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Ethendi - Die Runenkriege

von Michael S. V. Preis (Autor:in)
410 Seiten
Reihe: Ethendi, Band 1

Zusammenfassung

Gemeinsam mit seinem Großvater begibt sich Athul an seinem sechzehnten Geburtstag auf einen Ausflug hinaus aufs Meer. Dabei geraten die beiden in ein schweres Unwetter, das der Junge nur knapp überlebt. Doch der Unfall soll Athuls gesamtes Leben verändern. Ein dunkler Stein, der seinem Träger ungeahnte Kräfte verleiht, gelangt in seinen Besitz. Feine Linien auf der Oberfläche des Fundstücks entpuppen sich als mächtige Runen, mit deren Hilfe die unsichtbaren Kräfte einer geheimnisvollen Energie entfesselt werden können. Zunächst unbewusst macht sich Athul nach und nach die Mächte des Kleinods zu eigen. Immer tiefer gerät er in ein Geflecht aus Lügen und Verrat, an dessen Ende nicht weniger als sein eigenes Leben und das seiner Freunde auf dem Spiel steht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Es ist geschafft! Sechs Jahre Arbeit finden ein Ende. Vieles ist geschehen. Auch ich habe mich weiterentwickelt. Ein Prozess, der den meisten Lesern wahrscheinlich nicht bewusst ist.

Auch mir war vor diesem Projekt nie klar gewesen, wie viel Arbeit, Frust aber auch Herzblut und Leidenschaft in den Zeilen eines Autors stecken. Wie er selbst mit den Figuren gelitten hat, sich an ihnen erfreut und mit ihnen gereift ist.

Zumindest ist es das, was ich als interessantes und lehrreiches Fazit aus dieser Zeit mitnehmen will. Eine Zeit voller Höhen und Tiefen. Begonnen mit einer fixen Idee: aus Fragmenten in meinem Kopf einen eigenen Roman zu verwirklichen.

Es ist eine Zeit, die ich nicht missen wollen würde, trotz herber Rückschläge und Selbstzweifeln. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, die Protagonisten zu begleiten, während sie erwachsen werden, sich entfalten und ihre Wesenszüge vertiefen. Natürlich klingt es merkwürdig, dass der Autor, der die Figuren erschaffen hat, der sie formte und ihnen ihr Selbst gab, davon überrascht ist, was aus ihnen wird. Doch genau das ist es, was geschieht. So sehr ihr eure Charaktere zurechtlegt, so sehr eine strikte Handlung danach schreit, die Figuren in ein gewisses Muster zu zwängen, entwickeln sie letztendlich ein Eigenleben und faszinieren durch einen eigenen Willen.

Ich habe es oft mit meinen Erfahrungen des Erzähl-Rollenspiels (Pen&Paper) verglichen. Wer dort den Spielleiterposten einnehmen durfte, hatte es oft nicht leicht. Vorgefertigte Geschichten werden binnen weniger Minuten von den Spielern gänzlich ins Gegenteil gekehrt. Hatte der Erzähler vorgesehen, dass der dunkle Höhlengang nach links in den goldenen Hort des Drachen führen sollte und auf der rechten Seite nur eine kahle Wand auf die Spieler wartete, so lag es beinahe schon auf der Hand, dass die Gruppe in akribischer Kleinstarbeit genau diese Wand untersuchen und in stundenlangen Versuchen austesten würde, ob es nicht doch einen Weg an ihr vorbei oder im schlimmsten Fall durch sie hindurch geben könnte. Diese Art der Selbstentwicklung war auch beim Schreiben immer wieder zu beobachten. Und genau das macht es unglaublich spannend. Wie oft habe ich abends im Bett gelegen, gerade ein Kapitel abgeschlossen. Auf einmal tauchten Verknüpfungen, viele zurückliegende Kapitel vor meinem geistigen Auge auf. Ideale Ansatzpunkte passend zum aktuellen Geschehen und neue Möglichkeiten, die nächsten Kapitel anders zu gestalten als geplant.

Doch wenn ich bereits an der Stelle angekommen bin, an der meine treue Rollenspielgemeinschaft Erwähnung findet, so will ich die Gunst der Stunde nutzen und all denen, die seit so vielen Jahren zu mir halten, danken. Ihr habt mich auf meinem Weg begleitet, habt mir Kraft gegeben und Mut zugesprochen, auch in den Phasen des Selbstzweifels. Selbst wenn einige von euch mich vielleicht nur einen Teil des Weges begleitet haben, habe ich nichts davon vergessen.

Johanna, Fee, Jule, mein Herz – ihr durftet euch durch die erste Fassung von Ethendi kämpfen. Habt euch tapfer bis zum Schluss Woche um Woche durch die neuen Kapitel gelesen.

Benni, Lara, Anja und Tina – ihr habt den ersten Texten den nötigen Feinschliff gegeben.

Die rasenden Reporterinnen Jessi, Lara und Ena haben dem Werk früh zu erster Aufmerksamkeit verholfen.

Herrn Gogolin, der mich im Schreiben schulte, Wolfgang, meinem Lektor, und Andy, der an mich glaubte, danke ich für die professionelle Unterstützung.

Simon, Kevin und Timm – ihr standet mir mit Rat und Tat zur Seite. Ich sehe mich noch bei dir sitzen, Kevin, Szene für Szene diskutierend. Dir verdanke ich viele Kapitel, die so niemals geschrieben worden wären.

Lieber Chris, unvergessen ist natürlich auch unser Backstage-Besuch – vielen Dank für deine Unterstützung.

Ein großes Dankeschön geht an meine Web-Community. Seabear, »Der erste Ritter« und Marc aka Sagorski. Dem allseits beliebten Meckerdrachen gebührt noch Dank darüber hinaus – hat er doch der Weltkarte neues Leben eingehaucht. Genauso, wie ich Stephan für seine Zeilen danke, die er für dieses Buch dichtete.

Ein ganz besonderer Dank geht selbstverständlich an Inga. Meine persönliche Unduri, die meine Gedanken zu kunstvollen Bildern formt und ihnen Leben einhaucht.

Der letzte und abschließende Dank aber gilt einer ganz besonderen Person. Sie hat mich von Anfang an begleitet. In vielerlei Hinsicht tut sie das schon mein Leben lang. Wir beide hatten Höhen und schmerzhafte Tiefschläge. Und auch der Schaffungsprozess von Ethendi führte dazu, dass wir mehr als einmal aneinanderrasselten. Aber so ist es, wenn zwei Gehörnte aufeinandertreffen. Und doch ist eines ganz klar: Hätte ich nicht deine Unterstützung gehabt, hättest du nicht deine Zeit geopfert und wärst nicht immer für mich dagewesen, würde ich diese Zeilen heute nicht schreiben. Ich bin dir zu tiefstem Dank verpflichtet und deswegen widme ich dieses Buch dir, meiner Mum! Du bist etwas ganz Besonderes!

Abschließend bleibt mir nicht mehr viel zu sagen. Ich wünsche euch, dass ihr so viel Spaß am Lesen findet, wie ich es einst beim Schreiben hatte. Und wenn es doch die einen oder anderen Stellen geben sollte, an denen ihr merkt, dass dies mein erster Roman ist – so hoffe ich, dass ihr darüber hinwegsehen könnt. Denn genau das ist es: der Beginn einer Geschichte, der Beginn fantastischer Texte aus meiner Feder. Und auch wenn ich vielleicht in vielen Jahren zurückblicke und mit all der Erfahrung, die mich diese Zeit gelehrt hat, auf die nachfolgenden Seiten schaue, so werde ich es nicht anders schreiben wollen. Denn dies ist mein Werdegang, so habe ich begonnen, und genau so muss es sein.

Euer Michael S.V. Preis

Prolog

Grelle Blitze durchbrachen die Dunkelheit, gefolgt von fernem Donnergrollen. Schwarze Wolken verbargen die Sonne. Immer wieder ertönte das laute Tosen der Wellen außerhalb der Festung und durchbrach die Stille im Raum. Das schwache Licht einer Kerze flackerte in dem langen Saal und tauchte die düstere Szenerie in Zwielicht. Zwischen breiten Säulen zog ein eisiger Luftstrom hindurch und ließ die Seidenvorhänge an den Wänden wild tanzen.

Die aufgeregte Stimme eines jungen Mannes erklang. »Mein Herr! Wir müssen diesen Ort augenblicklich verlassen. Seht Ihr denn nicht, dass es zu spät ist, die Festung zu retten?«

Verzweifelt versuchte er, die kleine Flamme in seinen Händen vor dem Erlöschen zu bewahren, während er mit angestrengtem Blick die Finsternis nach der Person vor sich durchsuchte.

»Macht Euch nicht lächerlich, Enduriel. Das Unwetter wird vergehen. Die Natur hat keinerlei Gewalt über mich. Ich herrsche über die Winde und die See, niemals werde ich zulassen, dass sie sich gegen mich richten! Sie sind Sklaven meiner Macht.«

»Aber Herr! Die Wassermassen treten über die Ufer. Sie haben bereits große Teile der äußeren Befestigungsanlagen unterspült. Wenn wir die Festung nicht bald verlassen, werden wir mit ihr fortgerissen!«

Vorsichtig tastete sich Enduriel vorwärts. Plötzlich hielt er inne. Im schwachen Licht seiner Kerze konnte er die Umrisse seines Herrn erkennen. Zögernd näherte er sich ihm. »Ich bitte Euch! Lasst ab von Euren Bemühungen und seht ein, dass es keinen Sinn mehr hat.«

Der Angesprochene wirbelte herum und schaute ihn aus hasserfüllten Augen an. »Wagt es nicht, an meiner Macht zu zweifeln! Ich war es, der das Wasser zurückdrängte. Mein Wille war es, der es in seine Schranken gewiesen hat. Und mein Wille wird es auch sein, der es wieder dorthin zurückschickt! Es macht mich krank, Eure Angst zu spüren. Niemand wird diesen Ort verlassen! Weder ich noch sonst jemand!«

Erschrocken wich Enduriel einige Schritte zurück. »Eure Macht hat Euch in den Wahnsinn getrieben und er ist es, der aus Euch spricht! Ihr habt jeglichen Sinn für Vernunft verloren. Wenn Ihr uns verwehrt, die Festung zu verlassen, besiegelt Ihr unseren Untergang!«

»Ihr vergreift Euch im Ton! Niemand wagt es, so mit mir zu sprechen!« Erbost riss sein Herr den Arm nach oben.

Ein gleißendes Licht durchbrach die Finsternis und für einen kurzen Moment waren beiden Gestalten im Raum deutlich zu erkennen. Die breiten weißen Schwingen, die den Schulterblättern entwuchsen, waren eng an die Körper gelegt und zuckten angespannt.

Ein heiseres Stöhnen entwich Enduriels Mund während er nach hinten wankte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er an seinem Körper hinunter. Eine tief klaffende Wunde hatte sich in seiner Brust aufgetan und dunkles Blut quoll aus ihr hervor. Angestrengt versuchte er sich auf den Beinen zu halten, doch er spürte, wie sie kraftlos wurden, und er sackte hinab auf seine Knie. Sein Atem wurde stockend. Mit verzweifelter Miene hob er den Kopf und schaute seinem Herrn flehend entgegen. Sein Blick fiel auf den dunklen Gegenstand, den dieser in seinen Händen hielt. Hastig schloss sich die Hand seines Gegenübers darum.

»Ihr habt mir keine andere Wahl gelassen. Ich kann nicht dulden, dass jemand an meiner Macht zweifelt.«

Mit diesen Worten wandte sich sein Herr mitleidlos von ihm ab und ließ ihn in der Dunkelheit zurück.

Enduriel versuchte erneut sich aufzurichten, doch es wollte ihm nicht gelingen. Der Schmerz in seiner Brust ließ jegliche Kraft aus seinen Gliedern schwinden und er stürzte zur Seite. Zitternd starrte er auf seine Hand, noch immer hielt sie die Kerze fest umklammert. Doch die kleine Flamme, die er zu schützen versucht hatte, war erloschen. Müde schloss er die Augen und sank matt in sich zusammen. Plötzlich durchbrach ein lautes Poltern die eingekehrte Stille und der Boden begann zu beben. Mit letzter Kraft öffnete er die Augen. Es schien, als hätte der Himmel für einen kurzen Moment sein Gesicht gezeigt, um die grausame Szene, die sich vor Enduriel auftat, auszukosten. Inmitten der dunklen Wolken hatte sich eine schmale Schneise gebildet, durch die das fahle Licht der Sonne dringen konnte. Glitzernd schickte sie ihre Strahlen hinab und drang durch die hohen Fenster ins Innere des Saals. Wie von ihrem Licht geleitet, folgten ihrem Glanz sprudelnde Wassermassen, die das Mauerwerk in ihrer ganzen Kraft mit sich rissen. Ein letztes Mal blinzelte Enduriel ihnen entgegen, dann umfing ihn tiefe Schwärze.

1
Versteckspiel

Das fahle Licht der untergehenden Sonne kämpfte sich seinen Weg durch das junge Blätterwerk des Waldes. Hastig warf der Lysten-Junge einen Blick nach hinten. Sein braunes Haar flatterte im Wind. Er konnte nur erahnen, wie weit seine Verfolger noch entfernt waren. Begleitet vom Knacken morscher Äste unter seinen dünnen Ledersohlen hetzte er weiter vorwärts.

»Lauf ruhig weg, Athul. Wir kriegen dich ja doch«, hallte eine hämische Stimme hinter ihm.

Diese Feiglinge, schoss es dem jungen Athul durch den Kopf. In der Gruppe fühlten sie sich stark. Wütend ballten sich seine Hände zu Fäusten. Doch eigentlich war er sich seiner Stellung bewusst. Er war ein einfacher Händlerjunge. Was sollte er jemals gegen diese hochnäsigen Wichtigtuer ausrichten? Derzeit blieb ihm nichts außer Flucht, wollte er nicht einmal mehr verbale, wie auch körperliche Erniedrigungen erleiden.

Ein letzter Blick zurück ließ ihn erleichtert lächeln. Bis auf ihre Schreie, die hin und wieder durch den Wald hallten, war von ihnen nichts zu erkennen.

Mit einem beherzten Sprung ließ er eine breite Wurzel zurück, die quer durch das Unterholz gewachsen war. Unmittelbar dahinter tat sich ein kleiner Abhang auf.

Athul ging in die Hocke und legte eine Hand auf den lehmigen Untergrund, um genügend Halt zu haben. Anschließend ließ er sich, auf allerlei Laub und Geäst, die Erdkuppe hinunter gleiten. An dieser Stelle war der Wald dicht bewachsen und das ungeübte Auge hätte die schmale Schneise zwischen den Dornenbüschen womöglich übersehen. Doch Athul kannte diesen Ort genau. Es war nicht das erste Mal, dass er hier herkam. Allerdings waren seine Besuche nicht immer derart dramatisch.

Ohne zu zögern huschte er an den Stacheln der Äste vorbei, darauf bedacht, mit den weit ausgeschnittenen Ärmeln seines Leinenhemdes nicht hängenzubleiben. Nach wenigen Schritten hatte er das braun-grüne Geflecht hinter sich gelassen und befand sich auf einer kleinen Lichtung. Ringsum wuchsen mächtige Bäume in die Höhe, von Dornenbüschen umwuchert.

Erleichtert ließ sich Athul auf die Knie sinken. Tief sog er die kalte Luft in die Lungen und versuchte sich zu beruhigen. Er spürte das wilde Pochen seines Herzens.

Dann lauschte er. Nicht weit entfernt hörte er das helle Knacken im Unterholz, begleitet von leisem Getuschel.

»Hey, Anrik. Wo ist er hin?«

»Psst, sei doch mal still«, entgegnete eine schroffe Stimme. Sie gehörte Anrik. Er war derjenige, den Athul am meisten verachtete. Die anderen beiden waren nur Mitläufer. Unfähig, eine eigene Meinung auszusprechen. Sofern sie diese überhaupt hatten.

Wieder erklang Anriks Stimme. »Athul? Komm raus du Feigling! Darfst auch nach deiner Mutter schreien! Ach richtig, du hast ja keine!«

Wahrscheinlich hoffte er, Athul mit derlei Äußerungen aus der Reserve zu locken. Doch Athul hatte schon früh lernen müssen, mit Schmerzen und Leid umzugehen. Der frühe Verlust seiner Eltern hatte eine große Leere in seinem Herzen hinterlassen und er hatte gelernt, seine inneren Kämpfe mit tauber Gleichgültigkeit zu besiegen. Und so prallten die Äußerungen Anriks scheinbar wirkungslos an ihm ab. Lediglich der Verachtung für Anrik konnte sich Athul nicht erwehren.

Athul blieb noch eine ganze Weile in seinem Versteck, selbst als seine Verfolger die Suche nach ihm längst aufgegeben hatten. Im Grunde ärgerte er sich über sich selbst.

Normalerweise wusste er, welche Gebiete er meiden sollte, um ihnen nicht zu begegnen. Wahrscheinlich hatte ihn das herannahende Ereignis leichtsinnig gemacht. Sein sechzehnter Geburtstag. Der Schritt vom Knaben zum Mann. Zumindest nannte sein Großvater Olgard dies so. Der alte Mann hatte Athul nach dem Tod der Eltern ein Zuhause gegeben. Gemeinsam lebten sie in Havsvik, dem kleinen Dorf, aus dem Athuls Vater stammte. Seit frühen Kindheitstagen war er nie wirklich an einem Ort zu Hause gewesen. Beide Elternteile hatten sich einst entschlossen, als fahrende Händler die Welt zu bereisen. Sie waren von Ort zu Ort gefahren. Hatten Waren gekauft, um sie dann wieder zu verkaufen. Ein Umstand, der für Athul nicht immer leicht gewesen war und ihm auch heutzutage noch oft verwehrte, einen festen Halt in seinem Leben zu finden. Athul kniff die Augen zusammen. Für einen kurzen Moment war er geneigt, den Erinnerungen nachzugehen. Doch hatte er den aufsteigenden Schmerz noch rechtzeitig unterdrücken können. Er spürte, wie sich seine Finger entspannten, die er mit aller Kraft in die Oberschenkel gekrallt hatte.

Langsam richtete er sich auf. Er lauschte. Lediglich das leise Rauschen des Windes im Geäst war zu hören. Zu Athuls Erstaunen hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Er hatte die Zeit vollkommen vergessen, und so eilte er sich, nach Hause zu kommen.

2
Zuflucht

Unruhe breitete sich in Olgard aus. Die dichten grauen Augenbrauen hatte er zusammengezogen und tiefe Falten zeichneten sich deutlich auf seiner hohen Stirn ab. Die Hände hatte er auf die braune Leinenhose gelegt, während seine Finger nervös mit den Schnüren seiner Ärmel spielten. Es gefiel ihm nicht, dass sein Junge so spät noch unterwegs war. Besonders am heutigen Abend hätte er es begrüßt, Athul hätte sich eher eingefunden, wo doch morgen sein großer Tag bevorstand. Olgard konnte es nicht verstehen, dass sein Junge dem Ereignis scheinbar derart wenig Aufmerksamkeit entgegen brachte. Augenscheinlich nahmen die Traditionen der Gründerväter heutzutage keinen hohen Stellenwert mehr bei der jüngeren Generation ein. Entgegen der alten Tradition war es kaum mehr üblich, dass die Jungen im Dorf bereits in frühen Kindertagen mit auf See genommen wurden. Die Zeiten, aus denen diese Gebräuche stammten, waren überholt und das Leben im Dorf hatte sich weiterentwickelt. In den Zeiten der Gründung hatte die Dorfgemeinschaft einen Großteil der Einnahmen über den Fischhandel erzielt. Die wirtschaftlich gute Lage hatte dazu geführt, dass das kleine Fischerdorf rasch Zuwachs erhielt und sich durch die neuen Siedler mehr und mehr von seinen Ursprüngen entfernte. Doch wenn Olgard ehrlich war, war ihm bewusst, dass auch er Teil dieser Wandlung war. Er hatte es vorgezogen, sich dem Handel der verschiedensten Waren zu verschreiben und war dem Fischerleben ferngeblieben. Und doch hing er an den alten Traditionen und war froh, dass diese nicht vollends verschwunden waren.

Immer wieder ging sein Blick hinüber zum Fenster neben der Eingangstür. Die Sonne war mittlerweile gänzlich am Horizont verschwunden, darum hatte Olgard Kerzen entzündet. Mit einem Mal begannen die tanzenden Flammen wild zu flackern und ein kühler Windhauch strich durch Olgards Haar. Die Eingangstür hatte sich geöffnet und Athul stand auf der Schwelle. Olgards vorwurfsvoller Blick traf ihn.

»Verzeiht mir Großvater«, erwiderte dieser betroffen, während er die Tür hinter sich schloss.

»Wo bist du nur so lange gewesen? Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Ich, … ich habe noch einige Freunde getroffen. Dabei muss ich wohl die Zeit vergessen haben«, stammelte er.

Freunde? Olgard schaute seinen Jungen durchdringend an. In den Jahren, in denen Athul bei ihm lebte, hatte er nur selten Freunde gehabt und diese meist nicht lange. Seine in sich gekehrte, teils schüchterne Art machte es ihm schwer, Gleichgesinnte zu treffen.

