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Teufelsmühle

Historischer Roman

von Tom Finnek (Autor:in) Mani Beckmann (Autor:in)
350 Seiten
Reihe: Moor-Trilogie, Band 3

Zusammenfassung

Wir schreiben das Jahr 1535. Der Bischof von Münster hat die Stadt von den Wiedertäufern zurückerobert, und auch das Moordorf Ahlbeck, wo der Bauernsohn Ambros Vortkamp mit seinem Vater lebt, ist von dem Aufruhr nicht unberührt geblieben. Ein verwundeter Müller erscheint im Dorf und will die Wassermühle wieder aufbauen, die vor Jahren durch ein Feuer zerstört wurde. Während der junge Pfarrer die Gemeinde durch ketzerische Predigten gegen sich aufbringt und der Dorfschulze die Ankunft des Müllers mit Argwohn betrachtet, entdeckt Ambros ein fürchterliches Geheimnis, das die Geschichte der Mühle betrifft, über der angeblich ein Fluch liegt … Jahrhunderte später, im Jahr 1876, kommt der Altertumsforscher Hermann Vortkamp, ein Nachfahre des kleinen Ambros, nach Ahlbeck, um steinzeitliche Hügelgräber auszugraben. Als er der hübschen Schulzentochter Lisbeth begegnet, verliebt er sich Hals über Kopf und schlägt die Warnungen seines eigenwilligen Großonkels, des Geistersehers Johann, in den Wind. Die Gräber an der Kolkmühle und eine Krypta unter der Kirche warten mit Überraschungen und unerwarteten Leichen auf, und manche Spur führt zurück in die Zeit der Wiedertäufer ... - "Der Leser wird von der ersten Seite an in den Bann der Handlung gezogen. Der Spannungsbogen, der sich durch die Rahmenhandlung und die beiden Handlungsstränge bildet, wird bis zum Schluss gehalten. Das Buch ist an keiner Stelle langweilig oder langatmig, sondern sehr gute Unterhaltung." - Histo-Couch

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die wichtigsten handelnden Personen

Im 16. Jahrhundert

- Ambros Vortkamp, Köttersohn und Schäferjunge

- Geert Vortkamp, sein Vater, ehemaliger Kolkmüller, »Molenkötter«

- Euphemia Vortkamp, geb. Sudema, Geerts Frau

- Lubbert Gerwing, Schulze und Landwehrmann, »Brookbauer«

- Josefa Gerwing, seine Frau

- Ludger Gerwing, der lallende Ludger, jüngster Schulzensohn

- Maria Johannvater, geb. Gerwing, Schulzentochter, »Johannvaterin«

- Hermann & Josef Gerwing, Schulzensöhne

- Guus ter Haer, niederländischer Müller, »Haermöller«

- Annelies ter Haer, geb. Gerwing, Guus’ Frau, Schwester des Schulzen

- Heinrich Vernholt, der neue Kolkmüller

- Johannes Boeckbinder, Pfarrer der Gemeinde »St. Katharina« zu Ahlbeck

- Simeon, Trödlerjude und Wucherer

- Antonius Dennekamp & Henk Schabbinck, ehemalige Kolkmüller

Im 19. Jahrhundert

- Hermann Vortkamp, Altertumsforscher

- Johann Vortkamp, sein Großonkel, Molenkötter und Spökenkieker

- Antonius Gerwing, Schulzenbauer, »Lanvermann«

- Elisabeth Gerwing, Lisbeth, jüngste von drei Schulzentöchtern

- Henk van Weyck, Lisbeths Verlobter

- Leo van Weyck, Henks Vater, holländischer Textilfabrikant

- Matthias Uppenkamp, Pastor der Gemeinde »St. Katharina«

- Jeremias Vogelsang, »Magisterbauer«

- Margret, Magd im Gasthof »Zur alten Linde«

- Jaap Netenkam, Hermanns Freund in Amsterdam

Prolog – Der braune Koffer

Vor etwas mehr als dreißig Jahren, im Sommer 1974, musste das alte Bauernhaus meiner Großeltern, Heinrich und Anna Vortkamp, dem Neubau einer Landstraße zwischen der münsterländischen Kreisstadt Altheim und dem niederländischen Enschede weichen. Das winzige und windschiefe Häuschen, das von allen im Dorf nur Molenkotten? genannt wurde, hatte mehrere hundert Jahre an dieser Stelle im Ahlbecker Bruch gestanden. Einige Heimatkundler behaupteten gar, bei dem Kotten handele es sich neben der gotischen Dorfkirche und der an der holländischen Grenze gelegenen Wassermühle um das älteste Gebäude des Dorfes. Alle Proteste, Petitionen und Leserbriefe an die lokalen Zeitungen nützten jedoch nichts. Das uralte backsteinerne Kötterhaus mit dem niedrigen Schindeldach, der kleinen Holzscheune nebenan und dem verrotteten Brunnen vor der Tür wurde niedergerissen und dem Erdboden gleichgemacht, ebenso wie das umliegende Moor trockengelegt und die Feuchtwiesen dräniert wurden. Nur eine knorrige alte Eiche neben der Landstraße, direkt am Abzweig zum Dorf Ahlbeck, deutet heute darauf hin, wo einst der Molenkotten zu finden war.

Meine Großeltern zogen in die nahe gelegene, in den fünfziger Jahren für die Vertriebenen gebaute Hölderlinsiedlung, wo sie jedoch wenig später, in kurzem Abstand zueinander, verstarben. Obwohl ich damals erst sechs Jahre alt war, habe ich noch sehr genaue Erinnerungen an den Bauernhof mit seinen niedrigen Decken, winzigen Butzenscheiben und rußgeschwärzten Wänden, und diese Erinnerungen sind unauslöschlich mit einem Koffer aus braunem Leder verbunden.

Heinrich Vortkamp, ein runzelhäutiger und gebückt gehender Mann von über achtzig Jahren, war ein begnadeter Geschichtenerzähler und ich ein ebenso fleißiger Zuhörer. Wenn ich sah, dass Opa Heinrich den braunen Handkoffer aus dem Schrank im Wohnzimmer holte und hinüber zu seinem Sessel schlurfte, dann setzte ich mich zu seinen Füßen auf den Boden und wartete gespannt. Der Koffer war randvoll gefüllt mit Papieren, Büchern und Bildern jeglicher Art, doch nie las mein Großvater aus den Aufzeichnungen vor und nicht ein einziges Mal gab er mir die Bilder in die Hand. Es schien eher, als benötigte er den braunen Koffer, um sich erinnern zu können. Er öffnete den Deckel, betrachtete den Inhalt wie einen geheimnisvollen Schatz, strich gedankenverloren und wehmütig mit den Fingern über die Fotografien und Zeichnungen und begann zu erzählen. Von der verfluchten Mühle und wie sie unsere Familie zerstört hat, von mörderischen Kolkmüllern und verbrecherischen Pfahlbürgern, von der vermaledeiten Landwehr und dem Landwehrmann, von den Geistern und Teufeln, die nicht ruhten und im Moor herumirrten, vom Schafottfeld und dem Galgenbülten.

Meine Mutter sah es gar nicht gern, wenn ihr Schwiegervater solch blutrünstige und unheimliche Geschichten vortrug, und protestierte: »Jetzt hör schon auf mit den alten Schauermärchen! Michael ist viel zu jung dafür.«

Doch Opa Heinrich ließ sich nicht beirren und antwortete: »Oh, nein, der Kleine versteht das schon, immerhin ist er ist ein Vortkamp. Nicht wahr, Michael?«

Ich hatte keine Ahnung, was ich verstand oder verstehen sollte, aber dass ich ein Vortkamp war, stand außer Frage. Und ich wusste, dass ich um nichts in der Welt auf Opas spannende Geschichten verzichten wollte, und so nickte ich eifrig. Dass ich anschließend schlaflose Nächte hatte und von Albträumen geplagt wurde, hielt mich nicht davon ab, beim nächsten Besuch auf dem Molenkotten meinen Opa anzuflehen: »Bitte erzähl von der Mühle am Kolk!«

Nach dem zwangsweisen Umzug meiner Großeltern in die Hölderlinsiedlung habe ich den braunen Handkoffer nicht wiedergesehen, an seinem üblichen Platz im Wohnzimmerschrank war er jedenfalls nicht, und mein Großvater hat nie wieder von der Mühle erzählt. Er verstummte, zog sich zurück, saß regungslos in seinem Lehnstuhl und vergreiste zusehends. Nur ein halbes Jahr später starb er an einer Lungenentzündung. Es schien beinahe so, als hätte man ihn wie einen alten Baum samt Wurzeln aus der Erde gerissen und in einen viel zu kleinen Topf gepflanzt, wo er augenblicklich verdorrt war. Opa Heinrich war mit dem Molenkotten und der umgebenden Scholle, wie er es nannte, auf eine heute kaum noch begreifliche Weise verbunden gewesen. Er war in dem Häuschen geboren worden und hatte hier sterben wollen, doch nach seiner Umsiedlung lebte er als Vertriebener unter Vertriebenen, wie er seufzend sagte. »Das Schicksal der Vortkamps!«, murmelte er immer wieder und nickte bedächtig. »Der Fluch der Familie.«

Oma Anna konnte oder wollte nach Opas Tod über den Verbleib des Koffers nichts berichten, schüttelte lediglich den Kopf, wenn ich sie danach fragte, und starb ein Jahr nach ihrem Mann an einer eigentlich harmlosen Blutvergiftung. Beide liegen auf dem Ahlbecker Friedhof begraben, umgeben von einigen der Namen, die mir aus Opas Erzählungen so vertraut sind. Von seinen gruseligen Geschichten ist mir das meiste in der Zwischenzeit entfallen oder hat nur als schemenhafte Erinnerung in meinem Kopf überlebt. Dass ich nun dennoch in der Lage bin, die Geschichte der Kolkmühle im vorliegenden Buch zu erzählen, verdanke ich einem bloßen Zufall. Opa Heinrich hätte es vermutlich Schicksal oder Bestimmung genannt.

Vor zwei Jahren, am Karsamstag, unternahm ich mit meinem Vater eine Radtour durch die Gegend. Es war der erste sonnige Tag nach wochenlangem Regenwetter, und wir beschlossen, auf einen Kaffee in die Kolkmühle einzukehren, die inzwischen zum Ausflugslokal samt Mühlenmuseum umgebaut worden war. Da der Ahlbach Hochwasser führte und an einigen Stellen bereits über die Ufer getreten war, hatte der Pächter der Mühle die Umflutschleusen geöffnet, um das Mühlenwehr vor dem enormen Druck des Wassers zu schützen. Als wir die Mühle verließen und über das Wehr fuhren, schaute ich gebannt auf die Wassermassen, die aus den Schleusen schossen, auf das große eiserne Rad, das sich ächzend drehte und im Inneren der frisch renovierten Mühle einen modernen Stromgenerator antrieb. Und plötzlich hatte ich den Einfall, den Molenkotten zu besuchen.

»Den Molenkotten?«, wunderte sich mein Vater.

»Ich war seit Jahren nicht mehr da«, antwortete ich.

»Aber da gibt es nichts zu sehen.«

»Es ist kein großer Umweg«, sagte ich und trat in die Pedale.

Das war es tatsächlich nicht, nur etwa zwei Kilometer radelten wir über Wirtschafts- und Feldwege, passierten den ehemaligen Hessenweg, ließen den Galgenbülten, der vom Ahlbecker Heimatverein vor kurzem wieder an Ort und Stelle aufgebaut worden war, links liegen, sahen zur Rechten den heute eher unscheinbaren Hof des ehemaligen Landwehrmanns und standen kurze Zeit später an dem Landstraßenabzweig mit der alten Eiche. Mein Vater hatte recht, nichts erinnerte an den Kotten. Das ehemals leicht hügelige Gebiet war eingeebnet worden und wurde heute als Weideland benutzt. Dennoch stieg ich vom Rad und ging in Richtung der Eiche.

»Was machst du denn, Michael?«, rief mein Vater hinter mir. »Das Land ist mistnass. Du versaust dir nur die Kleider.«

Auch damit hatte er recht. Der Boden hatte sich wie ein Schwamm voll gesogen, an einigen Stellen hatten sich regelrechte Lachen auf dem morastigen Untergrund gebildet. Die Trockenlegung der Moore, die in den Siebzigern als Fortschritt gefeiert worden war, hatte sich inzwischen als bedauerlicher Fehler entpuppt und war zum Teil rückgängig gemacht worden. Zwar würde es im Ahlbecker Bruch nie wieder das unwegsame Hochmoor von einst geben, aber zumindest entstanden abermals Feuchtwiesen und dienten den Brachvögeln, Sumpfschnepfen und Kiebitzen als Brutstätten.

Ich hatte inzwischen die knorrige Eiche erreicht, versuchte mich zu orientieren und schaute zu der Stelle, an der früher der Kotten meiner Großeltern gestanden hatte, als ich eine seltsame Mulde in der Erde entdeckte. Etwa zehn Meter von der Eiche entfernt war eine Stelle des Bodens nicht mit Gras bewachsen, der prasselnde Regen der letzten Wochen hatte offensichtlich etwas freigelegt, was mit Mutterboden bedeckt gewesen war.

»Der alte Brunnen«, sagte mein Vater, der nun doch vom Rad gestiegen war und sich zu mir gesellt hatte. »Das muss der Brunnen sein.«

Wie wir feststellten, hatte man sich vor dreißig Jahren nicht die Mühe gemacht, den Brunnen komplett abzubauen und zuzuschütten, sondern hatte lediglich das Mauerwerk oberhalb der Erde abgerissen, das Loch im Boden mit einer Metallplatte verschlossen und diese mit Mutterboden bedeckt. Nun aber lag die Platte frei, der Boden hatte sich ringsum abgesenkt, und an einer Stelle war das übrig gebliebene Mauerwerk des Brunnens zu sehen. Ohne lange darüber nachzudenken, stapfte ich zu dem Brunnen, versank bis über die Knöchel im Schlamm und zerrte an der Eisenplatte. Zwar bewegte sie sich und war nicht mit einem Schloss versehen, aber allein war ich nicht in der Lage, sie anzuheben.

»Nun hilf mir schon!«, rief ich meinem Vater zu.

»Mutter wird schimpfen«, murmelte er, krempelte sich die Hosenbeine hoch und fasste mit an.

Tatsächlich konnten wir die schwere Metallplatte hochheben und zur Seite schieben, und als wir in den Brunnen sahen, erlebten wir eine Überraschung. Da das Grundwasser so hoch stand, war der Brunnenschacht, dessen Mauerwerk noch völlig intakt zu sein schien, bis zum Rand gefüllt. Und auf dem braunen, schlammigen Wasser schwamm eine blaue Mülltüte.

»Oh, mein Gott!«, rief mein Vater, der Böses ahnte.

Ich bückte mich hinunter und zog die Tüte heraus. Sie war nicht besonders schwer und dem Anschein nach kaum mit Wasser voll gelaufen. Als wir die doppelt verknotete Tüte öffneten, fanden wir darin eine weitere, ebenfalls sorgsam verschlossene Plastiktüte. Diese war aus schwerer, schwarzer Plane, wie man sie zum Abdichten eines Fischteichs benutzt, und in der Tüte fanden wir schließlich den seit dreißig Jahren verschollenen braunen Handkoffer meines Großvaters.

Oft habe ich mich seitdem gefragt, wieso Opa Heinrich den Koffer in den Brunnen geworfen hat und ob er es womöglich selbst gewesen war, der den Brunnen auf beschriebene Weise »versteckt« hatte. Der Koffer war sein Allerheiligstes, sein Gedächtnis, die Geschichte seiner Familie. Warum hatte er ihn nicht seinem ältestem Sohn vermacht oder seinem kleinen Enkelkind, das so gespannt den Geschichten aus vergangenen Zeiten gelauscht hatte? Vielleicht glaubte er, mit dem Abriss des Molenkottens sei auch die Geschichte der Familie Vortkamp beendet. Wenn er schon nicht selbst auf der Scholle beerdigt werden konnte, so sollte wenigstens sein Vermächtnis dort ruhen. Womöglich handelte es sich aber auch nur die unvernünftige Laune eines schrulligen alten Mannes, der sich von der Welt und seinen Angehörigen verraten und verkauft fühlte.

Wie dem auch sei, der Koffer war auf wundersame Weise wieder aufgetaucht und zum ersten Mal hatte ich die Gelegenheit, in den Papieren zu stöbern und mir die Bilder anzuschauen. Einige Fotografien zeigten meinen Großvater und seine Frau als junge Kötterbauern, auf Schützenfesten oder am heimischen Herd. Auf anderen Fotos war Heinrich Vortkamp als kleiner Junge mit seinem Vater und den Geschwistern vor dem Kotten zu sehen. Ein sehr altes, leicht unscharfes Porträt zeigte eine mir unbekannte junge Frau mit schwarzen Locken und sommersprossigem Gesicht. »Für meinen lieben Freund Hermann«, stand in altdeutscher Handschrift auf dem unteren rechten Rand geschrieben. Darunter der Buchstabe »L«. Dieses Foto war mittels einer Schleife mit einem alten Glasnegativ verbunden, wie man es in den ersten Jahren der Fotografie benutzte. Darauf war ein junger Mann zu sehen, der vor einem Steinhügel posierte und eine Art Forke in der Hand hielt. Neben den Bildern befanden sich auch zahlreiche Briefe in dem Koffer, sie waren allesamt mit dem Namen Hermann Vortkamp unterzeichnet und stammten aus den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Verfasser der Briefe war offensichtlich mein Ur-Ur-Großvater, von dem auch eine Art Kladde vorhanden war, die er als Tage- und Notizbuch verwendet hatte. Rechnungen, Inventarlisten, Zeitungsartikel und Landkarten aus dieser Zeit befanden sich ebenfalls in dem Koffer.

Doch die Papiere und Aufzeichnungen reichten viel weiter in die Vergangenheit zurück. Ich fand Urkunden aus dem sechzehnten Jahrhundert, Gesindelisten und Stammbäume sowie lose, mit merkwürdigen Zeichen bekritzelte Zettel, die beinahe zu Staub zerfielen, wenn man sie berührte. Mehrmals las ich das Kürzel »DWWF« und verschiedene Zitate aus der Bibel. Außerdem Kohlezeichnungen und Kupferstiche mit Ansichten des Dorfes, der Kolkmühle und des Molenkottens, die laut Signatur mehr als vierhundert Jahre alt waren. Und zu guter Letzt stieß ich auf ein abgegriffenes, in Leder gebundenes Oktavbüchlein, das mit krakeligen, fast kindlich wirkenden Großbuchstaben beschrieben war und mit den Worten endete: »Ambros Vortkamp, Ahlbeck im Holzmonat des Jahres 1536«.

Schon beim ersten Betrachten des Kofferinhalts war mir klar, dass ich einen regelrechten Schatz gefunden hatte. Wie durch ein Wunder hatte das Wasser den Papieren nichts anhaben können, die anscheinend wasserdichte und säurefeste Plane hatte die Dokumente und Fotos vor der Zerstörung bewahrt. Einige der auf den Papieren beschriebenen Ereignisse, Geschichten und Personen kannte ich aus den Erzählungen meines Großvaters. Doch schon bald stellte sich heraus, dass Opa Heinrich nur einen Teil der Wahrheit in seinen unheimlichen Geschichten verarbeitet hatte, dass er einiges mit gutem Grund verschwiegen hatte. Manches war mir neu und vieles erschien mir beinahe unglaubwürdig. Ich stöberte in der Ahlbecker Pfarrchronik und blätterte in alten Kirchenfolianten, um das Bild, das sich aus den Aufzeichnungen ergab, abzurunden und fand in groben Zügen bestätigt, was ich im braunen Koffer entdeckt hatte.

Vieles ist schon über die Mühle am Kolk gesagt und geschrieben worden, Schauergeschichten und Spukmärchen wurden von Generation zu Generation weitergegeben, im Volksmund erhielt die Mühle Namen wie »Haarmühle« oder »Teufelsmühle«, ein ganzer Roman ist über den Überfall holländischer Räuber im Jahre 1814 geschrieben worden, doch die Ereignisse, die auf den folgenden Seiten zu lesen sein werden, sind bislang nicht erzählt worden. Dies ist nicht nur die Geschichte der Kolkmühle, sondern auch die der Familie Vortkamp und des Molenkottens. An einigen Stellen, an denen die Aufzeichnungen und Tagebücher nicht genügend oder nur vage Aufschluss über die tatsächlichen Ereignisse geben, habe ich die Lücken mit Mutmaßungen und Spekulationen gefüllt. Ich behaupte also nicht, dass alles genauso geschehen ist, wie ich es hier beschreibe, und in jedem Detail der Wahrheit entspricht, aber ich glaube, dass es sich so oder ähnlich zugetragen haben könnte.

Michael Vortkamp, im Mai 2006

Erster Teil – Die Mühle am Kolk

»Der Münsterländer ist überhaupt sehr abergläubisch, sein Aberglaube aber so harmlos wie er selber. Von Zauberkünsten weiß er nichts, von Hexen und bösen Geistern wenig, obwohl er sich sehr vor dem Teufel fürchtet.«

Annette von Droste-Hülshoff, »Bilder aus Westfalen«

Erstes Kapitel

Führt durchs Moor und zu den Überresten einer Mühle

Es war im Erntemonat des Jahres 1535, an einem lauen Sommerabend. Obwohl die Sonne tief und dunkelrot über dem Horizont stand und ein aufkommender Westwind über das Moorland und den nahe gelegenen Schwarzerlenwald wehte, war es immer noch angenehm warm im Ahlbecker Bruch. Vor einem kleinen, backsteinernen Kotten mit niedrigem, schindelgedeckten Dach saß ein Junge von etwa zehn Jahren im Schatten einer Eiche, schnitzte an einem Stück Wurzelholz und pfiff gedankenverloren eine monotone Melodie. Neben ihm lag ein schwarzer Holländerhund mit zotteligem Fell, das an der Schnauze bereits ergraut war.

Die Arbeit des Tages war getan, seit den frühen Morgenstunden war der Junge mit den Schafen in der Heide gewesen und hatte sie am Abend in der Hürde in der Nähe des Galgenbültens eingesperrt. Auch die Kuh war gemolken, und die beiden Schweine hatten ihr Futter erhalten. Der Vater war wie immer keine große Hilfe gewesen, er lag schnarchend im Alkoven neben dem Herd und schlief seinen Rausch aus. Das war auch besser so, dachte der Junge, denn wenn der Alte Wacholderschnaps getrunken hatte, war er unausstehlich, schrie wie besessen und schlug ohne Grund um sich. Eigentlich war er auch unausstehlich, wenn er keinen Schnaps getrunken hatte. Der Junge schloss die Augen und fuhr sich mit der Hand über das sonnengebräunte und sommersprossige Gesicht, als spürte er noch die Ohrfeigen auf seinen Wangen. Die flachsblonden Haare standen ihm wie struppige Borsten vom Kopf ab, seine spitze, mit Staub und Schweiß verschmierte Nase und die buschigen, dunkelblonden Augenbrauen gaben ihm ein keckes, beinahe wildes Aussehen. Gekleidet war der Junge in Hose und Hemd aus grobem Sackleinen, beides zerrissen und vor Dreck strotzend. Auch die nackten Füße waren fast schwarz und vermutlich seit Wochen nicht mit sauberem Wasser in Berührung gekommen.

Plötzlich schlug der Junge die Augen auf und schaute zum Sandweg, der sich unweit des Kottens durch Venn und Bruchwald schlängelte und in nordwestlicher Richtung zur holländischen Grenze führte. Es schien, als hätte er etwas gehört oder instinktiv gespürt. Auch der Hund hob den Kopf und knurrte leise. Der Junge blickte nach Süden, in Richtung Ahlbeck, und tatsächlich erkannte er einen Einspänner, einen kleinen Kutschwagen ohne Verdeck, der sich dem Kotten näherte. Der Junge schaute skeptisch und zog die Augenbrauen zusammen, was ihm ein noch wilderes Aussehen verlieh. Reisekutschen waren in dieser Gegend so gut wie nie zu sehen, zwar führte der Weg zur Grenze, endete aber an der Landwehr, die das Bistum Münster von der niederländischen Provinz Overijssel trennte. Der holprige und schmale Weg wurde nur von den umliegenden Bauern und Köttern benutzt, aber niemand von diesen besaß oder benutzte eine Reisekutsche. Diesen begegnete man nur auf dem Hessenweg, der alten Handelsstraße, die die Hansestadt Münster mit der holländischen Messestadt Deventer verband. Nur dort, unweit des Schulzenhofes, gab es einen Durchlass durch die Landwehr.

Der Wagen hatte sich inzwischen bis auf wenige Schritte genähert, und der Junge erkannte eine schwarze, männliche Gestalt auf dem Kutschbock. Der Mann war nach Patrizierart gekleidet, er trug eine Schaube, einen knielangen, weiten Mantelrock mit breitem Kragen und geschlitzten Öffnungen für die Arme, darunter ein steifes Wams und auf dem Kopf ein Barett, alles von schwarzer oder dunkelbrauner Farbe, ohne jegliche Verzierung oder Ausschmückung und für die heiße Jahreszeit gänzlich unpassend.

»Heda, Bursche!«, rief der Mann und winkte den Jungen zu sich.

Dieser reckte zwar den Kopf, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle.

»Wie komme ich zur Ahlbecker Mühle?«, fragte der Fremde.

»Da seid Ihr hier falsch, Herr«, antwortete der Junge.

»Das habe ich mir bereits gedacht. Deswegen frage ich ja. Kannst du mir den Weg weisen? Kennst du die Wassermühle?«

Statt einer Antwort fing der Junge krächzend an zu lachen, es klang nicht wirklich belustigt, eher bitter und zugleich überrascht.

»Was gibt’s denn da zu lachen?«, erboste sich der Schwarzgekleidete.

»Das ist eine lange Geschichte, Herr«, antwortete der Junge mürrisch.

Der Mann wartete vergeblich auf eine Erklärung, sprang schließlich vom Kutschbock und ging zum Kotten. Er baute sich vor dem Jungen auf, stemmte die rechte Hand in die Seite und wiederholte seine Frage.

Der Hund knurrte.

