nicht in der Lage.

„Ich bin im Bad!“, heulte sie stattdessen und schluchzte, weil sie immer noch Angst hatte und hoffte, dass das Monster sich nun nicht ihren Retter vorknöpfen würde. Sie ahnte zwar, dass es vorbei war, konnte sich aber immer noch nicht bewegen. Außerdem wäre sie nicht um alles Geld der Welt freiwillig aus dem Bad herausgekommen.

„Geht es Ihnen gut, Madame? Warten Sie, ich öffne die Türe! Gleich bin ich bei Ihnen!“, sagte jemand mit jugendlicher Stimme, die Emmi an den Kellner von vorhin erinnerte.

„Bitte, passen Sie auf!“, weinte Emmi und wollte noch hinzufügen, dass sich womöglich ein Einbrecher, eine Bestie oder ein Mörder im Zimmer befand. Aber irgendwie versagte ihr die Stimme, hielten ihre Nerven eine längere Erklärung einfach nicht aus. Der Kellner fackelte sowieso nicht lange herum und öffnete mit einem Generalschlüssel die Badezimmertür.

Der Anblick, der sich ihm bot, war erschreckend. Die junge Frau hockte wie ein verletztes Tier auf dem Klodeckel, hatte eine riesige Taschenlampe in ihrer Hand und wirkte so verstört, als hätte sie gerade eine Horde Geister gesehen oder vielleicht auch nur eine kleine Maus. Wer wusste schon, warum Frauen mitten in der Nacht hysterisch wurden, obwohl sie keinen Lover hatten? Aber der Grund konnte dem jungen Mann auch egal sein, denn diese Frau war Gast des Hotels und brauchte offensichtlich Betreuung.

„Was ist denn nur passiert? Geht es Ihnen gut? Haben Sie Medikamente genommen? Soll ich einen Arzt rufen?“ Frederico, so hieß er, stellte viel zu viele Fragen auf einmal, schaffte aber zumindest ein paar beruhigende Handbewegungen, wie man sie bei aufgescheuchten Tieren meist machte. Und das zeigte Wirkung, denn die Frau blickte endlich hoch und löste sich aus ihrer Erstarrung.


6. Kapitel

Emmeline bekam ein neues Zimmer. Durch den Aufruhr, den sie verursacht hatte war auch noch der Hotelmanager samt Assistentin erschienen. Wobei für jeden ersichtlich gewesen war, dass die beiden gerade aus dem gemeinsamen Bett geholt worden waren.

Manager, Assistentin und Frederico fanden keinen Eindringling und auch keine Spur von Ratten. Das Zimmer war genau so wie es sein sollte und die Eingangstüre unversehrt und ohne Spuren eines Einbruchs. Da auch das Fenster durch den Luftschacht nicht wirklich zugängig war, glaubten alle drei alsbald an überreizte Nerven und einen schlechten Traum.

Der Höflichkeit halber und weil Emmi erneut drohte das ganze Hotel zusammenzuschreien, erhielt sie dennoch ein neues Zimmer einen Stock höher. Die leichten Kratzspuren an der Badezimmertür wurden im Trubel des Umzugs übersehen und wären sowieso erst bei Tageslicht und genauerer Prüfung der Maserung zu erkennen gewesen. Niemand ahnte und niemand erkannte etwas. Alle waren sich einig, dass die Dame überspannt und überarbeitet war. Selbst Emmeline kamen Zweifel an der Richtigkeit ihres Erlebnisses. Es klang ja auch verrückt und am ehesten noch wie ein Traum. Allerdings nach einem Traum, der extrem real gewirkt hatte.

Aber nun war sie in Sicherheit und ihr neues Zimmer kein Vergleich zum alten! Es war schön, lag mindestens eine Preiskategorie höher und hatte einen herrlichen Ausblick auf Lissabon. Es war immer noch mitten in der Nacht und sie war drei netten Menschen gehörig auf die Nerven gegangen, aber alleine für das Zimmer hatte sich die ganze Aktion schon ausgezahlt. Der Bettrahmen reichte bis zum Boden und ließ keinen Spalt für Getier oder Begegnungen anderer Art zu. Dazu waren die Räumlichkeiten vom Personal demonstrativ kontrolliert und das Fenster erst gar nicht geöffnet worden.

Am nächsten Morgen werde ich mich erkenntlich zeigen. ... dachte sie noch zufrieden, ehe sie sich in ihr neues Bettchen kuschelte und sofort in einen tiefen, intensiven Traum versank. Dieser hatte wunderlicher Weise nichts mit rotglühenden Augen oder bösen Nagern unter dem Bett zu tun, sondern öffnete für Emmi eine neue Dimension des Träumens. Auch sollte er lediglich der Auftakt sein zu einer ganzen Reihe von sonderbaren Schlaferlebnissen.

Es war gar nicht so leicht all die Krieger ordentlich zu binden. Manche machten es mir absichtlich schwer, andere wiederum waren zu stark verletzt, als dass ich sie mühelos hätte fesseln können. Insgeheim verfluchte ich meinen Bruder für sein Vorgehen und dafür, dass ich diese entwürdigende Arbeit verrichten musste. Entwürdigend sowohl für mich, als auch für all die tapferen Krieger der Gegenseite. Von einer Frau gebunden zu werden war eine nicht zu unterschätzende Schmach. Zehn der besiegten Krieger waren noch an der Reihe und allmählich konnte ich die starren, von Hass erfüllten Blicke nicht mehr ertragen. Ich wollte nicht zimperlich sein, auch nicht kneifen und doch hätte ich am liebsten kehrtgemacht und mir den Rest erspart. Es waren nicht nur riesige Kerle, sondern zum Teil noch richtige Kinder, die hier auf ihre Gefangenschaft oder ihren Tod warteten. Doch auch die waren gefährlich und unberechenbar. Blutverschmiert, verletzt oder nicht, Kind oder Mann ... sie alle konnten noch im Kriegerwahn gefangen sein und wie Bestien reagieren. Schaum vorm Mund war meist nicht zu sehen, aber ihre gehetzten Blicke zeigten einen Irrsinn, der Spiegel ihres Grauens war – egal, ob sie ihn durch andere erlebt oder selbst angerichtet hatten.

Kopfschüttelnd wankte ich von einem Verletzten zum nächsten, war verstummt und betroffen über das Ausmaß und den Wahnsinn des Krieges. Das Elend nach einer Schlacht drückte mir jedes Mal die Luft ab, ließ mich verbittern, selbst auf unserer Seite ... der Siegerseite.

Vorsichtig legte ich die blutigen Hände des nächsten Mannes frei, um sie mit einem Lederriemen fest zu binden. Überall auf seinem Körper war Blut, aber es war nicht erkennbar, ob es seines oder das vieler anderer war. Es spielte auch keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle für diesen Mann, denn er wirkte bereits leblos, wie im geistigen Tiefschlaf. Kein Ton kam aus seinem Mund, kein Begreifen meiner Handlung war zu erkennen. Die meisten dieser Kriegsgefangenen schienen mit ihren Gedanken weit, weit fort. Als wären sie vor langer Zeit aus ihren Körpern vertrieben worden und in die Weite des Himmels entschwunden.

Aber auch ich stand wie neben mir und hätte alles dafür gegeben ebenfalls entfliehen und vergessen zu können. Stattdessen kämpfte ich mich weiter, zurrte und zog, band und verknotete.