»Na schön. Aber bitte achte beim nächsten Mal darauf, dass du nicht erst im Dunkeln heimkehrst.«

Manchmal wünschte Olgard, er könne Athul gegenüber mehr Strenge zeigen. Doch brachte er dies nicht übers Herz. Zu sehr erinnerte ihn der Junge an dessen Vater.

»Natürlich Großvater. Es wird nicht wieder vorkommen.« Reumütig schaute der Junge zu Boden.

»Schon gut. Komm her, lass dich einmal ansehen«. Olgards strenge Miene war einem Lächeln gewichen, und er winkte Athul zu sich heran. »Bist ja völlig verdreckt. So möchtest du doch nicht deinem großen Tag entgegengehen? In der Küche steht noch etwas Wasser.«

Der nächste Morgen begann bereits sehr früh für Olgard. Erste Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster und tauchten das kleine Zimmer in einen goldenen Glanz. Verschlafen streckte er sich. Aus dem Wohnraum drang das Klappern von Geschirr an sein Ohr. Verwundert richtete er sich auf und griff nach den Kleidungsstücken, die er am Vorabend über einen Stuhl nah dem Bett gelegt hatte.

Als er die angelehnte Tür zur Wohnstube aufschob, erblickte er Athul. Der Junge stand vornüber gebeugt am Esstisch und schob eine Schüssel mit Brot in die Mitte.

»Guten Morgen mein Junge«, sagte Olgard und fügte mit deutlicher Verwunderung hinzu: »Schon so fleißig?«

Athul fuhr erschrocken herum, anscheinend hatte er den alten Mann nicht kommen hören. »Oh. Guten Morgen, Großvater. Ich konnte nicht länger schlafen.«

Olgard schmunzelte, erwiderte aber nichts. Es freute ihn zu sehen, dass sein Junge den heutigen Tag offenbar doch ernster nahm als vermutet. In den letzten Wochen war er sich dessen nicht immer sicher gewesen. Hatte Athul ihm doch oft genug deutlich gemacht, dass er von all den Festlichkeiten und der damit verbundenen Aufmerksamkeit für seine Person nicht allzu viel hielt.

»Wir scheinen Glück zu haben mit dem Wetter«, stellte Athul fest, während er den letzten Teller auf den Tisch stellte.

Olgards Blick schaute zu den breiten, einladenden Fenstern. Der Himmel war in ein helles Blau getaucht, lediglich vereinzelte weiße Schleier zogen wie Seide über ihn hinweg.

»Sieht ganz danach aus.« Olgard klatschte in die Hände. »Dann wollen wir uns nicht zu viel Zeit lassen. Zeig doch mal, was du Gutes für uns vorbereitet hast.«

Mit diesen Worten griff er über den Tisch und brach ein großes Stück aus dem Brotlaib heraus, während Athul neben ihm Platz nahm.

3
Rechte und Pflichten

Die Sonne hatte mittlerweile ihren Platz am Himmel eingenommen, als Athul und Olgard vor die Tür traten. Beherzt sog Athul die frische Morgenluft ein. Ein ungewohntes Gefühl der Euphorie hatte von ihm Besitz ergriffen. Auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte, so konnte er die aufsteigende Vorfreude nun nicht mehr unterdrücken. Sie folgten dem Weg, am Vorgarten vorbei, zur Hauptstraße. In unregelmäßigen Abständen säumten kleine Holzhäuser den Wegesrand. Sie besaßen eine ähnliche Bauweise wie das von Olgard: ein kleiner Vorgarten, geteilt durch einen Kiesweg, der zur Eingangstür führte. Breite Holzstreben, die das kurze Vordach trugen. Im Inneren trennten massive Holzwände Küche, Wohnraum und Schlafräume voneinander auf einer Ebene.

Das gesamte Dorf durchzog ein breites Geflecht aus kleinen Wegen und Gassen, welches sich um die Hauptstraße gliederte, die wiederum die Stadt zentral durchlief und am Hafen endete. Dies war auch der Weg, den Athul und Olgard einschlugen. Flache Steinbrücken überragten die dünnen Seitenarme des Meeres, die sich vereinzelt durch das Dorf schlängelten. Ihr Haus lag ein gutes Stück entfernt von ihrem Ziel, genug Zeit, damit sich das unbehagliche Gefühl in Athuls Magengegend verstärken konnte. Er war es nicht gewohnt, derart im Mittelpunkt zu stehen und er fragte sich, ob es überhaupt irgendwen interessieren würde, dass heute sein sechzehnter Geburtstag war.

Die Straße machte einen Bogen und verlief eine kleine Anhöhe hinauf. Eine Brise salziger Meeresluft wehte ihm um die Nase, als sie den höchsten Punkt überquerten. Der Blick hinab verriet ihm, dass seine Bedenken gänzlich unbegründet waren. Schon von Weitem konnte er die versammelte Menge erkennen, die sich am Hafen eingefunden hatte.

»Du hast es aber auf einmal eilig«, stellte sein Großvater lachend fest.

Ohne es zu beabsichtigen, hatten sich Athuls Schritte beschleunigt. Beschämt schaute er Olgard an. Doch der freudige Ausdruck in dessen Gesicht ließ vermuten, dass er es nicht allzu ernst gemeint hatte.

Sie ließen das letzte Stück der Straße hinter sich und erreichten den Hafen, der sich entlang des kurzen Küstenstücks zog. Die wogende Wasseroberfläche glitzerte wie Tausende Sterne und stieß mit sanfter Brandung gegen die Felsen, die sich zu beiden Seiten des Hafens auftürmten.

Athul ließ den Blick über die versammelten Personen gleiten. Viele der Anwesenden kannte er nur flüchtig. Hafenarbeiter, Fischer, Händler und Bauern aus dem Ort. Aber auch Freunde seines Großvaters und Nachbarn hatten sich eingefunden. Hände wurden geschüttelt und Glückwünsche ausgesprochen. Alles sehr freundlich und doch auf eine eher distanzierte Art. Ein wenig fühlte sich Athul, als wolle man ihn herumreichen, um selbst die Genugtuung zu erfahren, ihm gratuliert zu haben. Doch noch bevor er erfolgreich jedem diesen Wunsch erfüllt hatte, löste sich ein kleiner untersetzter Mann aus der Ansammlung und kam auf Athul zu. Die wenigen Haare, die jeweils eine Seite des Hauptes zierten, hatte er in dünnen Strähnen über die spiegelnde Kopfhaut gekämmt. Seinen Bauch hielt ein breiter Gürtel eng umschlossen, um die fein genähte Hose, in die dieser gequetscht wurde, nicht zum Bersten zu bringen.

»Wie schön, wie schön«, sagte er mit einer einladenden Geste, »da haben wir ja unseren Ehrengast.«

Athul kannte den Mann nur zu gut. Er war Stadthalter von Havsvik und zu allem Übel Anriks Vater. Schon oft hatte Athul feststellen müssen, dass dessen Sohn die überhebliche Art von ihm geerbt hatte.

»Und? Schon aufgeregt?«, fragte der Stadthalter, doch ließ er Athul keine Gelegenheit zu antworten und erhob seine Stimme in Richtung der Gäste. »Nun, meine lieben Freunde, wollen wir Athul in den Stand eines Mannes erheben und ihm die Rechte, wie auch Pflichten zu Teil werden lassen, die dieses Ereignis mit sich bringt.«

Noch während der Stadthalter seinen Worten einen schier unendlichen Schwall von Belehrungen über das Älterwerden folgen ließ, schweifte Athuls Blick erneut durch die Menge. Zwischen all den Frauen, Männern und Kindern stand Neliah. Ein Mädchen in seinem Alter, welches schon lange seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Neliah!

Ihr langes braunes Haar hatte einen rötlichen Schimmer und umrahmte das zierliche Gesicht. In ihrem Blick und ihrem Lächeln lag ein Strahlen, welches ihn mitten ins Herz traf. Sie war wunderschön.

Eine Mischung aus Freude und Unbehagen breitete sich in Athul aus. Niemals hätte er damit gerechnet, sie hier anzutreffen. Obwohl sie in seiner Nachbarschaft lebte, hatten sie niemals mehr als ein kurzes Hallo ausgetauscht. Er hatte sich oft ausgemalt, wie es wohl wäre, sie anzusprechen, doch hatte er nie den Mut gefunden, dies in die Tat umzusetzen.

Ein sanfter Stoß in die Seite ließ Athul aus seinen Gedanken aufschrecken. Mit einem vielsagenden Lächeln deutete sein Großvater auf den Stadthalter.

»Genug der Worte«, erklärte dieser. »Lasst uns zu den Booten gehen.«

Der Steg bevölkerte sich rasch. Jeder der Anwesenden wollte sich einen Platz sichern, von dem aus sich das kommende Ereignis besonders gut verfolgen ließ. Ein letztes Mal hielt Athul Ausschau nach Neliah, doch er konnte sie in dem Gedränge nicht mehr ausmachen. Dann betrat er neben seinem Großvater ebenfalls den Steg.

Zu beiden Seiten waren kleine Holzboote vertäut, die sich im sanften Rhythmus der Wellen wiegten. An einem der Boote hatten sich zwei Hafenarbeiter postiert. Sie winkten Athul und Olgard heran.

Nun war es also so weit. Athuls Herz begann schneller zu schlagen.

Mittlerweile war auch der Stadthalter an ihre Seite geeilt, um Athul feierlich einige letzte Worte mit auf den Weg zu geben.

»Dies, lieber Athul, soll von nun an dein Boot sein. Passe gut darauf auf und halte es in Ehren.« Anschließend machte er einen Schritt zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Habt vielen Dank, werter Stadthalter«, ergriff Olgard das Wort. Dann legte er eine Hand auf Athuls Schulter und schaute ihn voller Stolz an. »Ich hoffe es gefällt dir. Schau mal dort, an der Seite!« Sein Blick glitt hinüber zu dem Boot.

Athul folgte diesem.

Das Boot war schlicht aber dennoch schön gearbeitet. Es bot genügend Platz für zwei Personen. Ein feiner Holzschnitt zierte den spitzen Bug. In detailverliebter Perfektion waren dort geschwungene und blumenähnliche Ranken eingearbeitet, in deren Mittelpunkt sich Buchstaben befanden und der Name Athul deutlich zu erkennen war.

Ein Gefühl tiefster Freude ergriff Athul und er konnte sich eines Lächelns nicht mehr erwehren.

»Wusste ich doch, dass es dir gefällt«, quittierte Olgard den Gesichtsausdruck seines Schützlings mit einem zufriedenen Schmunzeln.

»Es ist wirklich schön, Großvater. Habt vielen Dank!«

Sein Dank war aufrichtig und ernst gemeint, da die Kunst des Holzschnitzens eine der wenigen Leidenschaften von Athul war. Auch wenn seine Werke weit von der Perfektion dieser Arbeit entfernt waren, bereitete es ihm immer eine innere Freude, sich diesem Handwerk hinzugeben.

»Nun komm, lassen wir deine Gäste nicht länger warten.«

Athul nickte. Das Boot schwankte einen kurzen Moment, bis beide einander gegenübersitzend auf den Bänken Platz genommen hatten.

»Dann wollen wir ihnen einmal zeigen, was in uns steckt.« Athul griff nach einem der am Boden liegenden Paddel und ließ das Ende gekonnt ins Wasser gleiten.

4
Ein Sturm zieht auf

Ruhig glitt das Boot über das Meer. Zu beiden Seiten sprudelte und gluckste das Wasser. Seichte Wellen sorgten für ein sanftes Schaukeln.

Obwohl Olgard nur selten auf dem Wasser war, beherrschte er den Umgang mit dem Boot virtuos.

Schon nach kurzer Einweisung gelang es Athul, im Rhythmus seines Großvaters gleichzuziehen. Er genoss den Ausflug und das Gefühl der Freiheit auf dem Meer. Immer wieder tauchte er das lange Paddel ins Wasser und beobachtete das aufschäumende Nass, welches sich um das Holz schloss. Ein Blick zurück verriet, dass sie bereits ein gutes Stück zurückgelegt hatten. Der Steg mit den Zuschauern war nur noch als kleiner dunkler Punkt an der Küste auszumachen.

Erst jetzt bemerkte Athul, dass sein Großvater das Rudern eingestellt hatte und zum Himmel starrte. Wie ein dichter Schwarm hungriger Insekten fraßen sich dunkle Quellwolken unbändig durch das helle Blau und tauchten es in ein unheilvolles Schwarz.

Unruhig schaute Athul seinen Großvater an.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht.« Deutliche Sorgenfalten zeichneten sich auf Olgards Stirn ab. »Wir sollten auf der Stelle umkehren.«

Schnell ließen sie ihre Paddel wieder zurück ins Wasser gleiten. Doch kaum hatten sie das Boot gewendet, stieß bereits ein erster Blitz hinab. Ein helles Leuchten umfing die beiden, gefolgt von lautem Donnergrollen. In dünnen Fäden fielen Regentropfen herab und tränkten ihre Kleidung. Mit großer Anspannung tauchten sie ihre Paddel immer wieder ins Wasser und trieben das Boot Meter für Meter dem Ufer entgegen. Unablässig kämpften sie gegen die aufgewühlten Wogen des Meeres, die danach trachteten, das Boot zum Kentern zu bewegen.

Der Wind nahm an Stärke zu und zischte bedrohlich in Athuls Ohren. Ihm war es, als läge darunter versteckt ein Flüstern, welches sich warnend in seine Gedanken bohrte.

Plötzlich packte eine Windböe das kleine Boot. Wasser schäumte und spritzte an den Seiten empor. Athul wurde rücklings gegen die Innenseite des Bootes geschleudert. Kaum hatte er sich wieder aufgerappelt, traf eine weitere Welle die Planken und warf ihn erneut zurück. Unwillkürlich musste er schreien.

Athul krallte sich mit beiden Händen an den Seiten des Bootes fest und kniff die Augen zusammen. Er öffnete sie erst wieder, als sich die Lage des Bootes nach einer halben Ewigkeit stabilisiert hatte. Sofort kroch ein kalter Schauer seinen Rücken hinunter.

Das Boot war leer.

Wo war sein Großvater? Panik erfüllte ihn. Mit angestrengtem Blick versuchte er, das trübe Grau zu durchdringen. Der mittlerweile stärker gewordene Regen peitschte ihm ins Gesicht, die Sicht war eingeschränkt. Dann endlich entdeckte er seinen Großvater.

Olgard kämpfte mit aller Macht gegen die Wellen an, um nicht unter Wasser gedrückt zu werden. Es war ein ungleicher Kampf. Immer wieder sprudelten die Wassermassen über seinen Kopf hinweg.

Athul griff nach seinem Paddel, welches glücklicherweise in das Boot gefallen war. So gut es ging, begann er das Boot zu wenden und trieb es näher an den alten Mann heran. Dann hob er das Paddel an und streckte es seinem Großvater entgegen.

»Hier, Großvater!«, schrie er. »Haltet Euch fest! Ich versuche, Euch ins Boot zu ziehen.«

Olgard streckte die Hand aus, doch das Paddel entglitt mehrmals seinen Händen. Mit einem letzten Aufbäumen riss er den Arm in die Höhe und schließlich gelang es ihm, das runde Holz zu fassen.

Athul zog das Paddel mit aller Kraft zu sich heran. Doch gerade als sich die Finger des alten Mannes über den Rand des Bootes legten, stieß eine weitere Welle gegen die Seite und brachte Athul aus dem Gleichgewicht. Vornüber prallte er mit dem Kopf gegen die Seitenwand. Ein stechender Schmerz zog sich durch seine Schläfe und ihm wurde schwarz vor Augen.

Langsam öffnete Athul die Augen. Dumpf hämmerte es in seinem Kopf. Alles um ihn herum schien verschwommen. Hektisch wollte er einatmen, doch sofort füllte Wasser seinen Mund.

Er musste aus dem Boot gestürzt sein. Orientierungslos drehte er sich herum. Er war sich nicht sicher, wo oben und unten war. Die Luft wurde immer knapper. Panisch drehte er seinen Körper im Wasser. Er musste zurück an die Oberfläche. Hektisch stieß er sich mit Armen und Beinen in die Höhe. Plötzlich vernahm er eine dunkle Stimme in seinem Kopf.

Ele a su e et

Athul konnte die Worte deutlich hören. Auch wenn er nicht verstand, was sie bedeuteten, überkam ihn mit einem Mal ein unerklärlicher und doch unbändiger Wunsch, der Stimme nahe zu sein.

Ele a su e et

Immer wieder trafen ihn die Worte. Es gab keinen Zweifel, die Stimme rief ihn zu sich. Sie befahl es ihm, ohne einen Widerspruch zu dulden. Wie aus dem Nichts loderte ein grelles Licht vor ihm auf und riss die Dunkelheit förmlich entzwei. Athuls Wahrnehmung schien gänzlich in den Besitz der fremdartigen Stimme übergegangen zu sein. Die verschwommene Sicht klarte auf und aus dem Gleißen zeichnete sich eine Gestalt ab.

Wie von Sinnen forderte Athul mit kräftigen Bewegungen der Arme und Beine die Belastbarkeit seiner Muskeln heraus. Die hellen Strahlen wurden schwächer, je näher er kam. Die Kontur der Gestalt nahm Form an und gab allmählich preis, was im Unbekannten auf ihn zu warten schien. Aus dem schlammigen Meeresgrund erwuchs, in grauem Stein gehalten, eine imposante Statue. Breite Flügel trennten sich von ihrem Körper, bedeckt von einem Geflecht aus Algen. Einen Arm erhoben, hielt sie einen leuchtenden Gegenstand in der Hand. Athuls Augen fixierten diesen. Dann schnellten seine Finger verlangend nach vorne.

Ein dumpfes Geräusch erklang und zwei Finger der Statue sanken in die Tiefe. Unbeabsichtigt hatte Athul die Hand aufgebrochen und war somit in den Besitz des leuchtenden Gebildes gekommen. Sein Griff schloss sich fest darum. Die glatte Oberfläche fühlte sich angenehm warm an.

Athuls Gedanken galten nur noch dem seltsamen Gegenstand. Alles um ihn herum verlor sich langsam in unendlicher Dunkelheit.

5
Tod

Die letzte Welle hatte das Boot noch einmal zur Seite geworfen. Krampfhaft krallte sich Olgard daran fest. Die Angst, er könne diesen mörderischen Kampf gegen die Naturgewalten nicht länger bestehen, zerrte an ihm. Alle Kraftreserven schienen aufgebraucht. Olgards Glieder waren wie betäubt und er zitterte am ganzen Körper. Wieder und wieder spülten Wellen über seinen Kopf hinweg, Olgards Ende schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

Doch genau so plötzlich, wie das Unwetter gekommen war, verschwand es auch wieder. Es klarte auf und das Meer beruhigte sich. Dem peitschenden Regen folgten wärmende Sonnenstrahlen, welche auf der Wasseroberfläche in goldenen Farben tanzten.

Erschöpft rang Olgard nach Luft und sammelte sich. Doch der Erleichterung über das eigene Überleben folgte eine sofort aufsteigende Panik. Er spähte hinauf zum Boot. Es wirkte vollkommen ruhig. Zu ruhig. Wo war Athul?

Olgard nahm seine ganze Kraft zusammen und zog sich hinauf. Das kleine Boot war leer!

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Voller Entsetzen schweifte sein Blick über das Wasser.

Nichts!

Athul war nirgends zu sehen. Immer wieder wirbelte Olgard herum. Sein Blick durchbohrte förmlich die Wasseroberfläche. Dann hielt er inne.

Ein unerklärlicher kreisförmiger Lichtkegel hatte sich nicht weit vom Boot aufgetan. Verwirrt starrte Olgard hinab ins Wasser. Wie aufgescheucht sprang er von Bord. In dem Leuchten hatte er eine Bewegung ausmachen können. Einen kaum wahrnehmbaren Schatten.

Erneut umfing ihn Kälte. Doch dieses Mal war es ihm vollkommen gleichgültig. Voller Entschlossenheit zog es ihn immer weiter in die Tiefe, während das Leuchten schwächer wurde, bis es letztendlich vollkommen erstarb.

Doch Olgard konnte und wollte jetzt nicht aufgeben. Die schwachen Strahlen der Sonne mussten ausreichen, um die Orientierung nicht gänzlich zu verlieren. Das salzige Wasser brannte ihm in den Augen, während er angestrengt Ausschau hielt.

Da! Aus der Dunkelheit formte sich ein Umriss. Olgard erkannte die leblose Gestalt seines Jungen im Wasser treiben. Augenblicklich schlang er die Arme fest um ihn und kämpfte sich mit letzter Kraft an die Oberfläche.

Gierig nach Luft ringend zog er Athuls leblosen Körper zum Boot. Erleichtert stellte Olgard fest, dass sich ein weiteres Boot näherte. An Bord ließen sich zwei Hafenarbeiter ausmachen. Sie kamen zur Hilfe geeilt, streckten die Arme aus und hoben zunächst Athul hinauf. Dann zogen sie auch Olgard aus dem Wasser.

Ohne auf sein eigenes Befinden zu achten, beugte Olgard sich zu seinem Jungen hinab. Dessen Haut war blass und die Lippen schimmerten in hellem Blau. Olgard hoffte inständig, dass es noch nicht zu spät war. Vorsichtig tastete er nach dem Puls.

