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INSELhimmelblau

Nordsee-Roman

von Stina Jensen (Autor:in)
250 Seiten
Reihe: INSELfarben-Reihe, Band 8

Zusammenfassung

Ein Roman, umwerfend wie eine Welle am Nordseestrand.

Svea mag gar nicht mehr von ihrem Bett im Haus hinterm Deich aufstehen. Seitdem Jan ausgezogen ist, starrt sie nur noch durchs Dachfenster in den Langeooger Himmel. Und der ist grau und bedeckt.
Erst als der alleinerziehende Sebastian mit seinen Kindern auftaucht und Sveas Wohnung als Notunterkunft benötigt, muss sie sich aufraffen. Plötzlich kommt Schwung ins Haus, und es dauert nicht lange, bis sie neuen Lebensmut spürt. Auch der Himmel strahlt mit einem Mal hell und blau.
Endlich findet sie sogar die Kraft, die Hinterlassenschaften ihrer Großeltern durchzusehen. Als sie dabei einen rätselhaften Fund macht, erhält ihre Welt neue Risse - doch Sebastian sichert ihr seine liebevolle Unterstützung zu. Und auch Jan meldet sich aus der Funkstille zurück ...

Die Romane der INSELfarben- und GIPFELfarben-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Die chronologische Reihenfolge der Romane:
Inselblau (Svea, Langeoog und Mallorca), Inselgrün (Wiebke, Irland), Inselgelb (Claire, Island), Inselpink (Ida, Mallorca), Inselgold (Amanda, Rügen), Gipfelblau (Annika, Zermatt), Gipfelgold (Mona, Bad Gastein), Gipfelrot (Valerie, Schottland), Inseltürkis (Terry, Sardinien), Inselrot (Sandra, Sylt), Gipfelpink (Susa, Teneriffa), Inselhimmelblau (Svea, Langeoog), Gipfelglühen (Sebastian, Allgäu)

Außerdem: »Plätzchen, Tee und Winterwünsche«, »Misteln, Schnee und Winterwunder«, »Sterne, Zimt und Winterträume«, »Muscheln, Gold und Winterglück«, »Vanille, Punsch und Winterzauber«, »Mondschein, Flan und Winterherzen«, »Engel, Blues und Winterfunkeln«, »Sommertraum mit Happy End«, »Stürmisch verliebt«

Spannung und Gefühl vor bedrückender Küstenkulisse: Die Levke-Sönkamp-Reihe – Privatermittlerin mit stolperndem Herzen: Möwentrauer, Möwenschuld, Möwenzorn

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Erstausgabe: April 2021

© Stina Jensen

Robert-Bosch-Straße 48

61184 Karben

info@stina-jensen.de

www.stina-jensen.de

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Verfasserin urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werkes sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten zu existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Lektorat: Ricarda Oertel www.lektorat-oertel.de

Korrektorat: Ruth Pöß www.das-kleine-korrektorat.de

Covergestaltung © Traumstoff Buchdesign by Claudia Toman

Covermotive © LightField Studios und ThomBal shutterstock.com

Das gesamte Programm von Stina Jensen findest du hier.

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Über die Autorin

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm.

Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Stina Jensen

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Das Buch

Svea mag gar nicht mehr von ihrem Bett im Haus hinterm Deich aufstehen. Seitdem Jan ausgezogen ist, starrt sie nur noch durchs Dachfenster in den Langeooger Himmel. Und der ist grau und bedeckt.

Erst als der alleinerziehende Sebastian mit seinen Kindern auftaucht und Sveas Wohnung als Notunterkunft benötigt, muss sie sich aufraffen. Plötzlich kommt Schwung ins Haus, und es dauert nicht lange, bis sie neuen Lebensmut spürt. Auch der Himmel strahlt mit einem Mal hell und blau.

Endlich findet sie sogar die Kraft, die Hinterlassenschaften ihrer Großeltern durchzusehen. Als sie dabei einen rätselhaften Fund macht, erhält ihre Welt neue Risse – doch Sebastian sichert ihr seine liebevolle Unterstützung zu. 