Leder schnitt den Opfern ins Fleisch, brennende Augen dafür tief in meine Seele. Schritt für Schritt ging ich weiter, funktionierte wie eine Marionette und fühlte mich leblos und ausgelaugt. Aber ich biss immer wieder die Zähne zusammen, arbeitete mich vor und stolperte so von einem besiegten Krieger zum nächsten.


7. Kapitel

Emmeline erwachte durch den Weckruf, den sie am Vorabend bestellt hatte und der – wie durch ein Wunder – tatsächlich ins neue Zimmer umgeleitet worden war. Die Professionalität der Hotelangestellten war eine Wohltat und Emmi nahm sich erneut vor, sich erkenntlich zu zeigen. Zuerst aber wollte sie das Zimmer genießen und den neuen Ausblick. Sie öffnete das Fenster und staunte. Lissabon war herrlich und wenn sie die Nase weit genug hinausstreckte, konnte sie sogar das Meer riechen. Der Atlantik war in ihrer Erinnerung stets ein wenig stürmisch, wirkte dadurch aber viel „lebendiger“ als das lahme Mittelmeer. Einen Ausflug zur Algarve, dem südlichsten Landstrichs Portugals, konnte Emmi sich dennoch nicht leisten. Ihre Arbeit war vorrangig und die Vorgaben ihres Opas zu strikt und zeitlich begrenzt. Aber sie nahm sich vor, noch einmal dieses wunderbare Land zu bereisen und nichts anderes zu tun, als zu urlauben und zu relaxen. Durch Prospekte und Reiseführer wusste sie von den ungewöhnlichen Gesteinsformationen der Algarve ebenso wie von den versteckten, wunderschönen Stränden dazwischen. Überhaupt schien ihr das ganze Land wie geeignet für einen ausgiebigen Individualurlaub.

Im Bad reinigte sie sich dann das Gesicht, kämmte ihr widerspenstiges Haar und legte sogar ein wenig Make-up auf, um frisch und gepflegt auszusehen ... vor allem aber, um dem Ruf des überspannten Frauenzimmers entgegenzuwirken, den sie sich heute Nacht sicherlich eingehandelt hatte.

Mysteriöse Anrufe um Mitternacht, rotglühende Augen und flachgedrückte Menschen unter Betten waren aber auch harter Tobak. Selbst sie wollte nicht mehr in Erwägung ziehen, dass es wirklich passiert war und schob die Erinnerung ganz weit in den Hintergrund ihres Bewusstseins. Sie wollte sich dieser Angst nicht stellen. Viel einfacher war es zu verdrängen, sich adrett herauszuputzen und für den herrlichen Zimmerwechsel zu bedanken, der auf Kosten des Hotels stattgefunden hatte. Dieses Entgegenkommen war ausgesprochen nett gewesen, aber vor allem auch verständlich, denn schließlich wollten sie alle ihre Ruhe haben.

Emmeline grinste verwegen. Nie im Leben hätte sie gedacht, einmal so auffällig zu werden und ein ganzes Hotel zusammenzuschreien.

Als sie sich die Hände wusch, blieb ihr Blick plötzlich wie unter Zwang an ihren Fingernägeln haften. Sie hatte schlanke, sehr weibliche Finger mit gepflegten Nägeln und wunderte sich, einen Moment das Bild von rissiger Haut und Schmutz darauf gesehen zu haben. Nachdenklich hielt Emmi in der Bewegung inne und betrachtete ihre Hände genauer. Da war kein Schmutz und ihre Haut war zart wie immer.

Wirklich? ... dachte sie plötzlich und stierte erneut auf ihre Hände. Etwas daran erinnerte sie an eine Begebenheit in der heutigen Nacht, aber nicht etwa an einen Eindringling oder eine rotglühenden Horrorversion, sondern an eine Situation aus einer anderen Zeit. Schnell schüttelte sie die Tropfen von ihrer Hand ab, betrachtete ihre Finger und konzentrierte sich. Erste Bruchstücke des Traums fielen ihr wieder ein und prägten sich in ihr Gedächtnis. Bilder blitzten wie Kurzfilme vor ihrem geistigen Auge auf und brachten die damit verbundenen Gefühle wieder: Scham, Trauer, Leere und furchtbare Hilflosigkeit. Der Traum war völlig anders gewesen, als alles, was sie bisher geträumt hatte, weil es sich so echt angefühlt hatte. Wie eine Zeitreise zu einem anderen Ich.

Überrascht blickte Emmi auf, betrachtete sich im Spiegel und konnte sich plötzlich wieder an alles erinnern. Sie hatte sich selbst in einem fremden Körper gesehen, wie sie Verletzte gebunden und gefangen genommen hatte. Sie war ein Todesengel gewesen auf einem blutigen Schlachtfeld, hatte ihre schwarzen Schwingen ausgebreitet und geschundene Kreaturen mit ihrer Handlung dem Tode geweiht. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Der Traum war beängstigend gewesen und auch enttäuschend, weil sie ihre eigene Rücksichtslosigkeit zu spüren bekommen hatte. Wie durch einen Spiegel hatte sie gesehen ... gerade so wie eben jetzt, in diesem Badezimmer.

Der Vergleich brachte sie wieder in die Gegenwart zurück. Dieser Traum ging ihr plötzlich ziemlich auf die Nerven. Außerdem fragte sie sich, warum sich seit ihrer Ankunft in diesem Land so derart viele Ungewöhnlichkeiten häuften. Ihr Leben war sonst nicht gerade durchpflügt von sensationellen Ereignissen oder seltsamen Vorkommnissen. In Wirklichkeit liebte sie die Ruhe und das Gemütliche, was ihren Großvater stets zu Monologen über das Leben und den erlahmenden Lebensfluss animiert hatte. Hier in Lissabon aber schien alles anders, denn von ihrem normalen Leben konnte nicht die Rede sein! Seit dieser Reise schien alles irgendwie Kopf zu stehen. Zuerst der Beinahe-Absturz mit dem Flugzeug und die grässliche Konfrontation mit dem finsteren Vordermann, danach der reinste Horror in Zimmer 53 und schließlich noch eine Art Zeitreise per Traum. Mehr an seltsamen Vorkommnissen in solch kurzer Zeit konnte sie sich wahrlich nicht vorstellen. Entweder lag das alles am Land selbst oder an ihrem Auftrag zur magischen Felim-Maske. Falls die Gerüchte nämlich stimmten und diese Maske tatsächlich ein magisches Wunderding war, hatte Emmi vielleicht alleine schon durch ihr Interesse, ihren magischen Wirkungsbereich berührt.

Beim Frühstück gesellte sich ein junger Mann zu ihr an den Tisch. Genau wie sie hatte er eine ganze Ladung leckerer Würstchen aufgeladen und grinste sie deswegen verwegen an. Seine grünen Augen leuchteten voller Vorfreude auf das köstliche Mahl.

„Ja, ja die Würstchen! Haben Sie sie auch schon entdeckt?“, scherzte Emmi auf Deutsch, weil sie davon ausging, dass der junge Mann sie verstehen konnte. Zumindest stand auf seinem lila T-Shirt „Ich bin lässig und cool ... und manchmal ziemlich schwul.“ Emmi musste leise kichern, versuchte das aber mit einer Portion Eierspeise zu übertünchen. Was weniger genial war und natürlich in einem Hustenanfall endete. Ein Teil der Eierspeise landete auf dem Tischtuch.