»Er lebt!«, entfuhr es ihm erleichtert. Tränen liefen ihm die Wangen hinab. Erst jetzt spürte er, dass er am Ende seiner Kräfte war. Völlig erschöpft ließ er seinen Kopf sinken. Einer der Männer legte ihm eine Decke über die Schultern.

»Wir bringen euch schnell an Land«, waberte aus der Ferne eine Stimme zu Olgard durch.

Mit einem Mal waren all die schrecklichen Erinnerungen zurückgekehrt. Es lag bereits so viele Jahre zurück und doch konnte Olgard noch immer das Gefühl tiefer Trauer und Hilflosigkeit spüren. Wie oft hatte er sich gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können und seinem Sohn ein besserer Vater zu sein. Es war kein Geheimnis, das ihr Verhältnis in den Jahren vor dem schrecklichen Unglück sehr angespannt gewesen war. Olgard hatte nie akzeptieren können, dass sein Sohn mit Athul und dessen Mutter das Dorf verlassen hatte. Die wenigen Male, an denen sie zurückgekehrt waren, waren sie meist geschäftlich unterwegs gewesen. Olgard hatte es in diesen Zeiten vermieden, ihnen zu begegnen. Bis zu jenem Tag, als ihn die schlimme Nachricht erreichte.

Man fand Athuls Eltern tot in einer Gasse auf. Tiefe Messerstiche zeugten von einer grausigen Tat. Wie sich später herausgestellt hatte, waren sie in eine Falle gelockt worden. Diebe, die an ihre Waren gelangen wollten, waren dafür verantwortlich gewesen. Ein sinnloses, aus reiner Habgier begangenes Verbrechen.

Die Täter waren nie aufgespürt worden. Es hatte Wochen gedauert, bis ein ausgesandter Bote Olgard fand. Wochen, in denen Athul vollkommen allein in einer fremden Stadt hatte ausharren müssen, untergebracht in einem Gasthaus, umgeben von Fremden. Zum Zeitpunkt des Verbrechens war Athul gerade einmal zehn Jahre alt gewesen. Olgard hatte nur erahnen können, welches Leid das Kind hatte ertragen müssen.

Über diese Dinge sprach Olgard nie mit Athul. Die eigene Trauer bekämpfte er seitdem mit dem Wunsch, Athul ein besseres Vorbild zu sein. Ein besseres Vorbild, als er es für seinen eigenen Sohn gewesen war.

Das Boot gab einen dumpfen Laut von sich, als es gegen den seitlichen Holzpfosten des Stegs stieß. Olgard hob den Kopf. Sie waren wieder am Hafen angelangt. Er schaute zu seinem Jungen, dessen Kopf in seinem Schoß ruhte.

»Du wirst mir nicht auch noch sterben, das lasse ich nicht zu. Niemals werde ich das zulassen!«, sagte Olgard.

6
Der Fremde

Eine schiere Ewigkeit schwebte Athul im lautlosen Nichts, bevor er endlich in das dämmernde Grenzland zwischen Schlaf und Erwachen zurückkehrte. Für einen Moment wirkte er orientierungslos. Dann realisierte er, dass er sich in seinem Zimmer befand. Das Licht der untergehenden Sonne warf lange Schatten in den Raum und ließ diesen in einem tiefen Rot erglühen.

Ein Geruch von Kräutern lag in der Luft. Athul rümpfte die Nase und versuchte den Ursprung zu ergründen. Seine Hände glitten über die Brust. Raue Leinentücher waren um den Oberkörper gewickelt. Sie fühlten sich kalt und feucht an. Sie waren die Ursache des Geruchs.

Vorsichtig richtete er sich auf, wobei die Tücher von seiner Brust rutschten. Athul fuhr sich mehrmals mit den Händen über den Oberkörper, konnte aber keine Verletzungen ertasten. Jegliche Schwäche schien zudem von ihm gegangen zu sein. Er fühlte sich ausgeruht, auf unerklärliche Art zu neuem Leben erwacht.

Er versuchte sich zu erinnern, was eigentlich geschehen war. Wie war er hierher gekommen?

Er fand keine Antwort. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war das Unwetter. Und die Sorge um seinen Großvater und der Schmerz in seinem Kopf.

Doch da war noch etwas.

Plötzlich war er endgültig hellwach. Seine Gedanken überschlugen sich: diese Stimme, das Licht, die Statue. Und in der Hand der Statue ...

Hatte er sich all das nur eingebildet?

Nachdenklich glitt er aus dem Bett und stand auf. Lediglich eine beige Stoffhose bedeckte seinen Körper. Rasch griff er nach einem Hemd aus seinem Schrank. Während er es überzog, drangen Stimmen aus der Wohnstube an sein Ohr. Athul näherte sich der geschlossenen Zimmertür und lauschte.

»Seid Ihr Euch vollkommen sicher?«, hörte er seinen Großvater fragen.

»Ich habe vorhergesehen, dass es so kommen würde. Doch habe ich die Ereignisse nicht so bald erwartet«, antwortete eine fremde männliche Stimme.

»Und was werdet Ihr jetzt tun?«, wollte sein Großvater wissen.

Eine kurze Pause trat ein, dann antwortete der Fremde bestimmend: »Es wäre das Beste, ich würde den Stein erst einmal an mich nehmen. Um vollkommen sicher zu sein.«

Stein? Athul war verwirrt. Er entschloss sich herauszufinden, worüber die beiden Männer sprachen.

Er öffnete die Tür und trat in die Stube. Sein Großvater und der Fremde drehten sich zu ihm. Als Olgard den Jungen erblickte, strahlten seine Augen vor Freude und seine Mundwinkel formten sich zu einem Lächeln. »Athul, mein Junge! Du bist wach!« Olgard erhob sich und schloss ihn fest in die Arme.

Athul erwiderte die Umarmung, während sein Blick zu dem Fremden wanderte.

Der Mann war in einen weiten und abgetragenen Ledermantel gehüllt. Das lange Haar hing in wilden und verschlungenen Strähnen vom Kopf hinab. An einigen Stellen schimmerte in dem dunkelbraunen Haar ein zartes Silbergrau.

Athul fragte sich, wie alt der Fremde wohl war. Er konnte ihn schwer einschätzen. Zwar wirkte sein Gesicht wie das eines jungen Mannes, doch der müde Ausdruck, der auf ihm lag, ließ es älter erscheinen.

Der Griff seines Großvaters löste sich und Athuls Blick fiel auf den Esstisch. Auf seiner Mitte lag ein dunkler Gegenstand. Athul starrte ihn gebannt an.

Das Licht legte einen glänzenden Halbkreis auf die abgerundeten Kanten und verlief sich im Schwarz seiner glatten Oberfläche. Dies war der Gegenstand. Ein schwarzer Stein. Er hatte es sich also nicht bloß eingebildet.

Athul riss den Blick los und schaute wieder zu dem Fremden. Dieser bemerkte es und trat einen Schritt auf ihn zu. »Es freut mich zu sehen, dass es dir wieder besser geht«, sagte er mit angestrengter Stimme. Er wirkte erschöpft. Mit einem höflichen Nicken fügte er hinzu: »Mein Name ist Elgorath.«

»Elgorath hat sich um dich gekümmert und dir geholfen, wieder gesund zu werden«, erklärte Olgard sichtlich dankbar.

Athul überlegte, ob er den Mann schon jemals zuvor gesehen hatte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht daran erinnern.

»Dann danke ich Euch vielmals«, sagte er. Sein Dank war aufrichtig, auch wenn er mehr dazu diente, etwas zum Gespräch beizutragen und die Dinge richtig einzuordnen. Eine gesunde Skepsis erschien Athul angebracht.

Elgorath, der Athuls Unsicherheit anscheinend bemerkt hatte, lächelte ihn an. »Mach dir keine Sorgen. Dein Großvater wird dir über alles berichten, was seit deinem Unfall geschehen ist. Ich werde euch nun allein lassen und am Morgen noch einmal nach dir schauen, Athul.« Mit diesen Worten drehte er sich zum Esstisch und griff nach dem dunklen Stein.

»Halt!«, schrie Athul und war im selben Augenblick erschrocken über seinen eigenen impulsiven Ausbruch.

Verwundert drehte sich Elgorath zu ihm um.

»Das gehört mir!«, hörte sich Athul mit fester Stimme sagen.

»Athul!«, ging Olgard dazwischen. »Was ist denn in dich gefahren?«

Aber Elgorath winkte ab. »Lasst gut sein.« Er wandte sich wieder an Athul: »Hör mir zu, Junge! Es ist wichtig, dass ich deinen Fund an mich nehme. Ich warte schon so lange auf eines der alten Relikte, ich ...« Er unterbrach sich selbst und holte tief Luft. »Ich verspreche, du bekommst ihn zurück.«

Athul war verwirrt. Was ging hier vor? War es der Stein, der ihn derart faszinierte, dass er ihn nicht hergeben wollte, oder der Umstand, wie er in seinen Besitz gekommen war?

Er schüttelte den Kopf, er wollte den Stein nicht dem Fremden überlassen. »Ich würde es begrüßen, wenn Ihr jetzt geht und den Stein mir überlasst.« Mit diesen Worten ging er an Elgorath vorbei und nahm den Stein rasch an sich.

Dessen Blick ließ vermuten, dass er mit der Entscheidung nicht einverstanden war. Dennoch erwiderte Elgorath: »Vielleicht ist es wirklich besser, dir noch etwas Ruhe zu gönnen. Wir werden morgen darüber sprechen.«

Der Fremde verabschiedete sich höflich und ging zur Tür. Olgard trat an seine Seite und öffnete sie ihm. Beide nickten sich kurz zu. Dann war Elgorath in den Abend entschwunden.

Olgard wirkte besorgt und seine Stirn zeigte tiefe Falten. Athul lächelte seinen Großvater beruhigend an. Den Stein ließ er in seine Hosentasche gleiten.

An diesem Abend verloren sie kein Wort mehr über das kurze Gespräch mit Elgorath. Als die Zeit vorrückte, erfuhr Athul stattdessen, dass er seit beinahe einer halben Woche im Bett gelegen hatte. Olgard hatte in diesen Tagen immer wieder neugierige Blicke und Fragen abwehren müssen.

»Das Mädchen aus der Nachbarschaft, Neliah, sie war auch hier und hat sich nach dir erkundigt.«

Athul starrte ihn ungläubig an. Seine Wangen wurden heiß. Irgendetwas in seiner Magengegend verkrampfte sich.

»Wusste ich doch, dass dich das interessieren würde.«

Unfähig eine Antwort zu geben, starrte Athul auf seine Hände. Verschiedenste Szenarien bauten sich vor seinem inneren Auge auf. Hatte sie seinen Unfall mit angesehen? Und wenn ja, war sie aus Mitleid gekommen? Oder interessierte sie sich gar wirklich für ihn?

»Scheint dich ja ziemlich erwischt zu haben«, stellte Olgard schmunzelnd fest.

»Wie? Nein ... ich meine. Keine Ahnung. Ich kenne sie ja nicht einmal.« Athul wollte das Thema lieber meiden.

»Schon gut. Mach dir keinen Kopf.« Olgard konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und gab ihm einen lieb gemeinten Klaps auf die Schulter.

Als Athul in dieser Nacht sein Zimmer betrat, quälte ihn eine unbändige Neugier. Er warf sich auf das Bett und holte den Stein aus der Tasche hervor. Kurz hielt er inne, dann legte er ihn vor sich auf das Laken und betrachtete ihn eine Weile fasziniert. Schließlich schlossen sich seine Finger um den glatten Gegenstand und er hob ihn näher zum Schein der kleinen Kerze hin, die er aus dem Wohnraum mitgenommen hatte. Im schwachen Licht konnte er die matt glänzende Oberfläche genauer erkennen. Über sie hinweg zogen sich feine, kaum wahrnehmbare Linien. Wie kleine Wellen wanderten sie einmal um die Oberfläche.

Zögernd fuhr Athul mit den Fingern an ihnen entlang. Ein kalter Windhauch ging durch das Zimmer und drohte die Kerzenflamme kurzzeitig zum Erlöschen zu bringen. Athul schaute sich um. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass weder Tür noch Fenster geöffnet waren. Kopfschüttelnd wendete er sich wieder dem Stein zu.

Stunde um Stunde verstrich, in der sich Athul der merkwürdigen Faszination des Steins hingab. Erst als die Vögel ihr morgendliches Frühlingslied anstimmten, fielen ihm die Augen zu und ließen ihn in einen tiefen und traumlosen Schlaf versinken.

Es war weit nach Mittag, als Athul am nächsten Tag erwachte. Den schwarzen Stein hielt er noch immer fest umschlossen in der Hand. Verschlafen setzte er sich auf. Langsam drehte er ihn zwischen den Fingern.

Mit jeder Drehung kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück. Am heutigen Tag wollte dieser Elgorath erneut seinem Großvater und ihm einen Besuch abstatten. Athul war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Nachdenklich schob er den Stein zurück in die Hosentasche und sprang aus dem Bett.

Als er die Stube betrat, stellte er verwundert fest, dass sein Großvater nicht dort war. Athul machte sich auf den Weg in Richtung der Küche, als es an der Tür klopfte. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Zögernd drehte er sich um und ging zur Tür.

»Wer ist da?«, fragte er mit bemüht ruhiger Stimme.

»Ein Bote. Ich bringe Nachricht«, antwortete die Person auf der anderen Seite.

Athul öffnete die Tür. Vor ihm stand ein junger Bursche. Er war kaum älter als er selbst.

»Ich habe ein Schreiben für einen Olgard. Bist du das?«

Athul schaute ihn nachdenklich an. »Von wem kommt die Nachricht?«

»Ein Mann gab mir den Brief. Er war Gast in meines Vaters Herberge. Den Namen weiß ich nicht.«

Athul nahm den Brief dankend entgegen und schloss die Tür. Vorsichtig strichen seine Finger über das kleine Siegel auf der Rückseite. Auf dem dunkelroten Wachs zeichneten sich die Umrisse eines Berges ab. Athul fragte sich, was das Siegel zu bedeuten hatte und woher es stammte. Sollte dieser Brief von Elgorath kommen?

Unentschlossen wog er das Papier in der Hand. Wenn er doch nur wüsste, was in dem Brief stand. Langsam schritt er auf den Tisch im Wohnraum zu, nahm Platz und legte den Brief vor sich ab. Vielleicht war es ja Schicksal, dass sein Großvater gerade jetzt nicht zu Hause war. Vielleicht sollte Athul den Brief bekommen. Könnte der Bote die Botschaft nicht auch falsch verstanden haben? Sicherlich war der Inhalt an sie beide gerichtet. Letztendlich würde ein kurzer Blick bestimmt nicht schaden - nur um sicher zu gehen.

Zögernd griff er nach dem Umschlag. Dann öffnete er ihn und las.

Hoch geschätzter Olgard,

leider kann ich unser heutiges Treffen nicht wahrnehmen. Mich ereilten wichtige Neuigkeiten, denen ich große Aufmerksamkeit schenken muss. Vielleicht stehen sie im direkten Zusammenhang mit den Ereignissen, die sich um Athul drehen. Es ist von größter Wichtigkeit, dass er den Stein zur Seite legt, bis ich zurückkehre und wir ihn gemeinsam erforschen können. Wie ich Euch bereits mitteilte, halte ich den Fund eures Jungen für ein altes Relikt aus vergangenen Zeiten und die Linien auf seiner Oberfläche für Runen. Wenn ich richtig vermute, besitzen sie noch immer gewaltige Kräfte. Ich kann nicht beurteilen, ob daraus eine Gefahr erwächst, doch sollten wir das Schicksal nicht herausfordern. Bitte tragt Sorge, dass der Junge den Stein nicht weiter bei sich führt.

Ich werde schnellstmöglich zurückkehren, um Genaueres zu berichten.

Es grüßt als Freund,

Elgorath

Stumm und ausdruckslos ließ Athul den Brief sinken. Angestrengt versuchte er das Gelesene zu begreifen, doch es war ihm, als ob ein dunkler Schleier in seinem Kopf jeden klaren Gedanken unterdrückte. Seine Hand glitt vorsichtig tiefer in seine Hosentasche. Er berührte den Stein. Sein Herz begann zu rasen und er spürte eine erdrückende Anspannung in seinem Körper, die ihn kaum atmen ließ. Mit festem Griff umschlossen seine Finger den Stein und zogen ihn langsam hervor. Neugierig hielt er ihn vor sich. Was sollte er nur tun?

Ein sanfter Luftzug strich ihm durchs Haar, und er vernahm das dumpfe Geräusch einer Tür, die wie in weiter Ferne geöffnet wurde.

»Hast du ausgeschlafen?« Olgards Stimme drang an Athuls Ohr. Erschrocken fuhr er aus seinen Gedanken hoch. Er fühlte sich merkwürdig ertappt. »Nun, ich … ja! Ja, habe ich. Und Ihr, Großvater, wo habt Ihr Euch herumgetrieben?« Ein gequältes Lächeln huschte über seine Lippen.

»Herumgetrieben?« Olgard musterte Athul. »Ich habe mich auf dem Markt herumgetrieben

Er deutete mit einem Nicken auf die schweren Stoffbeutel. Anschließend wanderte sein Blick zu Athuls Hand, die noch immer den Stein umklammert hielt. Schnell ließ dieser ihn wieder in seine Tasche gleiten. Aus einem unerfindlichen Grund wollte er seinem Großvater nichts von dem Brief erzählen. Athul redete sich ein, dass er ihn lediglich nicht beunruhigen wollte, und schob das Papier mit einer raschen Handbewegung in seinen Ärmel.

»Lasst mich Euch etwas abnehmen, Großvater.«

Athul sprang auf und griff schnell nach einer der Taschen, um von der unangenehmen Spannung zwischen ihnen abzulenken.

Der restliche Tag verlief nicht besser. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung zwischen Olgard und Athul. Athul musste immer wieder an den Brief und seine Botschaft denken. Einige Male spielte er tatsächlich mit dem Gedanken, den Stein zur Seite zu legen. Doch beließ er ihn vorerst in seiner Hosentasche.

7
Ein neuer Morgen

Geweckt durch ein Klopfen an seinem Fenster öffnete Athul die Augen. Ein lautes Gähnen drang aus seiner Kehle, während er sich durch das zerwühlte Haar strich. Verschlafen schaute er hinaus. Neliahs wunderschöne grüne Augen glitzerten ihm entgegen. Sofort war er hellwach, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Verwirrt kletterte er aus dem Bett und öffnete das Fenster.

»Guten Morgen, Nachbarsjunge.« Verschmitzt lächelnd schaute sie ihn an. »Wie ich höre, geht es dir wieder besser?«

Athul brachte lediglich einige unverständliche Worte als Antwort hervor.

»Du fragst dich bestimmt, warum ich hier bin?« Ohne eine Reaktion abzuwarten, lieferte sie ihm die Antwort: »Ein Freund und ich wollen raus aufs Meer und ich dachte, da du ja nun dein Boot hast, möchtest du uns vielleicht begleiten?«

Athuls Magen verkrampfte sich. Er atmete tief durch und versuchte einen sinnvollen Satz zu formen, was ihm allerdings nur mäßig gelang.

»Nein, … ich meine ja. Ja, warum nicht?«

Neliah quittierte seine Unsicherheit mit einem belustigten Lächeln. »Dann zieh dir was über. Wir warten vor dem Haus auf dich.«

Athul hinterließ eine kurze Notiz für seinen Großvater auf dem Esstisch, dann verließ er das Haus. Neben Neliah wartete ein kleiner, etwas molliger Junge. Er trug eine knielange, verwaschene Hose, deren Bund von einem verfilzten Wollpullover verdeckt wurde. Das blonde Haar war kurz geschnitten und lag wild auf dem Kopf. Er reichte Athul die Hand und stellte sich als Ernest vor, Bauerssohn und Freund von Neliah.

Gemeinsam schlenderten sie die Straße hinab zum Hafen. Unterwegs erzählte Neliah von einer Stelle am Wasser, die sie vor einigen Tagen entdeckt hatte, und die sie sich unbedingt anschauen müssten.

Athul beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Ihre Mimik, ihre Gestik, einfach alles an ihr schien perfekt. Wie lange hatte er davon geträumt, einmal mit Neliah reden zu können, und nun liefen sie gemeinsam zum Meer und unterhielten sich, als wäre es selbstverständlich. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihm aus und er musste zufrieden lächeln. Für eine kleine Weile vergaß er ganz einfach seine Sorgen.

Als sie den Hafen erreichten, schaute ihn Neliah fragend an.

»Meinst du, wir können mit deinem Boot hinaus?«

Athul schaute prüfend zu seinem Boot. Das Unwetter schien keine Schäden hinterlassen zu haben. Bisher hatte er nicht darüber nachgedacht, wie es wäre, erneut aufs Meer hinaus zu fahren. Die direkte Konfrontation mit dieser Vorstellung bereitete ihm kurzfristiges Unbehagen. Doch als Neliah ihn herausfordernd ansah, konnte und wollte er ihr den Wunsch auf gar keinen Fall abschlagen.