»Aus!«, befahl der Junge, der nun aufgestanden war und den Fremden misstrauisch beäugte. Der Mann war etwa vierzig Jahre alt, recht groß und hatte dunkelbraunes Haar, das ein für die Sommerzeit viel zu bleiches Gesicht umrahmte und bis zu den Schultern reichte. Außerdem fiel dem Jungen auf, dass der Mann den linken Arm unter der Schaube versteckt hielt, nur der rechte ragte aus der seitlichen Öffnung.

»Die Mühle ist vor Jahren abgebrannt«, sagte der Junge schließlich. »Es ist bloß eine Ruine übrig. Alles verkohlt.«

»Ich weiß«, erwiderte der Mann. »Deswegen bin ich hier.«

Die hellblauen Augen des Jungen leuchteten neugierig, er reckte das Kinn vor, schwieg jedoch und nickte bedächtig.

»Wie ist dein Name?«, fragte der Mann.

»Ambros Vortkamp, Herr«, sagte der Junge.

»Ambros? Das ist ein seltener Name in der hiesigen Gegend.«

»Meine Mutter war keine Hiesige.«

»Kann ich sie sprechen?«

»Sie ist tot.«

Der Mann senkte den Kopf und fragte: »Und dein Vater?«

»Hm«, machte Ambros, fuhr sich über die geschwollene Wange und sagte: »Das ist keine gute Idee. Dann müsste ich ihn wecken.«

»Willst du dir einen Schilling verdienen?«

Erneut leuchteten die Augen des Jungen für einen kurzen Moment, doch sofort verzog er wieder die Schnute und schüttelte den Kopf. »Der Hof«, sagte er, »der Vater schläft. Das Vieh und so. Und der Hund natürlich. Wenn Ihr versteht, was ich meine.«

Der Mann schien die verworrenen Worte durchaus zu verstehen und erwiderte: »Zwei Schillinge.«

Ambros grinste unmerklich, zuckte mit den Schultern und sagte: »Der alte Trunkenbold wird schon noch ein paar Stunden schlafen. Also meinetwegen.«

»Du solltest nicht so abfällig über deinen Vater reden«, tadelte ihn der Mann. »Ehren sollst du Vater und Mutter, so steht es in der Heiligen Schrift.«

»Die Mutter ist tot, und der Vater macht’s auch nicht mehr lang«, antwortete der Junge. »Ich red, wie’s mir passt. Wenn es Euch nicht gefällt, könnt Ihr ja die Mühle auf eigene Faust suchen. Im Dunkeln wünsch ich Euch viel Spaß dabei. Ihr wärt nicht der erste, der aus dem Moor nicht mehr herausfindet.« Er ging an dem Mann vorbei und betrachtete den Wagen. Das rechte Rad saß schräg auf der Achse, außerdem fehlten zwei Speichen. Ambros runzelte die Stirn, stieg auf den Kutschbock und befahl dem Hund, der freudig aufgesprungen war: »Du bleibst hier, Müntzer!« Der Hund kniff den Schwanz ein und trollte sich.

»Müntzer?«, wunderte sich der Schwarzgekleidete, setzte sich neben den Jungen und nahm die Zügel. »Ein seltsamer Name für einen Hund.«

»Vater hat ihm den Namen gegeben. Nach dem Bauernführer. Er meint, das wird die Pfaffen ärgern.«

»Da mag er wohl recht haben«, murmelte der Fremde. Er rümpfte die Nase, als nähme er einen strengen Geruch wahr, und schaute den Jungen skeptisch an. »Stinkst du so?«

»Das sind die Schafe«, sagte Ambros und grinste. »Wenn’s Euch nicht passt, könnt Ihr …«

»Ja, ja«, unterbrach ihn der Fremde. »Also, wohin?«

»Eigentlich müsstet Ihr zurück ins Dorf und dort auf den Hessenweg, aber das dauert zu lange«, antwortete Ambros und hielt dem Mann die offene Handfläche fordernd unter die Nase. »Ich kenne eine Abkürzung. Wenn Ihr Euch beeilt, schaffen wir es vor Sonnenuntergang.«

Der Mann kramte an seinem Gürtel nach dem ledernen Geldbeutel, öffnete ihn umständlich mit der rechten Hand und holte einige Münzen heraus. Ambros erkannte große und wie neu glänzende Silbertaler. Wenn er sich nicht irrte, war auf der Vorderseite das Wappen des Bischofs zu sehen: ein achtzackiger Stern im Schild. Es waren die größten Silbermünzen, die der Junge bisher zu Gesicht bekommen hatte. Silbertaler waren sehr selten in der Gegend, üblicherweise wurde im Münsterland mit Gulden gerechnet und bezahlt. Schließlich hatte der Fremde die Kleinmünzen gefunden und gab dem Jungen die versprochenen Schillinge. Wieder fiel Ambros auf, dass der Mann die linke Hand nicht benutzte, und er fragte sich, ob der Mann vielleicht nur einen Arm hatte. Und ob er die viel zu warme Schaube womöglich nur trug, um seine Versehrtheit zu verbergen.

»Wie willst du anschließend zurückkommen?«, fragte der Fremde. »Hast du kein Pferd?«

Wieder lachte der Junge bitter, rieb sich die Nase, drehte den gefundenen Dreck zwischen zwei Fingern und raunzte: »Versoffen hat er den Gaul!« Er deutete mit der Hand nach Westen und sagte: »Da lang!«

»Bist du sicher?«, antwortete der Mann.

»Wenn nicht ich, dann niemand.« Ambros verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. »Kein Mensch kennt das Moor so gut wie ich«, fügte er prahlerisch hinzu, trat dem Pferd in die Flanke und rief: »Hü!«

Hinter ihnen bellte der Hund. Es klang ein wenig beleidigt.

Die Sonne berührte mittlerweile die Wipfel der Schwarzerlen. Die Kutsche fuhr auf dem sich merklich verengenden und zunehmend holprig werdenden Sandweg in Richtung Grenze. Links und rechts des Weges befand sich nichts als morastige Brache. Das von Torfmoosen und Wollgras bewachsene Hochmoor erstreckte sich über viele Morgen. Umgeben war das niedrig bewachsene und fast baumlose Moor vom Bruchwald, dem sie sich nun näherten und in dem das Grundwasser so hoch stand, dass sich zwischen den Erlen und Birken große Lachen bildeten. Weder der Junge noch der Fremde sprachen ein Wort, aus dem Wald erschallte das rollende Schnurren eines Ziegenmelkers, hin und wieder schlug Ambros nach den Mücken, die sich in riesigen Schwärmen auf sie stürzten. Dem Mann jedoch schienen die Blutsauger nichts auszumachen, oder er war nicht in der Lage, nach ihnen zu schlagen, da er genug damit zu tun hatte, mit nur einer Hand das Pferd und den Wagen auf dem Weg zu halten. Als sie nach einer Viertelstunde den etwa mannshohen und doppelten Wall der Landwehr einen Steinwurf weit entfernt ausmachten, rief Ambros plötzlich: »Har!«

»Har?«, wunderte sich der Mann.

»Nach links, Herr!«

»Ich weiß, was har bedeutet«, erwiderte der Fremde und schaute erstaunt zur Seite, wo der Bruchwald dicht und düster stand. »Aber hier gibt es keinen Weg.«

»Im Frühjahr hättet Ihr sicherlich recht«, antwortete der Junge. »Dann würden wir nach wenigen Schritten im Morast feststecken, aber im Sommer geht’s.«

»Das rechte Rad des Wagens ist lose«, sagte der Mann.

»Das hab ich schon bemerkt«, erwiderte Ambros, »aber es wird gehen, wenn Ihr vorsichtig fahrt.«

Der Mann zögerte kurz, lenkte dann den Wagen nach links und schlug dem sich sträubenden Pferd mit den Zügeln aufs Hinterteil. Der Rappe machte einen Satz nach vorn, die Kutsche schwankte, und dem Mann schlug der Ast einer Birke gegen die linke Seite. Schmerzerfüllt schrie er auf, ließ die Zügel fahren und hielt sich die Schulter.

»Seid Ihr verletzt, Herr?«, fragte Ambros.

»Das hat dich nicht zu kümmern!«, fauchte der Mann. Schweiß stand auf seiner Stirn, und mit gepresster Stimme fügte er hinzu: »Rotzlöffel!«

»Es kümmert mich nicht«, antwortete der Junge verstockt. »Aber vielleicht wäre es einfacher, Ihr würdet Euch nach hinten setzen und mir die Zügel geben. Ich bin ein guter Kutscher, und im Moor kennt sich niemand …«

»Meinetwegen«, knurrte der Fremde, reichte Ambros die Zügel und kletterte nach hinten. »Aber mach keine Dummheiten, Bengel!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!« Ambros grüßte militärisch, strahlte übers ganze Gesicht und legte die beiden Schillinge, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, unter den Kutschbock. Einen Geldbeutel besaß er nicht, wozu auch? Dann rief er dem Pferd zu: »Hü, Alter! Braver Kerl!«

Mit erstaunlicher Geschicklichkeit und sichtbar guter Laune lenkte der Junge die Kutsche durch das Dickicht, machte Bögen um unsichtbare Schlammlöcher, redete dem Pferd gut zu, streichelte dessen Hinterteil und lenkte es mehr mit Worten und Händen als mit den Zügeln. Nicht ein einziges Mal scheute das Tier, auch als eine schwarze Kreuzotter sich zischelnd über den Weg schlängelte, wurde das Pferd nur kurz unruhig. Ambros kommentierte alles voll freudiger Erregung, unterhielt sich mit den trällernden Wiesenpiepern und Blaukehlchen, als könnten sie ihn verstehen. Nur der Mann hinter ihm schwieg beharrlich und starrte ins Nichts. Nach einer weiteren Viertelstunde hatten sie das Ende des Waldes und die ersten Ausläufer der Heide erreicht. Wieder änderte sich die Umgebung auffallend, der Boden wurde sandig und hügelig und war mit Rosmarinheide, Wacholder und Ginster bewachsen. Da die Sonne inzwischen untergegangen war, wirkten die üppigen Sträucher und Büsche wie schwarze Riesen, die sich ihnen in den Weg stellten. Doch das zunehmend dämmrige Licht schien Ambros nicht zu beunruhigen, vermutlich hätte er den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden. Er fuhr in Schlangenlinien um die mehr als mannshohen Sanddünen herum, fand Durchlässe, wo das ungeübte Auge nur Dornengestrüpp und Heidedickicht sah, und drehte sich schließlich zu dem Mann in der Kutsche um.

»Gleich sind wir da«, sagte er und deutete nach links, »seht Ihr den Galgen?«

Der Mann schaute in die gewiesene Richtung, erkannte das Holzgerüst, das auf einem Hügel stand und den umliegenden Bruchwald überragte, und nickte.

»Dort ist der Hessenweg«, fuhr Ambros fort und klopfte dem Rappen aufs Hinterteil. »Und auf der anderen Seite führt ein Weg zur Mühle.«

Kurze Zeit später hatten sie den breiten und befestigten Handelsweg erreicht, und der Fremde atmete erleichtert auf. Er fuhr sich über die schweißnasse Stirn, was Ambros wunderte, denn die Hitze hatte merklich nachgelassen und der Wind zugenommen. Sie standen nun direkt an der Landwehr, die an dieser Stelle einen Durchlass bot, aber mit einem Schlagbaum versperrt war. Ein riesiges Vorhängeschloss sorgte dafür, dass kein Wagen die Grenze passieren konnte. Nur Fußgänger und einzelne Reiter konnten die Landwehr durch eine kleine Pforte passieren.

»Den Schlüssel hat der Landwehrmann«, erklärte Ambros, der mit seinen Augen dem Blick des Mannes gefolgt war. »Aber er öffnet die Schranke nur gegen eine Maut.«

»Wer ist der Landwehrmann?«

»Der Schulze.«

»Und wie heißt dieser Schulze?«

»Lubbert Gerwing«, antwortete der Junge, »sein Hof ist gleich dort drüben, hinter dem Galgenbülten. Im Dorf nennen Sie ihn ›Brookbauer‹, weil er mitten im Bruchwald wohnt. Wenn Ihr genau hinseht, Herr, könnt Ihr das Licht durch die Bäume sehen. Sein Hof ist der größte weit und breit.«

Wieder nickte der Mann, schaute jedoch nicht zum Schulzenhof, sondern befahl: »Weiter!« Seine Stimme klang nun leise und zittrig.

Auf halbem Wege zwischen Landwehr und Galgen führte ein schmaler, aber ebenfalls befestigter und von Buchen bestandener Pfad in südlicher Richtung zur Kolkmühle. Ihren Namen hatte die Mühle nach einem Moortümpel, dem so genannten Kolk, der unweit des Ahlbachs lag und dessen abgestandenes, fauliges Wasser schwarz wie Pechkohle war. Es war mittlerweile so dunkel, dass die Gebäude zwischen den Bäumen kaum auszumachen waren. Erst als die Kutsche das unversehrte Mühlenwehr oberhalb der Umflutschleuse überquerte, konnte Ambros die Ruine der Wassermühle und das verwahrloste Wohnhaus des Müllers im fahlen Licht des beinahe vollen Mondes erkennen. Wie oft hatte ihm sein Vater von der Mühle erzählt, aber da er meistens betrunken gewesen war, wusste Ambros nicht, ob er den Tiraden des Vaters glauben durfte. Dennoch lief ihm ein Schauer über den Rücken, und ein pochender Schmerz fuhr ihm in die Schläfen, wie jedes Mal, wenn er die Überreste der Kolkmühle sah. Denn dies war der Ort, an dem seine Mutter ums Leben gekommen war.

»Oh, Herr Jesus!«, rief der Fremde beim Anblick der rußgeschwärzten Mühle und stieg schwerfällig aus der Kutsche. »Was für eine Schande!« Er ging zu dem backsteinernen Gemäuer, das wie ein hohler Zahn aus dem Mühlwehr herausragte. Zwar war das Fundament, das aus großen Sandsteinquadern gemauert war, noch intakt, doch der Rest der Mühle war in sich zusammengesackt. Hinter den fenster- und türlosen Backsteinmauern, die auf dem Fundament ruhten, befand sich nichts als gähnende Leere, Moder und Asche. Das Dach und die hölzernen Decken waren eingestürzt, nur einige verkohlte Balken und die aus dem Schutt ragenden Mühlsteine auf dem Grund der Mühle deuteten darauf hin, dass hier einst mehrere Mahlgänge in Betrieb gewesen waren. Auch das große äußere Mühlrad war nicht mehr an Ort und Stelle, die eiserne Antriebswelle ragte wie ein Stumpf aus dem Keller der Mühle. Die Ruine war ein trostloser und gespenstischer Anblick. Da die Schleusen geöffnet waren und sich der Ahlbach somit nicht zum Mühlteich staute, wirkte das mächtige, weit aus dem Wasser ragende Mühlenwehr völlig deplatziert und überdimensioniert. Wie ein schlechter Scherz seines Erbauers.

»Warum fragst du eigentlich nicht, was du fragen willst?«, wandte sich der Fremde flüsternd an Ambros und nahm das Barett vom Kopf.

»Was, Herr?«, antwortete der Junge und glaubte im Mondlicht zu erkennen, dass die Haare des Mannes klitschnass waren. Und in dem fahlen Licht sah das Gesicht des Fremden noch blasser aus.

»Du wunderst dich, wer ich bin«, sagte der Mann, »und was ich an diesem garstigen Ort will, ist es nicht so?«

Ambros zuckte mit den Schultern.

»Mein Name ist Heinrich Vernholt. Ich bin der neue Pächter der Mühle.« Da der Junge nicht reagierte, setzte der Mann hinzu: »Der Bischof hat mich beauftragt, die Mühle zu reparieren und wieder in Betrieb zu nehmen.«

»Der neue Müller?«, entgegnete Ambros nach einer Weile und kratzte sich den Schädel. »So seht Ihr gar nicht aus. Ich hätte Euch eher für einen Amtmann oder Prediger gehalten. Kennt Ihr Bischof Franz persönlich?«

Der Fremde zuckte unmerklich zusammen, als hätte er wieder Schmerzen in der Schulter, doch bevor er auf die Bemerkung des Jungen eingehen konnte, wurde er durch ein seltsames, kratzendes Geräusch abgelenkt. Auch Ambros hatte es gehört und zunächst für den nächtlichen Lockruf eines Ziegenmelkers gehalten. Doch dann gewahrte er, dass das Geräusch aus dem unweit der Mühle gelegenen Müllerhaus kam. Es klang rasselnd und schnarrend und war viel zu laut für einen Vogel.

»Was ist das?«, fragte Vernholt.

»Vermutlich Wildschweine«, antwortete Ambros, nahm einen abgestorbenen Ast zur Hand und näherte sich dem Haus. »Wölfe und Luchse grunzen nicht.«

»Wölfe?«, erwiderte Vernholt und ging hinter der Kutsche in Deckung.

Und das will ein Müller sein?, dachte Ambros kopfschüttelnd. Bislang hatte er Männer dieses Berufes nur als verwegene, rauflustige und draufgängerische Kerle kennengelernt. Wie die letzten beiden Müller. Oder sein Vater vor ihnen. Früher einmal. Heinrich Vernholt jedoch erschien ihm beinahe weibisch in Gehabe und Aussehen. Er mochte der neue Pächter der Mühle sein, ein waschechter Müller war er nicht.

Ambros hatte sich dem Haus mittlerweile bis auf wenige Schritte genähert, das Geräusch hatte noch zugenommen, es kam aus dem links vom Eingang gelegenen Raum, der einst als Wohnstube gedient hatte. Der Junge schaute durch das Fenster, in dem schon lange weder Glas noch Rahmen waren, konnte jedoch in der Dunkelheit nichts erkennen. Keine Umrisse, keine Bewegung. Dennoch ließ er den Knüttel sinken und lächelte erleichtert. Er hatte erkannt, dass es sich bei dem Geräusch um menschliches Schnarchen handelte, und er wusste auch, von wem es stammte. »Aufwachen, Ludger, sonst sag ich’s deinem Vater!«, rief er und schlug mit dem Ast gegen die Wand. »Rauskommen, sonst setzt es was!«

Sofort verstummte das Schnarchen, ein kurzer krächzender Schrei folgte, dann völlige Stille. Nach wenigen Sekunden bewegte sich etwas, Stroh raschelte, eine Bohle knarrte, und im nächsten Moment schoss ein kleiner Junge wie ein Blitz zur Tür hinaus. Ambros, der mit diesem Verhalten gerechnet zu haben schien, stellte dem Jungen ein Bein, dass dieser kopfüber hinfiel, wie ein Käfer auf dem Rücken zu liegen kam, mit den Beinen strampelte, sich aber nur im Kreis drehte und nicht vom Fleck rührte. Der Junge, den Ambros mit Ludger angesprochen hatte, war einen Kopf kleiner als er und höchstens acht Jahre alt. Doch davon abgesehen glich er Ambros auffallend, er hatte die gleichen strubbeligen, verfilzten Haare, ein ähnlich dreckiges Gesicht, ebenso schwarze Füße und trug gleichfalls zerrissene Kleidung. Er hätte sein jüngerer Bruder sein können.

»Bist wieder ausgerissen, was?«, fragte Ambros und half dem Kleinen auf die Beine. »Oder hat der Alte dich vom Hof gejagt?«

»Lah, lah, lah«, machte der Junge und zog eine Grimasse.

Ludger Gerwing, »der lallende Ludger«, wie ihn die Ahlbecker wegen seines unverständlichen Gebrabbels nannten, war der jüngste Sohn des Brookbauern. Ein harmloser Schwachkopf, sagten die Leute und lachten über ihn. Eine Strafe Gottes nannte ihn sein Vater, der Schulze. Da es die Mühe nicht wert war, sich mit dem hirnlosen Idioten zu befassen, ließ der Brookbauer ihn wie einen Köter herumstreunen, gab ihm morgens und abends zu essen und prügelte ihn, wenn er der göttlichen Strafe überdrüssig war. Sonst jedoch konnte Ludger tun und lassen, was er wollte. Er ging wintertags nicht wie die anderen Söhne der Erbbauern in die Schule (er hätte ohnehin nichts begriffen), er half im Sommer nicht auf den Feldern (von Hilfe hätte man nicht reden können), er schlief auf dem Heuboden oder im Pferdestall und lungerte die übrige Zeit in der Gegend herum. Wie ein wildes Tier. Ambros sah ihn häufig in der Heide und ließ ihn sogar dann und wann neben sich Platz nehmen. Ludger verstand jedes Wort, und manchmal hatte Ambros den Eindruck, der Schwachkopf sei nicht ganz so verrückt, wie alle Leute glaubten. Er konnte nicht reden, weil seine Zunge ein winziger Stummel war. Deshalb gab er auch im Schlaf die seltsam rasselnden Geräusche von sich. Außerdem klaffte in seinem Oberkiefer eine Lücke, und die Oberlippe war doppelt gespalten, wie bei einem Hasen. Vielleicht war dies der Grund, warum sämtliche Hunde des Dorfes sich zähnefletschend auf ihn stürzten, sobald sie ihn sahen oder rochen. Nur Müntzer ließ ihn in Ruhe, denn der war lammfromm und ließ sich weder von Mensch noch Tier von seinen Pflichten als Schafhütehund ablenken.

»Ab nach Hause!«, befahl Ambros und gab Ludger einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. »Alles in Ordnung, Meister Vernholt«, wandte er sich an den Müller, »es ist nur der lallende Ludger.« Doch der Schwarzgekleidete war verschwunden, zumindest stand er nicht mehr hinter der Kutsche. »Was für ein Feigling!«, lachte Ambros leise.

»Aah aah«, machte Ludger, scharrte mit den Füßen, zupfte an Ambros’ Ärmel und deutete zur Kutsche.

Jetzt sah auch Ambros, was den Jungen so erregt hatte. Der reglose Körper des Fremden lag neben der Kutsche auf dem Boden. Ambros lief zu dem Müller und stellte erstaunt fest, dass er in Ohnmacht gefallen war. Der Junge lachte zunächst, doch als er den Mann an den Schultern fasste, um ihn wachzurütteln, bemerkte er, dass die Schaube an der linken Schulter durchnässt war. Ambros betrachtete seine Hand im Mondlicht, roch daran und erkannte, dass sie blutverschmiert war.

»Jesses!«, rief er und horchte an der Brust des Müllers. Das Herz schlug, aber der Brustkorb hob und senkte sich nicht. Der Atem ging flach und kaum spürbar.

»Ist Maria zu Hause?«, rief er Ludger zu.

Der Junge antwortete mit einer verstörten Grimasse.

»Ja oder nein?!«

Ludger nickte und zuckte dann mit den Schultern.

»Los!«, befahl Ambros und packte den Müller am Oberkörper. »Nimm du die Beine. Wir legen ihn in den Wagen. Und dann bringen wir ihn zu deiner Schwester. Vielleicht kann die ihm helfen.«

Ludger schaute alarmierte drein, schüttelte den Kopf, half Ambros aber dennoch, den schweren Körper auf den Rücksitz der Kutsche zu hieven. Ambros sprang auf den Kutschbock und zog den sich vergebens wehrenden Ludger mit sich. Wenige Sekunden später war der Wagen auf dem Hessenweg, unterwegs zum Hof des Brookbauern.

Zweites Kapitel

Handelt von zwei gestohlenen Schillingen und einem geheimen Auftrag

Obwohl der Schulzenhof von dichtem Bruchwald umgeben war, überragte das Dach des Bauernhauses die Baumwipfel um etliche Klafter und war weithin sichtbar. Der gesamte Hof stand auf einer Warft, einem aufgeworfenen Erdhügel, und war mit einem Entwässerungsgraben umgeben. Eine breite hölzerne Brücke verband den Hof mit der Zufahrt zum Hessenweg. Der Bauernhof lag so einsam und abgeschieden, wie es sich nur denken ließ, ringsum nichts als Wald und Moor, die Grenze nicht weit, der Galgenbülten gleich nebenan. Ambros schauderte es, als er die Kutsche über den sich schlängelnden Pfad lenkte und nun an der Brücke anlangte. Die Lichter, die er noch vor einer halben Stunde von der Landwehr aus gesehen hatte, waren inzwischen erloschen. Nichts regte sich auf dem Hof, gespenstische Stille, die nur vom Ruf einer Eule und dem Knarren der Bohlen unter den Kutschenrädern gestört wurde. Ambros lenkte die Kutsche auf den zentralen Platz unter der alten Linde, die majestätisch in der Mitte thronte.

»Hol deine Schwester!«, befahl Ambros und stieß Ludger, der sich nicht vom Fleck rühren wollte, mit einem Fußtritt vom Kutschbock.

Der stumme Junge landete wie eine Katze auf den Füßen, rannte im Zickzack über den Platz und verschwand durch einen Nebeneingang im Haus des Bauern, einem typisch westfälischen Hallenhaus, unter dessen mächtigem Dach Mensch und Tier gemeinsam lebten. Das Haus war im Fachwerkstil errichtet, das reetgedeckte Dach reichte an den Seiten beinahe bis zum Boden, und das Tor an der Stirnseite des Gebäudes war so breit und hoch, dass eine fuderhohe Wagenladung spielend hindurchpasste. Umgeben war das Bauernhaus von kleineren Gebäuden, einem Stall für die Schweine, einem Häuschen für die Hühner und einer zusätzlichen Scheune für Futter und Gerätschaften. Der Hof des Schulzen war auch der einzige in Ahlbeck, der ein eigenes Gesindehaus hatte. Aus dem winzigen und windschiefen Häuschen, das sich direkt neben der Brücke befand, trat nun ein großer, stämmiger Mann und rief: »Heda, was gibt’s? Was wollt Ihr?« Der Mann kam schlurfend näher, gähnte mehrmals, erkannte den Jungen auf dem Bock und sagte: »Ach, du bist’s, Ambros. Was führt dich her? Was ist das für eine Kutsche?«

»Guten Abend, Bernhard«, antwortete Ambros, winkte dem Stallknecht zu und verkündete stolz: »Ich bringe einen Verwundeten.«

Im selben Moment war der Brookbauer mit seiner Tochter Maria aus dem Bauernhaus getreten, in der einen Hand hielt er eine rußende Fackel, mit der anderen zog er den sich sträubenden Ludger am Ohr hinter sich her. »Was ist das für ein Radau?«, rief er und wollte Maria, die nur mit einem Nachthemd und einem Mantel bekleidet war, zurück ins Haus schicken. Doch Maria hatte Ambros’ Worte gehört, kümmerte sich nicht um den tobenden Vater, lief zur Kutsche und kletterte in den Fond.