„Soll ich klopfen?“, fragte der Mann und grinste, weil er genau wusste, worüber sie lachte. Schnell schubberte sie die Eierreste vom Tisch und ließ sie dezent zu Boden fallen. Mit reiner Willenskraft versuchte sie dann die rote Farbe aus ihren Wangen zu verdrängen.

„Danke ... äh ... nein! Ich bin nur etwas ungeschickt“, erwiderte Emmi mit leicht tränenden Augen, klopfte sich aber selbst mit der Faust fest aufs Brustbein.

„Mein T-Shirt hat Sie wohl erheitert?“, lachte der junge Mann und strahlte dabei übers ganze Gesicht. „Ich heiße übrigens Markus und Du? Ich darf doch DU sagen, odrrr?“, meinte er und ahmte gekonnt einen Schweizer Dialekt nach. Die Hand, die er ihr reichte, nahm sie gerne entgegen und drückte zu.

„Ja, klar! Ich bin Emmeline. Hallo!“, meinte sie und musste grinsen – dieses Mal wenigstens ohne Eierspeisenbeteiligung.

„Hallo! Emmeline ... ungewöhnlicher Name, hm?“

„Ja, nein ... äh, wieso?“

„In Bayern haben wir den noch nie gehört“, antwortete er und stopfte sich drei der kleinen Würstchen auf einmal in den Mund.

Ein Bayer! Ja, so etwas! Emmi war richtig angetan, weil sie diesen Menschenschlag besonders mochte. Die Menge der Würstchen in seinem Mund war aber fast noch beeindruckender.

„Wow, wo hast du DAS denn gelernt?“, fragte sie ehrlich verblüfft, weil er es tatsächlich schaffte, diese Menge auch zu kauen.

„Fei Astefix und Obefix!“, erwiderte er kaum verständlich und Emmi zuckte mit den Augenbrauen.

„Ja, klar! Scherzkeks!“

„Yes, das bin ich wohl“, grinste er und stopfte sich einen weitere überdimensionale Würstchenmenge auf die Gabel.

„Na, süß bist du ja“, kicherte Emmi und dachte dabei sowohl an Scherzkeks, als auch an die Aussage auf seinem T-Shirt. Markus begriff sofort.

„Ha! Der war gut! Kommst Du aus Bayern?“, fragte er, weil er diese Art des Humors offenbar nur aus seiner Gegend kannte.

„Nein, aus Österreich. Ich recherchiere hier für meinen Großvater.“

„Was denn? Vielleicht kann ich Dir helfen.“

„Och, das glaube ich nicht. Es geht um eine uralte Liebesgeschichte von einer Prinzessin und einem unwürdigen Geliebten, der deswegen getötet wurde.“

„Unwürdig? Ach, immer der gleiche Mist! Und was hat das arme Mädchen gemacht?“, fragte er ehrlich interessiert und Emmi kombinierte, dass dieser Mann wohl wirklich Liebesgeschichten mochte.

„Sie hat sich zu helfen gewusst. Zumindest besagt eine Legende, dass sie eine magische Maske aus Nephrit anfertigen ließ. Eine, die selbst Tote zum Leben erwecken konnte.“

„Kein Scheiß?“, fragte er und nahm einen kräftigen Schluck vom Kaffee, obwohl er noch ein paar Würstchen im Mund hatte.

„Nun ja, es ist vermutlich nur eine Legende. Aber wie es aussieht, hat diese wunderschöne Prinzessin zumindest versucht ihren Geliebten wieder zurückzuholen. Ob das wirklich geklappt hat, kann ich leider nicht sagen. Tatsache ist aber, dass die Maske fertiggestellt wurde und diese Prinzessin kurz darauf verschwunden ist ... samt Leichnam ihres Geliebten.“

„Oh, wie romantisch! Warum gibt es solche wunderbaren Geschichten nie über zwei verliebte Männer?“, fragte er und Emmi zog überrascht eine Augenbraue in die Höhe.

„Romantisch? Das ist nicht dein Ernst, oder? Wenn dieser ganze Hokuspokus tatsächlich geklappt hat, dann wurde ein Zombie ins Leben gerufen. Anders geht das wohl nicht mit dem Zurückholen aus dem Totenreich. Das Schicksal kann man nicht betrügen, dessen bin ich mir sicher und Seelen gibt es nicht im Sommerschlussverkauf.“ Emmi machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck Kaffee. Dabei ließ sie ihren neuen Tischnachbarn nicht aus den Augen, weil der förmlich an ihren Lippen hing.

„Für den Fall, dass der Zauber aber nicht geklappt hat ...“, fuhr sie fort und spießte ebenfalls einen Teil ihres Würstchens auf die Gabel. „... dann hat die schöne Prinzessin lediglich eine Menge Geld ausgegeben und ist mit einer stinkenden Leiche abgehauen. Auch nicht gerade das Gelbe vom Ei!“, meinte sie und wackelte dabei so heftig mit der Gabel, dass das Würstchen bedenklich zu schwingen begann, ehe es doch noch in Emmis Mund landete. Markus musste grinsen, weil er das Gefühl hatte, sich gerade mit einem Würstchen unterhalten zu haben.

„Dritte Möglichkeit wäre auch, dass der Zauber voll nach hinten losgegangen und die königliche Holde gleich einmal ins Reich der Toten geschleudert worden ist. Schönheit hin oder her! Zwei Leichen bleiben zwei Leichen – egal, ob Liebe im Spiel war oder nicht. Bist du immer noch sicher, dass du DAS mit zwei Männern spannender finden würdest?“

„Mein Gott ...“

„Was?“

„Du bist ja so was von unromantisch!“, erwiderte Markus ernst, obwohl sein Blick längst nicht mehr auf Emmi gerichtet war. Er hatte ihren Schlussfolgerungen zwar zugehört, aber seit geraumer Zeit seine Aufmerksamkeit auf jemand anderen gerichtet. Da er aber gar so verträumt zum Buffet stierte, ging Emmi davon aus, dass ein neuer Topf mit Würstchen gebracht worden war.

„Mein Gott. ...“, wiederholte Markus, wenn auch deutlich ehrfürchtiger als zuvor. Und das war dann der Moment, wo Emmi sich ebenfalls umdrehte und seinem Blick folgte. Als sie aber sah, um wen es drehte, zuckte sie innerlich zurück.

„Himmel, der schon wieder!“, rief sie eine Spur zu laut und vergrub sofort die Nase in ihrem Teller.

„Du kennst ihn? Wer ist er? Ich hoffe er wohnt in meinem Stock. Mann ... der Typ ist ein Gott.“

Was? Ein Gott?“ Vollkommen verdattert blickte Emmi ihr Gegenüber an, weil der süße Markus offenbar Fieber hatte oder schlicht unter Geschmacksverwirrung litt.

„Gott der Finsternis, vielleicht“, unkte sie bissig und stocherte dabei wild in ihrem Teller herum.

„Hey, was ist los mit dir? Hattest Du etwa eine unangenehme Begegnung mit ihm?“

„Eine?“

„Weißt du wie er heißt?“

„Na, mit Sicherheit nicht!“, brummelte sie mürrisch, als Markus plötzlich noch aufgeregter wurde und hinter sie starrte, während Emmis Nackenhaare sich aufstellten.