»Wir sollten nur nicht zu weit raus fahren. Zu dritt könnte es etwas unsicher sein.«

»Das ist nicht weiter schlimm«, antwortete Neliah. »Die Stelle ist nicht weit von hier. Ich zeig dir einfach, wo wir hin müssen.«

Vorsichtig stieg er in das Boot. Neliah folgte ihm, dabei streckte sie ihm Halt suchend die Hand entgegen. Verlegen ergriff er sie. Ihre Haut fühlte sich zart an, und er verspürte den Wunsch, sie noch länger berühren zu dürfen. Ernest, der es anscheinend nicht abwarten konnte, endlich an Bord zu gelangen, drängte sich an ihnen vorbei. Sein kräftiger Körper versetzte das Boot kurzzeitig in eine gefährliche Schieflage. Neliah stolperte und stürzte Athul direkt in die Arme. Beide verloren das Gleichgewicht und landeten unfreiwillig auf der kleinen Holzbank.

Mit verlegener Miene schaute Neliah ihn an. Ihr Gesicht war seinem so nahe, dass Athul sich einbildete, ihren Atem wahrzunehmen. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Betretenes Schweigen trat ein. Kurz räusperte sie sich, dann drückte sie sich hoch und wendete sich Ernest zu.

»Ernest, du Tollpatsch. Kannst du nicht ein bisschen vorsichtiger sein?« Ihr Lächeln verriet, dass sie dies nicht allzu ernst meinte.

»Tut mir leid«, erwiderte Ernest und winkte entschuldigend in Athuls Richtung.

»Ach, schon vergessen.« Athul löste lächelnd das Tau und stieß das kleine Boot mit dem Paddel vom Steg ab. Danach tauchte er es ins Wasser und sie nahmen Fahrt auf.

Der wolkenlose Himmel leuchtete in einem tiefen Blau. Eine milde Brise streichelte mit unsichtbarer Hand durch ihre Haare. Der Seegang war ruhig und ließ sie gut vorankommen.

»Normalerweise bevorzuge ich ja eher den Landweg«, erklärte Neliah, während sie ihren Blick über die seichten Wellen gleiten ließ. »Ein Freund meiner Eltern besitzt ein kleines Gestüt. Was ist mit dir Athul? Bist du schon einmal geritten?«

Er schaute sie verdutzt an. »Ähm ... früher einmal. Aber das ist schon ziemlich lange her.«

Neliah nickte verstehend. »Ich liebe Pferde. Es hat etwas Majestätisches, auf ihrem Rücken zu sitzen. Das solltest du unbedingt wieder einmal ausprobieren. Vielleicht begleitest du mich mal?«

Athuls Herz machte einen Sprung. Eigentlich machte er sich nichts aus diesen Tieren, aber der Gedanke, mit ihr zusammen zu sein, beflügelte ihn. Am liebsten hätte er ihr sofort eine Antwort gegeben, doch er kam nicht mehr dazu.

Neliah klatschte aufgeregt in die Hände. »Wir sind da!«

Vor ihnen ragte ein großes Felsplateau aus dem Wasser. Mit kräftigen Zügen bewegte Athul das Boot näher heran, bis es auf festen Grund lief. Sie kletterten hinaus und banden es an einem Baumstumpf fest, der sich zwischen rund geschliffenen Steinen behauptet hatte, deren helles Grau von einem rutschigen Algenfilm bedeckt war.

Vorsichtig erklommen sie die felsige Insel. Braune Gräser bewegten sich sanft im Wind und hauchten der kargen Landschaft Leben ein. Vereinzelt hatten sich aus dem steinigen Untergrund dünne Bäume herausgearbeitet. Ihre weiß-grauen Leiber wirkten knöchern und trugen keinerlei Laub.

»Das müsst ihr euch anschauen«, rief Neliah, die vorangegangen war. Aufgeregt winkte sie die Beiden heran. »Da ist eine Höhle. Und hier unten fließt Wasser hinein.«

Sie deutete auf einen Spalt zwischen zwei Felsen, durch den Meerwasser drang.

»Wir sollten da aber lieber nicht reingehen«, entfuhr es Ernest ängstlich, als Neliah Anstalten machte, durch die schmale Öffnung zu schlüpfen.

»Hast wohl Angst steckenzubleiben?«, erwiderte sie augenzwinkernd.

Athul konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen. Mit ausgestreckten Armen versuchte Ernest Neliah zu packen. Neliah wich ihm aus, dabei verloren ihre Füße den Halt auf dem rutschigen Untergrund und sie stürzte rücklings in die Höhle. Ein dumpfes Klatschen erklang, danach war es still. Sofort stürmte Athul an Ernest vorbei, der erschrocken einen Schritt zurückgewichen war. Athul warf einen kurzen Blick durch die Öffnung und kletterte hinein.

Es war düster im Inneren, aber nicht vollkommen dunkel. Durch die Felswände zogen sich schmale Spalten und ließen das Tageslicht eindringen. Athul hielt inne. Er hatte ein merkwürdiges Glucksen vernommen. Vorsichtig schaute er sich um. Sein Blick fiel auf Neliah, die neben dem Eingang auf dem Boden hockte. Mit einer Hand vor dem Mund versuchte sie, ihr Lachen zu unterdrücken. Als sie sein verdattertes Gesicht sah, konnte sie nicht mehr innehalten. Athul schaute sie verwundert an, dann hoben sich seine Mundwinkel und er lachte erleichtert auf. Unter lautem Ächzen zwängte sich nun auch Ernest durch die Öffnung.

»Ich kann Euch doch nicht alleine lassen«, sagte er mit einem Anflug von gespielter Heldenhaftigkeit in seinen Worten.

Die Höhle war nicht groß, doch bot sie den Dreien ein ideales Lager.

»Ob vor uns schon mal jemand hier war?«, fragte Neliah, während sie sich auf einen breiten Stein setzte.

»Ich weiß nicht. Sieht nicht sehr bewohnt aus, wenn du mich fragst«, entgegnete Athul.

»Sehr witzig.«

Neliah hob ihren Kopf und rümpfte die Nase. Athul setzte sich neben sie und stieß ihr sanft in die Seite.

»Schon gut«, winkte sie ab. »Sag mal, was ich dich noch fragen wollte: Ich habe gesehen, dass ihr Besuch hattet vor einigen Tagen.«

Entgeistert starrte Athul sie an. In den letzten Stunden hatte er keinen Gedanken mehr an die vergangenen Tage verschwendet.

»Ja und?«

»Wer war das?«, bohrte Neliah weiter.

»Lass gut sein«, antwortete er unwirsch. »Ich möchte nicht darüber reden.«

»Ach, komm schon. Es interessiert mich, was dieser Fremde hier macht.« Neugierig sah Neliah ihn an.

Wütend drehte Athul seinen Kopf zur Seite. »Ich habe gesagt, ich will nicht darüber sprechen!«

»Schon gut. Es war nur eine Frage, du brauchst nicht direkt sauer werden.«

Athul fühlte sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Warum musste sie damit anfangen? War es bis dahin nicht sehr schön gewesen? Lief es nicht wunderbar zwischen ihnen?

Mit einem lauten Tosen schlug ohne jede Vorwarnung plötzlich eine schwere Welle gegen die Felsen. Neliah schrie auf und Ernest schaute sich ängstlich um. Athul schreckte hoch. Außerhalb der Höhle hatte sich wie aus dem Nichts ein schweres Unwetter zusammengebraut.

»Was ist das? Woher kommt das so plötzlich?« Neliahs Stimme klang verängstigt.

Panik stieg in Athul auf. Er musste wieder an seinen Geburtstag und das verhängnisvolle Gewitter denken.

Unbewusst hatte sich seine Hand um den Stein in der Hosentasche geklammert. Er fühlte sich merkwürdig warm an. Sein Blick wanderte zu seinen Gefährten. Hatten sie etwas bemerkt? Noch bevor er sich selber eine Antwort geben konnte, brach der Zugang zur Höhle in sich zusammen. Zwischen den heruntergestürzten Steinbrocken schoss Wasser hindurch und flutete den Boden. Ängstlich kletterte Ernest in den hintersten Teil der Höhle und kauerte sich dort zusammen.

»Kommt!«, schrie Neliah. »Wir müssen hier raus, sonst ertrinken wir!«

Mühsam kämpfte sie gegen die rasch ansteigenden Fluten an und arbeitete sich zum Eingang vor. Athul sprang ebenfalls auf und folgte ihr.

»Auf drei!«, rief sie ihm zu. »Eins, zwei, drei!«

Beide stemmten sich mit aller Kraft gegen die Felsbrocken. Es gelang ihnen, einen kleineren Felsen zur Seite zu drücken. Auf dem rutschigen Untergrund glitt er zur Seite und fiel ins Wasser. Das restliche Konstrukt begann gefährlich zu schwanken.

Geistesgegenwärtig riss Athul Neliah nach hinten. Keine Sekunde zu früh. Mit lautem Getöse stürzten die restlichen Felsbrocken in sich zusammen und gaben den Eingang wieder frei.

Athul hielt schützend die Hand vor die Augen. Als er sie wieder öffnete, blickte er in ein helles Blau. Der Himmel war freundlich und zeigte keine Spur mehr einer Bedrohung.

Verstört schaute Neliah ihn an. Schulterzuckend erwiderte er den Blick. Er drehte sich um und sah mit Entsetzen, wie Ernest mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Um seinen Kopf hatte das Wasser eine rötliche Farbe angenommen.

»Ernest!« Schnell watete er auf den Kleinen zu. Neliah starrte Athul mit weit aufgerissen Augen an. Ihre Frage war ein Stammeln.

»Was ... was ist mit ihm?«

Athul zog den Körper aus dem Wasser. Eine breite Wunde klaffte auf Ernests Stirn. Blut quoll aus ihr hervor und bildete dunkle Rinnsale, die über die Nase bis hin zum Kinn liefen. Hilflos blickte Athul Neliah an.

»Ein Felsen muss ihn getroffen haben.«

Er wandte sich wieder Ernest zu und sein Blick traf dessen leblose Augen. Sie waren nur leicht geöffnet und starrten glasig ins Leere. Athuls Hoffnung auf ein Lebenszeichen schwand. Vorsichtig trug er den leblosen Körper zum Höhlenausgang.

Vor der Höhle legte er Ernest auf eine flache Stelle und hockte sich neben ihn. Hilflosigkeit betäubte seine Sinne.

Als er den Kopf hob, sah er Neliah. Sie kletterte aus der Öffnung. Ihr Gesicht war bleich und ihre Wangen glänzten. Man sah ihr an, dass sie geweint hatte. Stumm kam sie auf ihn zu. Ohne Athul anzuschauen, blieb sie neben ihm stehen.

»Wir müssen zurück. Wir müssen ihn zu seinem Vater bringen.«

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen. Athul wollte etwas antworten, doch er brachte kein Wort heraus. Schweigend erhob er sich und schaute nach dem Boot. Zu seinem Entsetzen war es fort. Der kleine Baumstumpf musste aus dem Felsen gerissen worden sein. Verzweifelt schaute er zur Küste. Bis zum Ufer war es viel zu weit.

Athul spielte in Gedanken alle Möglichkeiten durch. Sein Boot war nirgends ausfindig zu machen und auch sonst gab es nichts auf dem kleinen Eiland, was ihnen hätte helfen können. Es blieb nur eine Möglichkeit: Er musste zum Ufer schwimmen. Besorgt schaute er zu Neliah. Nur ungern würde er sie in dieser Verfassung allein zurücklassen. Doch war er nicht verantwortlich für alles? Er musste an den Stein denken und Elgoraths Warnung. Sein Magen zog sich zusammen und Tränen traten ihm in die Augen.

Während er noch mit sich kämpfte, ließ ihn ein Geräusch aufhorchen. Blinzelnd hob er den Kopf und schaute übers Meer bis zum Horizont. Die Sonne stand tief, es war bereits später Nachmittag. Er sah dünne Wolken ziehen und unterhalb von ihnen einen Schwarm Vögel hinweg gleiten. Enttäuscht senkte er den Blick. Was hatte er auch erwartet? Ein Boot, das ihnen zu Hilfe eilte? Doch dann hielt er mitten in der Bewegung inne. Im weiß getupften Blau des Himmels zeigte sich ein dunkler Fleck.

Neugierig kletterte Athul einen Felsvorsprung hinauf. Dessen Form, von Wind und Wellen geschliffen, erinnerte entfernt an ein groteskes Tier. Athul trat einige Schritte vor. Dabei verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen, begleitet von der Hoffnung, dem Fleck eine Kontur geben zu können. Das dunkle Etwas schien sich zu bewegen. Vielleicht war es ein Vogel? Aber wenn dem so war, musste er gigantisch sein. Plötzlich begann der Boden unter seinen Füßen zu schwanken. Athul spürte, wie die Steine nachgaben. Er kam ins Rutschen und mit lautem Poltern stürzte er den kleinen Vorsprung hinab.

Mit zusammengepressten Lippen rieb er sich über die Schürfwunden an Händen und Knien. Den Schmerz ignorierend richtete er sich auf und begann erneut den Himmel abzusuchen, doch von einem Schatten war weit und breit nichts mehr zu sehen. Langsam begann er an seinem Verstand zu zweifeln. Kopfschüttelnd kletterte er zurück zu Neliah. Sie schien von seinem Unfall nichts mitbekommen zu haben. Noch immer saß sie zusammengesunken neben Ernest. Er beobachtete sie, während sein Blick immer wieder übers Wasser und hinauf zum Himmel glitt.

8
Unerwartete Hilfe

Lautes Hämmern an der Eingangstür ließ Olgard aufschrecken. Er hatte zusammengesunken am Tisch gesessen, den Arm auf einem gelblichen Pergament liegend.

... nicht beurteilen, ob sich dadurch eine tatsächliche Gefahr ergibt, doch sollten wir das Schicksal nicht herausfordern. Bitte tragt Sorge, dass der Junge den Stein nicht weiter bei sich führt.

Ich werde schnellstmöglich zurückkehren, um Genaueres zu berichten.

Es grüßt als Freund,

Elgorath

Olgard hatte bereits eine düstere Ahnung beschlichen, als er den Stein das erste Mal in der Hand seines Jungen erblickt hatte. Als Elgorath im Dorf aufgetaucht war, hatte sich dieses Gefühl verstärkt. Es war der Abend gewesen, nach dem er Athul aus dem Wasser gerettet hatte. Voller Sorge hatte er ihn nach Hause gebracht und auf das Bett gelegt.

Der Arzt des Dorfes hatte kaum Grund zur Hoffnung gelassen, als er das Haus verlassen hatte. Doch dann war plötzlich Elgorath vor der Tür aufgetaucht.

Olgard war zunächst skeptisch gewesen, als dieser ihm versichert hatte, Athul helfen zu können. Hatte der Arzt doch zuvor gesagt, dass es schlecht um seinen Jungen stand. Seinen Worten zufolge würde es einem Wunder gleichkommen, wenn der Junge die nächsten Tage überstehen würde. Und dann hatte dieser Fremde behauptet, Athul heilen zu können. Doch aus irgendeinem Grunde, den Olgard sich bis heute nicht genau erklären konnte, hatte er den Mann ins Haus gebeten. Die ungeheure Zuversicht, die von diesem Mann ausgegangen war - und die Hoffnung, die Olgard damit verbunden hatte - waren das Fundament gewesen, Elgorath zu vertrauen.

Elgorath war zwei Tage an Athuls Bett geblieben. Er hatte Olgard angewiesen, ihn nicht zu stören, und Olgard hatte der Aufforderung Folge geleistet. Am Abend des dritten Tages hatte sich Athuls Zustand dann gebessert. Das Fieber war gewichen und der rasselnde Atem ruhiger geworden.

Elgorath hatte die Zeit an Athuls Krankenlager deutlich zugesetzt.

An jenem Tag sprachen sie das erste Mal über den Stein, den Athul bei seiner Rettung fest umklammert gehalten hatte. Elgorath hatte sich in vagen Vermutungen bewegt, konkrete Hinweise hatte er geschickt vermieden.

Warum nur hatte Athul diesen Brief vor ihm versteckt? Olgard hatte gesehen, wie sein Zögling den Brief in seinen Ärmel geschoben hatte. Auch das Versteck unter der Matratze war ihm bekannt.

Sollten sich Elgoraths Befürchtungen etwa bewahrheiten? Seit dem Unfall hatte sich Athuls Verhalten verändert. Es waren nur Nuancen, doch Olgard spürte, dass etwas nicht stimmte. Es passte einfach nicht zu Athul, einen fremden Brief zu öffnen und ihn danach zu verstecken.

Ob Athul den Stein wohl weggelegt hatte? Olgard brauchte Gewissheit.

Wieder klopfte es. Dieses Mal wesentlich energischer. Während Olgard aufstand, faltete er den Brief zusammen und steckte ihn in seine Hosentasche. Nachdenklich strich er sich durchs Haar.

Vorsichtig drückte er die Türklinke runter. Verwundert stellte er fest, dass vor dem Haus niemand war.

Seltsam.

»Heh«, erklang eine Stimme.

Olgard schaute sich verwirrt um. Im Schatten der rechten Häuserecke bewegte sich jemand.

»Kommt nicht näher!«, befahl die Stimme. »Es ist mir nicht gestattet, hier zu sein.«

»Wer seid Ihr?«, wollte Olgard wissen.

»Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen. Ich bin ein Freund Elgoraths. Vertraut mir bitte! Euer Junge ist in Gefahr. Er benötigt Eure Hilfe. Ich werde vorauseilen und Euch den Weg weisen.«

Der Tonfall des Fremden ließ keinen Zweifel am Ernst der Lage. Blätter wirbelten auf und mit einem Zischen, das dem entweichenden Dampf eines Wasserkessels glich, erhob sich eine imposante Gestalt gen Himmel. Gewaltige Schwingen breiteten sich aus und mit einem kräftigen Flügelschlag glitt sie in Richtung des Meeres.

Sogleich schloss Olgard die Tür und folgte der Erscheinung. Ein Alimant! Dieses Wesen musste ein Alimant sein! Olgard bekam eine Gänsehaut. Die wildesten Geschichten rankten sich um dieses Volk. Was hatte das alles zu bedeuten? Von welcher Gefahr hatte die Erscheinung gesprochen?

Olgard gelangte zu der Hügelkuppe, die hinab zum Hafen führte. Endlich sah er die fremde Gestalt wieder. Sie schwebte hoch am Himmel, kaum mehr als ein dunkler Punkt.

Hastig hetzte Olgard am Kai entlang. Sein Blick war noch immer gen Himmel gerichtet. Die Gestalt bewegte sich nicht mehr und schwebte über einer Stelle, die wie eine kleine Insel aussah. Olgard beschleunigte seine Schritte.

Als er sich seinem Holzboot näherte, bemerkte er drei Personen am Steg. Er erkannte den Bauern Umgad, Ernests Vater sowie Neliahs Eltern.

»Olgard! Gut, dass wir dich treffen. Weißt du, wohin dein Bengel unsere Kinder entführt hat?« Umgad wirkte ruhig und gefasst, doch in seinen Worten lag ein scharfer Unterton.

»Entführt? Ich weiß nicht, wovon du redest«, versuchte Olgard ihn abzuwimmeln.

»Tu bloß nicht so unschuldig! Du steckst da doch genauso mit drin. Hast dich mit diesem Fremden eingelassen, um deinen Jungen von den Toten zurückzuholen.«

Betäubende Wut ergriff Olgard. »Was maßt du dir an, so über Athul zu reden?« Doch rasch besann er sich wieder und fügte mit bestimmter Stimme hinzu: »Am besten wäre es, du würdest dich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen. Noch etwas oder kann ich meinen Ausflug fortsetzen?«

Er ging zu seinem Boot und löste das Seil. Die besorgte Stimme von Neliahs Mutter drang an sein Ohr.

»Wir suchen Neliah und Ernest. Sie sollten schon seit Stunden zu Hause sein. Ein Hafenarbeiter hat gesehen, wie sie heute Morgen mit Athul in sein Boot gestiegen sind. Bitte! Wenn du etwas weißt ...?«

Olgard nickte ihr gedankenverloren zu. »Ich weiß auch nicht mehr. Aber ich werde es herausfinden.«

Olgards Boot berührte felsigen Grund. Er sprang hinaus. Die Gestalt am Himmel war fort. Olgard schaute sich suchend um. Das Boot seines Jungen war nirgends zu entdecken.

So laut er konnte, schrie er die Namen der Vermissten: »Athul? Neliah? Ernest? Seid ihr hier?«

Quälende Sekunden des Wartens vergingen.

»Großvater?«, hallte Athuls Stimme ihm entgegen. »Wir sind hier!« Der Junge kam ihm entgegengerannt und fiel in seine Arme.

Olgard, der noch immer nicht verstand, was eigentlich vor sich ging, drückte ihn fest an sich.

»Athul, was ist geschehen? Sind Neliah und Ernest bei dir?«

Athul blickte mit geröteten Augen zu ihm auf. Tränen rannen über seine Wangen.

»Ja ... sie sind auch hier. Aber Ernest ... ihm ist etwas passiert.«

Erschrocken packte Olgard seinen Jungen an den Armen. »Was ist mit Ernest?«

Athul antworte nicht.

Gemeinsam hasteten sie in die Richtung, aus der Athul gekommen war. Dort saß Neliah, einem Häufchen Elend gleich. Unmittelbar neben ihr lag der regungslose Körper von Ernest. Entsetzt starrte Olgard auf die Wunde auf Ernests Stirn. Sofort fühlte er nach dem Puls.