»Was fällt dir ein, hier mitten in der Nacht einen solchen Lärm zu machen?«, rief der Brookbauer und trat seinem Sohn ins Hinterteil. »Und du da!« Er fuchtelte mit der Fackel herum und deutete auf Ambros. »Scher dich zum Teufel!«

Ambros betrachtete den Bauern wie einen bösen Waldgeist. Lubbert Gerwing war ein riesiger Kerl, weit über sechs Fuß groß und von enormem Umfang. Seine Oberschenkel waren so dick wie Ambros’ Brustkorb, so kam es dem Jungen zumindest vor. Noch nie war er dem Schulzen so nah gewesen. Er kannte ihn aus der Kirche oder von den öffentlichen Gerichtsverhandlungen, die in unregelmäßigen Abständen auf dem Schulzenhof abgehalten wurden, aber stets hatte er ihn nur aus der Ferne und in vollem Ornat gesehen. Jetzt stand der Brookbauer direkt vor ihm, nur in Hose und Hemd, sein mächtiger Bart reichte ihm bis auf die Brust, das lichter werdende Haupthaar hatte er zum Zopf gebunden. In der Eile hatte der Bauer vergessen, eine Mütze aufzusetzen, und vielleicht war Ambros nur deshalb so perplex, weil er den Schulzen zum ersten Mal barhäuptig sah.

»Der Mann blutet stark«, sagte Maria, die sich inzwischen um den immer noch bewusstlosen Vernholt kümmerte. »Wir müssen ihn ins Haus schaffen. Hilf mir, Bernhard! Und du, setz den Kessel auf!«, wandte sie sich an ihren Bruder.

»Nichts da!«, polterte der Bauer und packte Ludger wie ein Kaninchen am Genick. »Ihr bringt mir kein Gesindel ins Haus. Weiß der Henker, was mit dem Kerl los ist. Geht uns auch nichts an. Der bleibt, wo er ist!«

»Er sieht nicht wie Gesindel aus«, erwiderte Maria.

»Der Mann heißt Vernholt, er ist der neue Pächter der Mühle«, sagte Ambros, die Augen immer noch starr auf den Schulzen gerichtet. »Der Bischof schickt ihn, die Kolkmühle wieder aufzubauen. Vernholt ist an der Mühle zusammengebrochen. Wie vom Teufel niedergestreckt.«

Gerwing zuckte einen Moment zusammen, ließ seinen Sohn los und deutete mit der Fackel auf die Kutsche. »Der Bischof?«, fragte er. »Bist du sicher?«

Ambros zuckte mit den Schultern und nickte dann.

»Was ist mit ihm geschehen? Warum blutet er?«

»Die Mühle ist verhext«, antwortete Ambros, stieg vom Kutschbock und nickte bedeutsam. »Sie bringt jedem Müller Unglück, weil sie verflucht ist. Das sagt Vater immer. Und der muss es ja wissen.«

»Dein Alter ist ein verdammter Säufer!«, schnauzte der Schulze, stieg in die Kutsche, reichte Maria die Fackel und nahm den Müller wie ein Kind auf beide Arme. »Was starrt ihr so?«, rief er und trug Vernholt zum Haus. »Der Mann braucht Hilfe. Bernhard, fach die Glut in der Lucht an! Und schaff Heu heran, damit wir ihn irgendwo hinlegen können! Was glotzt ihr denn wie die Ölgötzen?«

Maria sprang vom Wagen, lief zum Haus, öffnete ihrem Vater eine kleine Pforte neben dem Haupttor und ließ auch Bernhard und Ludger hinein. Da niemand ihn daran hinderte, betrat Ambros hinter ihnen das Haus. Obwohl die Tenne nur von der einen Fackel erleuchtet wurde, erkannte er die riesigen Ausmaße der seitlichen Stallungen und des Dreschplatzes in der Mitte. Mächtige Eichenbalken durchquerten die Tenne, mannsdicke Pfeiler warfen düstere Schatten, große steinerne Tröge standen vor den Holzverschlägen, in denen jedoch sommertags kein Vieh stand. Am Ende der Diele befand sich der vom Bauer und seiner Familie bewohnte Flett, und direkt davor, unter einer Öffnung in der Decke, sah Ambros die Lucht, eine Art Wohn- und Schlafstelle für das Hausgesinde, mit einem offenen Herd in der Mitte.

Zwei Männer hatten dort auf Strohsäcken neben einem alten, ausgedienten Bauernschrank gelegen, standen nun verschlafen vor dem niedrigen Seiteneingang, durch den Ludger vorhin das Haus betreten hatte, und warteten auf weitere Befehle des Bauern. Lubbert Gerwing bettete den Bewusstlosen auf einen der Strohsäcke, während Bernhard das Feuer anfachte, einer der Hausknechte Wasser holte und Maria dem Verwundeten die Schaube und das Wams mit einem Messer aufschnitt.

Die Schulzentochter war erst sechzehn Jahre alt und bereits Witwe. Vor zwei Jahren hatte sie den Altheimer Wundarzt Johannvater geheiratet, doch den hatte nur wenige Monate später der schwarze Tod geholt. Da die Verwandten des Medicus die junge Frau für den Tod verantwortlich machten und sie für eine Unglück bringende Kräuterhexe hielten, kehrte die Witwe nur ein halbes Jahr nach der Hochzeit auf den väterlichen Hof zurück. Ambros wusste nicht, ob sie während ihrer Ehe das wundheilende Handwerk gelernt hatte, aber da sie die Witwe eines Arztes war, hatte er an der Mühle sofort an die Johannvaterin gedacht. Schließlich war der Altheimer Arzt auch deshalb auf Maria aufmerksam geworden, weil diese in dem Ruf stand, ein Kräuterweib zu sein. Genau wie ihre vor Jahren verstorbene Mutter, die Brookbäuerin. Außerdem war Maria eine schöne Frau, die mit Abstand schönste Frau, die Ambros in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Nur die andere Maria auf dem alten Gemälde, das er sonntags in der Ahlbecker Kirche immerzu anstarrte, war ähnlich schön. Aber das zählte vermutlich nicht, denn die war schließlich eine Heilige und die Mutter eines Gottes obendrein.

»Was suchst du hier?«, wurde der Junge aus seinen Gedanken gerissen. Der Brookbauer stand breitbeinig vor ihm, hatte die Arme in die Seite gestemmt und setzte knurrend hinzu: »Scher dich weg, Bengel!«

»Jawohl, Herr!«, rief Ambros erschrocken, duckte sich und rannte durch die Seitentür nach draußen. Beinahe wäre er mit dem Hausknecht zusammengestoßen, der mit einem Eimer Wasser zur Tür hereinkam. Durch ein kleines Fenster warf Ambros einen letzten Blick ins Innere und sah die Johannvaterin, die mit einem feuchten Lappen die Wunde an der Schulter des Müllers reinigte. Ambros zog den Rotz hoch, spuckte verächtlich auf den Boden und schlich sich an der Hauswand entlang zum Platz unter der Linde. Gerade als er den verwaisten Hof betreten wollte, trat der Schulze aus dem Haus und ging schnurstracks zur Kutsche. Er betrachtete das rechte Rad mit den fehlenden Speichen und wackelte daran. Dann schaute er unter die Sitze, durchsuchte die Gepäckablage und fand schließlich unter dem Kutschbock, was er gesucht hatte: die lederne Reisetasche des Fremden. Er öffnete sie, kramte darin herum, schien jedoch in dem fahlen Mondlicht nichts erkennen zu können und zog sie unter dem Sitz hervor. Er stutzte einen Augenblick, fasste erneut unter den Kutschbock, steckte etwas in seine Hosentasche und verschwand dann samt Reisetasche im Haus.

Ambros fuhr ein Schreck in die Glieder, er riss die Augen auf und hielt sich die Hand vor den Mund: die beiden Schillinge! Sie lagen immer noch unter dem Kutschbock, in all der Eile und Aufregung hatte er sie völlig vergessen. Er lief zur Kutsche, sprang auf den Bock und suchte nach den Münzen. Vergeblich. Sie waren nicht mehr da. Der Schulze hatte sie eingesteckt.

»Krr, krr«, machte ein Kolkrabe auf dem Reetdach.

Ambros hätte vor Wut und Enttäuschung weinen mögen. Er ballte die Faust, und tatsächlich lief ihm eine Träne über die verdreckte Wange.

»Krr, krr«, wiederholte der Rabe. Und dann: »Ksch, ksch.«

Ambros stutzte, drehte sich um und grinste. Der Kolkrabe hieß Ludger, und er saß nicht auf dem Dach, sondern stand in einer kleinen Tür im Vordergiebel des Hauses und deutete auf eine Leiter, die neben dem Haupttor an die Wand gelehnt war. Ambros verstand und nickte. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Wange, rümpfte die Nase und lief zum Haus. Er stellte die Leiter unter die Giebelöffnung, vergewisserte sich, dass ihn niemand sah, und stieg hinauf. Als er oben angekommen war, zog ihn Ludger zu sich, schloss die Tür und legte den Zeigefinger auf Ambros’ Lippen. Dieser nickte erneut und schaute sich auf dem Dachboden um.

Der gesamte Balken war bis unters Dach mit Heu und dem vor wenigen Wochen geernteten Roggen gefüllt. An den kleinen Gängen und Tunneln, die sich durch Gras und Getreide zogen, erkannte Ambros, dass Ludger nicht zum ersten Mal hier oben war. Der Kleine deutete mit dem Finger zur Flettseite des Hauses und kroch voran. Obwohl Ambros nur unwesentlich größer als der Schulzensohn war, hatte er Schwierigkeiten, dem anderen durch die winzigen Löcher und Durchlässe zu folgen. Als Ludger sich das nächste Mal zu Ambros umdrehte und ihm mit der Hand »Halt!« gebot, befanden sich die beiden Jungen direkt über der Lucht. Durch die Öffnung im Boden konnte Ambros den verwundeten Müller auf seinem Lager erkennen. Die Johannvaterin beugte sich über den Kessel, rührte in dem köchelnden Sud und tunkte ein Leinentuch hinein, das sie anschließend dem Mann um die Schulter band. Den Schulzen konnte Ambros nicht sehen, aber er hörte das Rascheln von Papier und das missfällige Grummeln des Brookbauern.

»Der verdammte Lausebengel hat recht«, murmelte der Bauer und trat an die Herdstelle, sodass Ambros in seinem Versteck ihn beobachten konnte. In der Hand hielt er einen Siegelbrief, und einen kurzen Moment lang schien es, als wollte er das Papier ins Feuer werfen.

»Welcher Lausebengel?«, fragte Maria abwesend.

»Der Junge vom Molenkötter«, antwortete ihr Vater. »Er hat nicht gelogen. Der Mann heißt Heinrich Vernholt, und dieses Schreiben stammt von Franz von Waldeck und ist mit dem bischöflichen Siegel versehen.« Er hielt Maria das Papier unter die Nase, die jedoch nur mit den Schultern zuckte. Sie wischte dem Bewusstlosen mit einem Tuch über die schweißnasse Stirn.

»Aber verstehst du denn nicht?«, fauchte der Brookbauer. »Der Bischof schickt einen neuen Müller. Begreifst du nicht, was das heißt?«

»Durchaus«, erwiderte Maria, »irgendwann musste es wohl passieren. Es ist sein Land und seine Mühle. Warum sollte er es nicht nutzen? Nur weil er in den letzten Jahren keine Zeit hatte, sich darum zu kümmern?«

»Pah!«, stieß Gerwing ärgerlich hervor. »Wird der Kerl überleben?«

»Er hat viel Blut verloren, und die Wunde ist entzündet«, sagte Maria und säuberte ein Messer mit dem Sud aus dem Kessel. »Aber die Kräuter werden den Eiter herausziehen, und wenn ich ihn zur Ader gelassen habe und er eine Nacht geschlafen hat, dann wird er es schon schaffen.«

»Leg dich nicht zu sehr ins Zeug«, brummte der Vater und steckte das Schreiben hinters Hemd. »Tot nützt er uns mehr als lebendig.«

»Vater!«, empörte sich Maria und schnitt dem Müller mit dem Messer in die Armbeuge, dass das Blut in einem dicken Strom herausquoll. »Versündige dich nicht! So redet kein Christenmensch.«

»Ach was!«, knurrte der Schulze. »Was ist das überhaupt für eine Verletzung? Sah mir verdammt nach einer Schnittwunde aus.«

»Die Verletzung ist schon einige Wochen alt«, sagte die Tochter, ließ das Blut rinnen und band dann den blutenden Arm mit einem Seil ab. »Die Wunde ist sehr tief und nur teilweise verheilt. Sie scheint wieder aufgebrochen zu sein. Ich schätze, sie stammt von einem Messer oder einem Degenhieb. Außerdem sind zwei Rippen gebrochen. Vermutlich eine Kampfverletzung.«

»Ein Rad seines Wagens ist kaputt, vielleicht hatte er einen Unfall. Seltsamer Müller«, knurrte Gerwing kopfschüttelnd, machte plötzlich eine Kehrtwende und schritt aus Ambros’ Blickfeld. »Bernhard!«, schallte es über die Tenne. »Sattle das Pferd!«

»Das Pferd, Herr?«, hörte Ambros die erstaunte Stimme des Knechts.

»Hörst du schlecht? Den Schimmel, verdammt, aber hurtig!«

»Jawohl, Herr!«

Schritte entfernten sich, eine Tür quietschte in den Angeln. Dann knallte es laut. »Wer hat denn die verfluchte Leiter hier hingestellt?«, schimpfte Bernhard. Wieder schepperte es. »Weg damit!« Dann war es still.

Ambros wollte Ludger bereits bedeuten, dass die Leiter verschwunden war und sie nun in der Falle saßen, als plötzlich die Treppe knarrte, die zur Galerie über dem Flett führte. Dort, oberhalb der Wohnstube, befanden sich die Schlafkammern der Herrschaft, nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der Ludger und Ambros im Heu lagen. Da es jedoch auf dem Dachboden finster war und der Schulze kein Licht bei sich hatte, konnte er die reglos daliegenden Jungen nicht in ihrem Versteck erkennen. Er kam schwerfällig die Treppe hinauf, ging die Galerie entlang, lehnte sich über das Geländer und schaute ein letztes Mal zu dem verletzten Müller auf dem Tennenboden. Mit einem unverständlichen Fluch verschwand er in einer der Kammern.

Ambros schaute sich Hilfe suchend auf dem Dachboden um, doch außer der kleinen Tür über dem Tennentor, der Öffnung über der Lucht und der Treppe zur Galerie gab es keinen weiteren Fluchtweg. Das dachte er zumindest, bis Ludger ihn am Ärmel zupfte und zur Seite deutete. Ambros sah in die gewiesene Richtung, gewahrte aber nichts als Heuballen und Getreidegarben. Ludger winkte ihm zu, schlüpfte durch ein unsichtbares Loch und war verschwunden. Ambros folgte ihm, kroch durchs Heu und erkannte, dass der Kleine eine Bohle im Boden zur Seite geschoben hatte und an einem Pfeiler nach unten geklettert war. Er befand sich nun in einem der seitlichen Kuhställe. Ambros sah außerdem, dass der Stützpfeiler mit winzigen angenagelten Sprossen versehen war, die auf den ersten Blick kaum auffielen. Und wieder dachte der Junge, dass der lallende Ludger bei weitem nicht so dumm sein konnte, wie die Leute glaubten. Ambros kletterte hinunter und schaute durch den Holzverschlag zur Tenne, wo der Schulze in diesem Moment in Joppe und Stiefeln erschien und sich einen breiten Schlapphut aufsetzte.

»Wo willst du hin?«, fragte Maria.

»Ich werde Guus Bescheid geben«, lautete die Antwort des Bauern. »Schließlich geht es um seine Mühle.«

»An der du nicht schlecht verdienst«, antwortete die Tochter.

»Wir sind immerhin eine Familie«, knurrte Gerwing und stapfte in großen Schritten über die Tenne. »Was treibt ihr euch denn da rum?«

Ambros zuckte zusammen, weil er glaubte, der Schulze habe ihn und Ludger entdeckt, doch die Frage galt den beiden Hausknechten, die beschäftigungslos auf der Tenne herumlungerten.

»Wo sollen wir schlafen?«, fragte einer der Knechte.

»Wo ihr immer schlaft.«

»Aber der Fremde.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist uns nicht geheuer, Herr.«

»Abergläubisches Pack!«, fauchte der Brookbauer. »Wie die Weibsbilder. Dann schert euch gefälligst ins Gesindehaus oder schlaft im Pferdestall! Morgen ist ein langer Tag!« Plötzlich wandte er sich zu seiner Tochter um und rief: »Und du! Leg dich schlafen, Maria! Man kann es mit der christlichen Nächstenliebe auch übertreiben.«

»Im Moment kann ich ohnehin nichts weiter tun«, antwortete sie.

Während ihr Vater wutschnaubend über die Tenne schritt und die beiden Hausknechte vor sich herscheuchte, schaute Maria nachdenklich zu dem Bewusstlosen, der im Fieber delirierte und leise stöhnende Geräusche von sich gab. Sie schüttelte unmerklich den Kopf und murmelte: »Heinrich Vernholt.« Dann schnaufte sie abfällig, wandte plötzlich den Kopf zur Seite und rief: »Und ihr beiden könnt auch herauskommen!«

Ambros schaute sich auf der Tenne um, aber außer ihm und Ludger war niemand mehr anwesend. Die beiden älteren Söhne des Schulzen schliefen in ihren Kammern oder trieben sich wie so häufig in der Heideschänke herum, und auch vom Gesinde war niemand zu sehen. Draußen waren die Hufschläge des Schimmels zu hören, der Schulze ritt galoppierend vom Hof.

»Na, wird’s bald, Ludger!«

»Kch, kch«, machte der Schulzensohn und kletterte über den Bretterverschlag.

Ambros folgte ihm und trat mit gesenktem Kopf auf die Tenne.

»Was soll das Versteckspiel, du Nichtsnutz?« Maria empfing ihren kleinen Bruder mit einer Maulschelle und holte bereits ein zweites Mal aus, um auch Ambros eine Backpfeife zu geben, als sie durch ein leises, kaum vernehmbares Flüstern unterbrochen wurde.

»Wo … bin … ich?«

Heinrich Vernholt war aus seiner Ohnmacht erwacht und tastete mit der rechten Hand um sich. Er versuchte, sich auf dem Ellbogen abzustützen, war aber zu schwach und blieb schließlich liegen. Wispernd wiederholte er seine Frage.

»Ihr seid beim Ahlbecker Schulzen«, sagte die Johannvaterin, beugte sich über den Mann, hob vorsichtig seinen Kopf und gab ihm aus einem Holzbecher Wasser zu trinken. »Ihr seid ohnmächtig geworden, der Molenköttersohn hat Euch gebracht. Könnt Ihr Euch erinnern, dass Ihr mit ihm an der Mühle wart?«

Vernholt nickte zaghaft und fragte: »Und Ihr?«

»Ich bin Maria, die Tochter des Schulzen.«

»Sie hat Eure Wunde verbunden«, mischte sich Ambros in das Gespräch ein.

»Danke, gute Frau«, sagte Vernholt schwach und hob abwehrend die Hand, als Maria ihm erneut den Becher an den Mund setzen wollte. Er atmete tief aus, blickte angestrengt zur Decke, als wollte er sich auf irgendetwas besinnen, und flüsterte dann: »Ich muss mit dem Jungen sprechen.«

»Ihr braucht Schlaf«, antwortete Maria.

»Ich muss mit Ambros sprechen«, wiederholte der Mann.

Die Schulzentochter schaute überrascht und, wie es Ambros schien, ein wenig beleidigt drein, zuckte mit den Schultern und trat zur Seite.

Ambros blieb an Ort und Stelle stehen und fragte: »Herr?«

»Näher«, murmelte Vernholt, hob die rechte Hand und krümmte den Zeigefinger. Ambros trat heran und kniete nieder, damit der Mann ihm ins Ohr flüstern konnte.

»Kann ich dir trauen?«, fragte Vernholt.

»Mir schon«, antwortete Ambros und zog die Stirn kraus.

»Und wem nicht?«

Der Junge schaute sich nach der mürrisch dreinschauenden Johannvaterin und dem lallenden Ludger um und hob die Achseln. Schließlich flüsterte er: »Nehmt Euch vor dem Vater in Acht.«

»Warum?«

»Er ist der Landwehrmann«, antwortete Ambros geheimnisvoll.

»Du bist ein seltsamer Bursche«, erwiderte der Mann.

Das sagte sein Vater auch immer, dachte Ambros, allerdings nicht in so harmlosen Worten. Und wenn selbst ein Wildfremder dies auf Anhieb erkannte, dann musste es wohl stimmen. Er sagte: »Ja, Herr.«

»Kennst du Pastor Boeckbinder?«

Diese Frage war so dumm, dass Ambros nicht glaubte, darauf antworten zu müssen. Er grinste nur.

Vernholt griff in eine Tasche, die außen an seinem Wams angebracht war, und holte eine kupferne Münze hervor, die er dem Jungen in die Hand drückte.

»Gib dies dem Pastor und sag ihm, was passiert ist!«

Ambros betrachtete die Kupfermünze und erkannte, dass weder Bild noch Wappen darauf zu sehen waren, nur Buchstaben auf beiden Seiten. Es war also kein Geldstück, sondern eine Art Medaille.

Vernholt hob warnend die Hand und sagte: »Du musst mir versprechen, es nicht zu lesen.«

Der Junge lachte. »Ich kann überhaupt nicht lesen«, rief er und verstaute die Medaille in seinem Hosenbund. Und wie einem eigenen Gedanken nachhängend, sagte er plötzlich: »Der Brookbauer hat die beiden Schillinge gestohlen.«

Vernholt lächelte und erwiderte: »Wenn du verlässlich bist, werde ich es dir in Silber lohnen. Aber zu keiner Menschenseele ein Wort!«

»Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Meister. Soll ich gleich gehen?«

»Morgen in aller Frühe«, murmelte der Müller, seufzte tief, krümmte sich unter Schmerzen und schloss die Augen.

»Das reicht!«, fuhr die Johannvaterin dazwischen. »Der Mann braucht Ruhe. Es ist jetzt keine Zeit für Geheimniskrämerei.« Sie war sichtlich schlecht gelaunt, zog Ambros an den Ohren und scheuchte ihn fort: »Mach dich davon, Junge! Erst muss der Müller gesund werden, dann könnt ihr Sachen aushecken.« Dabei schaute sie auf Ambros’ Hosenbund.

Der Junge starrte sie lange an. So wütend und außer sich, wie sie momentan war, erschien Maria ihm noch schöner als sonst. Schöner sogar als die Mutter Gottes. Als sie jedoch erneut zu einer Ohrfeige ausholte, sprang er zur Seite und rannte wie ein Hase davon. Er lief durch die Seitentür hinaus, überquerte den Hof, stieß beinahe mit Bernhard zusammen, der neugierig die Kutsche des Müllers in Augenschein nahm, erreichte die Brücke und lief durch den Bruchwald. Erst als er den Hessenweg erreicht hatte, hielt er an, schaute sich um und vergewisserte sich, dass die Medaille noch im Hosenbund steckte.

»Morgen in aller Frühe«, wiederholte er die Worte des Müllers.

Drittes Kapitel

Stellt ein krummes Haus, einen strengen Priester und einen alten Griesgram vor

Im Jahre 1535 zählte die Gemeinde »St. Katharina« zu Ahlbeck lediglich zweihundert Seelen und bestand aus einem guten Dutzend Bauernhöfen und Kotten, die sich um die kleine gotische Kirche gruppierten oder in unmittelbarer Nähe des Ahlbachs gelegen waren. Der alte backsteinerne Kirchturm mit seinem auffälligen Treppengiebel stand seit fast zweihundert Jahren an Ort und Stelle und war zum Wahrzeichen und Wappenbild Ahlbecks geworden. Direkt neben der Kirche befand sich der von einer mannshohen Mauer umgebene Friedhof, in dessen hinterster Ecke ein kleines, schmuckloses Häuschen stand. An dem Kreuz, das mit weißem Stein in den Giebel eingelassen war, konnte man erkennen, dass es sich um das Pfarrhaus handelte. Das Schindeldach und die Lehmwände waren moosbewachsen, das Haus war vom Alter so gebeugt, dass es aussah, als lehnte es sich an die Mauer. Während das Dach an die Mauerkrone stieß, war das steinerne Fundament einige Ellen von der Umfriedung entfernt. Die Ahlbecker, die eine Vorliebe für anschauliche Namen hatten, nannten das Gebäude »das Krummhaus«. Etliche Vorgänger des jetzigen Pastors hatten sich beim Bischof in Münster dafür eingesetzt, ein neues Pfarrhaus bauen zu lassen, doch die Fürstbischöfe waren der Meinung, dies sei allein Aufgabe des Kirchspiels und müsse aus eigener Kraft und Kasse geschehen. Seit Jahrzehnten war keiner der hohen Stiftsherren zur Visitation in Ahlbeck gewesen. Auch Ludolph von Altheim, der bischöfliche Droste, hatte stets nur seine Büttel und Schergen gesandt, um den Zehnten und die jährlichen Pachterträge der Kötterbauern einzusammeln. Das kleine Dorf an der holländischen Grenze war nicht nur wegen seiner abgeschiedenen Lage mitten in Moor und Heide ein gottverlassener Ort.