Und auch Jan meldet sich aus der Funkstille zurück …

Ein Roman, umwerfend wie eine Welle am Nordseestrand.

Vorwort

Liebe Leserin und lieber Leser!

In INSELhimmelblau geht es mit Sveas Geschichte weiter, die einige schon aus INSELblau, dem 1. Band der INSELfarben-Reihe, kennen.

Als Neueinsteiger:in benötigst du aber keinerlei Vorkenntnisse; beide Romane sind in sich abgeschlossen.

Ich wünsche viel Freude mit Svea auf Langeoog!

1

DAVOR

Guten Morgen, meine Schöne.«

Ein Kuss landete in meinem Nacken. Jans Bart kitzelte auf meiner Haut.

»Dir auch guten Morgen«, murmelte ich verschlafen und öffnete blinzelnd die Augen. Die Sonne schien zum Fenster herein und malte ein Muster auf unsere Bettdecke.

Jans Finger fuhr meine Wirbelsäule entlang bis zur Taille. Mit sanftem Druck brachte er mich dazu, mich auf den Rücken zu drehen. Ich wusste schon, was er wollte und lächelte.

Seine Hand wanderte zu meinem Bauch. Noch war nichts zu spüren oder zu sehen, aber bestimmt bald.

»Huhu.« Jan trommelte sachte auf die Bauchdecke. »Ist jemand zu Hause?«

Glücklich legte ich meine Hand auf seine. Vor Freude wurde mein Hals eng. Das Leben war so schön.

Endlich wieder.

2

DANACH

Geliebte Svea.

Es fällt mir nicht leicht, diese Zeilen zu schreiben, aber inzwischen bin ich an einem Punkt, an dem ich nicht mehr weiter weiß.

Ich weiß nicht, wie oft ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe. Dass ich deine Familie bin. Dass wir beide eine Zukunft haben, die wir gestalten sollten, statt regungslos in der Vergangenheit festzuhängen. Das, was verloren ist, können wir nicht zurückholen. Deine Eltern nicht, auch nicht deine Großeltern. Und erst recht nicht unser Baby. Aber wir könnten es noch einmal versuchen. Nichts spräche gegen eine neue Schwangerschaft, außer deiner Angst.

Du meinst, dass alles, was dir lieb ist, dir eines Tages genommen wird. Das ist nicht so. Warum glaubst du mir das nur nicht?

Es war keine gute Idee, nach der Fehlgeburt wieder in das Haus deines Großvaters zu ziehen, wo dich doch alles nur an Verlust erinnert. Natürlich bin ich gerne mitgekommen, das war auch die Wahrheit. Aber ich kann mit diesem Stillstand auf Dauer nicht umgehen.

Ich dachte, es könnte nicht mehr schlimmer werden. Ich habe gehofft, dass du dich eines Tages mit meiner Hilfe von deinem Kummer erholst. Aber jetzt, wo du auch noch die Matratze in die Mansarde geräumt hast, um von dort aus in den Himmel zu starren, bekomme ich es mit der Angst zu tun. Glaubst du wirklich, du könntest auf diese Weise allen näher sein, die du verloren hast? Was kommt als Nächstes? Ich mag gar nicht darüber nachdenken. Unzählige Male habe ich dich darum gebeten, zum Arzt zu gehen – doch du tust es nicht. Und jetzt kann ich nicht mehr. Nichts wünsche ich mir mehr, als mit dir zusammen zu sein – aber allmählich ziehst du mich mit dir in dieses Loch, in dem du feststeckst. Und das darf ich nicht zulassen. Ich ertrage dein Schweigen nicht mehr. Ich kann nicht bei einer Wattwanderung mit gutgelaunten Touristen nah daran sein, in Tränen auszubrechen, wenn jemand mich fragt, ob ich hier glücklich sei. Oder wenn mich in der Spelunke jemand fragt, wieso du nicht mehr kommst.