Nichts!

Ohnmacht überfiel Olgard. Wie betäubt hob er den Kopf und schaute zu Neliah. Ihr Gesicht war blass und ihr Blick ging ins Leere. Ihr ganzer Körper war zusammengesunken. Sie stand unter Schock.

»Neliah? Hörst du mich?«

Er beugte sich zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen.

»Es ist alles in Ordnung. Ich bin jetzt bei euch. Und ich werde euch zurück zum Festland bringen.« Er legte einen Arm um sie und half ihr auf.

Nur wenige Zeit später stieß das Boot mit voller Wucht gegen den Steg. Ohne zu zögern warf Olgard das Tau um den kleinen Holzknauf an der Seite und zog es fest. Anschließend half er Neliah und Athul aus dem Boot.

Ihre Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Aufgeregt kamen Neliahs Eltern auf sie zugerannt und schlossen ihre Tochter in die Arme. Dann traf Olgards Blick Umgad.

Umgad senkte den Kopf und schaute auf den leblosen Körper seines Jungen.

Olgard konnte nichts erklären. Bisher wusste er selber zu wenig über die Geschehnisse. Während der Fahrt hatte er es vermieden, die beiden danach zu fragen. Langsam beugte er sich hinunter, hob Ernests Körper auf und trug den Toten aus dem Boot.

Die Szenerie wirkte gespenstisch. Neliah klammerte sich schweigend an ihre Eltern, das Gesicht in deren Armen vergraben. Langsam schritt Olgard an ihnen vorüber. In seinen Armen hing Ernests lebloser Körper.

Mit versteinerter und ungläubiger Miene blickte Umgad Olgard an.

»Was ist mit ihm? Was hat dein dummer Junge mit ihm angestellt?« Umgads Stimme zitterte.

»Er ... er ist tot«, antwortete Olgard leise.

Umgads Augen weiteten sich. »Was erzählst du für einen Unsinn? Gib mir meinen Jungen. Du weißt ja nicht, was du sagst! Meinem Jungen geht es gut.« Der Bauer kam ungestüm auf Olgard zu und riss an seinem Arm, um Ernest daraus zu befreien. Ein Schrei entwich seiner Kehle und mit offenem Mund taumelte er zurück. Sein Gesicht glich jetzt einer hasserfüllten Fratze. »Du, Athul, verdammt sollst du sein! Das ist allein deine Schuld! Du hast meinen Jungen umgebracht!«

Olgard kniete sich nieder und legte den Körper des toten Jungen behutsam auf dem Steg ab. Anschließend wendete er sich Umgad zu, um ihn zu beruhigen. Doch er schien wie von Sinnen, mit einem Mal ließ er die Klinge eines Messers in seiner Hand aufblitzen. Wutentbrannt stürzte er auf den zurückweichenden Athul zu. »Ich werde dir deine Kehle durchschneiden, du Mörder!«

Geistesgegenwärtig reagierte Olgard und stellte sich ihm in den Weg. Mit einem raschen Griff versuchte er das Messer zu packen, doch Umgad war schneller.

»Geh mir aus dem Weg!«, schrie Umgad ihn an.

»Komm wieder zu dir! Du weißt nicht, was geschehen ist. Ich bin sicher, es war ein Unfall!«

»Unfall? Ich sage dir, was ein Unfall ist! Dass dein Junge noch am Leben ist, das ist ein Unfall! Dieser Fremde hat deinen Jungen vergiftet! Athul zieht das Unheil an!«

Vollkommen außer sich ließ Umgad die Klinge kreisen, um Haaresbreite vorbei an Olgards Gesicht. Olgard nutze den Bruchteil einer Sekunde, um Umgad zu packen und die tödliche Gefahr abzuwenden. Klirrend war das Fallen von Metall auf den Boden zu hören.

»Beruhige dich jetzt, Umgad! Du solltest den Tod deines Jungen betrauern und nicht jemand anderem nach dem Leben trachten. Mache den Moment nicht unglücklicher, als er bereits ist.«

Drei Hafenarbeiter kamen herbei geeilt und halfen Olgard, den Bauern zu fixieren.

»Ich weiß, dass du es warst!«, schrie der Bauer blind vor Schmerz Athul entgegen, der verängstigt hinter einige Kisten geflüchtet war. »Glaub ja nicht, dass du so einfach davon kommst! Ich werde meinen Jungen rächen, hörst du!«

Immer mehr Lysten fanden sich am Hafen ein und beobachteten betroffen die Szene.

Nachdem die Hafenarbeiter Umgad vom Steg gebracht hatten, ging Olgard zu Athul hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Komm, mein Junge, lass uns nach Hause gehen. Dort kannst du dich ein wenig ausruhen. Und wenn es dir besser geht, werden wir in aller Ruhe über alles sprechen.«

9
Kämpfe

Vor dem Haus war Olgard mit Arbeiten im Garten beschäftigt. Nachdenklich blickte Athul durch das Fenster der Wohnstube. Bisher hatte er es vermieden, mit seinem Großvater über den gestrigen Tag zu sprechen. Immer wieder drängte sich ihm in den letzten Stunden die Frage auf, ob er nicht doch für all das, was auf der kleinen Insel geschehen war, verantwortlich sein könnte.

Zögernd zog Athul den Stein aus der Tasche und hielt ihn vor sich. Sein Blick huschte zur Tür seines Zimmers. Langsam schritt er hinüber, öffnete die Tür und trat in sein kleines Reich. Mit einem Seufzer öffnete er die oberste Schublade seines Nachttisches und legte den Stein dort hinein. Er betrachtete ihn eine Weile, schreckte aber plötzlich auf.

Die Haustür war ins Schloss gefallen. Hastig schob er die Schublade zu. Es war Olgard, er musste die Gartenarbeiten abgeschlossen haben.

»Athul? Bist du wach?«, hörte er ihn rufen.

Zögernd entfernte sich Athul vom Nachttisch. »Ich bin hier, Großvater.« Sein Blick streifte ein letztes Mal die Schublade, dann verließ er das Zimmer und ging mit einem mulmigen Gefühl hinüber in die Wohnstube.

»Konntest du dich ein wenig ausruhen?« Olgards sorgenvoller Blick ließ erahnen, worauf er mit seinen Worten anspielte. »Ich denke, wir sollten uns einmal unterhalten. Ich wasche mir nur kurz die Hände.«

Unruhig setzt sich Athul an den Tisch und wartete. Kurz darauf kehrte sein Großvater zurück und setzte sich zu ihm.

»Ich habe diese Nacht viel nachgedacht. Ich kann einfach nicht glauben, dass du etwas mit dem Tod von Ernest zu tun haben sollst.«

Athul hörte den Schmerz in der Stimme des alten Mannes, als dieser fortfuhr: »Was ist nur da draußen geschehen? Es war doch ein Unfall, oder?«

Betroffen schaute Athul zu Boden.

»Athul«, verzweifelt griff Olgard nach seiner Hand, »war es nun ein Unfall oder nicht?«

»Ja, doch! Es war ein verdammter Unfall!« Tränen traten ihm in die Augen.

»Na gut«, redete Olgard beruhigend auf ihn ein, »dann hilf mir zu verstehen, was passiert ist.«

»Ich ... ich kann nicht!« Athul sprang mit einem Mal auf. Was sollte er darauf antworten? Er konnte sich die Vorgänge doch selbst nicht erklären.

»Bitte, Junge«, flehte sein Großvater ihn an.

Doch Athul schüttelte nur den Kopf. Tiefe Verzweiflung stürzte sich wie eine hungrige Bestie auf ihn und kämpfte sich mit scharfen Krallen durch seine Eingeweide. Die Ungewissheit nahm ihm die Luft zum Atmen. Er musste hier raus.

»Athul, so warte doch!«

In Athuls Kopf hallten die Worte des Großvaters nach, als er die Tür aufriss und ins Freie stürmte. Gierig atmete er die frische Luft ein. Seine Hände zitterten. Ihm war elend zumute.

Olgard war ihm nachgeeilt und berührte mit der Hand seine Schulter. »Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht so bedrängen dürfen. Komm bitte wieder ins Haus.«

Athul drehte sich zu ihm um. Dabei fiel sein Blick auf das gelbliche Pergament, welches aus Olgards Hosentasche herausragte.

Olgard registrierte die Verwirrung in Athuls Blick und schien zu begreifen. Mit trauriger Miene packte er in die Tasche und holte den Brief von Elgorath hervor.

Panik ergriff Athul. Was sollte er nur machen? Er ertrug diese Konfrontation nicht mehr. Eine Welle aus Selbstmitleid und Scham überkam ihn und er rannte einfach los, weg vom Haus. Olgards flehende Rufe verloren sich hinter ihm im Rauschen des Windes.

Immer wieder sah Athul das Bild seines Großvaters vor sich. Wie sollte er ihm je wieder unter die Augen treten können? Er hatte das Vertrauen seines Großvaters missbraucht – den Brief gelesen und diesen ihm vorenthalten.

Ziellos lief er durch die Straßen, bis seine Lungen brannten und die Beine müde wurden. Erschöpft ließ er sich an einer kleinen Mauer niedersinken, um zu verschnaufen. Vorbeieilende Menschen nahm er nur als Schemen war. Er hatte das Gefühl, als würden sie ihn strafend anstarren.

Allmählich beruhigte er sich wieder und sein Verstand klarte auf. Unsicher beobachtete er eine Gruppe von Frauen, die ihn passierte.

Redeten sie etwa über ihn? Er war sich nicht sicher, doch er meinte, den Namen Ernest als Gesprächsfetzen vernommen zu haben. Hatte Umgad bereits damit begonnen, jedem zu erzählen, dass Athul Ernest ermordet hatte?

Athul sprang auf. Es gab nur einen Ort, an dem er jetzt sicher war. Ein Ort, an dem ihn niemand finden würde.

Mit neu gewonnener Kraft lief er los. Er ließ schmale Nebengassen hinter sich, lief an den Wohnvierteln vorbei, über die Felder, bis er das vom Wind getragene Rauschen des Waldes vernahm. Hier würde er endlich Zeit zum Nachdenken finden. Dieser Gedanke beflügelte ihn, und er beschleunigte seine Schritte noch einmal. Er hatte den Wald beinahe erreicht, als er eine Stimme wahrnahm.

»Schau mal, wer da kommt.«

Erschrocken fuhr Athul herum. Auf einem kleinen Pfad erkannte er Anrik und dessen Freunde. Unschlüssig, wie er reagieren sollte, starrte er die Gruppe an.

»Wo willst du denn so schnell hin?«, schrie ihm Anrik entgegen.

Athul antwortete nicht.

»Hab das mit dem Bauernjungen gehört«, fuhr Anrik hämisch fort. »Da hast du ja saubere Arbeit geleistet. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

Nur noch wenige Schritte trennten die jungen Burschen voneinander.

»Lass mich zufrieden«, stieß Athul erregt hervor. Überrascht über seinen Mut, verfluchte er sich gleichermaßen für diese dumme Vorwitzigkeit.

»Ha! Habt ihr das gehört?«, lachte Anrik verächtlich auf und ging auf Athul zu: »Schlägst du mir dann auch den Schädel ein?«

»Vielleicht tue ich das!« Athuls Herz raste. Was war nur in ihn gefahren?

Anrik schaute ihn abschätzend an. Anscheinend war er sich nicht sicher, ob Athul tatsächlich eine Gefahr darstellte.

»Solltest lieber aufpassen, was du sagst«, fuhr er ihn wütend an. »Du weißt, wer mein Vater ist!«

»Dann solltest du lieber zu ihm laufen, bevor noch etwas Schlimmes passiert.« Zu seiner Verwunderung zeigten die Worte Wirkung bei seinem Gegenüber.

»Ach, das wird mir zu blöd!«, sagte Anrik an seine Freunde gerichtet. »Ich hab Besseres vor, als mich mit so einem Versager herumzuärgern. Kommt, wir gehen.«

Ohne Widerrede schlossen sich Anriks Freunde ihrem Wortführer an und verschwanden.

Mit einem Mal begann Athuls Körper zu zittern. Ein Strom der Erleichterung durchfloss ihn und er musste sich zusammenreißen, nicht laut aufzulachen.

Er atmete noch einen Moment durch, dann setzte er seinen Weg fort.

Der Frühling hatte seine volle Blüte entfaltet und das Laub der Bäume gedieh prächtig. Es ließ das Sonnenlicht nur spärlich durchscheinen und verwandelte den Waldboden in ein dämmriges Grün.

Athul erklomm den hügeligen Pfad, kämpfte sich durch dichtes Gestrüpp und erreichte schließlich seine kleine Lichtung. Dort ließ er sich auf einem Baumstumpf nieder. Nach der Begegnung mit Anrik fühlte er sich mit einem Mal stark und zuversichtlich. Er wusste noch nicht wann und wie, aber er würde mit seinem Großvater sprechen und ihm alles erklären.

Schließlich war der Tod von Ernest ein Unfall gewesen! Selbst wenn sein Stein etwas damit zu tun haben sollte, so hatte er ihn nicht wissentlich benutzt. Außerdem lag er nun in der Schublade, weit von hier entfernt, an einem sicheren Ort. Athul entschied, den Stein auf gar keinen Fall mehr bei sich zu tragen - wie es Elgorath von ihm verlangt hatte.

Athul stieß einen Stoßseufzer der Erleichterung aus und lenkte sich ab, indem er einer Ameisenkolonne am Boden zusah. Plötzlich kam ihm Neliah in den Sinn.

Wie stand sie zu alledem? Ob sie ihn auch verurteilte? Er sah ihr wunderschönes Gesicht vor sich, vor Grauen über den Tod ihres Freundes bleich geworden.

Athul seufzte. Dann kroch er auf allen vieren zu einem Busch. Mit beiden Händen griff er in das dichte Blätterwerk. Ein Kästchen kam zum Vorschein.

Er setzte sich und legte die kleine Holzschatulle auf die Oberschenkel. Feine Verzierungen waren in den Deckel geschnitzt. Die Schatulle und ihr Inhalt hatten vor vielen Jahren seinem Vater gehört. Letzte Überbleibsel aus einem vergangenen Leben.

Athul öffnete die kleine Kiste. Neben drei Holzfiguren lag ein kleines Messer. Athul holte es heraus. Prüfend wog er es in der Hand. Ob es Neliah wohl gefallen würde, wenn er ihr eines ihrer geliebten Pferde damit schnitzte? Mit einem Lächeln auf den Lippen legte er die Schatulle beiseite und holte ein massives Stück Holz aus dem Dickicht hervor. Dann begann er, mit dem Messer das Holz zu bearbeiten. Langsam zeichneten sich Konturen ab, ein kleines Kunstwerk entstand. Ob er den Mut aufbringen und Neliah sein Werk als Geschenk überreichen würde, wusste er zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Aber immerhin lenkte die Schnitzerei ab und beruhigte ihn.

10
Ein Feuer in der Nacht

In den nächsten Wochen ging es mit Athul stetig bergauf. Das Leben im Dorf schien sich zu normalisieren und es wurde kaum noch über ihn gesprochen. Anscheinend war es für die meisten Bewohner im Dorf letztendlich nicht interessant genug, darüber nachzudenken, ob Athul etwas mit dem Tod von Ernest zu tun hatte. Es gab keine Beweise und es gab keine Aussagen. Niemand sah einen Grund darin, warum Athul Ernest hätte umbringen sollen. Also musste man von einem Unfall ausgehen und die Sache auf sich beruhen lassen.

Das abschließende Gespräch mit seinem Großvater stand zwar immer noch aus, doch normalisierte sich ihr ansonsten stets vertrautes Verhältnis von Tag zu Tag. Wahrscheinlich spürte auch Olgard die positiven Veränderungen an seinem Zögling.

Ernest war längst zu Grabe getragen worden. Athul hatte es nicht fertiggebracht, an der Beerdigung teilzunehmen. Er war sich sicher gewesen, dass seine Anwesenheit nicht erwünscht worden wäre. Somit war er der Beerdigung ferngeblieben. Dem Vater von Ernest war es mit Sicherheit recht gewesen.

Athul fragte sich, ob Neliah bei der Beerdigung gewesen war. Vor zwei Tagen hatte er sie das erste Mal seit dem Unglück wieder gesehen. Doch sie hatte ihm nur einen kurzen Blick zugeworfen und war dann schnell weitergegangen. Anscheinend wollte sie den Mantel des Schweigens über ein tragisches Ereignis ausbreiten und somit das Geschehene auf ihre Art und Weise für sich verarbeiten.

Athuls Hand fuhr in die Hosentasche. Sein Großvater hatte ihm einen kleinen Zettel mitgegeben. Er sollte einige Besorgungen auf dem Markt tätigen. Es war bereits spät geworden und die ersten Händler begannen, ihre Stände abzubauen. Mit zügigen Schritten eilte Athul über den Markt und hakte Punkt für Punkt auf der Liste ab. Bis auf wenige Kleinigkeiten bekam er alles, was Olgard derzeit benötigte.

Mit zwei prall gefüllten Beuteln verließ Athul den großen Platz und machte sich auf den Heimweg. Dieser zog sich und die Lasten schienen immer schwerer zu werden. An einer Häuserecke gönnte er sich einen Moment der Ruhe und stellte die Tragetaschen ab. Die Sonne war mittlerweile nur noch als heller Streifen am Horizont zu erkennen und die Dämmerung hatte bereits den größten Teil der Siedlung verschlungen.

Er atmete noch einmal tief durch und wollte gerade weiter, als er plötzlich das Geräusch sich rasch nähernder Schritte vernahm.

Instinktiv drehte er sich um und schaute entsetzt in das aufblitzende Metall eines Messers. Reflexartig duckte er sich zur Seite. Die scharfe Klinge verfehlte sein Gesicht nur um Zentimeter.

»Was ...?«, stieß er panisch hervor und ließ den Satz unvollendet. Katzenhaft und erschrocken zugleich wich er nach hinten aus.

Die Gestalt vor ihm fluchte und packte zu. Das Gesicht des Fremden war von einer dunklen Kapuze verhüllt. Mit festem Griff krallte sich die Hand des Angreifers schmerzhaft um Athuls Arm. Der Fremde hob erneut das Messer und zielte in einer Abwärtsbewegung auf Athuls Brust. Gerade noch rechtzeitig schaffte es Athul, sich aus der Umklammerung zu entwinden und der zustoßenden Klinge ein zweites Mal auszuweichen.

Sein Puls raste. Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Er bewegte sich zwei Schritte rückwärts, von seinem Angreifer weg, um in Windeseile einen Fluchtplan zu schmieden. Der Fremde umkreiste ihn derweil wie ein zum Sprung bereites Raubtier.

»Du dreckiger kleiner Bastard«, schleuderte er Athul entgegen. »Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht einfach davonkommen lasse!«

Athul erkannte trotz der Vermummung, wessen Stimme da sprach. Es war Umgad, Ernests Vater.

In Athuls Angst mischte sich nun Wut. Wieso konnte ihn der Mann nicht einfach in Frieden lassen? Als läge die Antwort in Athuls Hosentasche, fuhr seine Hand entgegen jeglicher Vernunft dort hin und stieß auf einen Gegenstand.

Der Stein!

Wie konnte das sein? Er hatte ihn seit Wochen nicht mehr angerührt. Oder doch? Auf einmal war Athul sich nicht mehr sicher. Entschlossen beförderte er den Stein zutage und ballte eine Faust. Während er versuchte, sich zu erinnern, begann seine Hand rot zu glühen.

Verwundert hielt der Bauer inne und starrte ihn an. »Was ... was ist das?« Seine Stimme war nun nicht mehr die eines Angreifers. Sie wirkte unsicher, ratlos, fast panisch.

Athuls Faust nahm die Farbe von schmelzendem Eisen an. Kleine Flammen loderten zwischen den Fingern hervor und bildeten eine Corona. Entsetzt registrierte Athul den unheimlichen Vorgang, ohne dabei Schmerzen zu verspüren.

Umgad machte einen Schritt zurück. Seine Kapuze rutschte in den Nacken und legte ein sorgenvoll blickendes Antlitz frei. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und das Gesicht schien sich im Flackern des Feuers rot zu verfärben.

»Was ist das für ein Spuk? Was bist du?«

Athul konnte nicht antworten. Er war in sich selber gefangen und konnte keinen Einfluss auf das Spektakel nehmen. Wie paralysiert blickte er auf seine Faust und sah dabei zu, wie Kraft des Steines Feuerstrahlen gen Boden fielen und sich wie windende Schlangen ihren Weg in Richtung Umgads knöchellanger Kleidung suchten.

Der Bauer öffnete ungläubig den Mund. Kein Ton drang aus seiner Kehle. Auch er war paralysiert, vor Entsetzen gelähmt und unfähig davonzulaufen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er panisch auf den Boden, wo die kleinen Feuerwalzen dankbar an seinem Umhang zündelten und sich rasend schnell emporfraßen. Binnen Sekunden war Umgad eine einzige lodernde Fackel, ein regungslos dastehender Kandidat für einen grausamen Tod. Sein lautloser Schrei ging unter im Knistern des Feuers, welches in rasanter Geschwindigkeit den Stoff von der Haut und die Haut von den Knochen brannte.

Athul konnte das von Schmerz und Todesangst verzerrte Gesicht des Bauern nur noch erahnen, während das Feuer seine morbide Schönheit entfachte und Ernests Vater bei lebendigem Leib verbrannte.