Johannes Boeckbinder, ein Mann von kaum dreißig Jahren, der erst seit kurzer Zeit Pastor in Ahlbeck war, hatte einen schweren Stand in der Gemeinde. Als gebürtiger Niederländer wurde er von den westfälischen Bauern mit Misstrauen beäugt, auch sein geringes Alter ließ ihn in den Augen der Ahlbecker nicht gerade als Respektsperson erscheinen, und Boeckbinders enorme Sittenstrenge und asketische Lebensweise hatten ihm schon bald offene Feindschaft eingetragen. Seine Vorgänger im Amt waren allesamt sinnenfrohe und irdisch geprägte Kirchenmänner gewesen, ebenso wohlwollende wie wohlbeleibte ältere Herren, die imstande waren, auf den Kirchweihen und Hochzeiten den stärksten Bauer unter den Tisch zu trinken. Auch dem weiblichen Geschlecht waren sie nicht abhold gewesen, einige von ihnen hatten Konkubinen um sich geschart, andere hatten regelrechte Pfarrfamilien gegründet. Die Gemeinde wie auch die Kirchenobrigkeit drückten in dieser Hinsicht beide Augen zu. Bischof Franz von Waldeck stand sogar in dem Ruf, selbst seit Jahren in einer eheähnlichen Verbindung zu leben und während dieser Zeit etliche fürstbischöfliche Bastarde gezeugt zu haben.

Johannes Boeckbinder jedoch war aus anderem Holz geschnitzt. Er lebte ganz und gar nach dem Vorbild Jesu, hielt sich strikt an den Wortlaut des reinen Evangeliums, wie er es nannte, und mahnte die Leute, sie sollten sich auf die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Menschensohnes vorbereiten und entsprechend leben, um ihren Platz im Himmel zu finden. So kündigte er schon bald nach seiner Ankunft dem Lindenwirt, der seinen Gasthof am Kirchplatz unter der Dorflinde hatte, den Pachtvertrag und wetterte in seinen Predigten gegen Trunkenbolde und Hurenböcke, die sich in der Schänke herumtrieben und damit Gott lästerten. Am letzten Tage, der nicht mehr fern sei, würden sie alle in der Hölle schmoren. Der Wirt, ein alteingesessener Ahlbecker namens Olbring, wandte sich Hilfe suchend an den Schulzen, der neben dem Bischof der größte Grundherr des Dorfes war. Da die Schänke jedoch zum fürstbischöflichen Besitz gehörte, konnte der Brookbauer nichts unternehmen. Allerdings verpachtete er dem Wirt einen alten Kotten in der Heide, südlich des Dorfes, den Olbring binnen kurzer Zeit zur Schänke machte. So wurde aus dem Lindenwirt der Heidewirt, und der Pastor nannte den Schulzen vor versammelter Gemeinde einen gottlosen Pharisäer, was den endgültigen Bruch zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Führer des Dorfes besiegelte. Kein Wort hatten sie seitdem miteinander gesprochen, und zumindest von Schulzenseite war nicht damit zu rechnen, dass sich die Wogen glätteten. Er schimpfte den Pastor einen Neugläubigen und Ketzer, der eine Schande für sein Amt und überhaupt ein niederträchtiger Lump sei. Das Krummhaus jedenfalls würde unter Pastor Boeckbinder ein krummes Haus bleiben. Spenden aus der Gemeinde waren nicht zu erwarten.

All dies wusste Ambros von seinem Vater, der einer der wenigen im Dorfe zu sein schien, die dem strengen Pastor und seinen Predigten etwas abgewinnen konnten. Was umso erstaunlicher war, da Geert Vortkamp ziemlich genau dem Trunkenbold und Hurenbock entsprach, den Boeckbinder mit so glühenden Worten der Verachtung beschrieb. Schon morgens trank er Branntwein, er fluchte wie ein Gottloser, suchte mit jedermann Händel und stieg den Mägden hinterher. Einmal hatte Ambros den Vater gefragt, ob der Pastor womöglich ihn, den Molenkötter, in seiner Predigt gemeint habe, doch der Vater hatte nur gelacht, dem Jungen eine Ohrfeige gegeben und gesagt, er trinke und streite sich ja nicht zum Vergnügen.

»Sondern?«, hatte Ambros gefragt.

»Um zu vergessen.«

Es war eine Stunde nach Sonnenaufgang, und schon herrschte eine drückende Hitze. Die Nacht hatte kaum Abkühlung gebracht, der Wind hatte sich gelegt, die Blätter der alten Linde auf dem Kirchplatz bewegten sich nicht. Der Junge stand mit Müntzer, seinem schwarzen Holländerhund, auf dem Friedhof, nahe dem Krummhaus, und schaute zur Kirche, in der der Pastor die morgendlichen Laudes betete.

Eigentlich hätte Ambros längst mit den Schafen im Venn sein sollen, doch der Auftrag des Müllers hatte Vorrang, fand Ambros. Er war stolz darauf, das Vertrauen Vernholts gewonnen und verdient zu haben, auch wenn er es eigentlich schon missbraucht hatte. Mit dem ersten Sonnenstrahl hatte er die geheimnisvolle Medaille hervorgekramt und sie angeschaut. Dem Meister Vernholt hatte er schließlich nur das Versprechen gegeben, die Worte nicht zu lesen. Von bloßem Betrachten der Medaille war nicht die Rede gewesen. Und so starrte er die seltsamen Zeichen und Buchstaben an, die für ihn ohne jeden erkennbaren Sinn waren.

Die eine Seite der Kupfermünze war so mit Buchstaben übersät, dass es für Ambros wie Kraut und Rüben aussah. Die Inschrift der anderen Seite jedoch bestand nur aus einer Zeile, eigentlich nur einem einzigen Wort. Das erste Zeichen sah aus wie ein zunehmender Halbmond, dann folgte eine waagerechte Zickzacklinie, und ganz rechts stand eine Art doppelter Galgen. Obwohl Ambros nicht lesen konnte, verstand er doch, dass es sich bei der Medaille nicht um ein übliches Schmuckstück, sondern um ein Erkennungszeichen handelte. Wie ein Siegelring oder Wappen. Nur ohne Bilder.

Der Hund knurrte leise, und als Ambros aufschaute, stand der Pastor direkt vor ihm. Ganz in Schwarz gekleidet, die Hände vor der Brust gefaltet, das hagere Gesicht weiß wie Schnee. Johannes Boeckbinder erinnerte den Jungen an einen Vogel, allerdings wusste er nicht, ob Taube oder Habicht. Vielleicht lag es an den Augen, die zu nah an der spitzen Nase standen und einen anstarrten, als wollten sie eine Beichte erzwingen. Der Pastor schaute zunächst den Jungen und dann den immer noch knurrenden Hund missbilligend an und sagte: »Zur Seite, Junge! Und gib auf deinen Hund Acht!«

»Ich komme mit einer Medaille.«

»Vater«, sagte der Pastor und machte eine strenge Miene.

Ambros verstand nicht.

»Ich komme mit einer Medaille, ehrwürdiger Vater«, wiederholte Boeckbinder, dem man seine holländische Abstammung kaum anhörte.

Ambros nickte. »Richtig, Herr. Der Müller schickt mich.«

»Guus ter Haer?« Das gerade noch so gebieterische Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an. »Der Schwager des Schulzen? Was könnte der wohl von mir wollen?«

»Nicht der holländische Haermöller«, erklärte Ambros und fuhr sich mit der Hand durch das Strubbelhaar. »Ich meine den Kolkmüller. Den Ahlbecker Müller.«

»Aber es gibt keinen Kolkmüller. Was redest du da?«

Ohne weitere Umschweife griff Ambros in seinen Hosenbund und holte das Kupferstück heraus, das er dem Pastor kommentarlos reichte.

Boeckbinder betrachtete die Medaille von beiden Seiten. Sein Gesicht zeigte keine sichtbare Reaktion, es wurde zur steinernen Maske, allerdings verharrte der Pastor zu lange in dieser Starre, es schien beinahe so, als wagte er nicht einmal zu atmen. Schließlich stieß er ärgerlich die Luft durch die Nase aus und fragte: »Wat heeft dat te betekenen?« Zum ersten Mal war ihm ein holländischer Satz entschlüpft, und er beeilte sich, auf deutsch hinzuzufügen: »Was soll mir dieser Unsinn sagen? Das ist doch dummes Zeug!« Gleichzeitig steckte er die Medaille in die Seitentasche seiner Soutane und setzte hinzu: »Hast du die Worte gelesen?«

Ambros verdrehte die Augen. Allmählich hatte er von diesem Getue die Nase voll. »Sehe ich so aus, als könnte ich lesen, Herr?«, antwortete er patzig.

Der Pastor überhörte diese Unverschämtheit und schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Er starrte in den Himmel, rieb sich die Schläfe und schob die Unterlippe vor. Schließlich fragte er: »Wo ist dieser Müller?«

»Beim Brookbauern.«

»Beim Schulzen?«, wunderte sich Boeckbinder und befahl: »Jetzt rede schon, Junge! Wer ist dieser Mann und was will er von mir?«

Ambros erzählte in knappen Worten, was sich am gestrigen Abend an der Mühle und auf dem Schulzenhof zugetragen hatte, und schloss mit dem Auftrag des Müllers, dem Pastor die Medaille zu überreichen.

»Der Mann heißt Heinrich Vernholt?«, fragte Boeckbinder.

Ambros nickte und fügte hinzu: »Er hat einen Brief mit dem Siegel vom Bischof. Das hat der Schulze gesagt. Und in seinem Geldbeutel sind lauter Silbertaler mit dem Bischofswappen.«

»Ist gut«, sagte der Pastor, wandte sich abrupt ab, ließ den Jungen grußlos auf dem Friedhof stehen und verschwand im Krummhaus.

Ambros, der insgeheim auf ein Dankeschön in Form einer Münze gehofft hatte, schüttelte ärgerlich den Kopf und spuckte zu Boden, auch wenn sich das auf einem Kirchhof nicht schickte. Und er war froh, dass er sein Versprechen gebrochen und sich die Zeichen auf der Medaille eingeprägt hatte. Wer konnte wissen, ob sie ihm nicht irgendwann einmal von Nutzen sein würden. Dieser Gedanke verbesserte seine Laune schlagartig, und mit einem Grinsen im Gesicht trat er durch die eiserne Pforte auf den Dorfplatz.

Außer der Kirche, dem Friedhof samt Krummhaus und der leer stehenden Schänke befanden sich drei Bauernhöfe in unmittelbarer Nähe des Platzes. Rechts neben dem Gasthof stand ein ziemlich verwahrloster Kotten, der einst als Domizil der Pfarrersfrauen und sonstigen kirchlichen Gäste gedient hatte und mittlerweile von drei landarmen Kötterfamilien bewohnt wurde. Ambros hatte nie recht herausfinden können, welche der zahlreichen Kinder des Hofes zu welchem Bauern gehörten, und ähnlich erging es ihm mit den Bauersfrauen. Der Hof schien aus allen Nähten zu platzen, und auch jetzt wimmelte und krakeelte es dort wie in einem Bienenstock. Ein einziges Tohuwabohu. Auf der gegen-überliegenden Seite des Platzes, direkt neben dem Friedhof, befand sich der Erbhof des Totenbauern, dessen Familie seit Generationen den Küster stellte und zudem für die Aufbahrung und Beerdigung der Dahingeschiedenen verantwortlich war. Der letzte Kotten am Dorfplatz, zwischen Lindenschänke und Totenbauer gelegen, gehörte dem alten Melchior Timmermeester, der sich neben seiner Landarbeit als Zimmermann und Tischler verdingte. Er stand in Holzpantinen auf seinem Hof und werkelte an einem riesigen Eichenbalken, der auf zwei Böcken ruhte und von dem Meister mit Säge und Hobel bearbeitet wurde. Gerade als Ambros den Kirchplatz verlassen wollte, näherte sich von Westen her ein Reiter, galoppierte ins Dorf und sprang unter der Linde vom Pferd. Der Junge erkannte Bernhard, den Stallknecht des Schulzen, und dieser schritt zielstrebig zum Hof des Zimmermanns.

»Guten Morgen, Vater!«, rief Bernhard und nahm die Mütze vom Kopf.

»Morgen«, knurrte Melchior, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Was führt dich so früh ins Dorf? Hast du beim Brookbauern nichts zu tun?«

Das war typisch für den Zimmermann, dachte Ambros und näherte sich dem Hof, ohne von den beiden Männern gesehen zu werden. Melchior Timmermeester war ein alter Griesgram und vermutlich der mürrischste Mensch, den der Junge je zu Gesicht bekommen hatte. Noch nie hatte er ihn lachen sehen, seine Mundwinkel waren wie am Kinn festgewachsen, stets machte er eine Miene, als hätte er das Grimmen im Bauch. Wenn man ihn grüßte, bellte er wie ein Kettenhund zurück. Mit Menschen wusste er offensichtlich nichts anzufangen, aber mit Brettern und Baumstämmen konnte er umgehen wie kein zweiter. Das große eichene Mühlrad, das einst der Stolz der Kolkmühle gewesen war, hatte Melchior Timmermeester angefertigt.

»Der Bauer will wissen, wann die Dachbalken fertig sind«, antwortete Bernhard ungerührt und führte das Pferd zu einer Tränke neben dem Haus. »Wenn das restliche Getreide eingefahren wird, will er die Balken ersetzt haben. Er scheint Angst zu haben, das Dach könnte ihm überm Kopf einstürzen.«

»Ich kann nicht hexen«, erwiderte Timmermeester und fuchtelte mit dem Hobel in der Luft herum. »Ich hab Lubbert schon beim letzten Tennenfest gesagt, dass das Holz gammelt. Aber er wollte nichts davon hören. Und jetzt kann’s mit einem Mal nicht schnell genug gehen. Alles hat seine Zeit. Bestell ihm das!« Er schaute seinen Sohn mit funkelndem Blick an und fügte hinzu: »Sonst noch was? Bist du den weiten Weg aus dem Venn hergeritten, nur um mir das zu sagen?«

Bernhard schüttelte den Kopf, näherte sich seinem Vater und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ambros fluchte leise, weil er kein Wort verstand, und schlich sich hinter die kleine Holzscheune, die dem Zimmermann als Werkstatt diente und zugleich den Kotten von der benachbarten Schänke trennte.

Im selben Augenblick rief Timmermeester über den Hof: »Die Kolkmühle? Bist du sicher?«

Der Stallknecht nickte und legte den Finger auf die Lippen. »Sie soll wieder aufgebaut werden«, sagte er und schaute sich um, als hätte er Angst, dass ihn jemand hörte. Plötzlich stutzte er, sein Gesicht verfinsterte sich, dann grinste er und rief: »Das stimmt doch, Ambrosius?«

»Mein Name ist Ambros«, antwortete der Junge und trat hinter der Scheune hervor. Er wunderte sich, dass der Knecht ihn durch die Bretterwand gesehen hatte, doch dann fiel sein Blick auf Müntzer, der mitten in der Hofeinfahrt stand und mit dem Schwanz wedelte. »Dummer Hund«, murmelte Ambros und schlenderte umher, als wäre er nur zufällig in der Gegend. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schaute abwechselnd zu Boden oder in den Himmel.

»Dein Vater will die Mühle wiederhaben?«, wunderte sich der Zimmermann und starrte den Jungen erstaunt an.

Schön wär’s, dachte Ambros und schüttelte den Kopf.

Wieder flüsterte Bernhard dem Alten etwas ins Ohr, und jetzt schien Timmermeester zu verstehen. Er nickte und klopfte dem Sohn auf die Schulter. »Werd mich drum kümmern. Sag dem Mann, dass ich am Nachmittag komme. Und jetzt lass mich in Ruhe! Ich hab zu tun.« Er wandte sich wieder dem Dachbalken zu und fuhr knurrend mit dem Hobel über das Holz. Einen Knecht, der aus dem Haus trat und dem Meister zur Hand gehen wollte, fuhr er an: »Nimm deine dreckigen Griffel weg, Hundsfott!«

Bernhard holte das Pferd, verließ grußlos den väterlichen Hof und ging auf Ambros zu, der vor dem Knecht zurückwich, als erwartete er eine Ohrfeige. Die Großen gaben immer Backpfeifen, das wusste Ambros aus Erfahrung, ob sie nun berechtigt waren oder nicht. Erst schlagen, dann fragen, so lautete ihr Motto.

»Was lungerst du hier herum?«, wollte Bernhard wissen.

»Ich lungere nicht. Ich habe nur dem Pastor …« Der Junge biss sich auf die Lippen und verstummte. Er schaute nicht den Stallknecht, sondern das Pferd an und erkannte erst jetzt, dass es sich um den Rappen des Müllers handelte. Er war nicht gesattelt und hatte keine Kandare im Maul.

»Soll ich dich ein Stück mitnehmen?«, fragte Bernhard und schwang sich aufs Pferd. »Du musst doch sicherlich zu deinen Schafen. Oder hat dein Alter die auch schon versoffen?«

»Er trinkt ja nicht zum Vergnügen«, antwortete Ambros mit finsterer Miene. Er konnte es nicht leiden, wenn andere Leute seinen Vater einen Säufer nannten oder sich über ihn lustig machten. Auch wenn sie natürlich allen Anlass dazu hatten.

»Jetzt zieh keine Flappe, Kleiner«, sagte Bernhard, reichte dem Jungen die Hand und hievte ihn aufs Pferd. »War nicht böse gemeint.«

»Hm«, machte Ambros und umklammerte den Knecht, um nicht vom Hinterteil des Pferdes herunterzufallen.

»Dein Vater war heute bei Sonnenaufgang wieder nicht auf dem Schulzenhof«, fuhr Bernhard fort und trat dem Pferd in die Flanke. »Es ist Erntezeit, Ambros, sag das deinem Vater. Ob's ihm schmeckt oder nicht, er hat seine Pacht abzuarbeiten. Der Brookbauer ist nicht gut auf ihn zu sprechen und hat schon gedroht, ihm den Molenkotten zu nehmen und euch ins Armenhaus zu stecken.« Dabei wies er auf die verfallene Kate neben der Schänke, vor dem eine Schar von Kindern herumtollte.

»Der Vater wird schon noch auftauchen«, sagte der Junge und schaute zur Kirche, um nicht den Hof der landlosen Häusler betrachten zu müssen. »Er schläft nur seinen Rausch aus. Ihr kennt ihn doch.«

»Eben«, erwiderte Bernhard und ritt ohne Hast vom Dorfplatz. Der Hund folgte ihnen kläffend und tänzelte um die Beine des Pferdes herum. Sie passierten den nördlich der Kirche gelegenen Hof des Schmiedebauern, dessen Name zugleich seine Profession verriet, und erreichten am Ortsausgang die kleine Holzbrücke, die den Ahlbach überquerte und wenig später in den Hessenweg einmündete. Von hier aus folgte der Weg dem Flüsschen und führte direkt zur Grenze. Ambros wurde auf dem Hinterteil durchgeschüttelt und dachte daran, dass es so nicht weitergehen konnte. Etwas musste sich ändern. Der Vater musste sich ändern und wieder so werden, wie er einst gewesen war. Das war so lange her, dass Ambros keinerlei Erinnerung daran hatte. Damals war Geert Vortkamp noch der Kolkmüller gewesen und seine Frau die Kolkmüllerin. Dann war die Mutter plötzlich gestorben, vor nunmehr acht Jahren, und fortan war nichts mehr wie zuvor gewesen.

»He, schläfst du?«

Ambros fuhr hoch und wäre beinahe vor Schreck vom Pferd gefallen.

»Ich hab gefragt, ob du die Kunde aus Münster schon gehört hast.«

»Von den Wiedertäufern?«, fragte Ambros.

»Der Bischof hat die Stadt endlich von dem gotteslästerlichen Gesindel befreit«, bestätigte Bernhard nickend. »Wir haben’s vom Juden Simeon gehört. Und der hat es auf dem Markt in Altheim erfahren. Ein Herold war in der Stadt. Die verdammten Ketzer sind allesamt getötet oder gefangen. Vor sechs Wochen schon. Auch der sogenannte König ist arretiert. Es müssen fürchterliche Zustände in der Stadt geherrscht haben. Ein einziges Tollhaus. Jeder Mann hatte ein Dutzend Frauen, und am Ende haben sie Hunde und Katzen gegessen und sich gegenseitig niedergemetzelt. Ein regelrechtes Sodom soll’s gewesen sein.«

Ambros wusste nicht genau, was die Erwachsenen unter diesem Sodom verstanden, von dem sie so oft sprachen, und wenn er sie danach fragte, dann hieß es, das sei nichts für Kinder. Aber über die Wiedertäufer hatte der Junge schon einiges gehört. Seit über einem Jahr hatten sie in Münster geherrscht und waren von den Bischöflichen, die sie zuvor aus der Stadt getrieben hatten, belagert worden. Als Gottlose und holländische Plage wurden sie in Ahlbeck beschimpft, sie seien mit dem Teufel im Bunde und hielten Hexensabbate in ihrem »Königreich Zion« ab. Ambros verstand die Aufregung der Leute nicht ganz. Wenn eine Taufe beim ersten Mal von Gott gewollt war, warum galt sie dann beim zweiten Mal als teuflisch? Doppelt hält besser, dachte er und erinnerte sich, dass der Vater sich ähnlich ausgedrückt hatte. Wer gegen den Bischof sei, so Geert Vortkamp, der könne nicht ganz übel sein. Aber vermutlich hatte die Abneigung des Vaters gegen den Bischof eher mit der Kolkmühle als mit den Wiedertäufern zu tun. Schließlich war es der Vorgänger des heutigen Bischofs gewesen, der ihn vor Jahren durch seinen Drosten aus der Mühle gejagt hatte.

»Die drei Anführer sind jedenfalls im Gewahrsam des Bischofs«, fuhr Bernhard fort und grüßte einen Kötterbauern, der mit einem roggenbeladenen Handkarren auf dem Weg zur holländischen Windmühle war. »Das muss man sich mal vorstellen«, sinnierte der Stallknecht weiter, »da könnte sich ja jeder Dahergelaufene zum König erklären, alles auf den Kopf stellen und eigene Gesetze machen. So ein Irrsinn! Die Idee mit der Vielweiberei ist allerdings gar nicht so schlecht, finde ich. War doch nicht alles von Übel, was die Ketzer so getrieben haben.« Er lachte und schaute über die Schulter zu Ambros. »Was schaust ’n so bedeppert?«

»Was wird mit den Männern geschehen?«

»Mit den Täufern?« Bernhard zuckte mit den Schultern. »Sie werden sie hinrichten und vorher tüchtig foltern. Ich möchte jedenfalls nicht in deren Haut stecken. Der Jude Simeon sagt, man müsse ein Exempel statuieren. Ich versteh gar nicht, was den das angeht. Verdammter Jidde. Dem kann doch der Papst den Buckel runterrutschen. Was meinst du?«

Ambros meinte gar nichts. Er war lediglich verwirrt. Das mit den Religionen und Glaubenskämpfen verstand er nicht. Die einen waren für den Papst, die anderen gegen ihn. Aber wer gegen den Papst war, musste noch lange nicht für den jeweils anderen sein. Es gab Lutherische und Täufer, Zwinglianer und Evangelische, Reformierte und Friesen (auch wenn Ambros nicht glaubte, dass das eine Religion war, schließlich war seine Mutter eine Friesin gewesen), und natürlich waren da noch die Juden, aber die zählten nicht, weil sie Gottlose waren. Obwohl sie in gewisser Weise auch einen Gott hatten, aber eben den falschen oder einen zu wenig. Ganz wie man wollte.

»Vater sagt, Gott ist immer auf der Seite der Sieger.« Ambros wusste selbst nicht, warum er das gesagt hatte. Er hatte keine Ahnung, was der Vater damit gemeint hatte, aber es schien dem Jungen eine angemessene Antwort zu sein.

»Dein alter Herr wird sich noch das Maul an seinen Worten verbrennen«, erwiderte Bernhard. »Du solltest besser nicht nachplappern, was Geert so von sich gibt. Das bringt euch noch in Teufels Küche.«

Dort sind wir längst, dachte Ambros, sprach es aber nicht aus, weil er sich nicht das Maul an seinen Worten verbrennen wollte. Erst letzte Woche hatte er sich die Zunge an einer heißen Milchsuppe verbrüht, und das war keine angenehme Erfahrung gewesen. Wie überhaupt das Essen eine eher traurige Angelegenheit war. Jeden Tag Haferbrei, Milchsuppe und ein Stück steinharten Fladen, den man erst in Wasser aufweichen musste, um ihn essen zu können. Wie sollte ein Junge davon wachsen? Ohne die Eier und Würste, die er dann und wann den Bauern aus den Ställen oder Vorratsräumen entwendete, wäre er längst vom Fleisch gefallen. Ambros aber wollte groß und stark werden, so riesig wie Bernhard oder der Schulze, dann würde niemand mehr auf ihnen herumtrampeln. Auf Ambros nicht und auch nicht auf dem Vater.

Sie hatten mittlerweile die Hälfte des Weges hinter sich. Linker Hand schlängelte sich der Ahlbach durch die karger werdende Ebene, und zur Rechten sahen sie einige Schnitter bei der Weizenernte. Das mussten die Kötter des Schulzen sein, zur Erntezeit wurden sie auf den Hof des Grundherrn bestellt, um ihre Pacht in Form von Frondienst abzuliefern. Dass sie selbst auch einen kleinen Hof hatten und die eigene Ernte einfahren mussten, wurde oft vergessen. Wenn der Schulze sie zu sich befahl, dann mussten sie auf den eigenen Feldern Sense und Sichel fallen lassen und dem Herrn Spann- oder Handdienste leisten. Die einen besaßen das Land, die anderen hatten zu gehorchen. So war es seit Jahrhunderten, egal ob sich der Landeigner nun Bischof oder Schulze nannte. Und wenn die Bauern sich erhoben, wie vor einigen Jahren im fernen Thüringen, dann wurden sie dafür bestraft, und weder Gott noch Kaiser standen ihnen bei. Deshalb hatte der Vater gesagt, Gott sei immer mit den Siegern. Und Luther, dieser Heuchler, sei überhaupt ein verdammter Verräter und Bauernfeind. Was auch immer das bedeuten mochte.

Plötzliches Hufgetrappel riss Ambros aus seinen Gedanken. Als er den Hals verrenkte, sah er hinter sich den Pastor auf einem Falben heranjagen. Die schwarze Soutane flatterte im Wind, das Pferd galoppierte in einem halsbrecherischen Tempo über den holprigen Weg, und ehe Bernhard auch nur die Mütze zum Gruß anheben konnte, hatte Boeckbinder ihn bereits überholt und war um die nächste Wegbiegung verschwunden.