„Darf ich mich vielleicht vorstellen?“, ertönte es dann auch schon prompt hinter ihr und sie zuckte sichtlich zusammen. Der glasig verträumte Blick von Markus bestätigte, dass der dunkle Typ aus dem Flugzeug doch tatsächlich zu ihnen herübergekommen war.

„Aron Jäger, sehr erfreut.“

„Markus Schenker, ebenfalls seeehr erfreut!“, erwiderte ihr neuer Tischnachbar, der wie ein Pfitschipfeil aufsprang, um Mr. Finster seine Hand entgegen zu schleudern. Seine euphorische Faszination und die übertriebene Reaktion waren für Emmi nicht nachvollziehbar, vielmehr noch der Beweis, dass alle hier verrückt waren. Seufzend schloss sie die Augen und betete, augenblicklich in ihrem Zimmer aufzuwachen und nichts von alledem mitzubekommen.

„Und das ist Emmeline, meine Tischnachbarin! Sie recherchiert hier in Lissabon über eine sehr alte Liebesgeschichte.“

Wie bitte? Emmeline glaubte sich verhört zu haben. Ihr süßer Tischnachbar war im totalen Endorphinrausch zu einem richtigen Plauderäffchen geworden. In solch kurzer Zeit derart viele Informationen über jemand anderen auszuplaudern, war schon eine Gabe. Keine schöne, aber immerhin eine Gabe. Emmi blieb also nichts anderes übrig, als die Augen wieder zu öffnen und ebenfalls aufzustehen. Eigentlich hatte sie diesen Man nie wiedersehen wollen und nun reichte sie ihm sogar die Hand. Aron Jäger! Was für ein grässlicher Name! Zufrieden schenkte ihr der düstere Mann einen tiefen Blick aus fast schwarzen Augen.

„Emmeline. So, so! Sehr erfreut!“, meinte er und zerquetschte ihr beinahe die Hand. Unabsichtlich, vermutlich.

„Auch ... ich meine ... erfreut und so“, stotterte sie durcheinander und rieb sich die Finger nach dem festen Händedruck. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er woanders quetschen sollte, aber ein Teil von ihr wollte nicht schon wieder streiten. Und nachdem er nicht wirklich Schlimmes verbrochen oder gesagt hatte, begann sie allmählich die Situation lockerer zu sehen. Sollte er doch ihren Namen wissen! Was war schon großartig dabei? Solange sie ihn nicht in ihr Zimmer einlud war sie sicher vor ihm.

Nicht einladen? Sicher vor ihm? Der Gedankengang wurde ihr allmählich bewusst und verwunderte sie, weil er sie an alte Grusel- und Vampirgeschichten erinnerte. Aber Emmi hatte gelernt ihre innere Stimme nicht ganz zu ignorieren. Sie kam also zu dem Schluss, dass es für sie – aus welchem Grund auch immer – wichtig war, ihm keine Einladung auszusprechen.

Der Jäger lachte, zuerst in ihre Richtung, dann in die von Markus. Aber wenigstens bedrängte er sie nicht weiter.

„Es tut mir leid Sie hier zu stören, aber an der Rezeption hat mir die Dame gesagt, an welchem Tisch ich sie finden kann.“

„Miiiich?“, fragte Markus überrascht und presste seine rechte Hand gegen seinen Brustkorb als würde sein Herz vor Freude jubilieren ... was es vermutlich auch tat. Jeder konnte sehen, wie sehr er sich zu diesem Herrn Jäger hingezogen fühlte.

Armer Markus! Wie konnte er nur so verblendet sein? Dieser Mr. Finster war doch absolut kein Mann für süße Jungs, sondern eher der Typ, der Knaben zum Frühstück verspeiste – und das ganz ohne erotische Komponente. Emmi kicherte dumm in sich hinein. Für sie war der Fall klar: Aron Jäger brachte maximal Nackenhaare zum Stehen und nicht etwa ... aber der Gedankengang ging ihr zu weit. Den Störenfried Nummer Eins als Mann zu betrachten, war ihr bisher nicht in den Sinn gekommen und als Objekt der Begierde schon gar nicht.

Hoppla, was war das jetzt wieder?

Ein böses Lachen zischte düster durch ihren Kopf und machte sie stutzig.

Seit wann können eigene Gedanken ihre Stimme verstellen?

Am liebsten hätte sie ihren Kopf geschüttelt, eine Menge Kaffee getrunken oder mit der Gabel irgendwo laut dagegen geklopft. Irgendetwas stimmte hier nicht ... mit den anderen oder gar mit ihr. Sie hatte jedenfalls plötzlich das dumme Gefühl, nicht ihren eigenen Gedanken zu lauschen. Das böse Lachen verhallte zwar allmählich, hinterließ aber ein seltsames Gefühl.

„Sie verzeihen doch hoffentlich, Emmeline, wenn ich Ihnen Ihren neuen Freund entführe, aber wir haben etwas Geschäftliches zu erledigen“, unterbrach Herr Jäger Emmis Gedanken und grinste ihr kurz zu. Allem Anschein nach rechnete er aber nicht mit einer Antwort oder gar mit Widerspruch.

Schon wieder eine Entführung! ... brummelte Emmi im Stillen und dachte an ihre grässliche Taxifahrt mit ihm. Aron Jäger war schon ein eigenes Kapitel der einnehmenden Art. Immerhin hatte sie den jungen Bayern gerade erst kennenglernt und wäre vielleicht noch gerne mit ihm bei Tisch gesessen! Mit dem lustigen Würstchenkünstler und seinem noch lustigeren T-Shirt. Aber das war einem Aron Jäger natürlich egal.


8. Kapitel

„Sonst haben Sie nichts über diese Epoche?“, fragte Emmeline den Bibliothekar, weil die Ausbeute nicht gerade berauschend war. Ganze drei Bücher, die ihr Opa aufgeschrieben hatte, waren entweder verborgt oder verschwunden und das war schon eine kleine Misere.

Doch dann brachte ihr der schlanke Mann mit den elend langen Fingern ein Buch, das sofort Emmis Aufmerksamkeit erregte. Der dicke Wälzer wirkte uralt, obwohl er mit einem Kunststoffeinband versehen war, der das Leder darunter schützen sollte. „Mystizismus und Magie zur Zeit der Kreuzzüge“, lautete der Titel des Buches und hatte auf den ersten Blick nicht viel mit Emmis Suche zu tun. Auf den zweiten aber, hatten genau diese Kreuzzüge viele Schätze nach Europa gebracht, wenn auch nicht unbedingt aus Marokko. Aber Emmi hatte schon immer eine Faszination für Ritter verspürt und war Feuer und Flamme für das Werk. Sie bat um Ruhe, schwenkte das Tischlicht mehr zum Buch und begann zu blättern. Die Schrift war ungewöhnlich schwer zu lesen, doch Emmi kämpfte sich konzentriert von Seite zu Seite vorwärts.

Nach drei Stunden war sie jedoch so erschöpft, dass sie ihren Kopf ausruhen und abstützten wollte – nur für den Moment, versteht sich, und ohne wirklich die Augen zu schließen, doch ehe sie sich versah, … war sie auch schon eingeschlafen.

Leder schnitt den Opfern ins Fleisch, brennende Augen dafür tief in meine Seele. Schritt für Schritt ging ich weiter, funktionierte wie eine Marionette und fühlte mich leblos und ausgelaugt. Aber ich biss immer wieder die Zähne zusammen, arbeitete mich vor und stolperte so von einem besiegten Krieger zum nächsten.