Athul empfand den Anblick verstörend und faszinierend zugleich, eine Impression von schauriger Schönheit. Ohne jegliche Vorstellung von Zeit und Raum blickte er gebannt auf den Sterbenden, der sich im Todeskampf nicht einen Millimeter von der Stelle bewegte, sondern wie angebunden am Pfahl eines Scheiterhaufens stand und als menschliche Fackel endete.

Als es vorbei war, kündeten nur noch beißender Gestank und grausam entstellte menschliche Überreste von dem unerklärlichen Vorfall.

Athul schien aus einer Trance zu erwachen und blickte abwechselnd angewidert zu Boden und auf seine Hand. Der Stein darin fühlte sich warm an. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Handinnenfläche schwarz und voller Brandblasen war. Seltsamerweise verspürte er nicht den geringsten Schmerz.

Athul konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles drehte sich vor ihm. Fragen über Fragen jagten wie weit verästelte Blitze durch seinen aus den Fugen geratenen Gedankenkosmos.

Was hatte er getan?

Warum musste Umgad sterben?

Was ist das für ein Stein?

Hatte man ihn beobachtet?

Was würde nun geschehen?

Niemand war zu sehen. Athul blickte wie ein gehetztes Tier auf den dunklen Stein. Eine Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Hammers: Elgorath hatte die Wahrheit gesagt! Eine zweite Erkenntnis wog dabei nicht minder schwer: Athul hatte Umgad nicht töten wollen, aber dennoch war es geschehen. Doch hatte er sich nicht nur verteidigt?

Athul war hin- und hergerissen. In ihm kämpften zwei Empfindungen, blankes Entsetzen über seine Tat und abstoßender Hass dem Bauern gegenüber.

Athul schaute sich um. Mittlerweile war die Dämmerung der Dunkelheit der Nacht gewichen. Er war noch immer alleine auf dem Weg. Der Stein wanderte wie ferngelenkt mittels seiner Hand in die Hosentasche. Athul hatte keine Ahnung, warum er das mörderische Ding nicht einfach zur Seite in den Staub warf. Statt darüber nachzudenken, packte er die Besorgungen für Olgard zusammen und rannte einfach los, nur weg von diesem schrecklichen Ort.

»Wo warst du wieder so lange?«, wurde Athul von Olgard empfangen, als er endlich zu Hause angekommen war. »Der Markt ist bereits seit Sonnenuntergang geschlossen. Du weißt, dass ich mir Sorgen mache!«

Athul überlegte und wusste nicht, was er antworten sollte. In den vergangenen Wochen hatte er sein Versprechen, vor Anbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen, immer eingehalten. Ob er seinem Großvater erzählen sollte, was geschehen war? Er entschied sich dagegen, um Olgard nicht zu beunruhigen.

»Ich habe mir Zeit gelassen, die Einkäufe waren schwer. Ihr seht, nichts Besonderes. Kein Grund zur Sorge, Großvater.«

»Wirklich?« Olgards Blick drückte Besorgnis aus.

Später am Abend setzen sich beide gemeinsam an den Esstisch. Olgard hatte einen herrlich duftenden Auflauf gebacken. Athul saß seinem Großvater schweigend gegenüber und aß mit mäßigem Appetit. Noch immer spukten die Bilder des Bauern in seinem Kopf herum. Langsam ließ er das Besteck sinken.

»Es tut mir leid, Großvater. Aber ich habe heute keinen großen Hunger. Ich bin müde und werde wohl lieber zu Bett gehen.«

Nachdenklich blickte Olgard ihn an und nickte. Während Athul aufstand, bemerkte er den Blick seines Großvaters, der auf seine Handfläche gerichtet war.

»Athul? Was ist mit deiner Hand?«, fragte dieser besorgt.

»Das ist nichts!«, stieß Athul hervor, zögerte einen Moment und fügte erklärend hinzu: »Ich habe mich an einem Stück Gebratenem verbrannt. Ich hatte es mir auf dem Markt gekauft. Wahrscheinlich habe ich auch deswegen keinen Hunger.«

Ohne dass Olgard weiter nachforschen konnte, verschwand Athul in seinem Zimmer.

»Gute Nacht, Großvater!«

»Gute Nacht, mein Junge!«

Athul lag in dieser Nacht noch lange wach und rieb sich die Hand. Die Verletzung war alles andere als eine harmlose Verbrennung, auch wenn noch immer kein Schmerz zu spüren war. Olgard war bestimmt stutzig geworden und somit war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Athul alles erzählen musste. Aber nicht jetzt und nicht hier.

Etwas ging mit ihm vor, das spürte er, doch hatte er die Kraft dagegen anzugehen? Er fühlte sich leer, machtlos diesen neuen Gefühlen ausgeliefert.

Er hatte heute den qualvollen Tod eines Menschen mit ansehen müssen und diesen verschuldet. Dennoch quälten ihn keinerlei Schuldgefühle. Athul nahm es zur Kenntnis und drehte sich auf die Seite, bevor er vor Müdigkeit einschlief.

Der Stein in seiner Hand fühlte sich gut an.

11
Schuldig

Am nächsten Morgen wurde Athul von lautem Klopfen unsanft geweckt. Verschlafen richtete er sich auf und horchte.

»Guten Morgen mein Guter«, erklang die Stimme des Stadthalters. »Sagt, ist Euer Junge auf? Wir müssen dringend mit ihm sprechen!«

Wie vom Donner aufgeschreckt war Athul auf den Beinen und starrte durch den schmalen Spalt seiner Zimmertür in die Wohnstube zum Eingang. Sein Großvater stand im Türrahmen, den Eintritt höflich versperrend. Ein kurzer Seitenblick erfasste Athul, der flehend das Gesicht verzog.

»Es tut mir leid, Herr Stadthalter. Da müssen Sie sich wohl zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu uns bequemen. Mein Junge schläft noch und ich werde ihn nicht wecken. Vielleicht kann ich Euch weiterhelfen? Worum geht es, wenn Ihr mir diese Frage gestattet?«

»Nun, wir sind hier, um Athul einige Fragen zu stellen. Aufgrund der Ereignisse vor einigen Wochen und besonders der Vorkommnisse von letzter Nacht.« Er ließ eine bedeutungsschwangere Pause folgen. »In den frühen Morgenstunden wurde die entstellte Leiche des Bauern Umgad gefunden.«

Sie wussten es! Eiskalt traf Athul die Erkenntnis. Was hatte er auch erwartet? Hatte er wirklich geglaubt, damit durchzukommen? Einen Lysten zu töten ohne Konsequenzen?

»Nun«, fuhr der Stadthalter fort. »Es ist so: Euer Junge wurde gestern Abend am Markt gesehen und die Stelle, an dem der Bauer gefunden wurde, liegt auf Athuls Heimweg. Dann noch die ganzen Gerüchte und Ereignisse der letzten Zeit ...«. Der Stadthalter machte eine Geste Richtung Himmel und fuhr dann fort. »Versteht mich bitte nicht falsch. Ich gebe nichts auf derlei Geschichten, doch ist es Fakt, dass Umgad Eurem Jungen in aller Öffentlichkeit drohte, ihn für den Tod seines Kindes verantwortlich machte. Und nun ist Umgad tot«.

Der Tonfall des Stadthalters ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er sein Urteil bereits gefällt hatte. Athul mutmaßte, dass er von Olgard wahrscheinlich die gleiche Reaktion erwartete.

»Ich denke, ich habe genug gehört. Kommt später wieder, wenn der Junge wach ist. Dann könnt Ihr ihn in Ruhe befragen.« Mit ernster Miene legte Olgard seine Hand auf den Türgriff und schloss hastig die Tür.

Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schaute zunächst nachdenklich auf den Boden. Anschließend hob er langsam den Kopf und schaute in Athuls Richtung, dem Zimmer entgegen.

Athul öffnete nun ganz die Tür und versuchte, den Blicken seines Großvaters auszuweichen.

»Ich werde nicht voreilig urteilen, mein Junge. Doch verrate mir Folgendes: Hast du etwas mit den Geschehnissen zu tun?«

Athul schluckte. Was wollte Olgard denn hören? Etwa: Ja, ich habe ihn getötet. Und weißt du was, Großvater? Es tut mir überhaupt nicht leid!

Nein, so funktionierte das nicht. Das konnte Athul ihm nicht sagen. »Was glaubt Ihr denn, Großvater?«, stellte Athul deshalb trotzig die Gegenfrage.

»Ich weiß nicht.« Der Blick des Alten brach sich in Traurigkeit. »Ich dachte immer, ich würde dich kennen, doch die letzte Zeit gibt mir immer mehr Rätsel auf.«

»Dann scheint Ihr Euer Urteil bereits getroffen zu haben«, versetzte Athul verächtlich.

»Nein!«, sagte der Alte mit Nachdruck. »Ich bin auf deiner Seite. Glaube nicht, dass ich dich einfach aufgeben werde.«

Athul seufzte schwer. »Ich habe wirklich nichts mit den Ereignissen zu tun.« Kaum hatte er es ausgesprochen, verfluchte er sich für die dreiste Lüge.

Olgard nickte, doch der zweifelnde Blick sprach Bände.

Betretenes Schweigen trat ein, bis es Athul war, der die Stille brach.

»Danke, Großvater, dass Ihr mich vor dem Stadthalter in Schutz genommen habt. Nur was soll ich machen, wenn er wiederkommt?«

»Du sagst ihm, was du auch mir erzählt hast. Wenn du mit den Ereignissen nichts zu tun hast, dann wird man dir glauben müssen. Mach dir also keine Sorgen.« Olgard wirkte mit einem Mal sehr aufgeräumt. Jegliche Freude schien aus seinem Herzen gewichen zu sein. »Ich werde dich unterstützen und nicht zulassen, dass man dir Unrecht antut.« Mit diesen Worten dreht er sich zur Seite und widmete sich häuslichen Dingen in der Küche. Athul lächelte währenddessen gequält und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf.

Am späten Nachmittag war es soweit. Wieder hämmerte es gegen die Tür. Von draußen war mehrstimmiges Gemurmel zu hören.

»Schönen guten Tag, die Herrschaften«, begrüßte Olgard den Stadthalter und seine Begleiter mit übertrieben freundlicher Stimme.

Die Reaktion des Stadthalters war ein frostiges Lächeln. Ihm schien nicht der Sinn nach Freundlichkeit zu stehen. »Ist Athul nun zu sprechen?«, fragte er ohne weitere Umschweife.

»Oh, ja natürlich. Wie ich bereits heute Morgen sagte ...«

Der Stadthalter fiel Olgard ins Wort: »Dann habt Ihr sicherlich nichts dagegen, wenn wir eintreten.«

Mit diesen Worten schob er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, an Olgard vorbei ins Haus. Dieser machte einen Schritt zur Seite und ließ die nachfolgenden Männer eintreten.

Athul saß auf einem kleinen Hocker im Wohnraum und schaute den ungebetenen Gästen entgegen. Dem Stadthalter folgten zwei Gardisten und außerdem zwei weitere Männer, die Athul sofort als Verkäufer vom Markt wiedererkannte.

Der Stadthalter blickte seinerseits Athul unverhohlen ins Gesicht. Ohne sich umzuwenden sagte er an Olgard gerichtet: »Ich denke, es ist besser, wenn Ihr uns zunächst alleine mit Athul sprechen lasst.«

Athul schaute unsicher zu seinem Großvater.

»Nein!«, entgegnete dieser. »Es wäre nicht richtig, wenn fünf Personen auf einen einzelnen Jungen einreden, ohne dass dieser einen Fürsprecher an seiner Seite hat.«

»Nun gut, dann werden wir uns gemeinsam hinsetzen und das hier über die Bühne bringen«, lautete die zähneknirschende Antwort des Stadthalters.

Olgard holte rasch weitere Stühle aus der Küche. In Windeseile wurde es eng am Tisch und fünf Augenpaare waren auf Athul und seinen Großvater gerichtet. Mit ernster Miene wendete sich der Stadthalter Athul zu.

»Nun, mein Junge. Ich nehme an, dein Großvater hat dich bereits darüber unterrichtet, warum wir heute hier sind?«

»Ja, doch ich weiß nicht, wie ich Euch behilflich sein könnte«, antwortete Athul mit fester Stimme.

»Sage mir, Athul, warst du gestern auf dem Markt? Gegen Abend?« Der Blick des Stadthalters war bohrend.

»Das ist richtig. Ich habe einige Besorgungen für meinen Großvater gemacht.«

Olgard nickte zustimmend.

»Und anschließend führte dich dein Weg über die Hauptstraße nach Hause?«

»Nicht direkt«, entgegnete Athul. »Ich lief noch durch die Straßen, um etwas Luft zu schnappen.«

»Ombrusch«, der Stadthalter wandte sich an einen der Händler, »sagtet Ihr nicht, dass Ihr gesehen habt, wie der Junge den Markt verließ?«

Der Händler räusperte sich und drückte seine Brust raus, um damit die nun folgende Bedeutsamkeit seiner Aussage zu unterstreichen. Für einen Moment war er die wichtigste Person im Raum und dies genoss er sichtlich. »Ähem, in der Tat. Ich sah den Burschen, wie er mit zwei schweren Taschen den Markt in Richtung Ostbrücke verließ. Auf der Hauptstraße, wie ich ergänzend erwähnen möchte!« Den letzten Satz betonte er überdeutlich, sodass jedermann verstanden hatte.

Athul hörte mit wachsender Unruhe zu. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken.

»Aber fahren wir fort, Athul«, sagte der Stadthalter und fixierte ihn mit einem strengen Blick. »Ist dir auf deinem kleinen Spaziergang etwas aufgefallen?«

Athul war sich im Klaren darüber, worauf die Frage des Stadthalters abzielte. Doch würde dieser keine Antwort bekommen.

»Hast du vielleicht ein helles Licht in der Nacht bemerkt? Ein flackerndes Etwas? Ein Feuer gar?«

Athul schüttelte den Kopf.

Der Stadthalter lehnte sich zurück und trommelte mit seinen Fingern auf der Tischplatte. Athul konnte förmlich spüren, welche Frage sich nun hinter der Stirn des Mannes zusammenformte. »Ist dir auf deinem Weg jemand begegnet? Vielleicht der Bauer Umgad?«

Athul wurde kalt und heiß zugleich. Das Gefühl aufsteigender Panik griff nach ihm. Mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck saß er da und kämpfte gegen den inneren Wunsch an, dieses Gespräch an Ort und Stelle zu beenden.

»Athul?«, bohrte der Stadthalter nach.

Wieder und wieder musste Athul an den dunklen Stein denken und die Macht, die er ihm verlieh. Der Stein besaß Kräfte, welche sich die hier versammelten Männer nicht einmal im Entferntesten vorstellen konnten. Olgard nicht, die Marktverkäufer nicht, die Gardisten nicht und selbst ein mit juristischer Macht ausgestatteter Stadthalter nicht, der für seine persönliche Karriere wahrscheinlich über Leichen ging und Athul als Bauernopfer einem nach Gerechtigkeit gierenden Mob präsentieren würde.

Kurz spielte Athul mit dem Gedanken, den Stadthalter und seinem Gefolge die Macht des Steines spüren zu lassen und dem Ganzen ein Ende zu setzen. Doch stattdessen unterdrückte er diese verlockende und zugleich schlimme Vorstellung und antwortete mit ruhiger und sicherer Stimme: »Ich habe weder das eine noch das andere bemerkt. Die Nacht war dunkel und ich kümmerte mich nicht um andere Dinge. Somit kann ich Euch nicht mehr sagen, als dass ich nichts bemerkt habe und daher auch nichts über die gestrige Nacht und ihre Ereignisse zu erzählen weiß.«

Nachdenklich nestelte der Stadthalter an seinem Kinn. »Hmh, du hast also nichts bemerkt? Überhaupt nichts?« Enttäuscht schüttelte er den Kopf. »Ich muss zugeben, dass ich mir mehr von diesem Gespräch erhofft hatte. Aber da scheint mich mein Gefühl wohl getäuscht zu haben.« Er machte eine Geste, woraufhin sich alle erhoben. »Nun denn, dann danke ich dir für deine Aussage. Jedermann gilt solange als unschuldig, bis jemand anderes das Gegenteil bewiesen hat. Hoffen wir, dass du uns die Wahrheit gesagt hast und Umgads Tod eine Ursache hat, die mit dir nicht das Geringste zu tun hat«. Dann streckte er Athul zum Abschied die Hand entgegen.

Athul war erleichtert und verwirrt zugleich. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell vorbei sein würde. Andererseits hatten die Männer auch nichts gegen ihn anzuführen. Keine Augenzeugen, keine sonstigen Beweise. Und wegen Gerüchten und Tratscherei konnte man niemanden für etwas verurteilen.

Ohne weiter darüber nachzudenken, erwiderte Athul den Abschiedsgruß des Stadthalters. Zwei Hände suchten und fanden sich - eine unversehrte und eine mit einer hässlichen Brandwunde.

Sofort bemerkte Athul seinen Fehler. Er hoffte inständig, dass sein Gegenüber nichts bemerkte. Wie ein Schraubstock wirkte die Pranke des Mannes auf Athuls Hand ein. In Sekundenbruchteilen trat ein schimmernder Schweißfilm auf seine Stirn. Die Zeit schien stillzustehen. Eine Ewigkeit kreuzten sich die Blicke des ungleichen Paares. Athul meinte, in den Augen des Stadthalters ein tödliches Wissen aufblitzen zu sehen. Oder Überraschung. Oder Genugtuung. Jedenfalls war es eine gefährliche Situation. Seine Gedanken lieferten sich wie vollbeschriebene Pergamentschiffe auf einem reißenden Fluss einen wilden Ritt. Im Nu konnte das Spiel zu Ende sein und der Fall in die Tiefe drohen. Athul wusste nicht ein und nicht aus.

»Mein Junge, du wirkst etwas nervös. Mag vielleicht an diesem Menschenauflauf hier liegen. Aber wie ich vorhin sagte: Man ist so lange unschuldig, bis jemand das Gegenteil beweist.« Dann beugte sich der Stadthalter hinunter und flüsterte in Athuls Ohr, unhörbar für die Umstehenden: »Und da ich nicht weiß, was gestern Nacht geschehen ist, gilt das auch für dich. Aber sei dir gewiss, ich werde herausfinden, wer für Umgads Tod die Schuld trägt.«

Noch Minuten später – die Besucher hatten längst das Haus verlassen – hallten die letzten Worte in Athuls Kopf nach. Apathisch wanderte sein Blick hinab auf die Handinnenfläche. Die deutlich sichtbare Verletzung würde bestimmt eine hässliche Narbe hinterlassen. Aber das war Athuls geringstes Problem. Die quälende Frage war, ob der Stadthalter beim Händedruck etwas gespürt hatte.

Bei dieser Vorstellung lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Wenn er etwas gespürt hatte, warum hatte er dann nicht reagiert? Konnte dies irgendeinen bestimmten Grund haben? Und wenn ja, welchen?

Fragen über Fragen, die Athul Kopfschmerzen bereiteten. Was sollte er also nun tun? Alles schien ihm zu entgleiten.

Athul schaute zu Olgard auf, der ihn nur schweigend ansah. Sein Bauch verkrampfte sich und der Blick wurde traurig. Der arme alte Mann. War er nicht immer für ihn da gewesen? Unterstützte er ihn nicht selbst in dieser schweren Zeit? Und doch konnte Athul sich ihm nicht anvertrauen. Er war alleine. Er hatte den Stein an sich genommen und dieser hatte ihm Macht geschenkt. Er wollte sie nicht mehr zurückweisen und er durfte nicht zulassen, dass sie in Gefahr geriet. Doch vorerst, so dachte er, wäre es sicherer, den Stein nicht bei sich zu tragen.

Wortlos kehrte er seinem Großvater den Rücken zu und verschwand in seinem Zimmer. Olgard hingegen stand regungslos da und wirkte seltsam entrückt und von Trauer erfasst. Ein feuchter Glanz lag in seinen Augen.

12
Erkenntnis

Was ging nur in Athul vor? Immer wieder beschäftigte Olgard diese Frage. Das Gespräch zwischen dem Jungen und dem Stadthalter lag bereits eine Woche zurück und Athul hatte sein Zimmer seitdem kaum verlassen. Offensichtlich ging er ihm - und somit einem weiteren Gespräch – aus dem Weg.

Olgard hatte tagelang nach dem Alimanten Ausschau gehalten, nach dem dieser ihn zu seinem Jungen geführt hatte. Doch weder er noch Elgorath waren erneut aufgetaucht. Er schien von ihnen keine Hilfe erwarten zu können.

Es war die schiere Verzweiflung, die Olgard an diesem Abend vor die Tür trieb. Draußen machte sich die Dunkelheit breit und kühler Wind peitschte den Regen auf. Olgard hatte den Entschluss gefasst, dem Jungen nachzuspionieren. Er tat dies schweren Herzens.

Vorsichtig schlich er über den schlammigen Boden entlang der Häuserfassade. Zum Glück schloss das Dach nicht eben mit der Wand ab und bot ihm etwas Schutz vor dem Regen. Lautlos und mit größter Behutsamkeit wagte er sich an Athuls Fenster heran und spähte vorsichtig hinein. Durch einen kleinen Spalt zwischen den Vorhängen erhaschte er einen Blick in das Zimmer.