»Das ist auch so einer«, knurrte der Stallknecht.

»Was für einer?«, fragte Ambros.

Bernhard legte den Finger auf die Lippen und sagte: »Ich schweig stille.«

Das war wieder typisch für die Erwachsenen. Erst sagten sie etwas, dann behaupteten sie, sie hätten nichts gesagt und würden überhaupt nie wieder etwas von sich geben. Aber ihre Schandmäuler konnten sie trotzdem nicht halten. Das galt für Weiber wie Mannsbilder. Wenn Ambros groß wäre, das gelobte er in diesem Moment, dann würde er nicht wie ein Erwachsener sein. Mit diesem Vorsatz sprang er vom Pferd, bedankte sich bei Bernhard, sprang über den Graben und schlug sich seitlich durch den Buchenhain in Richtung Heide. Der Hund Müntzer bellte vorfreudig und folgte ihm.

Viertes Kapitel

Handelt von alten Göttern und einer unbekannten Mutter

Es lag ein Fluch auf der Kolkmühle. So dachten nicht nur Ambros und sein Vater, so lautete die einhellige Meinung im Dorf. Niemals hätte an dieser Stelle im Bruchwald eine Mühle erbaut werden dürfen, es war Frevel gewesen, von Beginn an, und nun rächten sich die alten Götter. Die münsterischen Kirchenfürsten, denen der Grund und Boden seit Jahrhunderten gehörte, sprachen von heidnischem Aberglauben, denn ihre Religion verbot ihnen, die Existenz anderer Götter anzuerkennen. Die Ahlbecker Bauern jedoch wussten, wovon sie sprachen, wenn sie das Gebiet rund um den Kolk den »Blutanger« nannten. Wie jedes Kind im Dorf kannte auch Ambros die Erzählungen, die von Generation zu Generation weitergereicht worden waren.

Vor langer, langer Zeit hatte sich an dieser Stelle im Moor eine germanische Heiligtumsstätte befunden, davon kündeten nicht nur die zahlreichen Grabhügelfelder in der Nähe des Kolks, sondern auch der Name des Dorfes und des Flusses: Ahlbeck. Die erste Silbe deutete keineswegs darauf hin, dass sich in dem Bach Aale tummelten, sondern leitete sich von dem altsächsischen »alah« ab, was nichts anderes als »Tempel« bedeutete. Der Ahlbach war also ein Tempelfluss, zur Zeit der heidnischen Sachsen hatte sich hier eine Opferstätte befunden. Viele Sagen und Schauergeschichten rankten sich um diesen Ort, der einst dem Donnergott Donar, dem Gott der Bauern und der Ernte, geweiht war. Ambros hatte von den lange zurückliegenden Kriegen der Sachsen gegen die Franken gehört, von dem grausamen König Karl, den man heute den Großen nannte und der die heidnischen Westfalen unter ihrem Herzog Widukind besiegt und sie zur Taufe gezwungen hatte. Auch der Fluch der Mühle hatte mit einer Taufe begonnen. Und mit einer Gräueltat.

Nachdem die Franken in zahlreichen Schlachten das Sachsenland erobert und die Stammesherzöge bekehrt hatten, blieben viele West- und Ostfalen den alten Göttern treu und den Franken feindlich gesinnt. Auch am Ahlbach, dem heiligen Fluss, weigerten sich die Priester des Donar, den neuen Glauben anzunehmen, und sie wussten die Bewohner des Dorfes hinter sich. Wer würde den Bauern eine gute Ernte bescheren, wenn sie sich nicht an Donar wenden durften? Und würde der Sohn Odins nicht mit seinem Wagen über den Himmel fahren, seinen Hammer schleudern und sie allesamt mit Blitz und Donner vernichten, wenn sie nun dem fremden und so grausamen Gott huldigten? Der Aufstand der Altgläubigen wurde bald ruchbar und von den neuen Herren blutig niedergeschlagen. Viele Bauern fanden den Tod, der Tempel am heiligen Fluss wurde zerstört und die Priester vor die Wahl gestellt: Entweder sie ließen sich taufen, oder sie starben als Gottlose durch das Schwert. Sämtliche Priester wählten den Tod, sie wurden in den Überresten ihres Tempels enthauptet und wie totes Vieh im Kolk versenkt. Sämtliche Priester bis auf einen. Dieser eine hieß Widimar, er war ein noch junger Mann und hatte schon seit geraumer Zeit eine Zuneigung zu dem Christengott verspürt. Es hieß, Widimar habe die fränkischen Kriegsherren von den aufständischen Priestern unterrichtet und sie zum Ahlbach geführt. Inmitten der Enthaupteten empfing er die Taufe, ließ zu Ehren der neuen Herren eine Kirche im Dorf errichten und wurde erster Priester der christlichen Gemeinde.

Ein Kirchspiel, auf Verrat errichtet, sagten die Leute.

Das Ahlbecker Gotteshaus wurde später der heiligen Katharina geweiht, einer tapferen Märtyrerin, die ebenfalls für ihren Glauben gekämpft hatte und enthauptet worden war. Einige hundert Jahre nach der Bluttat am Ahlbach wurde im Bruchwald die Wassermühle errichtet, und seit dieser Zeit lag ein Fluch auf ihr. Die alten Götter gerieten zwar bald in Vergessenheit und lebten nur in Sagen und Liedern weiter, doch bei jedem Gewitter fürchteten die Menschen die Rache des geschmähten Donnergotts. Als schließlich im Jahre 1331 die Mühle in den Besitz der Fürstbischöfe überging, muss der Groll Donars unbändig gewesen sein, denn immerhin war das Bistum Münster einst von den siegreichen Franken gegründet worden.

Ambros kannte unzählige Geschichten, die von Geistern und Spukgebilden handelten. Die heidnischen Priester wandelten darin kopflos umher und lockten die Menschen ins Moor. Sie zogen rund ums Grabhügelfeld und beklagten ihr Schicksal. Einige Bauern wollten auch den Verräter Widimar im Venn gesehen haben, im christlichen Priestergewand, mit einem blutigen Schwert in der Hand. Ihm schien es wie den gemeuchelten Priestern zu ergehen, er fand keine Ruhe im Jenseits und wandelte zwischen den Welten.

Ambros wusste nicht, ob er diesen Erzählungen glauben durfte, denn er selbst war noch keinem Geist oder Gespenst im Moor begegnet. Vor Gewittern hatte aber auch er Angst. Und dass die Mühle verflucht war, das stand ohne Zweifel fest. Sie hatte seinen Vater zum Witwer gemacht und ihn anschließend in die Trunksucht getrieben, und auch den beiden Nachfolgern des Molenkötters war es nicht besser ergangen.

Antonius Dennekamp, der Geert Vortkamp einige Monate nach dessen schmählicher Vertreibung aus der Mühle als Pächter gefolgt war, wurde nur anderthalb Jahre später tot aus dem unteren Mühlteich gefischt. Beim Sturz vom Wehr hatte er sich das Genick gebrochen. Seine Witwe behauptete lautstark, bei dem Tode des Müllers sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, doch der Schulze und der bischöfliche Droste stellten bei der gerichtlichen Untersuchung fest, dass Dennekamp zuvor in der Dorfschänke über Gebühr gezecht hatte und vermutlich unglücklich vom Pferd gestürzt war. Tatsächlich fand man einen Stiefel des Müllers im Steigbügel des frei herumlaufenden Pferdes. Niemand wollte dieser Sicht der Dinge widersprechen, kein Mensch konnte etwas Anderslautendes beweisen, und auch die Witwe fand keinen Augenzeugen, der ihre vagen Anschuldigungen unterstützt hätte. Doch die Ahlbecker hatten ihre eigene Theorie. Wahrscheinlich hatten die Moorgeister das Pferd in die Irre gelockt, vor Schreck hatte es sich aufgebäumt und den Kolkmüller in den Mühlteich geworfen. Am Abend des tödlichen Sturzes hatte es ein schweres Gewitter gegeben.

Auch Henk Schabbinck, dem vorerst letzten Kolkmüller, war die Mühle zum Verhängnis geworden. Bei einer gewaltigen Explosion war er vor drei Jahren ums Leben gekommen und die Mühle bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der Knall war bis ins Dorf zu hören gewesen, und noch auf dem Schulzenhof hatten die Wände gewackelt. Der lallende Ludger, damals gerade fünf Jahre alt, war ganz in der Nähe der Mühle und somit Zeuge der Explosion gewesen und hatte die Katastrophe nur wie durch ein Wunder überlebt. Immer wieder ereigneten sich solche Verpuffungen in Mühlen, ohne erkennbaren Grund flogen die Gebäude plötzlich in die Luft. Auch die Kolkmühle war in den vergangenen Jahrhunderten mehrmals in Schutt und Asche gelegt worden. Man rätselte über die Ursache dieser Unglücke, glaubte jedoch zu wissen, dass Zugluft und offenes Feuer die Explosionen begünstigten. Vermutlich hatte Schabbinck eine brennende Kerze in die Mühle getragen und vergessen, die Fenster und Türen zu schließen. Ein ebenso unverständlicher wie verhängnisvoller Fehler. Auch ein Blitz hätte der Grund für die Explosion sein können, doch an dem betreffenden Tag hatte es kein Gewitter gegeben. Nur den plötzlichen Donnerknall der Kolkmühle.

Verflucht war sie, das stand für Ambros fest. Und dem neuen Müller würde sie ebenfalls kein Glück bringen. Kein Wunder, dass er in Ohnmacht gefallen war.

Der Junge saß im Schneidersitz neben seinem Hund auf dem Galgenbülten und wachte über die Moorschnucken, die regungslos im Bruchwald standen, Pfeifengras und Birkenlaub fraßen und der brütenden Mittagshitze trotzten. Normalerweise mied Ambros den Galgenhügel, die Gegend war ihm nicht geheuer, schließlich wurden die Gehenkten zu Füßen des Galgens verscharrt, in ungeweihter Erde, was sie fast zwangsläufig zu Geistern werden ließ. Niemand hielt sich freiwillig hier auf. Doch Ambros hatte gute Gründe, warum er am heutigen Tag den Bülten als Weideplatz für seine Schafe ausgesucht hatte. Der Galgen lag direkt oberhalb des Hessenwegs, von hier aus hatte man sowohl die Kolkmühle, den Wall der Landwehr und auch den Schulzenhof im Blick. Der Junge wollte auf keinen Fall verpassen, wenn sich etwas Wichtiges ereignete. Denn dass sich etwas ereignen würde, davon war er überzeugt. Irgendetwas Seltsames ging in Ahlbeck vor, das hatte er instinktiv gespürt. Warum hätten sonst sowohl der Schulze wie auch der Pastor derart seltsam und alarmiert auf die Ankunft Vernholts reagiert? Und auch die Johannvaterin hatte gestern Abend so seltsam geschaut, als sie den Namen des Müllers vernommen hatte. Als wäre er ihr bekannt, als hätte sie ihn schon einmal gehört.

Etwa eine Stunde nachdem Ambros die Schafe aus der Hürde befreit und zum Weideplatz geführt hatte, war Guus ter Haer, der holländische Müller, auf dem Hessenweg erschienen und im Galopp zum Schulzen geritten. Nur kurze Zeit später war er gemeinsam mit seinem Schwager Lubbert wieder aufgetaucht und zur Grenze geritten, diesmal im Trab. Die beiden Männer schienen sich zu streiten, vor allem der Schulze redete aufgeregt und mit lauter Stimme auf den anderen ein.

»Das hat aufzuhören, Guus!«, rief er und fuchtelte mit dem rechten Arm. »Das werde ich nicht dulden.«

Ter Haer nickte nur und schaute schlecht gelaunt drein.

»Habe ich dein Wort darauf?«

Wieder nickte der Schwager. »Es wird aufhören. Es muss aufhören.«

»Das wollte ich hören«, antwortete Gerwing und trat dem Schimmel in die Flanke. Kurz darauf hatten sie den Bülten passiert, ohne den kleinen Schäfer unter dem Galgen bemerkt zu haben.

Ambros konnte sich denken, was die beiden Männer mit ihren Worten gemeint hatten. Für Guus ter Haer bedeutete das Auftauchen des neuen Müllers eine ernsthafte Bedrohung. Seine Mühle stand etwa eine halbe Meile jenseits der Grenze auf einer kleinen Anhöhe, der so genannten Haer, die der Mühle und der Familie des Müllers ihren Namen gegeben hatte. Es handelte sich um eine moderne, steinerne Windmühle nach Holländerart, die erst vor fünfzig Jahren errichtet worden war. Wie ihr Pendant auf deutscher Seite war sie eine Bannmühle, alle Bauern der Provinz Overijssel mussten dort ihr Korn mahlen lassen, auch wenn die deutsche Mühle womöglich näher lag oder einfacher zu erreichen war. Umgekehrt galt dies genauso. Verfehlungen gegen das Bannrecht wurden streng bestraft. Wenn jedoch eine der Mühlen aus irgendeinem Grund nicht in Betrieb war, galt dieser Bann nicht mehr, und so hatte der Haermöller in den letzten Jahren doppelten Verdienst eingefahren. Deutsche wie Niederländer waren gezwungen, bei ihm ihr Getreide mahlen zu lassen und dem Müller einen Anteil des Mehls beim so genannten »Multern« zu überlassen. Ganz nebenbei verdiente auch der Schulze als Landwehrmann an dem unfreiwilligen bäuerlichen Grenzverkehr, denn für jede Fuhre hatten die Bauern eine Maut zu entrichten. Doppel gemultert hält besser, schimpften die Kötter. All dies würde sich nun ändern, wenn die Kolkmühle wieder in Betrieb genommen würde.

Des einen Freud, des anderen Leid, sagte sein Vater oft.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Geert Vortkamp nicht der Trunksucht verfallen wäre und der Bischof von Münster sich nicht gezwungen gesehen hätte, ihn aus der Mühle zu vertreiben. Ambros hatte kaum eine Erinnerung an diese ferne, vergangene Zeit, er wusste aus den Tiraden seines Vaters, dass ihr Leben einmal anders und besser gewesen war, aber er hatte keine Bilder vor Augen, nur die wirren Erzählungen im Ohr. Auch an seine Mutter konnte Ambros sich nicht erinnern, weder an ihr Leben noch an ihren Tod, ja nicht einmal an ihre Beerdigung. Wenn er seinen Vater danach fragte, dann reagierte dieser unwirsch und schlug um sich. Euphemia sei nicht mehr und damit Schluss! Es nütze nichts, dem Vergangenen nachzuweinen. Was Ambros vor allem nicht verstand, war die Tatsache, dass es auf dem Ahlbecker Friedhof kein Grab der Mutter gab, zumindest keines, das der Vater ihm gezeigt hatte oder von Zeit zu Zeit besuchte. Kein Weinen am Todestag oder zu Allerseelen, keine Blumen auf dem Grab. Da Ambros die Inschriften der Grabsteine und Holzkreuze nicht lesen konnte, wusste er nicht, wo seine Mutter beerdigt lag und ob man sie überhaupt begraben hatte. Die verdammte Mühle sei Euphemias Grab gewesen, sagte der Vater immer. Und der Junge solle endlich Ruhe geben.

Das Wenige, das Ambros über seine Mutter wusste, hatte er vom Vater gehört oder den vereinzelten Erzählungen im Dorf entnommen. Sie sei eine schöne, aber eigensinnige Frau gewesen, hatte der Schmiedebauer einmal gesagt, als Ambros den betrunkenen Vater aus der Dorfschänke nach Hause geholt hatte. Eine Friesin eben, was beinahe noch schlimmer als eine Holländerin war, aber ein verflucht hübsches Weibsbild. Woraufhin der Molenkötter und der Schmiedebauer sich angebrüllt und die Köpfe blutig gehauen hatten. »Kein Wort über Euphemia!«, hatte der Vater geflucht. »Sonst bring ich dich um, Schmied!«

»Ich wär nicht der erste«, hatte der Schmiedebauer geschrien, und dann waren sie erneut aufeinander losgegangen, bis der Wirt sie vor die Tür gesetzt hatte.

Erwachsene, dachte Ambros, das Reden war ihre Sache nicht. Schweigen konnten sie. Und streiten.

Euphemia! Der Name stammte aus dem Griechischen, hatte der Vater einmal gesagt, und er bedeutete »schönes Reden«. Wie gern hätte Ambros sich an die Stimme der Mutter erinnert. Aber sosehr er sich auch mühte, es gelang ihm nicht. Und das ließ ihn manchmal verzweifeln.

»Kch, kch«, machte es plötzlich, und als Ambros aufschaute, stand Ludger auf dem Hessenweg und winkte mit einem Stock. »Lah, lah, lah.«

»Sei froh, dass du nicht reden kannst, Ludger!«, rief Ambros und winkte den Jungen zu sich. »Ersparst dir einigen Ärger.«

Ludger schaute ihn verständnislos an, stieg auf den Bülten und ließ sich neben Ambros nieder. Er lächelte und zeigte dabei seinen gespaltenen Kiefer.

»Ist der Müller noch bei euch?«, fragte Ambros.

Ludger nickte und klopfte Müntzer auf den Rücken.

»Und der Pastor?«

Ludger faltete die Hände wie zum Gebet und verdrehte die Augen, als wäre er nicht bei Sinnen. Wieder grinste er. Dann kritzelte er mit seinem Stab in der Erde des Galgenbültens herum.

»Ob die beiden sich kennen?«, dachte Ambros laut. »Würd mich nicht wundern, wenn die was …« Plötzlich verstummte er und starrte ungläubig auf Ludgers Gekritzel. »Was machst du da?«

Mit seinem Stock hatte der lallende Ludger etwas in krakeliger Schrift in den Boden gekritzelt: »MARIA«

»Was heißt das?«

Ludger hielt sich die Hände wie zwei weibliche Brüste vor den Oberkörper, klimperte mit den Augenlidern und deutete dann mit dem Stock zum Hof seines Vaters.

»Eine Frau?«, schlussfolgerte Ambros und sah zum Schulzenhof. »Deine Schwester?«

Ludger nickte.

»Maria«, murmelte Ambros und starrte nachdenklich auf das Gekritzel. Überrascht fragte er: »Du kannst schreiben? Und lesen?«

Erneut nickte Ludger stolz und lallte: »Lah, lah, lah!«

Ambros lächelte, als wäre ihm gerade etwas eingefallen.

Fünftes Kapitel

Bringt ein Gespräch in der Heideschänke und eine Begegnung an der Kolkmühle

Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Was wollten sie noch von ihm? Wieso mussten sie ihn peinigen und in den alten Wunden bohren? Als bereitete es ihnen Vergnügen, ihn an seine Schande und sein Elend zu erinnern. Nun würde alles wieder von vorne beginnen. Wie ein Ochse in einer Drehmühle stapfte er seit Jahr und Tag im Kreis und kam nicht von der Stelle. Deshalb trank er, aber selbst das wollten sie ihm jetzt austreiben.

Es war die Nacht vor der Kräuterweihe, gegen Mitternacht, aber die Hitze des Tages hatte den Sonnenuntergang überdauert. Die Heideschänke war beinahe leer. Nur an einem grob gezimmerten Tisch im hinteren Teil des Schankraums, der früher einmal die Tenne des Kottens gewesen war, saßen Geert Vortkamp und Hermann Gerwing, der älteste Schulzensohn, beisammen, starrten auf die rußende Talgkerze und schwiegen beredt. Der Molenkötter hatte einen Krug Grutbier vor sich stehen, das statt mit Hopfen mit wildem Rosmarin gebraut wurde. Das Heidekraut wuchs schließlich überall ringsum und gab dem Bier einen starken, wenn auch etwas bitteren Geschmack. Lieber hätte Geert den selbst gebrannten Genever des Heidewirts getrunken, doch Olbring hatte ihm den Wacholderschnaps verwehrt. Erst solle er seine Schulden bezahlen, dann könne er wieder Branntwein trinken. Bis dahin müsse er sich mit dem Grutbier zufrieden geben. Der Heidewirt wolle ja kein Unmensch sein.

»Was sagst du dazu?«, fragte der Schulzensohn, als die Stille zu bleiern wurde. Er war ein exaktes Abbild seines Vaters, ebenso groß und stämmig, ebenso bärtig und bezopft, ebenso einschüchternd und unerbittlich.

»Schert euch zum Teufel!«, fauchte der Molenkötter.

»Aber überleg doch mal, Geert«, fuhr Hermann fort und legte seine riesige Pranke auf den Unterarm des anderen. »Es könnte alles so sein wie früher. Du wärst wieder Müller. Gewissermaßen.«

»Das ist es ja eben«, knurrte Geert, schüttelte die Hand ab und nahm einen Schluck Bier. »Keine zehn Pferde bringen mich in die Mühle zurück. Und Vernholt kann mir gestohlen bleiben. Das ist mein letztes Wort.«

»Denk doch auch einmal an die anderen«, beharrte Hermann und rückte auf der Bank ganz nahe an den Molenkötter heran. »Was ist mit deinem Jungen? Soll er den Rest seines Lebens mit den Schafen in der Heide verbringen? Vernholts Angebot ist wie eine glückliche Fügung des Schicksals, er scheint einen Narren an deinem Jungen gefressen zu haben. Sicherlich wärst du nicht der Herr der Mühle, aber solange der Müller versehrt ist …« Er ließ den Satz unbeendet und klopfte stattdessen mit den Knöcheln auf die Tischplatte.

»Den Brookbauern geht es immer nur um die Brookbauern«, sagte Geert und schnaufte wütend. »Tut doch nicht so, als würdet ihr euch auch nur einen Deut um mich oder meinen Jungen scheren. Ich weiß genau, was ihr vorhabt, du und dein Vater und der verdammte Haermöller! Aber nicht mit mir! Mich könnt ihr nicht hinters Licht führen. Und jetzt lass mich, verdammt noch mal, in Frieden!«

»Das ist sehr unvernünftig von dir, Geert.« Hermann setzte eine mitleidige Miene auf, die eher bedrohlich wirkte. »Wenn du dich weigerst, dem neuen Müller zur Hand zu gehen, dann wird dir das nicht gut bekommen. Vergiss nicht, der Molenkotten gehört meinem Vater, ebenso das Land und die Schafe. Wenn er dich vor die Tür setzt, dann bleibt dir nur das Armenhaus. Oder die Straße.« Er lächelte eisig und deutete zu Mat-thes Olbring, der gelangweilt an einem Tisch an der Flettseite des Kottens saß. »Auch die Heideschänke gehört unserer Familie. Wo willst du dein Bier trinken, wenn dir das Betreten des Gasthofs untersagt wird? Nimm endlich Vernunft an, Mensch!«

Geert Vortkamp starrte den anderen mit funkelnden Augen an und senkte sofort wieder den Blick. Erst jetzt schien dem Molenkötter klar zu werden, wie aussichtslos seine Lage war. Er steckte in einer Zwickmühle. Ging er auf den überraschenden und vermutlich auf dem Mist des Schulzen gewachsenen Vorschlag des Müllers ein und wurde dessen Gehilfe, so würde der Brookbauer ihm keine ruhige Minute mehr gönnen. Gerwing würde ihn drangsalieren und unter Druck setzen, bis er ihn zu seiner Marionette gemacht hatte. Wie er es schon einmal getan hatte. Schlug Geert Vortkamp hingegen Vernholts Angebot aus, dann konnte er sich gleich den Strick nehmen. Lieber würde er sterben, als im Armenhaus zu enden und von Almosen zu leben.

»Vater findet, du könntest ruhig etwas mehr Dankbarkeit zeigen«, sagte Hermann und griff dem anderen wie einem Kaninchen in den Nacken.

»Dankbarkeit?!«, rief Geert und fuhr unter Schmerz zusammen. »Dass ihr mich zum Schäfer gemacht habt? Dass ich den einen unehrlichen Beruf gegen einen anderen tauschen durfte? Pah! Zum Gespött der Leute habt ihr mich gemacht. Meine Ehre habt ihr mir genommen.«

»Als hättest du je eine gehabt«, lachte der Schulzensohn und winkte dem Wirt, der sofort zur Stelle war und sich tief verneigte. »Wacholder!«, bestellte Hermann und klopfte dem Molenkötter auf den Rücken. »Zur Feier des Tages. Und ab morgen ist Schluss mit der Sauferei. Ein Müller muss nüchtern sein.«

Geert Vortkamp konnte sich nicht erinnern, dem Vorschlag zugestimmt zu haben, aber hatte er eine Wahl? Machte es überhaupt noch einen Unterschied? Sollten sie ruhig glauben, dass sie ihn um den Finger gewickelt hatten und er Wachs in ihren Händen war. Sie würden sich schon noch wundern, das schwor er sich in diesem Moment, so wahr er ein Vortkamp war. Er mochte ein elender Säufer sein, ein ehrloser Schäfer, ein Taugenichts und Halunke, aber er hatte ein gutes Gedächtnis. Das war ja das Problem. Er vergaß nie etwas. Der Schulze glaubte wahrscheinlich, dass eine dreckige Hand die andere gewaschen hatte. Der Schafskotten im Tausch gegen eine kleine Gefälligkeit. Eine Belohnung für wohlfeile Dienste. Vielleicht auch als Wiedergutmachung. Aber es gab eben nichts mehr gut zu machen. Euphemia war nicht mehr, und dafür trugen allein der Brookbauer und seine Sippe die Verantwortung.

Der Wirt brachte den Genever und füllte die Holzbecher.

»Prost!«, rief Hermann. »Auf Geert Vortkamp, den baldigen Kolkmüller!«

»Auf Heinrich Vernholt!«, erwiderte Geert und stürzte den Genever hinunter, ohne dem Schulzensohn zugeprostet oder ihn auch nur angesehen zu haben. »Und dass er lange leben möge.« Er lachte bitter und wischte sich angewidert über den Mund, als hätte er gerade einen Becher voll Schierling ausgetrunken. Er starrte aus dem kleinen Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, und eine wütende Träne hing in seinem Augenwinkel, die er wegwischte, als wäre sie ein Staubkorn. Wie hatte er nur so tief sinken können!