Einer von ihnen lehnte erschöpft an einem Baum und hatte seine Hände derart hinter seinem Rücken verrenkt, dass ich mich auf seine Beine setzen musste um die Arme hervorzuziehen. Der Mann blutete aus mehreren Wunden am Kopf und schien auch am Brustkorb schwer verletzt zu sein. Trotzdem durfte ich nichts riskieren und blickte ihm unentwegt ins Gesicht, während ich versuchte seine Arme freizubekommen. Sie waren nicht gebrochen, nur eben seltsam verdreht. Mit einigem Rucken und Ziehen gelang es mir sie zu lösen und seine Hände am Handgelenk zusammenzubinden. Hände, kalt wie Eis und so geschunden, wie sie es bei jedem Krieger waren. Sie waren ungewöhnlich groß, schwielig und vollkommen verdreckt. Womit der Mann gekämpft hatte, konnte ich nicht sehen, denn es lag keine Waffe mehr in seiner Nähe. Aber irgendwann kämpften sie alle mit dem, was sie gerade greifen konnten und sei es nur der Dreck unter ihren Füßen. Das Kettenhemd hatte der einfache Bursche vermutlich im Laufe des Gefechtes von einer der Leichen gestohlen und gehofft, damit länger am Leben zu bleiben. Seinem bestialischen Gestank nach, hatte er sich entweder hier im Sitzen übergeben und gleichzeitig entleert oder aber eine Menge Unrat von anderen Opfern abbekommen. Trotz Kettenhemd blutete er stark aus einer Wunde an der Schulter und einmal mehr erschien mir der Befehl unsinnig einen sterbenden Mann binden zu müssen. Aber was war schon sinnvoll an einem Krieg? Ich musste trotzdem tun, was zu tun war, biss die Zähne zusammen und zog weiter an seinen Fesseln, um ihm seinen Bewegungsspielraum zu nehmen.

Ein kurzer Windhauch vertrieb den beißenden Gestank des Sterbenden, oder aber ich ertrug den Geruch einfach besser, hatte mich angepasst und stank ebenfalls erbärmlich. Bei dem ganzen Elend hier auf dem Schlachtfeld wurde das sowieso immer weniger wichtig. Das Weinen und Wehklagen erwachsener Männer war nach den vielen Stunden eine Tortur für meine Nerven und ich so erschöpft, dass ich nicht in der Lage war meine Ohren, meine Nase oder meinen Mund zu bedecken. Mein Tuch hatte ich irgendwann im eisigen Wind verloren ... sowie meinen Blick für Wichtiges.

Die Hände dieses Mannes erschienen mir mit einem Mal überdimensional groß und die Bürde des Bindens schwerer als bisher. Den starren Blick des Opfers konnte ich kaum ertragen. Wie bei den anderen war er leer und ohne Hoffnung. Lediglich der viele Schmutz in seinem Gesicht unterstrich das ungewöhnlich klare Blau darin.

Jemand rüttelte an Emmis Schultern.

„Hallo! Aufwachen!“, forderte der Bibliothekar unwirsch und rüttelte weiter. Emmi blinzelte und wunderte sich, dass sie überhaupt während der Arbeit eingeschlafen war. Selbst nach durchzechten Nächten war ihr das noch nie passiert.

„Schwäche ist der Tod jeder Disziplin“, hatte ihr Großvater ihr stets eingebläut und damit so einen richtig schönen Knaller fürs Leben mitgegeben. Manche seiner Dogmen konnte sie zumindest nicht mehr aus dem Kopf verbannen, waren wie eingebrannt. Seine Regeln funktionierten also in ihrem Gehirn weiter, als hätte er ihr einen Computerchip eingepflanzt, der vollgespeichert war mit seinen Wichtigkeiten.

Endlich hörte der lästige Kerl auf zu rütteln und ließ sie erst einmal zur Besinnung kommen. Verschlafen fuhr sich Emmi übers Gesicht.

Eingeschlafen! Und in den gleichen Traum abgetaucht! Wie ein Fernsehfilm nach einer Werbepause war er kurz zurückgespult worden und hatte danach mit der gleichen Handlung fortgesetzt. Auch dieses Mal war sie in diese andere Zeit getaucht und hatte ein fremdes Leben gelebt. Das Zurückspulen selbst verstand sie nicht, machte sie sogar ein wenig ärgerlich auf ihr Unterbewusstsein. Sequenzen doppelt zu sehen, war öde und nur für Idioten, die sich nicht mal nach einer kurzen Unterbrechung die Handlung merken konnten. Sie aber war keine Idiotin! Wieso also spulte ihr persönliches Sandmännchen zurück? Außerdem hatte sie noch nie davon gehört, dass Träume in ihrer Handlung einfach fortfahren konnten. Wiederholungen von Träumen waren ja bekannt, wenn ein Thema ganz besonders plagte, aber Serien? Hatte schon jemals jemand in Serien geträumt?

Müde gähnte sie und streckte sich, während der Bibliothekar ungeduldig neben ihr stand und ein finsteres Gesicht machte.

„Ich schließe in einer Stunde. Also wenn Sie noch lesen wollen, bitte, dann tun Sie das. Aber es wird nicht geschlafen!“

„Ist gut, Entschuldigung!“, erwiderte Emmi und fragte sich, warum er gar so übertrieben reagierte. Ein kleines Schläfchen in der Lesezone konnte schließlich nicht ganz so schlimm sein, wie Lärm.

„Sie sprechen im Schlaf!“, erklärte der Mann, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Außerdem ist dieses Buch zu wertvoll um mit Make-up, Spucke oder anderen, menschlichen Absonderungen verschmutzt zu werden.“ Und das begriff Emmeline sofort.

„Ich habe nicht gesabbert“, empörte sie sich, während der Mann bereits näherkam, um das Buch zu kontrollieren. Offenbar verkniff er es sich gerade noch eine Lupe zu zücken, um noch genauer nachzusehen. Doch Emmis Lippen waren trocken und das Buch sowieso unbeschädigt, also beruhigte sich der gestrenge Herr auch wieder.

„Okay, aber gesprochen haben Sie und zwar ziemlich laut. Also bitte: Bleiben Sie munter, sonst müssen Sie gehen!“, forderte er und Emmi verbiss sich einen dummen Kommentar.

„Gut, versprochen“, antwortete sie stattdessen, straffte ihre Schultern und stürzte sich erneut in ihre Arbeit sobald der Mann endlich gegangen war. Die noch verbleibende Stunde wollte sie bestmöglich nutzen und morgen gleich weiter in diesem Buch recherchieren. Darin waren so viele unterschiedliche und interessante Dinge angeführt, dass sie ganz besonders darauf achten musste, nicht zu viel Zeit mit unwichtigen Informationen zu vertrödeln.

Später zeigte ihr ein Blick auf die Uhr, wie viel Zeit bereits vergangen war und wie sehr sie sich und ihre körperlichen Bedürfnisse vernachlässigt hatte. Außer ihrem Frühstück und ein paar Schlucke Wasser hatte sie noch nichts zu sich genommen. Kein Wunder also, dass ihr Schädel brummte und sie zuvor sogar eingeschlafen war. Müde lehnte sie sich zurück und gähnte herzhaft. Danach packte sie ihre Notizen zusammen und machte sich auf den Weg zu ihrem Hotel. Nicht, ohne zuvor noch das Buch für morgen zu reservieren, denn sie wollte nicht riskieren, dass es plötzlich vergriffen oder verborgt war.