Athul hatte seinen Kopf zur Tür gerichtet. Er wirkte angespannt. Als er sich Richtung Bett drehte, duckte Olgard sich, um nicht gesehen zu werden. Einen Moment verharrte er in dieser Position, dann schob er sich erneut an der Wand nach oben.

Athul ließ sich auf das Bett nieder und faltete die Hände im Schoß zusammen. Apathisch starrte er eine Weile die Decke an. Olgard musste zugeben, dass er auf eine Art enttäuscht war. Eigentlich wusste er selbst nicht, was er vorzufinden gehofft hatte. Es schmerzte, seinen Jungen in dieser Verfassung zu sehen. Wenn er doch nur wüsste, wie er zu ihm vordringen konnte. Eine schiere Ewigkeit schien zu vergehen, als Athul ruckartig aufsprang. Erneut schaute er zur Tür, dann wendete er seine Aufmerksamkeit zögernd dem Nachttisch zu und ging hinüber. Er öffnete die untere Schublade. Tief griff er hinein. Sein Arm verschwand fast bis zur Schulter. Dann zog er etwas Faustgroßes und Dunkles hervor. Es war der Stein. Athul hatte ihm versichert, dass er ihn seit dem Unfall nicht mehr angerührt hatte. Offensichtlich eine Lüge.

Olgard sah, wie Athul sich wieder auf das Bett setze und den Stein in der Hand wog. Dabei bewegten sich seine Lippen kaum merklich.

Eine schmerzliche Erkenntnis traf ihn. Wenn es stimmte, was Elgorath gesagt hatte, besaß dieser Stein verborgene Kräfte. Vielleicht beeinflusste der Stein Athul. Wenn dem so war, konnte sein geliebter Junge vielleicht doch für die schlimmen Ereignisse der letzten Zeit verantwortlich sein. Der Tod von Ernest, die Verletzung an Athuls Hand, die verbrannte Leiche von Umgad – die Geschehnisse standen eventuell in einem Zusammenhang. Nachdenklich blickte Olgard in die Dunkelheit und versuchte sich einen Reim auf die seltsamen Ereignisse zu machen. Das konnte kein Zufall sein. Ihm wurde übel. Er hatte sich die ganzen letzten Wochen etwas vorgemacht, wollte seinen Jungen beschützen und nicht wahrhaben, was so offensichtlich war.

Er brauchte eine Weile, um einen weiteren folgenreichen Entschluss zu treffen. Er musste den Stein an sich bringen und ihn vernichten. Athul durfte von alldem nichts mitbekommen.

So leise, wie Olgard sich dem Fenster genähert hatte, verschwand er auch wieder.

Die Zeit des Handelns war gekommen.

13
Überraschender Besuch

Athul hatte es sich auf einem Stuhl im Wohnraum vor dem großen Fenster bequem gemacht. Gedankenverloren schaute er den Regentropfen zu, wie sie sanft in die Pfützen vor dem Haus eintauchten und winzige Kronen aus Wasser bildeten, die dann unscheinbar zerbrachen und kaum wahrnehmbare Ringe auf der Oberfläche hinterließen.

Wie schnell sich doch alles veränderte, dachte Athul. Die Zeit der Unbeschwertheit vor der Entdeckung des Steines erschien ihm in weite Ferne gerückt. Eine Ewigkeit musste seit dem vergangen sein. Wie oft hatte er hier gesessen und sehnsüchtig Neliah beobachtet. In diesem Moment spürte er, dass sie noch immer tief in seinem Herzen war. Jeder Gedanke an sie schmerzte. Es war viel geschehen und er wollte lieber nicht wissen, was sie nach all den Ereignissen über ihn dachte.

Nach dem Vorfall mit Ernest und Umgad spürte er aus der Distanz die Angst und die Verachtung, mit der ihn die Dorfbewohner straften.

Seit einer Woche war er nicht mehr aus dem Haus gegangen, einerseits aus Furcht davor, er könnte dem Stadthalter begegnen; andererseits aus Vorsicht, um nicht noch mehr Unheil anzurichten. Seinem Großvater log er vor, er fühle sich nicht gut - was nicht vollkommen aus der Luft gegriffen war, denn wohl fühlte er sich ganz sicher nicht.

»Ich bin einige Besorgungen machen«, hörte er Olgard sagen. Athul quittierte es mit einem wortlosen Nicken und sah ihm durch das Fenster nach, wie er durch den anhaltenden Regen verschwand.

Die Stunden verstrichen ereignislos und Athul blickte weiterhin stumpfsinnig aus dem Fenster. Plötzlich blinzelte er, als draußen eine Silhouette aus dem grauen Schleier auf das Haus zukam.

Die Silhouette nahm langsam Form an. Der weite Mantel, in den sie gehüllt war, ließ eine düstere Ahnung in Athul aufkeimen.

Er wurde unruhig und musste an Elgorath denken. Zugegeben, die Gestalt wirkte kleiner, doch war es dunkel und die einzige Begegnung der beiden lag bereits viele Wochen zurück.

Athuls Gedanken begannen zu kreisen. War dies Elgorath? Hatte er nicht angekündigt, zurückzukehren, um den Stein an sich zu nehmen? Hass erfüllte Athul. Dies durfte er nicht zulassen.

Noch unschlüssig, was er tun sollte, erhob er sich und machte einen Schritt auf sein Zimmer zu.

Es klopfte an der Vordertür.

Er ballte seine Hände zu Fäusten und verharrte in der Bewegung.

Es klopfte erneut.

Athul wollte unter keinen Umständen Elgorath in sein Heim lassen. Langsam drehte er sich herum und starrte zur Eingangstür. Kein weiteres Klopfen - stattdessen sah Athul, wie sich ein dunkler Schatten an der Fensterscheibe entlang schob.

Kurz meinte er, im fahlen Licht, das nach außen drang, zwei Augen erblickt zu haben, als er auf einmal eine Stimme vernahm. Doch sie stammte nicht von Elgorath, auch war sie ihm nicht fremd. Es war eine wohltuende Stimme, die er lange vermisst hatte. Sie war weiblich und klang wunderschön. Es war Neliah.

»Athul? Bist du da? Ich muss mit dir sprechen.«

Sein Herz raste. Er spürte ein wechselndes Gefühl von Freude und Angst. Freude deshalb, weil er sie so lange nicht mehr gesehen hatte und sich der angenehmen Berührung ihrer Hand erinnerte. Und Angst, weil er befürchtete, sie würde ihn zur Rede stellen, zurückweisen, Vorwürfe machen, mit ihm für immer brechen.

Vorsichtig öffnete er die Tür. Wie gelähmt starrte er Neliah an. Sie war wunderhübsch. Er war unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

»Hallo, Athul«, unterbrach Neliah die Stille. »Lässt du mich hinein?«

Athul brauchte eine halbe Ewigkeit, um etwas zu erwidern. Mehr als ein stummes Nicken kam nicht dabei raus.

Neliah lächelte und legte mit einer eleganten Bewegung ihre Kapuze in den Nacken. Beim Eintreten streifte sie ihn wie zufällig an der Schulter und achtete darauf, dass die hinablaufenden Wasserschlieren an ihrem Umhang nicht den gesamten Wohnraum in einen See verwandelten.

Wortlos gingen sie in die Küche. Athul bot Neliah einen Stuhl an. Schweigend nahmen sie gegenübersitzend Platz.

»Es ist schön, dich zu sehen«, hörte er ihre wohltuende Stimme. »Es ist so vieles passiert in der letzten Zeit. Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll. Ich meine ...«. Sie unterbrach für einen kurzen Augenblick und ihr Blick schweifte ab. »Es wird viel geredet. Doch ich will es nicht wahrhaben. Ich war dabei, als das Unglück mit Ernest geschah. Ich weiß, dass du an meiner Seite warst und dass du versucht hast, mit mir einen Ausweg aus der Höhle zu finden. Ich habe gesehen, dass es ein Unfall war. Zumindest glaube ich, es gesehen zu haben. Ich sehe diesen Tag immer und immer wieder vor meinen Augen. Und ich versuche zu verstehen, was passiert ist. Kannst du es mir sagen?« Aus ihrer Stimme klang Verzweiflung heraus.

Athul schüttelte zaghaft den Kopf. »Es tut mir leid, aber ich kann dir keine Antwort geben. So gerne ich auch würde ...« Ein tiefes Stechen durchzog seine Brust. Er konnte es nicht ertragen, sie leiden zu sehen, doch was sollte er ihr sagen? Etwa die Wahrheit?

»Ich weiß nicht mehr weiter. Und jetzt dieser schreckliche Tod von Ernests Vater. Alle scheinen zu glauben, sie wüssten, was vorgefallen ist. Doch das kann nicht die Wahrheit sein. So seltsam es vielleicht klingen mag, aber ich fühle mich dir verbunden und deswegen kann und will ich dies alles nicht glauben.«

Das Stechen wurde zu einem brennenden Schmerz. Alles drehte sich in Athuls Kopf. Es waren die Worte, auf die er schon so lange gewartet hatte und dennoch gaben sie ihm keine Erleichterung, sondern bereiteten ihm furchtbare Qualen. Die kurz aufflammende Freude über ihren Besuch wandelte sich in eine betäubende Ohnmacht.

Seine Schläfen begannen zu pochen. Er wollte nur noch, dass Neliah ging. Er konnte es nicht ertragen, sie vor sich sitzen zu sehen, in all ihrer Anmut und Lieblichkeit. Er kam sich ihr gegenüber schrecklich klein und hässlich vor, wie ein gefährliches Monster mit einem dunklen Geheimnis.

»Geh, bitte«, drang ein heiseres, kaum wahrnehmbares Flüstern aus seiner Kehle.

Neliah reagierte verstört. In ihrem Blick lag Unverständnis. Zögernd schob sie ihren Stuhl nach hinten. Fragend blickte sie ihm in die Augen und erhoffte eine Antwort.

Athul ließ sich Zeit damit. »Bitte lass mich allein. Ich kann dir nichts sagen, es geht einfach nicht. Bitte versteh mich.«

Er schien in diesem Augenblick um Jahre zu altern. Neliah hatte nicht die geringste Ahnung, was in ihm vorging. Langsam erhob sie sich und machte einen Schritt auf ihn zu. Dabei glitten ihre Fingerspitzen langsam auf seine Hand zu. Er reagierte schroff.

»Lass mich in Ruhe und geh einfach.«

Noch immer reagierte Neliah nicht.

Mit lautem Poltern knallte Athuls Stuhl gegen die Wand und krachte auf den Boden. Athul stand am Tisch. Seine Hände zitterten und seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt. Kurz holte er Luft, dann schrie er sie an: »Verschwinde endlich!«

Erschrocken und bestürzt zugleich drehte Neliah sich weg und rannte mit Tränen in den Augen und einem verständnislosen Kopfschütteln aus dem Haus.

Athul spürte alle Last dieser Welt auf seinen Schultern thronen und kauert sich in eine Ecke der Küche. Niemand hörte sein Schluchzen.

14
Ein Grund zum Handeln

Es war bereits später Abend, als Olgard heimkehrte. Als er die Tür öffnen wollte, musste er feststellen, dass diese nur angelehnt war. Eine dunkle Vorahnung erfasste ihn und er trat in banger Erwartung ein. Der Wohnraum war hell erleuchtet, doch er konnte niemanden erkennen. Schnell schloss er die Tür und durchquerte die Stube. Bestürzt blickte er in die Küche.

Athul saß zusammengesunken an der Wand. Sein ganzer Körper zitterte. Durch die offene Tür hatte sich die stark abgekühlte Nachtluft ihren Weg ins Haus gebahnt und erbarmungslos nach seinem Körper gegriffen.

»Athul? Was ist mir dir?«

Voller Sorge kniete sich Olgard neben seinen Jungen und half ihm auf. Athul war kaum ansprechbar. Vorsichtig stützte er ihn, brachte ihn in sein Zimmer und legte ihn ins Bett. Er blieb noch einige Zeit dort und beobachtete ihn, bis dieser in einen unruhigen Schlaf fiel. Dabei schaute Olgard immer wieder unsicher zu dem Nachttisch. Vielleicht könnte er dem Ganzen jetzt ein Ende setzen.

Aufgeregt näherte er sich der Schublade. Ein leises Murmeln ließ ihn aufschrecken. Athul hatte sich zur Seite gedreht, doch seine Augen waren noch immer geschlossen.

Olgard seufzte schwer und musste sich eingestehen, dass seine Nerven nicht stark genug waren, um diesen Schritt heute zu gehen.

Resigniert verließ er das Zimmer und setzte sich an den Esstisch. Erst spät in der Nacht übermannte auch ihn die Müdigkeit und er schlief auf dem Stuhl ein.

Olgard blinzelte. Wohltuende Wärme berührte seine Wange. Zaghaft öffnete er die Augen. Ein goldener Lichtschimmer zog sich durch den Raum und umspielte seine Gesichtszüge. Der Regen hatte aufgehört und die dunklen Wolken waren weitergezogen. An ihrer Stelle strahlte die Sonne mit wärmendem Morgenschein. Olgard hob langsam den Kopf vom Tisch. Sein Rücken schmerzte und er spürte, dass diese Nacht kaum Erholung für ihn gebracht hatte. Er streckte sich und fuhr mit der Hand müde durch das Haar und über die Augen. Er setzte zu einem schwachen Gähnen an, während er sich vorsichtig vom Stuhl erhob. Sein Blick fiel auf die Zimmertür seines Jungen. Sie stand offen. Er war sich sicher, sie am gestrigen Abend geschlossen zu haben. Erschrocken fuhr er herum, als er Athul bemerkte, der, mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, seitlich von ihm stand. Sie lag im Schatten, sodass Olgard ihn zunächst übersehen hatte.

»Mein Junge, hast du mich erschreckt. Seit wann stehst du denn schon dort?« Olgards Stimme wirkte unsicher.

»Ich weiß es nicht. Einige Stunden, würde ich meinen. Ich konnte nicht mehr schlafen, es war so hell in meinem Zimmer.«

Olgard hatte Mühe ihn zu verstehen, da die Antwort einem Flüstern glich. Fest entschlossen erhob sich der Alte und ging auf Athul zu.

»So geht es nicht weiter mit dir. Ich weiß nicht, was gestern geschehen ist, aber du musst endlich nach draußen. Sonst wirst du mir hier drinnen noch ganz krank.« Gespannt schaute er Athul an.

»Aber Großvater! Ihr wisst doch, dass es mir nicht gut geht.« Athul wirkte kraftlos, als er sich von der Wand abdrückte.

Olgard stellte sich ihm in den Weg. »Nein, ich werde nicht zulassen, dass du dich hier versteckst. Ich weiß, wie schwer es für dich sein muss, all diese Vorwürfe zu erfahren, aber so kann es nicht weitergehen. Du hast seit über einer Woche das Haus nicht mehr verlassen. Wo soll das hinführen, frage ich dich?«

»Ich bitte Euch Großvater, zwingt mich nicht dazu.«

Der Tonfall in Athuls Stimme beunruhigte Olgard, doch er musste endlich handeln.

»Es tut mir leid. Ich werde nicht zusehen, wie du dir selbst Schaden zufügst. Auch wenn ich dich nicht zwinge, biete ich dir an, dass du mich heute begleitest, wenn ich auf den Markt gehe. Ich habe noch einige Dinge, die ich verkaufen muss und ich könnte deine Hilfe sehr gut gebrauchen!«

Athul schien zu überlegen, wie er auf die Bitte seines Großvaters reagieren sollte. Obwohl Olgard nicht mehr damit gerechnet hätte, nickte er ihm überraschend zu.

Wortlos beschränkten sie sich auf ein einfaches Frühstück, bevor sie das Haus verließen. Athul half seinem Großvater beim Beladen des alten Viehkarrens. Die Kisten waren groß und schwer und Olgard war dankbar für Athuls Einsatz. Anschließend begaben sie sich auf den Weg zum Markt.

15
Eine unliebsame Begegnung

Athul war unwohl zumute. Das angenehme Wetter schien besonders viele Dorfbewohner vor die Tür zu locken, sodass die Straßen und Wege äußerst belebt waren. Immer wieder spürte Athul die neugierigen Blicke der anderen Lysten. Er bildete sich ein, dass sie über ihn redeten, während sie an ihnen vorüberfuhren. Olgard schien dies alles zu ignorieren. Vielleicht war er es mittlerweile auch einfach gewohnt, dass man über ihn sprach. Immerhin musste er, als sein Großvater, ebenfalls seit Wochen ein bedeutsames Gesprächsthema im Dorf sein. Athul rutschte unruhig auf der schmalen Holzbank des Viehkarrens hin und her. Er fühlte sich nackt und schutzlos.

Endlich erreichten sie den Markt. Olgard stellte den Karren in einer Seitengasse ab und schaute zu Athul.

»Warte kurz, ich muss Bescheid geben, dass ich hier bin, damit man uns die Kisten abnimmt.«

Athul schaute ihm nach. Der Gedanke, allein zurückzubleiben, missfiel ihm. Zumindest lag die Gasse in einem abgelegenen Winkel und er konnte sich weiteren neugierigen Blicken entziehen.

Es dauerte eine Weile, bis sein Großvater mit einem bulligen und kräftig gebauten Kerl zurückkam. Athul musterte ihn. Die Haut des Mannes war rissig und rau. Es musste sich um einen der Marktarbeiter handeln, wie Athul unschwer am muskulösen Körperbau erkennen konnte.

Wie es Athul vermutet hatte, packte der Mann, nach einem kurzen und grimmigen Nicken in seine Richtung, die erste Kiste und hievte sie mit zusammengekniffenen Augen vom Karren. Er stellte sie auf einen kleinen Bollerwagen, den er bei sich führte. Anschließend wiederholte er die Prozedur mit den restlichen Kisten.

Athul wendete sich von ihm ab und beobachtete derweil das Treiben vor der Gasse, immer darauf bedacht, möglichst ungesehen zu bleiben.

Schlagartig wurde Athul von einer inneren Nervosität ergriffen. Der rundliche Körper des Stadthalters schob sich behäbig zwischen den Ständen entlang.

Grinsend nickte er den Damen am Obststand zu und deutete mit der Hand auf einige Äpfel. Dabei hob er drei seiner wulstigen Finger. Sofort holte die Frau eine Tüte unter der Verkaufsfläche hervor und griff nach den Früchten. Der Kopf des Stadthalters schwenkte nach links und anschließend nach rechts, dann drehte er sich ein wenig und sein Blick fiel in die Gasse. Athuls Herz stockte. Augenblicklich rutschte er hinter den Karren und hoffte, dass er nicht gesehen worden war.

Unsicher lugte Athul über den Rand des Karren. Der Stadthalter war nicht mehr zu entdecken. Suchend blickte Athul sich um, doch der Blickwinkel aus der Gasse war sehr schmal und ließ ihm lediglich ein kleines Sichtfeld auf den Markt. Beunruhigt schaute Athul zu Olgard, der damit beschäftigt war, sich vom Marktarbeiter zu verabschieden, während er einen kleinen Beutel mit Münzen in seiner Tasche verstaute.

Der Arbeiter wandte sich ab und setzte den Bollerwagen in Bewegung. Obgleich ihm die Anstrengung ins Gesicht geschrieben stand, blieb er unvermittelt stehen und nickte jemandem freundlich zu, der außerhalb von Athuls Blickwinkel lag, bevor er den Wagen aus der Gasse zog.

Athul schwante Böses. Ohne auf Olgard zu achten, der sich ihm mittlerweile zugewandt hatte, ließ er sich abermals nach hinten sinken und kroch unter den Karren.

»Sieh an, sieh an. Der Herr Olgard. Wichtige Geschäfte?« Ein süffisantes Lächeln lag auf den Lippen des Stadthalters.

»Nur das tägliche Brot. Aber ich denke, ich schulde Euch keine Rechenschaft«, antwortete Olgard, dem anscheinend nicht der Sinn nach einem Gespräch mit dieser Person stand.

»Wenn Ihr das so seht. Vielleicht sollte ich mir Eure Geschäfte einmal genauer anschauen? Aber macht Euch keine Sorgen, ich habe andere Probleme. Sagt, wo steckt denn Euer Bengel? Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Er hat doch nicht etwa ein schlechtes Gewissen? Ich glaube, ich muss Euch bald einen erneuten Besuch abstatten, es sind da noch einige Ungereimtheiten aufgetaucht.«

Bei diesen Worten strich er sich mit beiden Händen über den breiten Bauch und schaute an sich herab, als ob er kontrollieren wollte, ob auch alles richtig saß.

»Dann solltet Ihr dies tun, wenn es wichtige Neuigkeiten gibt, die Ihr mit Athul besprechen wollt. Ich bin mir sicher, er wird Euch gerne Rede und Antwort stehen. Und nun entschuldigt mich, ich habe noch einiges zu tun. Das Geld verdient sich nicht von alleine.«

Olgard schritt auf den Karren zu und begann die Befestigungsschnüre zu verknoten.

Ohne ein weiteres Wort blickte sich der Stadthalter ein letztes Mal in der Gasse um, wandte sich schließlich ab und verließ diese.