War Hermann Gerwing ein genaues Abbild seines voluminösen Vaters, so handelte es sich bei dem Molenkötter um eine fünfunddreißigjährige Version des kleinen Ambros. Die flachsblonden Haare standen ihm struppig vom Kopf, hellblaue Augen leuchteten unter dunklen, buschigen Augenbrauen, und das vom Alkohol aufgedunsene Gesicht war übersät mit Sommersprossen. An den Falten um Mund und Nase konnte man erkennen, dass Geert früher gern und viel gelacht hatte, aber der Branntwein hatte ihn mit der Zeit abstumpfen und übellaunig werden lassen. Kaum etwas erinnerte an den fröhlichen und unternehmungslustigen Rabauken von einst, an dem die Weiber Gefallen gefunden hatten, obwohl er im eigentlichen Sinne kein schöner Mann gewesen war.

Als Müller hatte er nicht zu den angesehenen Pfahlbürgern gezählt, doch sein gewinnendes Wesen und das lose Mundwerk hatten ihm, wenn schon nicht den Respekt, so doch die Sympathie der Leute eingebracht. Auf diese Weise hatte er auch die schöne Euphemia für sich gewinnen können. Davon war wenig übrig geblieben. Die Weibsleute machten sich mittlerweile über ihn lustig, tuschelten hinter seinem Rücken über ihn oder gingen ihm aus dem Weg. Manchmal musste er sie mit Gewalt nehmen, andere ließen ihn gegen Geld oder Schnaps gewähren.

Wie elendig!

Wenn Geert seinen kleinen Sohn betrachtete, dann erkannte er sich selbst, wie er früher einmal gewesen war. Wie ein Spiegelbild vergangener Zeiten. Und das war eine Qual, die er nicht ertragen konnte, die ihn außer sich geraten ließ. Er sah Ambros’ trauriges, manchmal stoisches Lächeln, das ihm wie ein stiller Vorwurf erschien, wie ein Ausdruck der Enttäuschung und Anklage, und dann verlor er die Beherrschung und prügelte auf den Jungen ein, als gälte es, sich selbst zu bestrafen.

Geert liebte seinen Sohn abgöttisch, daran war nicht zu zweifeln, aber seinen Anblick scheute er, er hielt ihm nicht stand, fürchtete ihn. Ambros war ein Frechdachs und Schelm, wie er selbst einer gewesen war, aber sein Lachen klang meistens bitter oder erschrocken. Das Lachen eines Erwachsenen aus dem Mund eines Kindes. Darum schlug Geert wie wild auf ihn ein und hasste sich anschließend dafür. Auch Ambros liebte den Vater, das wusste und fühlte der Molenkötter, aber der Junge achtete ihn nicht, er hatte keinen Respekt vor ihm. Wie sollte er auch, wenn Geert sich selbst nicht achtete. Wenn er den Jungen prügelte und trat, dann beklagte sich Ambros nie mit Worten, nur mit Blicken. Doch die waren schlimmer als die gottlosesten Flüche und Verwünschungen. Denn innerlich wusste Geert, dass er von seinem Sohn abhängig war, dass er ohne Ambros längst verreckt wäre. Und das ließ ihn in seiner Selbstachtung nur umso mehr sinken. Es war ein Teufelskreis.

»Geert?!«

»Hm?«, machte der Molenkötter.

»Ich sagte, morgen nach dem Hochamt wirst du alles Nötige erfahren«, wiederholte Hermann, klopfte auf den Tisch und stand auf. »Der Müller wohnt beim Ketzer im Krummhaus, solange die Mühle in Schutt und Asche liegt. Vater hat ihm angeboten, auf unserem Hof zu bleiben, aber der Kerl wollte lieber im Dorf wohnen. Kein höflicher Mensch, dieser Vernholt. Schließlich würde er ohne Maria vermutlich gar nicht mehr leben. Auch jetzt ist er noch wacklig auf den Beinen und bleich wie Heidesand. Doch Boeckbinder hat um ihn herumscharwenzelt, als wäre er der Bischof persönlich. Komischer Kauz!« Er ließ offen, ob er den Müller oder den Pastor meinte.

Geert winkte unwirsch ab. Hermanns Gerede interessierte ihn nicht. Er hielt ihn am Ärmel fest und fragte: »Was soll ich überhaupt machen? Ohne Mühle?«

»Timmermeester wird in den nächsten Tagen das Haus am Kolk herrichten und dann die Mühle wieder aufbauen«, antwortete Hermann und setzte seinen Hut auf. »Du sollst ihm zur Hand gehen. Morgen nach der Kräuterweihe kannst du alles Weitere mit ihm besprechen.«

»Mit Timmermeester oder Vernholt?«

»Mit meinem Vater«, antwortete Hermann, lachte dröhnend, klopfte dem anderen auf den Rücken und verließ die Schänke.

»Feierabend, Geert!«, rief der Wirt, der dem Schulzensohn die Tür aufgehalten hatte und nun nach draußen wies. »Schluss für heute!«

»Mein Bier werde ich wohl noch austrinken dürfen.«

»Wenn du’s bezahlt hättest«, antwortete Olbring grinsend.

»Wirst dein Geld schon noch bekommen, Matthes. Du hast ja gehört, ich bin der baldige Kolkmüller.« Er lachte und kippte sich das Bier in den Rachen, als müsste er einen schlechten Geschmack hinunterspülen.

Olbrings Miene wurde eisig, er setzte sich an Geerts Tisch, wartete, bis der andere ihn anschaute, und sagte leise, aber eindringlich: »Ich hab überhaupt nichts gehört. Und niemanden gesehen. Du hast den ganzen Abend allein am Tisch gesessen und mit keiner Menschenseele ein Wort gewechselt. Verstehst du mich?«

»Sie haben eine Sauerei vor«, antwortete Geert mit finsterer Miene. »Und ich werde das Schwein sein, das sie am Ende abstechen.« Wie im Selbstgespräch fügte er hinzu: »Jetzt beginnt alles wieder von vorne.«

»Das geht mich nichts an«, knurrte der Wirt und räumte die Becher vom Tisch.

»Wenn du dich da nur nicht täuschst.« Geert Vortkamp stand schwerfällig auf, setzte seinen fleckigen und an den Rändern eingerissenen Schlapphut auf und wankte zur Tür. »Wir werden diesen Tag noch alle verfluchen.«

»Geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus!«, rief Olbring ihm hinterher, doch Geert war bereits zur Tür hinaus und stapfte schwankend davon.

Die Schänke lag südöstlich des Dorfes, in unmittelbarer Nähe des Ahlbachs, umgeben von mannshohen Dünen und dichtem Heidegesträuch. Wacholder und Besenginster wuchsen hier auf lockerem Bleichsand. Einige Birken und wenige Kiefern ragten aus der hügeligen Landschaft. Es gab keine befestigten oder ausgefahrenen Wege durch die Heide, nur schmale Rollbahnen, die bei Nacht kaum auszumachen waren. Doch Geert hätte den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden, er hielt sich stets in der Nähe des Baches und kam auf diese Weise zwangsläufig zum Dorf und auf den Hessenweg, den er dann kurz vor dem Schulzenhof verließ, um sich in nördlicher Richtung durchs Moor zu schlagen. Die erste Hälfte des Weges war ein Kinderspiel, in der Wacholderheide konnte man sich zwar verirren, aber man kam nicht darin um. Die zweite Hälfte jedoch war schwieriger, ein falscher Tritt, eine Unachtsamkeit, und man versank in einem Moorloch. Eine Dreiviertelstunde brauchte er von der Heideschänke bis zum Molenkotten, es war aber auch schon vorgekommen, dass Geert auf halbem Wege eingeschlafen und am nächsten Morgen mitten auf dem Hessenweg aufgewacht und beinahe von einem herannahenden Fuhrwerk überrollt worden war.

Dem Molenkötter brummte der Schädel, und er wusste nicht, ob es am Grutbier oder an den Ereignissen und Neuigkeiten des Tages lag. Warum war der neue Müller ausgerechnet auf ihn verfallen? Wieso wollte er einen Säufer und Tunichtgut zum Gehilfen, wenn es im Armenkotten von kräftigen, jungen Burschen wimmelte, die für einen Hungerlohn alles tun würden? Er hatte sich wahrlich nicht aufgedrängt, ganz im Gegenteil. Vermutlich steckte der Schulze dahinter, dachte Geert, oder hatte der nur die Gunst der Stunde ausgenutzt und setzte ihm nun die Klinge an den Hals? Was hatte Hermann gemeint, als er davon gesprochen hatte, der Müller habe offensichtlich einen Narren an Geerts kleinem Jungen gefressen? Was hatte Ambros mit dem fremden Kerl zu schaffen? Er hatte den verletzten Müller zum Schulzen geschafft, das hatte der Junge dem Vater erzählt, aber sonst? Plötzlich kam dem Molenkötter der Gedanke, der Müller habe ihn nicht trotz, sondern wegen seiner Sauferei ausgewählt. Aber das war natürlich Unsinn. Mit Vernholt selbst hatte Geert noch kein Wort gesprochen, das würde er morgen nachholen. Dann würde er ja sehen.

Geert hatte inzwischen den Dorfplatz erreicht. Kein Mensch war mehr auf den Beinen, kein Laut war zu vernehmen, nirgendwo brannte Licht, nur im Krummhaus war ein Fenster erleuchtet. Ein Schatten huschte über den Vorhang. Der Molenkötter ließ den Friedhof rechts liegen, passierte die Kirche und den Hof des Schmiedebauern, überquerte die hölzerne Ahlbrücke und bog linker Hand in den Hessenweg ein. Noch eine halbe Meile bis zur Grenze. Gedankenverloren schritt er dahin. Der Vollmond beleuchtete den Weg, doch Geert schaute nicht nach vorne, sondern an sich herab. Auch hinsichtlich der Kleidung glich er seinem Sohn auffallend. Er trug Fetzen am Leib, die man kaum noch als Hose und Hemd erkennen konnte, und seine Füße steckten in Leinenwickeln, die schwarz wie Pech waren. Seine Finger waren von der gleichen Farbe, unter den Nägeln hatte sich der Dreck von Monaten gesammelt, und um den Hals trug er eine Krause von Schmutz, wie ein breites Halseisen. Für wen sollte er sich auch schön machen oder sauber halten? Niemand störte sich daran, dass er stank wie ein Iltis, die Läuse und Flöhe bestimmt nicht, und am wenigsten er selbst.

Er hatte fast den Schulzenhof erreicht, als plötzlich Hufgetrappel zu hören war, das sich rasch aus westlicher Richtung näherte. Nur wenige Augenblicke später galoppierte eine schwarze Gestalt auf einem Falben an ihm vorbei, ohne zu grüßen oder ihn auch nur wahrzunehmen. Geert glaubte, Pastor Boeckbinder im Sattel erkannt zu haben. Zumindest war es dessen Pferd gewesen. Geert schüttelte den Kopf. Eine unchristliche Zeit für einen Ausritt! Und eine unwirtliche Gegend obendrein.

Die Warft des Schulzenhofes ragte rechts aus dem Bruchwald heraus, direkt daneben zeichnete sich schemenhaft der Galgen am sternenklaren Himmel ab, und den Molenkötter zog es immer weiter geradeaus, obwohl er längst den Hessenweg hätte verlassen und sich durchs Venn in Richtung Molenkotten aufmachen müssen. Er hatte mittlerweile den Weg zum Brookhof und den Galgenbülten hinter sich gelassen und stand am Abzweig zur Mühle. Seit sechs Jahren war er nicht mehr hier gewesen. Seit jener Nacht im Sommer 1529. Sechs elendig lange Jahre, die er auf einem alten Schafskotten im Moor verbracht hatte, den die Leute aus purer Bosheit Molenkotten nannten, weil der Herr des Hauses früher einmal Müller gewesen war. Das war ein Scherz nach Art der Ahlbecker. Verdammte Bande!

Und nun trieb es ihn zur Wassermühle, immer weiter, wie von einem Magnetberg angezogen, dort vorne war die Umflutschleuse, dahinter das Mühlenwehr, zur Linken der obere Mühlteich, der diesen Namen im Moment wahrlich nicht verdiente. Die Anlegestelle für die Boote auf der anderen Seite des Teichs ragte wie ein Turmgerüst aus dem Niedrigwasser des Ahlbachs. Dafür war der untere Mühlteich auf der rechten Seite, der sonst nur aus einem ärmlichen Rinnsal bestand, zu einem kleinen Tümpel geworden. Vorsichtig und tastend wagte sich Geert weiter, über das Wehr und auf den Platz vor der Ruine. Eine uralte Linde überragte die Mühle und das Wohnhaus, der Mond schien hell und tauchte alles in ein milchiges Licht.

Als er das Rascheln hörte und eine plötzliche Bewegung hinter sich wahrnahm, fuhr er herum, hob abwehrend die Hände und atmete erleichtert auf, als er vor sich das hübsche Gesicht der Johannvaterin sah. Sie jedoch schrie erschrocken oder überrascht auf, als hätte sie ihn nicht gesehen oder jemand anderen erwartet.

»Was machst du denn hier?«, rief sie und fasste sich an die Brust.

»Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, Maria«, sagte Geert und hatte Mühe, sein rasendes Herz zu beruhigen. »Wandelst du im Schlaf?« Er deutete auf das leichte Gewand aus weißem Leinen, das an ein Nachthemd erinnerte. Die Johannvaterin trug weder Joppe noch Brusttuch und hatte keine Haube auf dem Kopf, das lockige, braune Haar fiel ihr über den Rücken bis zum Gesäß.

»Ich konnte nicht schlafen«, antwortete Maria und schaute sich vorsichtig um, als hätte sie Angst, jemand könnte sie zusammen sehen. »Bei Vollmond finde ich keinen Schlaf«, setzte sie hinzu und raffte ihr Hemd über dem Busen.

»Tatsächlich?«, wunderte sich Geert, der mit einem Mal völlig nüchtern war. »Oder wartest du auf jemanden?«

»Auf wen sollte ich wohl warten?«, erwiderte sie schnippisch.

Geert überlegte, ob er ihr von dem Pastor auf dem Pferd erzählen sollte, nahm aber Abstand davon, als er ihren funkelnden Blick sah. Ein absurder Gedanken schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Aber nein, schalt er sich im selben Moment, nicht Pastor Boeckbinder!

Um das Schweigen nicht zu lang und quälend werden zu lassen, fragte er: »Wolltest du einen Spaziergang um den Kolk machen?«

Die Johannvaterin antwortete nicht, aber Geert hatte den Eindruck, als wäre sie ein wenig rot geworden, auch wenn das bei dem Licht schwer zu sagen war. Ihre Mundwinkel zuckten, als überlegte sie eine Antwort, und plötzlich fuhr sie ihn an: »Was schert dich das? Kann ich nicht machen, was ich will? Warum treibst du dich überhaupt hier herum? Verdammter Trunkenbold!«

Geert kannte die Schulzentochter nur vom Sehen und hatte bislang kaum mehr als drei Sätze mit ihr gesprochen, wenn er zu Kötterdiensten auf dem Hof des Brookbauern gewesen war, aber aus den Erzählungen der Leute wusste er, dass sie ein aufbrausendes Wesen hatte und wie ihr Vater zum Jähzorn neigte. Es hieß, sie besitze ein Mundwerk wie ein Schinder und habe schon mehr als einen Knecht mit dem Flegel verdroschen. Auch darin glich sie ihrem Vater.

»Ich soll dem alten Melchior beim Aufbau der Mühle helfen«, sagte Geert und versuchte sich an einem Lächeln, das ein wenig ungelenk wirkte. »Wollte mir das Gelände mal ansehen. Dein Bruder Hermann hat gesagt, dass der neue Müller mich als Gehilfen will. Seltsam, nicht?«

»Hermann?«, erwiderte Maria, ohne auf seine Frage einzugehen. »Hast du ihn gesehen? Wann?«

»Vorhin in der Schänke«, bestätigte der Molenkötter.

»War er allein?«

Geert stutzte, nickte dann und kniff die Augenbrauen zusammen. Wieder schaute Maria sich suchend um und starrte über die Schulter des Molenkötters. Als er sich ebenfalls umwandte, fasste sie ihn plötzlich an den Unterarm und fragte: »Merkwürdiger Kerl, oder?«

»Hermann?«, fragte Geert und sah die Johannvaterin überrascht an.

»Nein, der Müller. Vernholt.«

»Ich hab ihn bisher noch gar nicht kennen gelernt«, antwortete Geert und fuhr sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. »Was ich über ihn weiß, hab ich von Hermann oder meinem Jungen gehört. Warum merkwürdig?«

»Nur so«, sagte Maria und wandte sich zum Gehen. Sie raffte ihr Kleid und eilte über den Platz in Richtung Mühlenwehr.

Geert folgte ihr, holte sie auf der Brücke ein und wiederholte seine Frage: »Warum merkwürdig?«

»In Altheim habe ich vor einigen Jahren einen gewissen Vernholt kennen gelernt, einen alten Öhm«, sagte Maria und schien es plötzlich sehr eilig zu haben, nach Hause zu kommen. »Der Alte hat von einem Neffen oder Enkel gesprochen, einem Müller aus Billerbeck.«

»Das wird der Mann sein«, mutmaßte Geert.

Maria nickte und bog auf den Hessenweg ein. »Der Öhm hat meinem Mann damals berichtet, dass sein Verwandter an den Blattern erkrankt ist, und wollte von ihm wissen, ob man die Krankheit heilen kann.«

Geert verstand nicht ganz, worauf Maria hinaus wollte, und sagte: »Offensichtlich hat er’s überstanden. Soll schon vorgekommen sein.«

»Durchaus«, erwiderte die Johannvaterin und blieb ruckartig stehen. Sie standen nun am Abzweig zum Brookhof. »Die Blattern kann man überleben, aber die Narben wird man nicht mehr los«

«Und?«, fragte Geert.

Als Antwort zuckte sie mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

Er verstand und sagte: »Keine Narben.«

«Keine Narben«, bestätigte Maria, «außer denen an der Schulter, und die stammen von keiner Krankheit!« Sie nickte bedeutsam, fuhr auf dem Absatz herum und verschwand grußlos im Hohlweg.

Sechstes Kapitel

Beginnt mit schönem Reden und endet mit einem hässlichen Gesicht

Mariä Himmelfahrt fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag. Die traditionelle Segnung der Kräuterbüschel sollte nach Ende des Hochamts auf dem Kirchplatz unter der Linde stattfinden. Händler aus dem Umgegend und fahrendes Volk würden sich im Laufe des Morgens einfinden, um farbenfrohe Krautbunde zum Verkauf anzubieten. Nicht alle Bauern hatten die Zeit und das Wissen, die seit Alters her vorgeschriebenen Kräuter selbst zu sammeln, manche Pflanzen wuchsen nicht in Heide und Moor, andere waren nur schwer und in unzugänglichem Gelände zu finden. Mindestens sieben verschiedene Kräuter sollten es sein, aber die meisten Gläubigen brachten Krautbunde mit siebenundsiebzig oder mehr Sorten. Die heilige Zahl sieben spielte eine wichtige Rolle bei der Weihe, und je größer der Bund, desto heilbringender der Segen. Pastor Boeckbinder betrachtete das Treiben zu »Unser Frauen Würzweih« mit offensichtlichem Argwohn und prangerte insgeheim den Festtag als heidnischen und weibischen Volksglauben an, aber für die Ahlbecker war die Kräuterweihe ein wichtiger Tag. Die Gottesmutter galt schließlich als Beschützerin der Feldfrüchte, und kein Bauer würde es wagen, ohne gesegneten Würzbüschel nach Hause zu gehen. Dort wurde der Krautbund im »Herrgottswinkel« der Stube zum Schutz von Haus und Stall aufgehängt. Aus den Kräutern konnte Tee bereitet werden, der bei Krankheiten verabreicht wurde. Geweihtes Getreide wurde dem Saatgut untergemischt, um eine reiche Ernte zu sichern, und bei Gewitter warf der Hausherr Kräuter ins Feuer, um den Hof vor Blitzeinschlag zu bewahren.

Ambros wusste, dass die Kräuter auch gegen Verwünschungen und Hexenflüche halfen, und wenn jemand starb, so legte man dem Verstorbenen ein Kreuz aus Weihkräutern in den Sarg. Ambros wusste allerdings auch, dass der Pastor die Segnung nur widerwillig vollzog, wie er überhaupt der Verehrung der Muttergottes nicht viel abgewinnen konnte. Die Kräuterweihe abzusagen, kam jedoch nicht in Frage, dies hätte einen Sturm der Entrüstung entfacht und zum offenen Aufstand gegen den verhassten Kirchenmann geführt. So fügte er sich dem Volkswillen und ließ das Fest wie ein Martyrium über sich ergehen.

Noch war von dem Treiben auf dem Dorfplatz jedoch nichts zu sehen. Es war kurz nach Sonnenaufgang, und wie vor einigen Tagen, als er dem Pastor die kupferne Medaille überreicht hatte, schlich Ambros auf dem Friedhof herum und schien auf etwas oder jemanden zu warten. Magus, der Totenbauer, war vor Kurzem in die Sakristei gegangen, um den Gottesdienst vorzubereiten. Vom Friedhof aus führte eine niedrige Holztür zum Chorraum der Kirche, in dem sich seitlich des Altars die Sakristei befand. Beim Auftauchen des Küsters hatte Ambros sich hinter einem Grabstein versteckt, wo er nun hockte und Ausschau hielt. Als er plötzlich den rasselnden Atem hinter sich hörte, fuhr er zusammen und gab Ludger vor Schreck eine Ohrfeige.

»Schleich dich gefälligst nicht so ran!«, fluchte er und bereute es im selben Moment. »Kannst einen ja zu Tode erschrecken!«

Ludger machte eine betretene Miene, schob die Unterlippe vor und stand mit hängenden Schultern da.

Ambros hätte gern gesagt, dass es ihm Leid tat, aber das schickte sich nicht. »Niemand achtet dich, wenn du um Vergebung winselst«, sagte der Vater immer, und auch wenn Ambros im Geheimen den Weisheiten des Vaters misstraute, so folgte er ihm in diesem Punkt aufs Wort. Niemals eine Schwäche zeigen!

»Duck dich!«, sagte er und zog den Schulzensohn zu sich herab, wobei er wie beiläufig über dessen Haar streichelte. »Du kommst spät.«

Ludger schüttelte den Kopf und deutete zur Sonne, die einen Fingerbreit über dem Krummhaus stand.

»Hm«, machte Ambros und nickte. Er wusste, dass Ludger recht hatte. Zum Lesen brauchte man Licht, im Dunkeln ließ sich nichts erkennen. Er deutete zur Kirche. »Lass uns dort anfangen«, knurrte er und wusste selbst nicht, warum er so schlecht gelaunt war. Vielleicht weil er an die schallende Ohrfeige dachte, die der Vater ihm am gestrigen Abend gegeben hatte, weil ihm das Fragen und Bohren seines Sohnes auf die Nerven ging. »Lass mich mit deiner Mutter in Frieden«, hatte er geschimpft und war wutentbrannt zur Schänke gestapft.

Ambros und Ludger schlichen an der Friedhofsmauer entlang zur Kirche und krochen von Grab zu Grab. In diesem Teil des Friedhofs waren die Grabsteine besonders groß und kunstvoll gestaltet, vermutlich lagen hier die Großbauern und Würdenträger begraben, und Ambros bezweifelte, dass seine Mutter neben Priestern und Schulzenbauern bestattet war.

»Euphemia«, sagte Ambros, »das heißt ›schönes Reden‹. Wirst du es erkennen, wenn du es siehst?«

Ludger nickte, betrachtete mit ernster Miene die Inschriften der Grabsteine und schüttelte mehrmals den Kopf. Manchmal machte er Zeichen, wenn er die Verstorbenen oder ihre Familien kannte, aber den Namen der Mutter schien er nicht zu entdecken. So arbeiteten sie sich von Reihe zu Reihe vor, erst entlang der Kirchmauer, dann in Richtung Krummhaus.

An einer gemauerten Gruft, die unweit der nördlichen Umfriedung gelegen war, blieb Ludger plötzlich stehen, deutete auf das mit kleinen Säulen und grünlich angelaufenen Statuen geschmückte Gemäuer und tippte sich dann mit dem Finger auf die Brust. Er schloss die Augen, legte den Kopf schräg, klappte den Kiefer herunter und streckte die Stummelzunge heraus, als weilte er nicht mehr unter den Lebenden.

Ambros nickte und betrachtete die Gruft der Gerwings. Eine winzige Eisentür versperrte den Zugang zur Treppe, die hinunter ins Reich der Toten führte. Hier lag Ludgers Mutter Josefa begraben, die kurz nach dessen Geburt am Kindbettfieber gestorben war, und hier würde Ludger einst selbst liegen. Außer dem Familiengrab des Schulzenbauern gab es noch drei weitere gemauerte Grüfte auf dem Friedhof, die aber bei Weitem nicht so aufwändig und kunstvoll gestaltet waren.

»Los!«, riss Ambros sich selbst aus den Gedanken. »Weiter!«

Je näher die Jungen dem Krummhaus kamen, desto kleiner und schmuckloser wurden die Grabsteine, und schließlich ragten nur noch Holzkreuze aus der Erde, manche verwittert, andere ganz ohne Inschrift. Als Ambros an einem solchen namenlosen Grab stand, erkannte er, wie müßig und unsinnig ihr Treiben war. Er würde seine Mutter niemals finden. Leider hatte er sonst keine Verwandten, und den Vater würde er nicht ein weiteres Mal fragen.

»Kch, kch«, machte Ludger und zupfte aufgeregt an dem Ärmel des anderen.

Ambros’ Blick folgte Ludgers ausgestrecktem Arm, und er sah den Pastor mit dem Müller aus dem Krummhaus treten. Beinahe hätte er Vernholt gar nicht erkannt, so verändert sah er aus. Statt Schaube, Wams und Barett trug der Müller nun einfache, fast bäuerlich wirkende Kleidung aus hellem Leinen. Die strumpfartigen Beinlinge waren knielangen, weiten Hosen gewichen. Den linken Arm trug er in einer Schlinge, der Schulterverband ragte unter dem Rüschenhemd hervor und reichte bis an den Hals. Das einzige, was noch an den Mann in Schwarz erinnerte, war die auffallende Blässe des Gesichts und die steinerne Miene, die Ambros wie eine undurchdringliche Maske erschien.