Auf dem Weg zum Speisesaal traf sie Markus, der ihr zwar ein strahlendes Lächeln schenkte, es aber so eilig hatte, dass er mehr lief, als ging. Hastig winkte er ihr zu, schickte ihr einen süßen Flugkuss und verschwand im Aufzug. Emmi hatte nicht einmal Zeit, den Gruß zu erwidern, so schnell sauste er an ihr vorbei.

Wie Spiderman in übermenschlicher Geschwindigkeit ... überlegte sie, obwohl die Schnelligkeit nichts an der Weichheit seiner Bewegungen änderte. Ein schwuler Spiderman wäre mal was für die Kinos ... dachte sie vergnügt und stellte sich den sympathischen Jungen im engen, knallroten Dress vor, wie er sich in einer Unmenge von Spinnweben suhlte und ein paar Spinnenmännchen küsste.

Lachend ging sie weiter, bemerkte aber, dass im Speisesaal noch nicht viel los war. An jedem anderen Tag wäre Emmi vermutlich wieder gegangen, weil sie es hasste in großen Räumen alleine zu sein, aber heute hatte sie solchen Hunger, dass ihr das egal war. Sie setzte sich einfach auf den Platz, den sie auch beim Frühstück hatte und bestellte á la carte.

„Eine gute Wahl!“, kommentierte eine tiefe Stimme wie aus dem Nichts und Emmi verdrehte die Augen. Nicht schon wieder!

„Herr Jäger!“, stellte sie trocken fest und nickte auf eine Weise, die zeigen sollte, wie wenig Wert sie auf seine Gesellschaft legte. Doch von Verstehen, Feingefühl oder Instinkt war der Mann so weit entfernt wie Emmi gerade vom Mond. Mit einem Grinsen setzte er sich einfach zu ihr an den Tisch und tat so, als wäre er eingeladen worden. Dabei war es genau das, was sie tunlichst vermeiden wollte.

Tamboril ...“, fuhr er ungerührt fort, „ ... ist wahrlich eine köstliche Spezialität und nicht immer auf der Karte zu finden. Der von Ihnen gewählte vinho verde passt perfekt dazu, sofern er bem fresco, also stark gekühlt ist.“ Herr Jäger war offenbar ein portugiesisches Sprachengenie, wusste alles über Weißwein und den grätenfreien Seeteufel oder tat zumindest so, denn Emmi hatte ihn längst durchschaut.

„Was Sie nicht sagen, Herr Jäger!“, konterte sie scharf und warf ihm einen ziemlich genervten Blick zu. „So steht es ja auch in der Karte. Warten Sie mal ... ja, genau hier: Eigentlich Wort für Wort. Seltsam, oder?“, meinte sie keck und deutete mit dem Finger auf die Stelle in der Karte. Dabei grinste sie böse und Herr Jäger bekam ziemlich pronto seine winzig kleinen Pupillchen. Es war wieder einmal der berühmte Schalter, der sowohl bei Emmi, als auch bei Herrn Jäger mit nur wenigen Worten des jeweils anderen, umgelegt werden konnte.

„Immer noch kratzbürstig?“, fragte er heiser, weil er die Portion Wut zurückdrängen wollte. Streit stand offenbar nicht am Plan und gestern hatten sie es ja auch geschafft wieder in Frieden auseinander zu gehen. Mit einem seltsamen Lächeln zog er daher seine rechte Augenbraue in die Höhe und musterte Emmi fragend. Diese ewigen Provokationen zwischen ihnen schien er genauso wenig zu verstehen wie sie. Den fragenden Blick aber fand Emmi so interessant, dass sich ihre Stacheln automatisch ein wenig zurückzogen. Sie konnte sich ihre üble Laune auch nicht recht erklären und dieses Augenbrauenheben machte den finsteren Herrn Jäger irgendwie ... menschlicher.

„Was verschafft mir denn die Ehre, Sie nun als Tischnachbarn zu haben?“, fragte sie direkt, aber in versöhnlichem Ton, sodass er ihr Einlenken bemerkte und darauf einsteigen konnte. Ihre Direktheit gefiel ihm.

„Ich habe gehört, dass sie wegen der Nephrit-Maske forschen.“

„Wie bitte?“ Emmi fiel aus allen Wolken. „Wer hat Ihnen denn das nun wieder verraten?“, fragte sie mit einem neuen Schub Richtung Ärger. Ihren Auftrag hatte sie schließlich nicht unbedingt an die große Glocke hängen wollen.

„Markus Schenker, unser gemeinsamer Freund“, antwortete er ernst, während Emmi an ihrem Ärger knabberte, weil es ihr Frühstücksnachbar mit der abstrusen Spiderman-Geschwindigkeit tatsächlich geschafft hatte, noch mehr über sie und ihre Arbeit auszuplaudern.

„Und warum interessieren Sie sich dafür?“, hakte sie daher nach einer Weile nach und stierte zugleich zum Kellner, weil ihr Wein längst überfällig geworden war. Offenbar hatte das Dienstpersonal aber um diese Zeit noch keine Lust zackiger zu arbeiten. Aron Jäger bemerkte ihren suchenden Blick und reagierte sofort. Mit einem einzigen, lässigen Fingerschnipper orderte er den Kellner zum Tisch und wies ihn zurecht.

„Der Wein der Dame fehlt noch und bitte bringen Sie gleich ein zweites Glas, nur mit doppelter Menge! Außerdem auch noch den Seeteufel für mich! Danke!“, forderte er mit eindringlicher Bestimmtheit, aber korrektem Auftreten. Emmi glotzte ihn an und wusste nicht, ob sie ihn bewundern oder verachten sollte. Sonst ein Ignorant bis zum Geht-nicht-mehr und nun hatte er nicht nur ihren Wunsch erraten, sondern auch noch gleich umgesetzt. Er hatte den Kellner gerügt und zugleich das Tempo vorangetrieben.

Emmi hätte sich vermutlich geärgert, wenn das Resultat diesem Aron Jäger nicht recht gegeben hätte. Der eisgekühlte Wein wurde nämlich augenblicklich serviert, der Koch in der Küche vermutlich zur Eile angetrieben. Die Effizienz hinter dieser Macho-Masche war durchaus faszinierend und der Beweis klar auf der Hand, dass Freundlichkeit in der Regel weniger Respekt hervorrief, als selbstsicheres Auftreten. Emmi biss sich auf die Unterlippe, um nicht etwas Gemeines zu sagen.

„Nun ärgern Sie sich nicht ständig! Wir sind nicht solche Bestien, wie Sie glauben“, sagte Aron Jäger versöhnlich und meinte damit zweifelsfrei die Gattung Mann. Emmi aber war sich nicht ganz sicher. Speziell dieses Exemplar an ihrem Tisch erschien ihr irgendwie anders.

„Also gut!“, erwiderte sie und versuchte ein Lächeln. „Wir fangen noch einmal von vorne an! Darf ich mich vorstellen: Emmeline Myrthe!“ Damit nahm sie ihr Glas und prostete ihm zu.

„Myrthe? Moment ... sind Sie etwa mit dem Johannes Myrthe verwandt?“, fragte er und wirkte plötzlich misstrauisch, wenn nicht sogar verblüfft. Mechanisch nahm er sein Glas und prostete ihr zu, war aber nicht wirklich bei der Sache.