Erleichtert schaute Athul den schweren Stiefeln des Stadthalters nach, als diese sich endlich vom Karren entfernten. Er wartete noch ab, bis er sicher war, den Stadthalter losgeworden zu sein, dann kroch er aus seinem Versteck hervor und ging zu Olgard.

»Was er wohl für Neuigkeiten meinte?« Sichtlich unruhig schaute Athul seinen Großvater an.

»Mach dir keine Sorgen. Ich denke, er wollte sich nur wichtig machen. Wenn es wirklich etwas Neues gäbe, hätten wir schon längst von ihm gehört.« Beruhigend legte Olgard seinem Jungen eine Hand auf die Schulter und lächelte ihm aufmunternd zu.

16
Der schwarze Stein

Die Luft war schwül geworden. In ihrem regelmäßigen Rhythmus hatte die Natur den Frühling hinter sich gelassen. Die Bäume strahlten in voller Pracht ihrer Laubkronen und die Wiesen und Gräser glänzten in sattem Grün. Der Regen der letzten Tage und die darauf folgenden Sonnentage hatten eine feuchtwarme Luft mit sich geführt. Olgard setzte dieser Wetterumschwung besonders zu. Schon den ganzen Tag plagten ihn Kopfschmerzen und er fühlte sich unwohl. Athul hingegen schien es wieder besser zu gehen. Der erst wenige Tage zurückliegende Marktbesuch hatte ihn mit neuem Leben erfüllt. Zwar waren es immer nur kurze Spaziergänge, die ihn vor die Tür zogen, doch schien ihm der Gedanke an einen Besuch des Stadthalters, derart unbehaglich zu sein, dass er es vorzog, sein Heim des Öfteren zu verlassen. Olgard nutze den neuerlichen Tatendrang seines Jungen, um sich ein wenig auszuruhen.

Doch etwas anderes beschäftigte Olgard umso mehr. Endlich sah er eine Chance, an Athuls Stein zu gelangen und dem Ganzen ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Bisher hatte er es nicht gewagt. Er hatte Angst. Angst davor, etwas Falsches zu tun. Immerhin war seit dem Tod Umgads nichts weiter vorgefallen. Zumindest hatte es keinen weiteren Toten mehr gegeben. Denn so ganz stimmte es nicht. Das Bild seines Jungen, der zitternd vor Kälte zusammengesunken in der Küche lag, war ihm noch immer sehr präsent. Er hatte nicht in Erfahrung bringen können, was an dem Abend geschehen war. Nachdenklich fuhr er sich übers Kinn. Sein Blick streifte Athuls Tür. Sie stand einen spaltweit offen.

Kurz überlegte Olgard, ob er es tatsächlich wagen sollte, nahm dann seinen ganzen Mut zusammen und näherte sich Athuls Zimmer. Er wusste nicht, wann sein Junge wiederkommen würde, doch er hoffte die Zeit würde genügen.

Sein Atem ging hastig. Der Schmerz in seinem Kopf schwoll zu einem unnachgiebigen Hämmern an. Er fasste sich an die Schläfen und massierte sie. Vor der Tür machte er Halt. Seine Finger glitten zögernd nach vorn und berührten das Holz. Hastig warf er einen Blick hinter sich, um sicherzugehen, dass er wirklich alleine war. Anschließend drückte er die Tür vorsichtig auf.

Er sah hinein. Kein Anzeichen deutete auf etwas Ungewöhnliches hin. Sein Blick glitt hinüber zum Nachttisch. Er wusste, was dieser in sich verbarg. Noch einmal schaute er prüfend zum Eingang, dann eilte er hinüber zu dem kleinen Schränkchen. Während er mit seiner eigenen Unsicherheit kämpfte, erregte etwas anderes sein Interesse. Was lag da unter dem Bett? Unscheinbar im Schatten war es ihm bis dahin verborgen geblieben. Er beugte sich hinab und griff danach. Seine Finger berührten kaltes, welliges Papier. Er hob es auf.

Es waren einzelne, lose Blätter. Olgard kniff die Augen zusammen und starrte auf die Zettel, die er in den Händen hielt. Schnell blätterte er sie durch. Es waren etwa zwanzig beschriebene und mit Zeichnungen gefüllte Seiten. Der Schock saß tief in Olgard und ließ ihn auf das Bett sinken. Was er dort las, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Athul hatte alles, was in den letzten Wochen und Monaten geschehen war, niedergeschrieben. Olgard wurde schwindelig, sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment bersten. Langsam ließ er die Seiten in seinen Schoß sinken. Das alles konnte nicht wahr sein. Kraftlos hob er den Kopf. Sein Blick glitt hinüber zum Nachttisch. Er musste den Stein zerstören, koste es, was es wolle. Athul hatte auf den Seiten genauestens beschrieben, wie ihn die Macht, die der Stein ihm verlieh, ergriffen hatte, wie sie ihn fesselte, seine Gedankenwelt beherrschte und ihn nicht mehr losließ.

Entschlossen schritt Olgard auf den kleinen Nachtschrank zu. Sein Herz raste vor Aufregung. Langsam streckte er die Finger nach dem Griff der Schublade aus. Mit zitternden Händen zog er sie auf. Sein Arm glitt in die Öffnung und tastete sich vor. Die Schublade war leer. Er erinnerte sich daran, wie tief Athul hineingegriffen hatte und er schob seinen Arm noch ein Stück weiter. Er winkelte ihn an und griff mühsam hinter die obere Schublade. Plötzlich berührten seine Finger etwas Hartes. Die Aufregung nahm ihm beinahe die Luft zum Atmen. Seine Finger klammerten sich um den Gegenstand. Langsam holte er ihn hervor und ließ ihn auf den Nachttisch sinken.

Der Stein. Er wirkte unscheinbar und doch bildete sich Olgard ein, seine bedrohliche Präsenz zu spüren. Ein unnatürliches Glitzern lag auf seiner schwarzen Oberfläche. Einen Moment lang überlegte der alte Mann, ob das, was er tat, auch wirklich richtig war. Doch es gab keinen Zweifel mehr. Das Gelesene ließ ihm keine Wahl. Schnell holte er ein Tuch hervor, das er in der Tasche trug. Dann griff er nach dem Stein. Noch während er ihn fassen wollte, hörte er ein Geräusch hinter sich. Er hielt inne und lauschte.

17
Ein folgenschweres Gespräch

Angestrengt sog Athul die schwüle Abendluft ein. Die Hitze hatte sich ein wenig abgekühlt und doch wäre er lieber im Haus geblieben. Aber etwas trieb ihn an. Er hatte viel nachgedacht und er hatte den Entschluss gefasst, noch einmal mit Neliah zu reden. Wenn es stimmte, was sie ihm gesagt hatte, dass sie sich ihm verbunden fühlte, dann musste er sich ihr anvertrauen. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie war die einzige Person, der er sich vollkommen offenbaren wollte, sie sollte alles von ihm erfahren. Vielleicht könnte sie ihm bei seiner schweren Last helfen.

Langsam ließ er die kleine Pferdefigur aus Holz durch seine Finger gleiten. Zugegeben, der Kopf war etwas zu klein geraten und der Körper wirkte unförmig, dennoch war Athul zufrieden mit seiner Arbeit. Er hatte die Figur am gestrigen Tag fertiggestellt und hoffte, dass sie Neliah gefallen würde.

Zögernd spähte er zu ihrem Haus hinüber. Sein Mut hatte ihn mit jedem Schritt, den er sich dem Haus näherte, mehr und mehr verlassen. Er wusste nicht einmal, wie er sie herauslocken sollte. Ihre Eltern würden ihn wohl sofort verjagen, sobald sie ihn erkannten, und ob ihn Neliah nach seinem Verhalten von neulich noch sehen wollte, wagte er zu bezweifeln – und dennoch musste er es versuchen.

Er stieß sich von der kleinen Mauer ab, an die er gelehnt hatte, und ging los. Nervös schaute er sich um, während er die Straße überquerte. Schrittweise ging er auf das Haus zu, dann schlug er einen Bogen, um sich von der Rückseite her zu nähern. Mit einem Mal bemerkte er zwei Personen, die auf das Haus zukamen. Schnell duckte er sich hinter eine Hecke, um nicht entdeckt zu werden. Er kauerte sich zusammen und spähte vorsichtig hinüber. Er erkannte Neliah und neben ihr ging ... Anrik. Das konnte nicht sein. Wütend ballte er die Hand zur Faust.

Was macht der hier?, schoss es ihm durch den Kopf.

»Hör schon auf. Du weißt doch, dass mir momentan nicht nach solchen Dingen zumute ist.« Neliahs Blick schien traurig.

»Noch immer betrübt wegen dieses Versagers? Ich habe dir von vornherein gesagt, dass er nichts für dich ist. Du hättest wissen müssen, dass es so kommt.« Kurz stockte Anrik, er hatte wohl bemerkt, dass seine Worte nicht den gewünschten Effekt erzielten. Dann setzte er wieder an: »Aber ich will dir keine Vorwürfe machen. Wenn jemand Schuldgefühle haben sollte, dann wohl er. Wie kann er nur ein so bezauberndes Mädchen von sich stoßen? Ich bin nur froh, dass er dir nichts getan hat.«

Athuls Kehle wurde trocken. Was bildete sich dieser Kerl ein? Er wusste nichts von ihm! Athuls Hand rutschte instinktiv in die Hosentasche. Doch dann hielt er inne, Anrik war näher an Neliah herangetreten und flüsterte ihr etwas zu. Athul lauschte, doch konnte er die Worte nicht verstehen. Eifersucht packte ihn und begann an ihm zu nagen. Sein Herz fühlte sich wie betäubt an, sein Bauch verkrampfte sich.

»Sag so etwas nicht«, war plötzlich Neliahs Stimme wieder zu hören.

Ihre Mundwinkel hatten sich zaghaft angehoben und sie lächelte Anrik an. Dieser legte einen Arm um sie und strich ihr über die Wange. Das war zu viel für Athul, die Eifersucht wandelte sich in blanken Hass. Er griff tiefer in seine Tasche, um den Stein hervorzuholen, doch musste er sich unumwunden in Erinnerung rufen, dass dieser noch immer in seinem Nachttisch lag. Hilflos taumelte er nach hinten. Doch noch während er krampfhaft versuchte, einen Weg zu finden, dies alles zu beenden, geschah es.

Anrik bewegte die Lippen, Neliah schloss ihre Augen und lauschte seinen leisen Worten. Sanft streichelte er ihr über ihre Wangen. Sie schien vollkommen benebelt vom Zauber seiner Worte und der Erschöpfung der letzten Tage und ließ sich in seine Arme fallen. Das war wohl der Moment, auf den Anrik gewartet hatte. Zärtlich glitt seine Hand in ihren Nacken und die Lippen der beiden trafen sich.

In Athul loderte der Hass wie ein unersättliches Feuer auf und wurde unerträglich. Alles verschwamm vor seinen Augen. Er
spürte, wie alles in ihm schrie. Er sprang auf und starrte die beiden an. Seine Finger gruben sich in die Wange und die Nägel
lösten kleine Hautschuppen. Ein heiserer Schrei entwich seiner Kehle: »NEIN!«

Erschrocken fuhren die Beiden auseinander. Athul sah Neliah nur kurz in die Augen, doch er konnte es nicht ertragen. Er riss den Arm nach oben und warf die, noch immer in seiner Hand liegende, Holzfigur auf den steinernen Weg, wo sie zerbrach. Hastig wirbelte er herum und rannte los. Er musste dem ein Ende bereiten. Er musste beide für das, was sie getan hatten, bestrafen.

Athul war so schnell er konnte nach Hause gerannt. Wie die scharfe Klinge eines Messers versetzten die Bilder von Neliah und Anrik seinem Herzen schmerzende Stiche. Tiefer Hass quälte ihn und ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Mit einem kräftigen Ruck riss er die Haustür auf und stürmte in die Stube. Ohne zu zögern schritt er auf sein Zimmer zu und öffnete die Tür.

»Was tut Ihr da, Großvater?«, entfuhr es ihm unvermittelt, als er den alten Mann entdeckte.

Erschrocken wirbelte Olgard herum und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich ...«, er zögerte. »Es tut mir leid, aber der Stein bringt nichts als Unglück und Leid über dich und jeden, der mit ihm zu tun hat. Er muss vernichtet werden!«

Unsicher schaute er Athul an, der noch immer im Türrahmen stand. Der Ausdruck in Athuls Gesicht wurde vollkommen regungslos und kalt, als er den Stein auf dem Nachttisch sah.

»So ist es also, Großvater. Zerstören, sagt Ihr? Nun, wenn ihr denkt, dass der Stein so gefährlich ist, wäre es wohl besser, Ihr lasst ihn einfach dort liegen, wo er ist!« Athul tat einen Schritt auf den Alten zu.

»Junge, so versteh mich doch«, flehte dieser ihn an, »merkst du denn nicht, dass der Stein eine unheilvolle Macht auf dich ausübt? Eine Macht, die nicht gut ist für deine Seele!« Verzweifelt schaute er Athul an.

»Nicht der Stein ist es, der Macht über mich hat, es ist die Macht, die er mir verleiht und die werde ich mir von niemandem streitig machen lassen!«, sagte Athul scharf.

Entsetzen zeichnete sich auf Olgards Gesicht ab, dann riss er sich los und griff nach dem dunklen Gegenstand.

Ein lauter Schrei entwich Athuls Kehle.

Blinde Wut hatte ihn gepackt. Wieso mussten ihn alle im Stich lassen? Aber sie sollten es büßen, keiner würde sich ihm mehr in den Weg stellen! Das Bild seines Großvaters wirkte verzerrt, es schien ihm unwirklich und fremd. Seine Gedanken waren nur noch auf den Stein fixiert. Er machte einen energischen Schritt auf den alten Mann zu.

»Lasst ihn sofort los!«, sagte er heiser. Sein Gesicht war von Wut gezeichnet.

Olgard zuckte zusammen. »Mein Junge, lass mich vorbei. Es muss sein, ich muss ihn vernichten, so verstehe mich doch.«

Der Blick des jungen Mannes verengte sich. Für einen kurzen Moment schien es, als ob Athul begreifen würde, was geschah, doch seine Worte ließen vermuten, dass jegliche Vernunft von ihm abgefallen war.

»Lügner! Ihr wollt ihn nicht zerstören«, entfuhr es ihm plötzlich. »Ihr wollt ihn nur für Euch haben, aber ich habe Euch durchschaut!«

Olgard stutzte kurz und fuhr sich durch sein ergrautes Haar. »Mein Junge«, erwiderte er verzweifelt, »so glaube mir doch, ich will ihn zerstören. Wie kannst du nur denken, ich wollte dir Böses? Ich war immer für dich da. Ich liebe dich wie meinen eigenen Sohn, bitte ...«

Athul aber packte ihn am Arm. »Schweigt, alter Mann, Ihr könnt mir nichts mehr vormachen, denn ich habe Euch durchschaut. Aber ich werde es nicht zulassen. Gebt ihn mir zurück!«

Athul griff nach dem Stein, doch Olgard wich ihm aus und sein Blick fiel auf den Zimmerschlüssel, der auf einem kleinen Tisch lag. Mit einem Ruck befreite er sich aus Athuls Griff, rannte an ihm vorbei, schnappte blitzschnell den Schlüssel und eilte weiter zur Tür.

Einen Moment stand Athul bewegungslos im Raum und starrte ihn überrascht an. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Doch schnell fing er sich wieder und setzte seinem Großvater nach. Die Augen verengten sich, als er die Absicht des Alten erkannte, ihn im Zimmer einzuschließen.

»Großvater, Ihr macht einen schweren Fehler.« Seine Stimme zitterte vor Wut.

Olgard riss die Tür auf und setzte seinen rechten Fuß bereits über die Schwelle, als der Junge ihn einholte und ihn ansprang. Beide stürzten zu Boden.

»Mein Junge, bitte ...«, flehte der Alte. »So lass mich doch gehen!«

Doch Athul reagierte nicht.

»Athul, bitte, ich ...«. Der alte Mann keuchte, hustete und rang nach Luft.

Die Hände des Jungen hatten sich um Olgards Kehle gelegt und drückten diese mit aller Kraft zusammen.

Anfangs versucht Olgard sich zu wehren, die Hände wegzudrücken und ihn von sich zu stemmen. Doch Athuls Kräfte waren einfach zu stark. Es gab kein Entkommen mehr. Eine Träne rann über seine Wange und seine Hand krallte sich fester um den Stein. Seine Augen wirkten müde.

Ein letztes Wispern drang über seine Lippen. »Warum ...?« Dann verlor er das Bewusstsein.

Athul bemerkte, dass der Körper des Alten erschlaffte und leblos aus seinen sich langsam öffnenden Händen glitt. Blitzartig wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Er sah das alte Gesicht und erkannte seinen Großvater. Die feinen Falten um die Mundwinkel waren erschlafft, das Haar lag wild um den Kopf und klebte an der von Schweißperlen glitzernden Stirn. Es war sein Großvater und er hatte ihn umgebracht. Die Erkenntnis traf ihn unvermittelt und löste einen kalten Schauer in ihm aus. Sein Bauch verkrampfte sich und Fassungslosigkeit erfüllte ihn.

Was hatte er nur getan? Der einzige Mensch, der immer zu ihm gestanden hatte! Jetzt war er tot und Athul war allein. Ganz auf sich gestellt. Was würden die Dorfbewohner sagen? Was würde der Stadthalter machen, jetzt wo sein Großvater ihn nicht mehr schützen konnte?

Angst packte Athul. Er sprang auf. Hastig schaute er sich um. War jemand am Fenster gewesen? Beobachtete ihn jemand? Auf einmal schienen alle Wände Augen und Ohren zu besitzen. Seine Angst verwandelte sich in Panik. Er rannte durch die Küche, er musste durch die Hintertür, das war seine einzige Chance, ungesehen zu bleiben.

Er hatte die Tür beinahe erreicht, als er unvermutet innehielt. Langsam drehte er sich um. Sein Blick fiel auf die Hand des Großvaters. In ihr lag der Stein. Seine Augen fingen an zu glänzen. Die Hand, die bereits den Türgriff erfassen wollte, wendete sich dem Stein zu. Wie in Trance ging er zurück, öffnete die Hand des Alten. Vorsichtig griff Athul nach dem Stein und seine Finger krallten sich um den schwarzen Gegenstand.

Er horchte auf. Vor dem Haus hatte er etwas gehört. Er lauschte. Eine weibliche, ihm wohlbekannte Stimme drang an sein Ohr. Hastig riss er den Stein an sich und rannte zum Fenster. Er spähte hinaus und erblickte Neliah. Seine Augen glitten über ihren schönen Körper. Wie gerne würde er zu ihr gehen, sie um Hilfe anflehen, doch er konnte nicht, nicht nach dem, was sie getan hatte und erst recht nicht nach dem, was gerade geschehen war. Sein Entschluss stand fest, er musste fort. Er wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah ein letztes Mal zur Küche, als es an der Tür klopfte. Erschrocken fuhr er zusammen. Schweißperlen traten auf seine Stirn.

»Athul? Bitte, es tut mir leid. Komm schon, ich weiß, dass du da bist. Athul, bitte!«

Es war Neliahs Stimme. Sein Herz wurde schwer und seine Augen feucht. Er wusste nicht mehr ein noch aus. Verzweiflung, Trauer, Angst und Hass auf sie und sich selbst schienen ihn von innen heraus zu zerreißen. Ein leises Murmeln erklang vor der Tür und plötzlich sah er ein Gesicht, das sich an die Scheibe drückte. Neliah hielt die Hand über ihre Augen, um besser in die Stube sehen zu können. Langsam wanderte ihr Blick suchend umher, bis Neliah etwas auf dem Boden sah.

Athul hörte einen entsetzten Schrei, doch er war immer noch wie gelähmt. Neliahs Blick glitt höher und er realisierte, dass sie ihn direkt ansah. Er war entdeckt worden. Viel schlimmer, Neliah hatte ihn entdeckt. Seine Bewegungslosigkeit fiel von einer Sekunde auf die andere von ihm. Schnell wandte er sich ab, rannte durch die Küche und riss die Tür auf. Draußen schlug ihm die schwülwarme Abendluft entgegen. Kurz hielt er inne, atmete tief ein, dann begann er zu rennen. Er wusste nicht wohin und konnte auch sonst keinen klaren Gedanken fassen. Das Einzige, dass er sich immer wieder sagte, war: »Lauf! Schau nicht zurück. Dies ist nicht mehr deine Heimat. Sie werden dich töten nach dem, was du getan hast. Sie sind gegen dich! Alle!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783945310144
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Zauber Macht Krieg Geheimnis Magie realistisch Abenteuer Fantasy episch Episch High Fantasy

Autor

  • Michael S. V. Preis (Autor:in)

Der Wunsch Eigenes zu schaffen begleitet mich sehr lang. Bereits im Kindesalter habe ich Welten erdacht und sie für meine Freunde erlebbar gemacht. Das Spielen in diesen Welten hat mich immer beflügelt. Auch wenn Spielzeug im Laufe der Jahre wich, so entwickelten sich andere Formen, den kreativen Gedanken Raum zu geben. Der Antrieb, Dinge nicht als gegeben hinzunehmen, sondern sie zu verbessern und schlussendlich meine eigenen Ideen zu verwirklichen, ist immer vorhanden gewesen.
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Titel: Ethendi - Die Runenkriege