Wieder zupfte Ludger an seinem Ärmel. Er deutete auf einen Ginsterbusch in der Nähe und verkroch sich dahinter. Eigentlich gab es keinen Grund, sich zu verstecken, dachte Ambros. Schließlich war der Kirchhof für jedermann, zu jeder Zeit zugänglich, dennoch folgte er dem anderen hinter das Gebüsch.

»Wie hast du die Krypta entdeckt, Johannes?«, fragte Vernholt und schaute sich nach allen Seiten um.

»Das eigentliche Kellergewölbe ist kleiner als die Kirche darüber«, antwortete der Priester und ging über einen kleinen Weg voran. »Nur das Langhaus ist unterkellert, der Chorraum jedoch nicht. Und das ist äußerst ungewöhnlich.«

Vernholt nickte und folgte dem anderen, wobei sie direkt an dem Busch vorbeischritten, hinter dem Ambros und Ludger atemlos hockten und horchten.

»Außerdem fehlen die Gräber der frühen Priester auf dem Friedhof«, fuhr Boeckbinder fort und wies zur Kirchmauer. »Das älteste Grab stammt aus dem vorigen Jahrhundert, damals ist die Kirche umgebaut worden, doch an gleicher Stelle hat es schon vorher ein Gotteshaus gegeben.«

»Verstehe«, antwortete Vernholt.

Ambros verstand kein Wort. Was zum Teufel war eine Krypta? Und was hatte das Alter der Kirche mit den Gräbern der Priester zu tun? Als er sich ein wenig hinter dem Gebüsch hervorwagte, sah Ambros, dass die beiden Männer den Fußweg zur Sakristei verließen und sich zur Gruft des Schulzen begaben. Zunächst schien es, als wollten sie die Grabstätte betreten, doch statt die Eisentür zu öffnen und die Treppe hinabzusteigen, verschwanden sie hinter dem Gemäuer. Die beiden Jungen warteten eine Zeit lang, doch die Männer tauchten nicht wieder auf. Schließlich verließ Ambros das Versteck und näherte sich der Gruft. Als er hinter das Gemäuer blickte, sah er die Eisenpforte in der wenige Schritte entfernten Friedhofsmauer. Sie war völlig verrostet und mit dornigem Gestrüpp überwuchert. Bislang hatte Ambros immer gedacht, der Zugang auf der Nordseite des Kirchhofs sei verschlossen. So konnte man sich irren.

»Suchst du was, Junge?«

Ambros fuhr erschrocken herum und sah Magus, den Totenbauern, der gerade die Sakristei verließ und mit einem riesigen Schlüssel die Eichentür verriegelte.

»Die Pforte«, sagte Ambros, räusperte sich und wies zur Mauer.

»Ist zu«, antwortete Magus und zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Kann man nichts machen.

Denkst du, dachte Ambros und nickte.

»Willst du Kräuter für die Weihe sammeln?«, wunderte sich der Totenbauer und fuhr sich über den speckig glänzenden Glatzkopf. »Oder was treibst du um diese Zeit hier? Hat dich dein Vater geschickt?«

»Nein, Gevatt…« Ambros biss sich auf die Lippen und schaute zu Boden. Gevatter Tod, so nannten die Kinder des Dorfes den Totenbauern, aber nur wenn er es nicht hörte, denn der alte Küster war ihnen unheimlich. Der Name Magus komme aus dem Lateinischen, hatte der Vater einmal gesagt, und er bedeute »Magier«. Ein Totenzauberer. Einem plötzlichen Impuls folgend, sagte Ambros: »Ich will zum Grab meiner Mutter.«

»Deine Mutter?«, erwiderte Magus überrascht. »Hier?« Er zupfte an seinem Kinnbart, setzte zu einer Antwort an, schüttelte dann den Kopf und beließ es bei einem abermaligen Schulterzucken. »Ach, Junge!«, seufzte er und ging davon.

Während der Totenbauer schlurfend und seufzend den Friedhof verließ und über den Dorfplatz zu seinem Hof ging, hockte Ludger wie ein verängstigtes Kaninchen hinter dem Ginsterbusch und traute sich nicht hervor.

»Du kannst rauskommen, Angsthase«, rief Ambros und lachte. »Gevatter Tod ist fort.« Plötzlich schoss dem Jungen ein Gedanke durch den Kopf. Irgendetwas irritierte ihn. Aber das hatte nichts mit dem Gevatter zu tun. Etwas an dem Gespräch des Pastors mit dem Müller war ihm seltsam erschienen, und nun fiel es ihm wieder ein. Der Müller hatte den Pastor geduzt und mit dem Vornamen angesprochen. Johannes! Wie einen alten Bekannten. Wie einen Freund.

Wieso auch nicht?, dachte Ambros achselzuckend. Warum sollten ein Müller und ein Kirchenmann nicht befreundet sein? Das war schließlich nicht verboten. Vielleicht gehörten sie ja einem geheimen Orden oder einer Bruderschaft an. Das würde auch die Münze als Erkennungszeichen erklären.

»Komm!«, sagte er und nahm Ludger bei der Hand. »Das geht uns nichts an.«

Ludger schaute den anderen verwirrt an, ließ sich aber bereitwillig an der Hand führen. Gemeinsam verließen sie den Friedhof und betraten den Dorfplatz.

Die ersten Krämer und Händler hatten sich mittlerweile unter der Linde eingefunden und breiteten ihre Waren auf Stoffbahnen oder auf dem blanken Boden aus. Das Feilbieten der Krautbunde am heiligen Sonntag war eigentlich eine Sünde, aber das fahrende Volk schien sich nicht darum zu kümmern, ob ihr Treiben dem dritten Gebot widersprach. Die ersten Bettler und Krüppel lungerten ebenfalls schon vor dem Eingang der Kirche herum, wo sie ihre Gebrechen zur Schau stellten und auf Almosen hofften. Ambros wusste, dass es gut und gottgefällig war, den Armen zu geben und die Not der Leidenden zu lindern. Wer auf Erden barmherzig war, der wurde im Himmel belohnt, das war allgemein bekannt, doch die Krüppel, Blinden und Kranken machten ihm Angst. Ihre klaffenden Wunden, eitrigen Augen und nässenden Beulen verfolgten den Jungen in seinen Träumen, ihre zerschundenen, von Blattern und Skrofeln entstellten Visagen konnten einem das Kribbeln über den Rücken jagen. Seltsam war es schon, dass die Bettler im Augenblick so ausgelassen und fast heiter miteinander plauderten, obwohl der Eiter quoll und das Blut durch die schmutzigen Verbände sickerte. Direkt vor und nach dem Hochamt, wenn es auf dem Platz vor Menschen wimmelte, würde aus den Mündern der Versehrten nur noch Wehgeschrei und Zähneknirschen dringen. Jetzt aber war davon nichts zu hören. Vermutlich sparten sie sich ihre Schmerzen für den rechten Moment auf.

Auf dem Hof des Melchior Timmermeester sah Ambros den Juden Simeon stehen, einen Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, mit langem lockigen Haar, das unter dem spitzen, gelben Judenhut hervorlugte. Simeon stammte aus der einige Meilen entfernten Bischofsresidenz Altheim, seine Familie lebte im so genannten Siechenkamp, einer winzigen Judensiedlung vor den Toren der Stadt. Zur Zeit der großen Pest, vor beinahe zweihundert Jahren, hatte der Siechenkamp als Lager für die Erkrankten gedient, wie eine kleine Festung vor der Stadt. Heute hatten sich dort auf Befehl des Bischofs die Juden anzusiedeln. Es gab nicht wenige, die glaubten, die Juden seien damals für das Ausbrechen des schwarzen Todes verantwortlich gewesen. Es geschehe ihnen also nur recht, wenn sie nun selbst wie Pestkranke zu wohnen hatten.

Simeon jedoch war selten bei seiner Familie. Als Trödler und Wucherer besaß er einen Schutzbrief des Bischofs, zog mit dem Wagen quer durchs Land, gab Geld gegen Zinsen, belieh Waren gegen Pfand und wurde von den Ahlbeckern als verhasstes, aber mitunter notwendiges Übel betrachtet. Einen elenden Wucherjidden schimpften sie ihn, er sei ein Hals- und Beutelschneider, weil seine Zinsen jedes anständige Maß überschritten. Aber er war eben ein Gottloser und durfte Geldgeschäfte machen, ihm war gestattet, was Papst und Kaiser allen Rechtgläubigen untersagt hatten. Die Ahlbecker spuckten vor ihm aus, aber sein Geld nahmen sie mit Freuden, auch wenn sie anschließend nicht wussten, wie sie Zins und Zinseszins aufbringen sollten. Ambros kannte Simeon nur flüchtig, aber er mochte ihn, weil er immer interessante Neuigkeiten zu erzählen wusste. Er hatte Orte bereist, die Ambros vermutlich niemals in seinem Leben sehen würde. Er trieb Geschäfte mit jedermann, und leider war auch Geert Vortkamp darunter. Simeon war ein lustiger Geselle und schien sich nicht um die Meinung der Leute zu scheren. Den Judenhut trug er mit einer Art Stolz, ja beinahe Hohn, wie eine Narrenkappe, er hatte sogar eine kleine Schelle an der Spitze angebracht. Auch der gelbe Fleck auf dem Gewand schien ihm wie ein Orden auf der Brust zu prangen. Im Moment sprach Simeon mit Maarten, dem jüngsten Sohn des Zimmermanns, und unterstrich seine Worte mit ausladenden Gesten.

»Kannst es mir ruhig glauben, Timmermeester«, rief Simeon und griff sich einen Holzkeil, mit dem er sich über den Hals fuhr. »Die Kehle haben sie dem armen Kerl durchgeschnitten, ausgeraubt haben sie ihn und dann in den Ahlbach geworfen. Wie einen toten Hund.«

»Und wo soll das gewesen sein?«

»Kurz hinter Altheim. Auf dem Deventerweg. Vor nicht mal einer Woche.« Er sprach hastig, in abgehackten Sätzen.

»Du meinst, es waren Zigeuner?«, fragte der Bauernsohn und prüfte mit einem Sägespan die Schärfe seines Hobels.

»Wer sonst?«, antwortete der Jude und nickte. »Die Straßen sind unsicher heutzutage. Lauter Gesindel unterwegs. Wegelagerer und Zigeunerbanden. Doch bevor sie den Bauern umbringen konnten, hat er sich tapfer gewehrt. Die ganze Straße war voller Blut. Vielleicht hat er sogar einige der Angreifer getötet, wer will das wissen, die Räuber haben nur die Leiche des Bauern zurückgelassen.«

»Wer sagt, dass es ein Bauer war?« Maarten fuhr mit dem Hobel über einen Balken. »Warum sollten Räuber einen armen Landmann überfallen? Aus dem ist doch nichts herauszuholen.«

»Kleinvieh macht auch Mist!«

»Du musst es ja wissen«, knurrte Maarten und sah den anderen nicht eben freundlich an. »Hast du den Mann gekannt?«

»Niemand kennt ihn«, antwortete Simeon und zwirbelte eine Locke an der Schläfe. »Er scheint nicht aus der Gegend zu sein. Sie haben die Leiche auf den Marktplatz gebracht, aber keiner konnte sich an ihn erinnern. Dabei hat der Kerl ein Gesicht, das man so schnell nicht vergisst.«

»Wieso?«

»Eine Visage wie ein Schlachtfeld«, sagte der Jude und schaute nun zu den beiden Kindern, die sich unmerklich genähert hatten und mit offenen Mündern zuhörten. »Als hätte er eine Ladung Schrot abbekommen.«

»Guten Morgen, Simeon«, begrüßte Ambros den jungen Mann. »Wovon sprichst du? Hat es eine Bluttat gegeben?«

»Gott zum Gruße, Kleiner«, antwortete Simeon, nickte und klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Die ganze Stadt spricht davon. Räuberische Zigeuner haben einen Mann überfallen. Ein einziges Gemetzel.«

»Zigeuner. Papperlapapp!«, knurrte Maarten und trieb einen Keil ins Holz. »Die einzigen Räuber, die ich kenne, seid ihr Juden. Verfluchte Brunnenvergifter!«

»Wenn du mir nicht glaubst, dann frag doch den alten Köhler, der hat die Bande im Wald nahe Altheim gesehen. Mindestens zwölf Mann.« Simeon erkannte, dass der Sohn des Zimmermanns nicht gewillt war, weiter zuzuhören, zuckte mit den Schultern und wandte sich an Ambros: »Na, mein Junge! Hab die gute Nachricht schon gehört. Freut mich für deinen Vater. Wird auch Zeit, dass die Mühle wieder mahlt.«

Ambros nickte unsicher und kratzte sich hinterm Ohr.

»Du freust dich nur, weil du jetzt wieder Geld aus ihm herauspressen kannst«, schimpfte Timmermeester und spuckte zu Boden. »Verschwinde endlich, du verdammter Schmuel! Wenn du dein Geld wiederhaben willst, solltest du mich nicht von der Arbeit abhalten.«

»Am heiligen Sonntag, dem Tag des Herrn?«, erwiderte Simeon und duckte sich, als der Holzscheit flog. »Schalom, Maarten«, rief er lachend und wandte sich dann an Ludger, der sich die ganze Zeit hinter Ambros versteckt hatte: »Na, du Rotzlöffel, immer noch so gesprächig?«

Ludger zuckte zusammen, als hätte der Jude ihn geschlagen.

Simeon schüttelte erstaunt den Kopf. Zu dritt verließen sie den Hof des Bauern, Simeon mit Ambros an der Hand, Ludger in einigem Abstand dahinter. Im gleichen Moment erwachten die Glocken im alten Kirchturm und riefen die Gläubigen zum Hochamt.

Siebentes Kapitel

Handelt von einem seltsamen Hochamt und einem bösen Verdacht

Seit Monaten war Geert nicht mehr in der Kirche gewesen, trotz kaiserlicher Verordnung und wiederholter priesterlicher Aufforderung war er den ganzen Sommer über der sonntäglichen Messe ferngeblieben, und er war überrascht, wie sehr sich das Innere des Kirchraums in der Zwischenzeit verändert hatte. Eigentlich waren es nur Kleinigkeiten, jede für sich ohne große Bedeutung, doch in ihrer Gesamtheit hatten sie eine erstaunliche Wirkung. So waren die Heiligenbilder zwischen den hohen Spitzbogenfenstern neben dem Haupteingang verschwunden, das Gemälde der in den Himmel auffahrenden Madonna war abgehängt, die gelehrte Katharina, mit Buch in der Hand und Schwert über dem Kopf, schaute nicht länger wissend auf die Gläubigen hinab, und auch die keusche Agnes mit dem Lamm auf dem Arm und dem Palmwedel in der Hand war nirgends zu sehen. Die Wände waren geweißt und beinahe schmucklos, lediglich der niedrige und mit Holz vertäfelte Chorraum war wie ehedem mit bunten Ornamenten und lateinischen Inschriften geziert. Hier befand sich der prachtvolle, mit Zinnen und Türmchen verzierte Hochaltar, vor dem der Pastor stand, die Hände ausbreitete und die Lesung aus dem Evangelium ankündigte.

»Verbum Domini«, sang Boeckbinder mit schöner, hoher Stimme.

»Deo gratias«, antwortete die Gemeinde mit einiger Verzögerung.

Erst jetzt bemerkte Geert eine weitere Änderung in der Ausstattung der Kirche, und diese war im Vergleich zu den anderen wirklich gravierend. Der seitliche Nebenaltar zwischen Chor und Kirchenschiff war nicht mehr vorhanden, der Marienaltar samt Gebetsbank und Blumenschmuck war verschwunden. Einst hatte hier eine Pieta auf hölzernem Sockel gestanden, eine Figur der Gottesmutter mit dem toten Jesus auf dem Schoß, doch jetzt war nur der Sockel übrig geblieben. Ein aufgeschlagener Foliant lag darauf. Zu diesem Sockel trat in diesem Augenblick der Pastor, verbeugte sich vor der Heiligen Schrift und las mit bebender Stimme: »Aus dem Evangelium des Johannes: ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‹«

Geert hatte für das Gotteswort kaum ein Ohr. Wie gebannt starrte er zur Schulzenfamilie, die auf einer Holzbank in der ersten Reihe saß und dem Evangelium ebenfalls nicht sehr andächtig lauschte. Neben Lubbert Gerwing, dem Brookbauern, der in seinem schwarzen Sonntagsstaat sehr imposant aussah, waren auch Maria sowie die beiden Brüder Hermann und Josef zugegen. Hermann hatte sich bereits mehrmals zu Geert umgeschaut und ihm verschwörerisch zugezwinkert. Auch Maria hatte sich zu Beginn der Messe dem Molenkötter zugewandt, doch ihr Blick war lauernd gewesen, als traute sie Geert nicht über den Weg, als ahnte sie Unheil aus seiner Richtung. Vielleicht hatte sie Angst, er könnte ihre nächtliche Begegnung im Gespräch mit dem Vater erwähnen, was allerdings keineswegs seine Absicht war. Geert nahm erstaunt zur Kenntnis, dass die Johannvaterin statt eines einfachen Krautbundes zwei große Körbe mit Pflanzen und Kräutern vor sich auf dem Boden abgestellt hatte. Hunderte von Kräutern mussten sich darin befinden, neben der majestätischen Königskerze, die in keinem Bund fehlen durfte, und einigen weiteren vorgeschriebenen Kräutern wie Löwenmäulchen und Tausendgüldenkraut hatte die Schulzentochter alles zusammengetragen, was in Wald und Heide zu finden war. Kein Wunder, dass die Leute sie eine Kräuterhexe nannten. Maria war die einzige Person im Dorf, die wusste, wo solche Pflanzen zu finden und zu was sie nütze waren.

Eine Hexe, dachte Geert, wie ihre Mutter.

Direkt hinter dem Schulzen in der zweiten Reihe, ganz für sich und im Gebet vertieft, saß ein großer Mann in einfacher Kleidung, mit langem schwarzen Haar und bleichem Gesicht. Da seine Schulter verbunden war und er zudem der einzige Fremde in der Kirche war, fiel es dem Molenkötter nicht schwer, in ihm den neuen Kolkmüller zu erkennen. Er schien der einzige der Anwesenden zu sein, der den Worten des Priesters mit Andacht lauschte. Ja, Geert hatte sogar den Eindruck, als formte der Müller mit den Lippen die Worte, die der Priester aussprach, was natürlich gar nicht denkbar war, da Boeckbinder inzwischen die Lesung aus dem Evangelium beendet und mit der Homilie, der erbaulichen Predigt über das gerade Gehörte, begonnen hatte. Und woher hätte Vernholt wissen sollen, mit welchen Worten der Pastor die Bibelauslegung gestalten würde?

»… nämlich von Maria gesät worden sei«, rief Boeckbinder mit zunehmender Erregung und Lautstärke. Er sah übernächtigt aus und hatte dunkle Ränder um die Augen. »Denn das ist ein gräulicher und lästerlicher Abfall von der rechten Erkenntnis Christi gewesen.«

Erstauntes Grummeln war als Antwort darauf zu hören, zwei Frauen in der Reihe vor Geert tuschelten miteinander und schüttelten die Köpfe, ärgerliches Schnaufen machte sich breit. Geert riss sich vom Anblick des Müllers los und schaute überrascht zum Altar.

»Wir erkennen und bekennen, dass Christus, unser Herr und Heiland, nicht von Mariens Same oder ihrem allerreinsten Blut Fleisch und Mensch geworden ist.« Der Pastor baute sich vor dem Hochaltar auf und deutete zur Heiligen Schrift auf dem ehemaligen Marienaltar. »Gottes Wort und einziger Sohn ist selbst vom Himmel gekommen. Das Wort ist Fleisch geworden, spricht die Schrift, nicht Mariens Spross.« Und gegen die zunehmende Empörung der Gemeinde wiederholte Boeckbinder mit zitternder Stimme: »Das Wort wurde Fleisch, so steht es geschrieben!«

»Ave Maria, gratia plena«, wisperte die alte Schmiedebäuerin neben Geert und bekreuzigte sich kopfschüttelnd. »So weit ist es also schon gekommen. Was für eine Schande! Heilige Maria, steh uns bei!«

»Was ist los?«, murmelte ein Kötterbauer auf der anderen Seite, der offensichtlich eingeschlafen und nun von der Unruhe geweckt worden war.

»Der Ketzer leugnet die Gottesmutter«, antwortete die Bäuerin empört, und erneut ließ sie ihr »Ave Maria« vernehmen, diesmal lauter und für alle hörbar.

»Ave Maria«, erwiderte die versammelte Gemeinde wie aufs Stichwort, »gratia plena. Dominus tecum!«

Pastor Boeckbinder, der offensichtlich nicht mit einem solch spontanen Protest gerechnet hatte, stand mit offenem Mund vor dem Altar und schickte Hilfe suchende Blicke in die Runde und dann zum Himmel.

»Sancta Maria, ora pro nobis«, schallte es durch die Kirche. Es klang beinahe bedrohlich, und der Pastor wich instinktiv einen Schritt zurück.

Im selben Moment geschah etwas Seltsames. Der Müller stand auf, faltete die Hände vor dem Bauch und rief mit tiefer Bassstimme: »Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt!«

Die Gemeinde verstummte. Tatsächlich hätte an dieser Stelle der Messe das große Glaubensbekenntnis folgen sollen. Aber wie kam der Fremde dazu, den Part des Priesters vorzutragen? Und wieso verkündete er das »Credo« in deutscher Sprache? Alle starrten ihn ungläubig und verwundert an. Eine Totenstille herrschte.

Dann jedoch erhob sich die Johannvaterin und antwortete an Stelle der Gemeinde, allerdings wie gewohnt auf Lateinisch: »Et in unum Dominum Jesum Christum, Filium Dei unigenitum.«

Diesmal übernahm Pastor Boeckbinder wieder den Text des Vorbeters, doch wie der Müller tat er es auf Deutsch: »Aus dem Vater geboren vor aller Zeit.«

»Deum de Deo, lumen de lumine«, rief die Gemeinde trotzig und lautstark im Chor. »Deum verum de Deo vero!«

Der Pastor wechselte einen Blick mit dem immer noch stehenden Müller, dieser hob die Achseln und nickte kurz, so kam es Geert zumindest vor, und dann setzte Boeckbinder das »Credo« in lateinischer Sprache fort: »Genitum, non factum.«

So etwas Merkwürdiges hatte Geert noch nicht erlebt. Die heilige Messe schien zu einer Art Machtkampf zwischen dem geistigen Hirten und seiner Herde zu werden, ein Krieg der Worte und Sprachen, wobei allerdings der Pastor auf verlorenem Posten zu stehen schien.

Im Dorf galt Boeckbinder seit langem als verkappter Lutheraner und Protestant, doch Geert wusste es besser. Bei einem Dorffest im vergangenen Jahr hatte er ein langes Gespräch mit dem Kirchenmann über die einst so blutig niedergeschlagenen Bauernaufstände im Süden des Reiches geführt, und der Pastor hatte dem Molenkötter sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er den inzwischen so hoch geachteten Martin Luther für einen Verräter und Feind des Volkes hielt. Dessen verleumderisches Traktat »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern« ließ an Deutlichkeit nichts vermissen und verriet dem Leser, auf wessen Seite der Reformator stand: auf der Seite der Mächtigen und Unterdrücker. Nein, ein Bauernfreund war der Wittenberger nicht. In dieser Hinsicht waren Geert Vortkamp und Johannes Boeckbinder einer Meinung. Zum Teufel mit Luther!

Was allerdings der Pastor mit seiner Hetze gegen die Gottesmutter bezweckte, wollte dem Molenkötter nicht einleuchten. Ob es nun in der Bibel so oder anders geschrieben stand, war den Ahlbecker Bauern eins. Die Mutter Maria war ihnen heilig, sie war die geliebte Schutzpatronin der Landmänner, und sie von ihrem angestammten Thron zu stoßen, war mehr als fahrlässig: Es war dumm und töricht. Das hätte Boeckbinder eigentlich wissen müssen.

Doch mit dem Wortgottesdienst war es um die Seltsamkeiten des Hochamts noch nicht geschehen. Es folgte die Eucharistiefeier, samt Gabenbereitung und Kommunion, und Pastor Boeckbinder überraschte und verstörte die Gemeinde damit, dass er statt ungesäuerter Hostien gewöhnliches Weißbrot für die Wandlung benutzte. Als handele es sich um ein ganz normales Abendmahl. Oder um ein Frühstück. Erneut erhob sich missfälliges Murmeln, als der Pastor das »Agnus Dei« sprach und dabei das Weißbrot brach. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

Als der Priester die Gemeinde zur Kommunion rief, blieb die Schmiedebäuerin auf der Bank sitzen und schüttelte nur störrisch den Kopf, als der Kötter neben ihr sie zum Aufstehen bewegen wollte.

»Ich fress doch keinen Stuten!«, schimpfte sie und verschränkte die Arme. »Das ist Gotteslästerung!« Die anderen Gläubigen traten zögerlich an die niedrige Schranke, die das Langhaus vom Chorraum trennte, nahmen eher erstaunt als widerwillig das Weißbrot zur Kommunion entgegen und schauten sich irritiert an. Seltsame Sitten hielten in ihrem Dorf Einzug! Schließlich aber aßen sie achselzuckend, wenn auch mit sichtlichem Unbehagen das Brot und sagten: »Amen.«

Selten war die Ahlbecker Gemeinde so froh gewesen, die lateinische Verabschiedungsformel »Ite, missa est!« am Ende der Messfeier zu hören, wie an diesem Augusttag des Jahres 1535. Aufgeregtes Geflüster begleitete die Menschen nach draußen, Kopfschütteln und Naserümpfen waren die häufigsten Kommentare des soeben Erlebten. Aber noch waren die Feierlichkeiten nicht vorüber. Denn nun folgte der Segen der Krautbunde auf dem Kirchplatz.

Der Platz unter der Linde hatte sich merklich gefüllt, vor dem Eingang der Kirche hockten die zerlumpten Bettler und baten zähnefletschend um Almosen, einige fahrende Händler boten Kräuter zum Verkauf an, und auch den Juden Simeon entdeckte Geert inmitten der Menge. Erstaunt sah der Molenkötter, dass sein Sohn Ambros dem Juden nicht von der Seite wich und ihm mit den Augen an den Lippen zu kleben schien. Das Hüten der Schafe hatte der Rotzjunge also wieder einmal dem getreuen Hund überlassen.