„Wenn Sie meinen 78jährigen Opa meinen ... jep! Sie kennen ihn?“, wunderte sich Emmi, als sie vom Kellner unterbrochen wurde, weil er gerade zwei herrliche Teller mit Fisch und Gemüse brachte. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen und noch ehe der Kellner den Teller richtig abgestellt hatte, steckte sie bereits ihr Besteck in den dampfenden Fisch. DAS war halt dann die eigentliche, die wahre Effizienz und nicht etwa das eindringliche Bestellen in Machomanier. Gut, vielleicht war es auch einfach nur Heißhunger.

Herr Jäger hingegen schien jedes Interesse am Seeteufel verloren zu haben, denn er starrte sie an, als wären ihr gerade zwei Hörner aus der Schädeldecke gefahren. Ihr Nachname – oder besser ihr Opa – hatte bei ihm mehr Eindruck hinterlassen als sie und ihre zänkische Ader.

„Was ist denn? Mmmh, der Fisch ist aber herrlich!“, schwärmte Emmeline übertrieben, um ihr Gegenüber zum Essen zu animieren. Am liebsten hätte sie auch noch mit ihrem Besteck auf seinen Teller gedeutet. Sein Glotzen wurde nämlich langsam unangenehm.

„Was ist denn nun?“, wiederholte sie ungeduldig, weil ihr Gegenüber nicht reagierte. „Sie waren doch eben noch Feuer und Flamme für diesen Seeteufel. Haben Sie plötzlich keinen Appetit mehr?“

„Sie ... sind tatsächlich die Enkelin von Johannes Myrthe, dem Großmeister?“, fragte er nach und Emmi war sich nicht sicher, ob er einfach nur erstaunt war oder gar ehrfürchtig. Wobei ehrfürchtig ein seltsames Wort war in Zusammenhang mit dem dunklen Mr. Finster.

„Dem was? Ich glaube Sie sehen zu viele Filme mit Nicolas Cage, oder wer war noch schnell der Idiot vom Da Vinci Code? Ach, egal! Sie verwechseln da sicher etwas!“, erwiderte Emmi und stürzte das Glas Wein herunter wie nichts. Herr Jäger aber war durcheinander oder auch schockiert ... vom Fisch, von Emmis Ess- und Trinkverhalten oder von ihrem alten Großvater. Vielleicht hatte sie ja auch etwas vom Grünzeug am Mundwinkel hängen und er konnte nicht damit umgehen. Was wusste sie schon, warum er sich so seltsam benahm? Sicherheitshalber tupfte sie sich ihren Mund ab.

„Verzeihung, wie dumm von mir!“, meinte er plötzlich ernst und mit einem Augenaufschlag, der zeigte, dass er sich nun endlich wieder gefasst hatte. Die Zahnrädchen in seinem Kopf hatten offenbar wieder ihren Platz gefunden.

„Ich habe mich vermutlich geirrt. Aber das soll Ihr Abendessen nicht schmälern, Emmeline. Lassen Sie es sich gut schmecken!“, lächelte er, doch seine Augen waren finsterer geworden und Emmis Instinkt sagte ihr, dass sie ihm nicht ganz geheuer war. Sie! Ihm! Wo er doch der düstere und undurchschaubare Typ war.

„Danke. Ich esse ja wenigstens“, ätzte sie, um ihn ein bisschen aus der Reserve zu locken, doch er sprang nicht darauf an und sein Lächeln blieb gekünstelt. Als wäre Emmi plötzlich zur Viper geworden.

Was für ein Idiot ... dachte sie und spießte die quietschgrünen Fisolen grimmig auf ihre Gabel.

„Das habe ich gehört“, meinte er plötzlich so treffend auf ihre Gedanken, dass Emmi prompt die Gabel aus der Hand fiel.

„Wie bitte? Sie haben was?“ Denn sie konnte einfach nicht glauben, dass dieser Mann in der Lage war Gedanken zu lesen.

„Ich habe gehört … von einem Johann oder Josef Myrthe, der in gewissen Kreisen als Großmeister der Templer gehandelt wird.“

Ach so! DAS hatte er gehört! Erleichtert wischte sich Emmi über die Stirn und seufzte ein stilles Puh. Wenigstens hatte er nicht ihre Gedanken gelesen, denn die waren in letzter Zeit nicht gerade eine Bereicherung. Die Behauptung über ihren Opa war sowieso völlig aus der Luft gegriffen. Der hatte mit den Templern sicher nichts am Hut, so oft wie er über sie schimpfte. Aber vermutlich hatte Aron Jäger einfach nur Johannes mit Josef verwechselt.

„Aber nein!“, antwortete sie daher ernst. „Er ist lediglich mein Großvater und sicher kein Großmeister. Das wüsste ich! Vor allem das mit dem Meister.“ Auch wenn er sich ihr gegenüber manchmal schulmeisterlich und streng benahm, hatte er als exzentrischer Eigenbrötler sicher nichts mit einer Geheimorganisation oder einem Orden zu tun.

„Nun, wie Sie meinen, dann wäre das ja geklärt“, antwortete Aron Jäger knapp, aber auf eine Art, die Emmi das Gefühl gab, doch womöglich einem Irrtum zu erliegen.

„Und wie weit sind Sie nun mit ihren Recherchearbeiten?“, fragte er schließlich, um den kurzen, angespannten Moment zu überbrücken. Doch Emmeline verdrehte leicht die Augen. Sie hatte es nicht so gerne, wenn man versuchte sie auszuquetschen.

„Warum interessiert Sie das überhaupt?“, fragte sie mit ernster Miene, während sie den Schwanzteil ihres Fisches brutal mit dem Messer zerfledderte. Ein Psychologe hätte daraus sicherlich eine Menge abgeleitet.

„Ich frage, weil ...“, begann er und griff nun doch endlich zum Besteck, „... weil ich Ihnen helfen könnte“, meinte er, schob sich den ersten Bissen in den Mund und schloss für einen Moment die Augen, als hätte er noch nie etwas Besseres gegessen. Emmi blinzelte überrascht, denn dieser Anblick war ungewohnt und irgendwie faszinierend. Einen Moment starrte sie ihn regelrecht an, ehe sie wieder den Blick senkte. Genuss hätte sie diesem Mann nicht zugetraut. Nicht so intensiv und auch nicht so leidenschaftlich.

„Helfen?“, fragte sie und musste sich räuspern, weil ihre Kehle plötzlich trocken geworden war. Hilfe von Aron Jäger war ja mal etwas völlig Neues in Sachen Nervensäge.

„Ja, aber darüber reden wir später, wenn es Sie nicht stört“, ergänzte er. „Jetzt möchte ich mich gerne diesem köstlichen Fisch hier widmen ...“, begann er, ehe er auf ihren Teller sah und den malträtierten Fischschwanz fixierte, „... sonst erledigen Sie mein gutes Stück auch noch auf derart bestialische Weise.“ Die Anspielung war vermutlich auf seinen Fisch bezogen, sein Grinsen aber unmissverständlich. Emmi verdrehte auch wie auf Befehl die Augen. Vermutlich hätte auch daraus ein Psychologe eine Menge ableiten können.

Eine Weile genossen sie nur das Essen, das Ambiente, die Fado-Musik im Hintergrund und den guten Wein, von dem sie reichlich nachbestellten. Zur Nachspeise „arroz doce“ und „pudim flan“, eine Art Milchreis und Karamellpudding, schlürften beide einen kräftigen Espresso.