Na warte, Bursche, dachte Geert, wurde aber durch eine Berührung an der Schulter davon abgehalten, dem Sohn eine Tracht Prügel zu geben.

»Vortkamp!«, sagte der Brookbauer. »Wir müssen reden.«

»Es ist alles gesagt«, antwortete Geert, ohne sich umzudrehen.

»Ich möchte dir jemanden vorstellen«, beharrte Gerwing und griff dem anderen schmerzhaft in den Nacken. Nun wusste Geert, von wem Hermann diesen Kaninchengriff gelernt hatte. Er fuhr herum.

»Glück zu, Molenkötter«, begrüßte Vernholt Geert mit dem Müllergruß und reichte ihm die Hand. »Der Schulze hat mir berichtet, dass Ihr mein Angebot angenommen habt. Das freut mich aufrichtig. Es wartet viel Arbeit, ich kann einen tüchtigen Mann gebrauchen. Und Ihr scheint mir ein solcher zu sein.«

»Zu viel der Ehre, Meister Vernholt«, erwiderte Geert und schüttelte die Hand des Müllers, wobei er sich gleichzeitig verbeugte. »Mein Sohn hat mir viel von Euch berichtet. Und nur Gutes, wie sich versteht.«

»Ambros ist ein erstaunlicher Junge«, sagte der Müller und fasste den Molenkötter freundschaftlich an der Schulter, um ihn beiseite zu nehmen und aus der Hörweite des Schulzen zu führen. »Ich hoffe, Ihr seid ähnlich verlässlich.«

»Warum ich?«, entfuhr es Geert wider Willen. »Ihr habt gehört, was man über mich erzählt? Ihr kennt …«

»Dem Herrn ist das verlorene Schaf nicht minder wichtig als die brave Herde«, unterbrach ihn der Müller. »Ihr seid Schäfer und wisst, wovon ich spreche. Auch Pastor Boeckbinder hat Euch wärmstens empfohlen. Er sagt, Ihr seid ein Mann, der sich dem Neuen und Wahren nicht verschließt und sich nichts vormachen lässt. Wir werden bestens miteinander auskommen, wenn Ihr Euch an einige Regeln haltet. Branntwein werde ich an der Mühle nicht dulden.«

»Die Trunksucht werden wir ihm noch austreiben«, mischte sich der Schulze in das Gespräch ein. Er hatte sich unmerklich genähert und die letzten Worte des Müllers gehört. »Was, Geert? Ich werd dir schon Beine machen.« Er lachte und schlug dem anderen allzu grob auf den Rücken. »Wär doch gelacht!«

»Ihr wart Müller in Billerbeck?«, fragte Geert, um irgendetwas zu sagen.

»Woher wisst Ihr das?« Das bleiche Gesicht des Müllers nahm einen lauernden Ausdruck an. »Wer hat Euch das berichtet?«

Geert zuckte mit den Schultern und sah hinter dem Schulzen dessen Tochter stehen. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie eine Fliege verscheuchen, und ging mit ihren beiden Körben zur Linde, unter der sich die Gläubigen mit den Krautbunden versammelt hatten. Es waren fast nur Frauen anwesend.

»Vermutlich hat Ambros es erwähnt«, sagte der Molenkötter. Ihm fielen die Blattern des Billerbeckschen Müllers ein, und er betrachtete Vernholts Gesicht eingehend. Gerade hatte dieser bestätigt, der besagte Müller zu sein, doch auch Geert konnte keine Narben in seinem Gesicht erkennen. Seine Haut war weiß und glatt wie ein zugefrorener Vennteich.

»Seid morgen in der Frühe an der Mühle«, befahl der Müller schlecht gelaunt und wandte sich ab, um das Treiben unter der Linde zu beobachten. »Dann reden wir weiter. Auch über Euren Lohn.«

»Wie Ihr wünscht, Herr!« Geert verbeugte sich.

Inzwischen war Pastor Boeckbinder in Begleitung des Totenbauern aus der Kirche getreten und näherte sich den Kräuterfrauen. Das geschäftige Treiben kam schlagartig zum Erliegen, das Stimmengewirr verstummte, selbst die Bettler jammerten nicht länger und beklagten ihr Schicksal. Die Gläubigen stellten sich in einer Reihe auf, die nun vom Pastor wie ein Regiment abgeschritten wurde. Früher, »in der guten alten Zeit«, wie hinter vorgehaltener Hand gesagt wurde, hatte die Kräuterweihe in der Kirche, vor dem Marienaltar stattgefunden. Doch dies schien dem neuen Priester ein Dorn im Auge gewesen zu sein, und so hatte er die Krautbunde nach draußen verbannt. Außerdem gab es ja keinen Marienaltar mehr.

Boeckbinder tauchte das Aspergill in den silbernen Weihwasserkessel, den ihm der Totenbauer hinhielt, und sprach: »Segne, Gott, die Kräuter und Blumen, die wir bringen, und segne und heile auch uns.«

»Amen«, antworteten die Ahlbecker, auch die Männer, die etwas abseits standen und ihren Frauen die eigentliche Prozedur überließen.

»Hoffentlich helfen die Kräuter meiner Gertrud«, murmelte ein Kötterbauer neben Geert und machte das Kreuzzeichen. »Sie ist schon ganz siech.«

»Deine Frau?«, fragte der Molenkötter.

»Meine Kuh«, antwortete der andere. »Sie kalbt.«

Geert nickte. Vielleicht sollte auch er einen Bund von einem Händler erstehen und weihen lassen, überlegte er, doch dann verwarf er den Gedanken. Er schaute zur Johannvaterin und lächelte. Er wusste ja, wo er gesegnete Heilkräuter bekommen würde, wenn er sie bräuchte.

Mit dem Wedel verteilte der Pastor das Weihwasser über die ihm hingereichten Kräuter und fuhr fort: »Segne, Jesus Christus, unsere Sehnsucht nach Gesundheit und lass uns an Leib und Seele gesund werden.«

Wieder erschallte das »Amen« über den Platz.

Der Pastor stand nun vor der Johannvaterin, machte eine kurze Pause, starrte sie sekundenlang an, tauchte dann das Aspergill ein und weihte die Kräuter und Blumen in den Körben. Es hatte beinahe den Anschein, als wären die folgenden Worte nur für die Schulzentochter bestimmt: »Segne, Heiliger Geist, was dem Geiste nach krank ist an uns und unserer Kirche, in unseren Gemeinden und Gemeinschaften. Heile uns, o Herr!«

»Amen«, murmelten die Gläubigen und schauten sich verwundert an. Diesen seltsamen Segen hatten sie noch nie bei einer Kräuterweihe vernommen.

»So segne uns Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist!«, rief Boeckbinder und begann anschließend seine Litanei von vorne. Die heilige Maria, zu deren Ehren die Kräuterweihe veranstaltet wurde, erwähnte der Kirchenmann nicht ein einziges Mal, was von der Schmiedebäuerin mit einem weithin hörbaren Fluch beanstandet wurde: »Verdammter Ketzer!«

Bevor der Pastor auf diese Unverschämtheit reagieren konnte, wurde seine Aufmerksamkeit durch einen Vorfall abgelenkt, der sich am anderen Ende des Dorfplatzes zutrug. Ein Reiter hatte sich von Nordwesten her im Galopp genähert und war vor der Gruppe um den Schulzen zum Stehen gekommen. Der Staub wirbelte auf, als das Pferd über den trockenen Sand schlitterte.

»Wo ist er? Was habt ihr mit ihm gemacht?!« Bei dem Reiter handelte es sich um eine etwa vierzigjährige Frau. Sie war klein und rothaarig, die fuchsigen Locken ragten unter einer schäbigen Haube hervor, und auf ihrer Nase saß eine Brille mit breitem Holzrahmen. »Hast du ihn gesehen, Lubbert?«

»Wen gesehen?«

»Meinen Mann!«

»Nun beruhig dich doch, Annelies! Was ist denn überhaupt geschehen?« Der Schulze half seiner Schwester vom Pferd. »Was ist mit Guus?«

»Das weiß ich eben nicht. Verschwunden ist er«, rief die Haermöllerin und schob das Ungetüm von Brille über den Höcker ihrer Adlernase. Sie lallte ein wenig und schien, trotz der morgendlichen Stunde, betrunken zu sein. »Seit gestern Abend. Wie vom Erdboden verschluckt.«

»Vermutlich hat er sich im Wirtshaus betrunken und schläft irgendwo im Wald seinen Rausch aus«, vermutete der Schulze und setzte leise hinzu: »Das solltest du auch tun.«

»In der Heideschänke war Guus nicht«, sagte Geert und hielt das unruhig auf der Stelle tretende Pferd an den Zügeln.

»Dann war er eben in einer anderen Absteige«, beharrte Lubbert.

»Ich hab sein Pferd gefunden«, rief Annelies aufgebracht, schüttelte wie wild den Kopf und rang nach Luft. »In der Nähe der Kolkmühle. Wie kommt es dahin? Und wieso ist Guus nirgendwo zu finden? Bei dem Gaul war er jedenfalls nicht. Er ist noch nie über Nacht fortgegangen, ohne mir Bescheid zu geben.«

Diese Bemerkung wurde von einigen Bauern mit höhnischem Gelächter quittiert. »Das ist ja das Allerneueste!«, riefen sie. »Der Hurenbock gibt Bescheid, wenn er von zu Hause fortläuft und den Weibern nachstellt!«

»Die Haermöllerin hat einen Frühschoppen genommen!«, lachten einige. »Voll wie ein Heuboden im Sommer.«

»Nun reg dich nicht gleich so auf«, sagte Hermann, der Schulzensohn, und fasste seine Tante unsanft am Oberarm. »Das ganze Dorf starrt schon.«

Tatsächlich hatte die Frau des Haermöllers die gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Selbst Pastor Boeckbinder hielt reglos das Aspergill wie eine Fackel in der Hand und starrte gebannt hinüber. Auch Am-bros hatte sich in der Zwischenzeit zu der Gruppe gesellt, stand nun neben seinem Vater und zupfte an dessen Rockschoß.

»Vater, schau nur!«

Geert fauchte seinen Sohn an: »Was treibst du dich hier rum? Warum bist du nicht bei den Schafen? Und was scharwenzelst du um den verfluchten Jidden herum?« Er holte zu einer Ohrfeige aus, überlegte es sich dann aber anders und knurrte: »Verdammter Bengel!«

»Guck doch!«, wiederholte Ambros und deutete auf Annelies ter Haer. »Ganz dreckig am Arsch.«

Nun bekam der Junge die verdiente Ohrfeige. Doch auch Geert sah, was sein Sohn entdeckt hatte. Das Kleid der Haermöllerin war am Hinterteil beschmutzt, ein rötlich brauner Fleck war darauf zu sehen, als hätte sie im Lehm gesessen.

Geert überlegte, seine Miene verdüsterte sich, dann fuhr er plötzlich herum und nahm das Pferd in Augenschein. Mit der flachen Hand strich er über den Sattel, und anschließend waren die Finger ähnlich verschmutzt wie das Kleid der Frau. Er schnupperte an den Fingern, aber es roch nicht nach Lehm.

»Blut«, sagte er und fuhr mit der Hand unter den Sattel. Das Pferd schwitzte, aber wund oder gar blutig geritten war es nicht. Geert untersuchte den Hals, den Bauch, die Flanken und das Hinterteil des Pferdes, aber nein, von dem Gaul stammte das Blut nicht. Keine Wunde, nirgendwo.

»Was treibt Ihr da, Molenkötter?«, fragte Vernholt leise und gesellte sich zu ihm. »Warum schaut Ihr so entsetzt? Habt Ihr etwas entdeckt?«

»Der Sattel«, sagte Geert und streckte dem Müller die Hand hin. »Er ist voller Blut.«

Auch Vernholt begutachtete nun das Leder und nickte.

Annelies schien Geerts letzten Satz gehört zu haben. Sie starrte die beiden Männer ungläubig an, riss sich plötzlich los, stieß Hermann beiseite und stürzte sich wie eine Furie auf den Müller.

»Du Teufel!«, schrie sie und krallte sich wie mit Klauen an dem anderen fest. »Du verdammter Teufel!«

Vernholt schrie vor Entsetzen und vor Schmerz auf. Annelies hatte ihre Finger in seine Wunde gebohrt und zerrte an ihm, als hätte sie den Verstand verloren. Der Müller fasste sich an die Schulter, öffnete den Mund und kippte zur Seite.

Ein Raunen ging durch die Menge. Nur Ambros schüttelte den Kopf. Schon wieder, dachte er. Was war das bloß für ein Müller! Ständig fiel er in Ohnmacht.

»Kch, kch«, machte es hinter dem Jungen.

»Die Mühle«, sagte Ambros und nickte, als hätte er Ludgers Keuchen verstanden. »Sie bringt Unglück!«

Zweiter Teil – Der Spökenkieker

»Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede

unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre eigene Art.«

Leo N. Tolstoi, »Anna Karenina«

Erstes Kapitel

Zwei Briefe

Ahlbeck, den 7. Juli 1876

Lieber Jaap,

seit nicht einmal einer Woche bin ich nun an diesem garstigen Ort, doch wie sehne ich mich bereits zurück nach Münster! Oft und gerne erinnere ich mich an unsere gemeinsame Studienzeit, und mit Neid erfüllt mich der Gedanke, dass es dich wieder in deine Heimatstadt Amsterdam verschlagen hat. Ich hoffe, deine Anstellung am »Athenaeum Illustre« bereitet dir nach wie vor Freude. Mit mir hat es das Schicksal weniger gut gemeint. Vielleicht hätte ich Professor Braun, von dem ich übrigens herzlich grüßen soll, nichts von meiner Familie erzählen dürfen, dann wäre er wohl nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet mich in dieses gottverlassene und von der Welt vergessene Dorf an der niederländischen Grenze zu schicken, um langweilige Hügelgräber auszumessen und Lagepläne anzufertigen. Wie gern wäre ich jetzt im Museum für vaterländische Altertümer oder an einem spannenden Grabungsort, um mich mit »wirklicher Geschichte« zu befassen: mit den Überresten antiker Städte, wie sie Heinrich Schliemann im Osmanischen Reich entdeckt hat, mit mythischen Orten, an denen Schlachten wie die im Teutoburger Wald gefochten wurden, mit Herrschern und Mächtigen, die der Schrift kundig waren und deren Zeugnisse und Vermächtnisse zu entziffern sind. Stattdessen buddele ich in grasbewachsenen Hügeln, die nichts als schmucklose Urnen und zu Asche verbrannte Leichenreste aus der jüngeren Bronzezeit beinhalten, und lasse mich dabei von wiederkäuendem Vieh beäugen. Wenn ich Glück habe, werde ich außer tönernen Urnen und Knochenresten hin und wieder ein Schmuckstück oder bronzene Geräte als Grabbeigaben entdecken, aber spektakuläre Funde sind nicht zu erwarten. Noch habe ich allerdings mit den Ausgrabungen gar nicht begonnen, momentan verbringe ich die Tage damit, geographische Karten zu skizzieren und den unzähligen Grabhügeln Nummern zu geben. Wie eintönig und ermüdend!

Auch der eigentliche Ort verspricht nicht viel Abwechslung und Amusement. Ahlbeck ist ein winziges Bauerndorf wie viele andere im Münsterland, umgeben von Moor und Heide, sodass man wintertags nicht ohne Gefahr für Leib und Leben herfindet. Der Fortschritt scheint das Dorf zu meiden wie der Teufel das Weihwasser, so gibt es keine befestigten Straßen, nur holprige Rollbahnen und Sandwege. Eine Chaussee nach Altheim, dem nächstgelegenen Städtchen, ist zwar geplant, aber von der Eisenbahn spricht in Ahlbeck niemand, der einzige Schienenstrang in dieser Gegend führt von Altheim aus in großem Bogen um das Dorf herum in Richtung Niederlande. Auch die Postkutsche verkehrt lediglich einmal wöchentlich, allerdings nur von Frühjahr bis Herbst. Im Winter ist das Dorf völlig von jeder Zivilisation abgeschlossen. Kein Wunder, dass es hier so aussieht, als wäre die Zeit vor hundert Jahren stehen geblieben. Telegraphen und Dampfmaschinen gelten als Teufelswerk, wie überhaupt der Glaube an Geister und Gespenster noch sehr verbreitet ist. Als ich meiner Wirtin, einer geschwätzigen Vettel namens Tenhagen, den Grund meines Aufenthalts in Ahlbeck erklärte, schlug sie die Hände vor dem Mund zusammen und rief: »Sie wollen den Blutanger umgraben? Gott behüte! Das werden die Geister nicht dulden!«

Natürlich habe ich die gute Frau gefragt, was es mit dem sogenannten Blutanger auf sich habe, doch sie hat nur mit dem Kopf geschüttelt und gesagt, schon darüber zu reden, bringe Unglück.

So viel zum fortschrittlichen Denken in unserer Zeit!

Untergebracht bin ich in der Dorfschänke »Zur alten Linde«, direkt an der Kirche, mit Blick auf den Friedhof, das zweistöckige Pastorat und die Schmiede. Für einen Altertumsforscher gibt es in Ahlbeck wenig Interessantes zu entdecken, die backsteinerne Kirche ist nicht einmal hundert Jahre alt und erinnert an eine überdimensionale Hundehütte, nur der Turm auf der Westseite ist sehr viel älter und stammt vermutlich aus dem 14. oder 15. Jahrhundert. Außer dem Kirchturm gibt es nur zwei Gebäude, die man als Altertümer bezeichnen könnte. Da wäre zunächst eine alte Wassermühle an der holländischen Grenze zu nennen, die womöglich über siebenhundert Jahre alt ist, in dieser Zeit jedoch so oft zerstört, niedergebrannt und wieder aufgebaut wurde, dass es schwer fällt, die verschiedenen Bau- und Renovierungszeiten auseinanderzuhalten. Vor sechzig Jahren soll die Mühle von einer holländischen Räuberbande überfallen und in Brand gesteckt worden sein, doch inzwischen steht und mahlt sie wieder. Nur das rußgeschwärzte Fundament deutet noch auf die damalige Feuersbrunst hin. Bei dem zweiten Gebäude handelt es sich um einen winzigen und verfallenen Kotten mitten im Moor. Eigentlich ist dieses altersschwache und unansehnliche Häuschen nicht der Rede wert, doch der Molenkotten (so nennen die Ahlbecker diese Hütte, obgleich die Mühle meilenweit entfernt ist) ist der ausschlaggebende Grund für meinen Aufenthalt im Dorf. Denn hier wohnt Johann Vortkamp, ein verschrobener Greis und Eigenbrötler, geboren im Jahr der französischen Revolution und seines Zeichens Großonkel deines lieben Freundes Hermann. Ja, man soll es nicht für möglich halten, meine Familie stammt aus diesem unseligen Nest. Mein Großvater hat das Licht der Welt in ebenjenem Molenkotten erblickt, und auch mein Vater hat die ersten Jahre seines Lebens in Ahlbeck verbracht. Als ich der Wirtin meinen Namen nannte, hat sie mich angestarrt, als wäre ich nicht bei Trost. Dann hat sie bedeutungsvoll genickt und gesagt: »Sieh einer an. Ein Vortkamp also. Na dann! Willkommen zu Hause!«

Ein seltsames Bauernvölkchen! Schon am nächsten Tag kannte das ganze Dorf meinen Namen, und ich wurde von allen gegrüßt, als hätte ich mein Lebtag in Ahlbeck verbracht. Noch nie zuvor habe ich einen Fuß in dieses Dorf gesetzt, doch für die Einwohner bin ich bereits ein Hiesiger. Ein Vortkamp eben. Dabei habe ich nicht wenig Mühe, die Bauern überhaupt zu verstehen. Sie sprechen ein derart breites und genuscheltes Plattdeutsch, dass es sich anhört, als hätten sie Wollsocken im Mund.

Meinen Großonkel habe ich allerdings noch nicht zu Gesicht bekommen. Am dritten Tag nach meiner Ankunft wollte ich ihm einen Besuch im Moor abstatten, doch obwohl ich eine Bewegung hinter einem der winzigen und verdreckten Fenster gesehen habe, wurde auf mein Klopfen und Rufen hin nicht geöffnet. Die Wirtin zuckte nur mit den Schultern, als ich ihr davon erzählte, und meinte, der alte Johann sei eben nicht ganz richtig im Kopf und überhaupt ein ganz eigener Patron. Am kommenden Sonntag nach der Messe werde ich einen zweiten Versuch unternehmen, meinen Verwandten anzusprechen. Das Hochamt wird er vermutlich nicht versäumen, auch wenn man sich dessen nicht gewiss sein kann, denn meine Wirtin schimpft ihn einen gottlosen Sektierer. Auf meine Nachfrage hat sie sich wie üblich in Schweigen gehüllt, mit den Achseln gezuckt und ein Kreuzzeichen gemacht. Nun, wir werden sehen.

Ein weiterer Antrittsbesuch steht am morgigen Samstag beim hiesigen Dorfschulzen an. Der Mann ist der größte Grundbesitzer des Ortes und heißt Antonius Gerwing, doch die meisten im Dorf nennen ihn Lanvermann, weil seine Familie über Jahrhunderte den »Landwehrmann« stellte, den Wärter des Schlüssels für den Grenzwall. Dass es die Landwehr seit einiger Zeit nicht mehr gibt und die Aufgaben des Schlüsselwärters längst von preußischen Zöllnern übernommen wurden, scheint den Ahlbeckern entgangen zu sein. Für sie bleibt Gerwing der Lanvermann, ebenso wie der Mühlenpächter Kolkmüller genannt wird, obwohl der Tümpel nahe der Mühle seit Jahrzehnten vertrocknet ist und inzwischen von Torfstechern abgetragen wird. Die Zeit tritt in Ahlbeck auf der Stelle, Veränderungen sind selten, und kommen sie doch vor, so werden sie ignoriert. Vermutlich wird mir schon bald der Stoff für weitere Briefe ausgehen, dennoch werde ich dich auf dem Laufenden halten, um nicht dem Stumpfsinn anheimzufallen und wenigstens in Briefen den Kontakt zur Welt zu halten.

In Hoffnung auf baldige Ablenkung durch eine Antwort deinerseits

verbleibe ich dein dich herzlich grüßender und vermissender

Hermann Vortkamp

Ahlbeck, den 12. Juli 1876

Lieber Jaap,

kaum eine Woche ist seit meinem ersten Brief an dich vergangen, doch wie grundlegend hat sich meine Ansicht über dieses seltsame Dorf und seine Bewohner geändert. Du wirst mich vermutlich für verrückt erklären, aber selten habe ich so aufregende und zugleich geheimnisvolle Tage erlebt. Welch freudige und merkwürdige Überraschungen hatte dieses Ahlbeck für mich parat! Mein Herz rast noch jetzt, wenn ich daran denke, und alles erscheint mir in völlig anderem und neuem Licht. Doch ich will der Reihe nach schildern und dich nicht noch mehr verwirren!

Wie ich dir bereits schrieb, hatte ich am vergangenen Samstag meinen Antrittsbesuch beim Dorfschulzen. Sein Hof liegt fernab des Dorfes, mitten im Bruchwald, unweit der holländischen Grenze. Schon von weitem ragen die Gebäude aus dem Wald heraus, der gesamte Hof ist auf einem Hügel gelegen und von einem inzwischen ausgetrockneten Wassergraben umgeben. Es hat beinahe den Anschein, als hätte es sich früher einmal um eine Festung gehandelt. Nur über eine Holzbrücke erreicht man den Hof, und an einigen Stellen kann man die Überreste hölzerner Palisaden erkennen. Das eigentliche Bauernhaus unterscheidet sich kaum von anderen in dieser Gegend, es ist im Fachwerkstil errichtet, mit reetgedecktem Dach und breitem Tor im Vordergiebel. Allerdings ist es das größte Gebäude dieser Art weit und breit, immerhin handelt es sich bei dem Bewohner um den reichsten Grundherrn des Ortes.

Als ich mich auf dem Weg durch den Wald dem Hof näherte, hatte ich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Vielleicht lag das an den wie üblich kryptischen Andeutungen meiner Wirtin, die davon gesprochen hatte, der Schulze sei nicht gut auf die Familie Vortkamp zu sprechen. Das sei schon immer so gewesen, die Gerwings und die Vortkamps seien eben wie Hunde und Katzen. Ich solle mich vorsehen, hatte sie gemeint. Ja und Amen, so wolle es der Lanvermann und so halte es jedermann im Dorf. Bloß keine Widerworte! Nicht dass es mir ergehe wie dem alten Johann. Verdammter Spökenkieker!

Die erste Überraschung erlebte ich, als ich den Platz unter der alten Linde betrat und von einem plötzlich einsetzenden pfeifenden und knatternden Getöse begrüßt wurde. Du wirst es nicht glauben, Jaap, aber direkt vor dem Haus des Schulzen stand eine fabrikneue und schwarz glänzende Lokomobile der Marke »Fowler«. Eine englische Dampfmaschine auf vier Rädern, und das mitten im westfälischen Moor!

Eine Handvoll Männer und Frauen sowie einige Kinder umringten die lärmende und schwarzen Dampf ausstoßende Maschine und bestaunten wie ich das Wunderwerk modernster Technik. Über mehrere Zahnräder und Keilriemen war die Lokomobile mit einem fahrbaren Holzgestell verbunden, das offensichtlich der Ernte- oder Drescharbeit diente.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739350240
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
Moor Münsterland Abenteuer Wiedertäufer Westfalen Archäologie

Autoren

  • Tom Finnek (Autor:in)

  • Mani Beckmann (Autor:in)

Tom Finnek (Pseudonym des Autors Mani Beckmann) wurde 1965 in Westfalen geboren und lebt als Filmjournalist, Drehbuchlektor und Schriftsteller in Berlin. Unter dem Namen Mani Beckmann erschienen neben einigen Berlin-Krimis seine historischen Moor-Romane, die im Münsterland angesiedelt sind. Unter dem Pseudonym Tom Finnek schreibt er seit 2009 historische London-Romane. Tom Finnek/Mani Beckmann ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.
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Titel: Teufelsmühle