„Wie finden Sie diese Musik?“, fragte Aron Jäger und Emmi lächelte. Mr. Scheusal hatte sich im Laufe des Abendessens zu einem netten Gesprächspartner entwickelt.

„Fado ist ... gewöhnungsbedürftig, aber mir gefällt es. Es steckt so viel Leidenschaft und Melancholie des portugiesischen Volkes darin, dass man sich der Faszination nicht entziehen kann.“

„Ja, nicht wahr? Mir geht es genauso. In diesen Liedern schlummert die ursprüngliche Sehnsucht eines typischen Seefahrervolkes. Der ewige Blick übers Meer und der Wunsch, eins zu werden mit der Weite und der möglichen Welt dahinter.“

„Oh, Sie können ja richtig romantisch werden“, wunderte sich Emmi und Aron begann zu lächeln. Zu ihrer Verwunderung wurde dieser Mann nicht nur jede Minute sympathischer, sondern auch attraktiver. Entweder war in ihrem Gehirn etwas durcheinandergeraten, oder es lag am Wein. Solch eine Wandlung hatte sie bis vor kurzem nicht für möglich gehalten.

„Sie haben ja auch noch nicht allzu viele Seiten von mir kennengelernt, oder?“, fragte er und wackelte dabei mit seinen dichten, schwarzen Augenbrauen. Emmi kam immer mehr ins Staunen, denn wenn er so lächelte und scherzte, konnte man seine düstere Aura beinahe vergessen.

„Naja, wir sind immerhin am besten Wege, nicht mehr ausschließlich zu streiten. Apropos andere Seiten! Wie haben Sie das vorhin gemeint, Sie könnten mir bei der Recherche zur Nephrit-Maske helfen?“

„Ich habe die Möglichkeit in den Besitz eines ganz besonderen Buches zu kommen. Ich schätze, es könnte von großem Interesse für Sie sein, denn es beinhaltet Aufzeichnungen über den Transfer diverser Schätze nach Portugal.“

„Ich hoffe Sie meinen nicht das übliche Zeug über die Kreuzzüge, denn die kommen für das Beschaffen der Nephrit-Maske nicht in Frage. Alle Kreuzzüge hatten mit dem heutigen Marokko nicht viel am Hut“, blockte sie ab, um nicht seine und ihre Zeit zu verschwenden. An ihre eigene Schwäche, der sie gerade heute noch in der Bibliothek nachgegeben hatte, wollte sie nicht denken. Schließlich hatte sie stundenlang die Nase in genau solch ein Buch gesteckt.

„Ich weiß was Sie meinen, aber zur Zeit der sieben Kreuzzüge wurden eine Menge Kulturgegenstände aus dem arabischen Raum geraubt und nach Europa gebracht. Und wer weiß schon genau, wohin die Maske über die Jahrhunderte verschwunden ist? Vielleicht ist sie gar von Marokko den weiten Weg über Jerusalem bis hinauf nach Konstantinopel gewandert und wurde dann von dort nach Europa gebracht?“

„Nein, Entschuldigung, aber das ist einfach nicht richtig!“, erwiderte Emmi, weil sie bereits genug über die Maske in Erfahrung gebracht hatte, um sagen zu können, dass sie mit 90%iger Sicherheit direkt von Marokko nach Portugal gebracht worden war. „Die Maske ist vermutlich im zwölften Jahrhundert hier in diesem Land verschwunden und davor auf direktem Weg hierhergelangt.“

„Ja, vielleicht ... vielleicht aber auch nicht. Außerdem kann ich im Gegenzug behaupten, dass der dritte Kreuzzug nicht übers Land gestartet worden ist, sondern per Schiff von London nach Lissabon, über Marseille und Barbarossa nach Jerusalem. Und wo glauben Sie haben diese Schiffe ihren Weg hindurch zum Mittelmeer gefunden? Natürlich bei Gibraltar, der engsten Stelle zwischen Afrika und Europa! Also wer kann schon mit Sicherheit behaupten, dass die Kreuzritter nicht womöglich doch ihre Finger im Spiel hatten? Die Zeit dieses dritten Kreuzzuges würde auch passen: 1189 bis 1192, oder? Ich meine das ist doch das zwölfte Jahrhundert. Obwohl ... da gilt es dann ja auch noch die unterschiedliche Zeitrechnung zu berücksichtigen! Die islamische beginnt ja erst mit dem Jahr 622 nach Christus und da liegen dann gar nicht mehr so viele Jahrhunderte zwischen Erschaffung der Maske und deren Verschwinden.“ Dass Emmi das fünfte Jahrhundert als Erschaffung der Maske bisher nicht erwähnt hatte, entging ihr in diesem Augenblick.

„Ja, ja. Das stimmt schon. Trotzdem wäre da eine Differenz von mindestens hundert Jahren. Fünftes Jahrhundert islamischer Zeitrechnung wäre ja elftes Jahrhundert christlicher Zeitrechnung und nicht etwa das gewünschte zwölfte. Aber es würde erklären, warum sich die Maske in relativ gutem Zustand befinden muss. Sechshundert Jahre auf oder ab sind schließlich kein Pappenstiel für ein Artefakt. Was aber den dritten Kreuzzug angeht, da stimmt ihre Zeitangabe und auch der Weg per Schiff. Und weil die Maske sehr wahrscheinlich im zwölften Jahrhundert in Portugal verschwunden ist, scheint ihre Theorie eine gewisse Option zu bieten. Aber ich glaube nicht daran ... noch nicht.“ Irgendwie nervte es sie, dass er über die Kreuzzüge mehr wusste als der Durchschnitt der Bevölkerung.

„Woher wissen Sie überhaupt so viel von den Kreuzzügen? Die meisten Menschen kennen nur Geschichten aus Romanen oder Fernsehsendungen.“

„Ich habe Geschichte studiert.“

„Das ist alles?“

„Und ich interessiere mich für Kunstgegenstände, vor allem für mystische.“

„Aha! Was für ein Zufall. Es ist doch einer, oder?“

„Was denn?“

„Der Zufall!“

„Oh, ja ... na klar“, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen und mit einem Augenaufschlag, der ihn ziemlich ehrlich wirken ließ.

„Es kommt mir trotzdem ein wenig spanisch vor.“

„Nein, wohl eher portugiesisch“, konterte er trocken. „Da gibt es ganz gehörige Unterschiede, vor allem in der Sprache“, ergänzte er und Emmi musste lachen. Aron Jäger war schon ein komischer Kerl – weder Fisch noch Fleisch. Ganz klar war sie sich über ihn noch nicht und an einen Zufall konnte sie auch nicht recht glauben. Zwei Menschen aus demselben Flugzeug waren an mystischen Artefakten interessiert und noch dazu im gleichen Hotel abgestiegen? Das waren schon sehr viele Fügungen auf einmal. Emmi blieb trotzdem beim Lächeln.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752140323
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Grusel Fantasy Liebe Vampir Humor

Autor

  • Sabineee Berger (Autor:in)

WARUM SABINE MIT DREI E? Sie passen zu mir und dienen zur Abgrenzung bei Namensgleichheit. Ich bin freischaffende Künstlerin & Schriftstellerin und schreibe seit mehr als fünfzehn Jahren Fantasy-Romane. Mein Slogan lautet "Kunst ist, was berührt und Impulse setzt!"
Zurück

Titel: Wer glaubt schon an Vampire?