Ich war glücklich hier. Mit dir. Jetzt bin ich nur noch unglücklich.

Du weißt, wo du mich findest.

Ruf mich an, schreib mir. Gib mir ein Zeichen.

Und bitte, bitte versteh mich.

Dein Jan

3

Für Stunden war ich so in den Anblick des grauen Himmels über dem Dachfenster versunken, dass ich vergaß, welche Farbe die Bettdecke hatte, unter der ich lag. Erst als ich sie mir intensiv vorstellte, fiel es mir wieder ein: Sie war rosa mit gelben Tupfen. So fröhlich.

Auf meine Stimmung nahm das keinen Einfluss. Tag für Tag verharrte ich so auf der Matratze und blickte nach oben; als ob dieses Starren die Leere in mir füllen könnte. So reglos daliegend erinnerte ich mich an mein früheres Ich wie an eine Bekannte, die man aus den Augen verloren hat. Von der man nicht mal mehr weiß, welche Augenfarbe sie besaß. Ich wusste, dass es mal eine Svea gegeben hatte, die dem Hungergefühl in ihrem Magen nachgegeben hätte und aufgestanden wäre, um sich ein Brot zu schmieren. Oder um sich einen Schwung Müsli in eine Schale zu kippen und ein bisschen Obst hinein zu schnippeln. Doch selbst dazu fehlte mir die Kraft. Und das Müsli zog schon Fäden, der Joghurt im Kühlschrank war vermutlich längst mit einer Schicht Schimmel überzogen.

Wenn Frauke nicht gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich verhungert. Meine alte Nachbarin kam alle paar Tage zu mir herüber und stellte einen Topf mit Essen auf dem Küchentisch im Erdgeschoss ab. Nicht, weil sie mich damit versorgen wollte, sondern Opa Hannes, von dem sie immer wieder vergaß, dass es ihn schon lange nicht mehr gab. Sie wurde von Silvia betreut, einer Polin, die auch die Speisen zubereitete und der Meinung war, man sollte Frauke dieses Ritual nicht nehmen. Vermutlich ahnte sie, dass ich diese Mahlzeiten gut gebrauchen konnte. Sie war entsetzt gewesen, als Jan zurück in unsere gemeinsame Wohnung im Wiesenweg gezogen war und mich hier in Opas Haus hinterm Deich allein zurückließ. Aber was hätte er sonst tun sollen?

Dass ich als Grundschullehrerin beurlaubt war, weil mich die Fröhlichkeit der Kinder überforderte, hatte sicherlich zu seinem Entschluss beigetragen. Genauso wie die Tatsache, dass ich ihm die Spelunke – das Lokal, das ich vor einigen Jahren geerbt hatte – überschrieb, um diese Belastung loszuwerden. Zurzeit lebte ich von Erspartem.

In seinem Brief hatte Jan mich darum gebeten, seine Entscheidung zu verstehen. Und das tat ich. Wer nicht zu begreifen war, war ich.

Im Nachbarhaus stellte jemand das Radio an und holte mich damit ins Hier und Jetzt zurück. Frauke hörte gern die Schlagerparade, gerade lief »I beg your pardon. I never promised you a rosegarden. Along with the sunshine, there’s got to be a little rain sometimes.«

A little rain? Gegen den hätte ich nichts einzuwenden. Doch in meinem Leben regnete es meistens Sturzbäche. Zumindest den Rosengarten besaß ich – die Kletterrosen wucherten den Garten zu; sie rankten inzwischen sogar am Baumhaus entlang, das Opa Hannes mir gezimmert hatte, als ich noch ein Kind war und hier die Ferien verbrachte.

Vor dem Haus erklang Hufgetrappel und das Rumpeln einer Kutsche auf dem Straßenpflaster. Langeoog ist autofrei, die Pferdefuhrwerke sind ein beliebtes Transportmittel. Besonders in der Ferienzeit, so wie jetzt. Es war Juli und die Insel ausgebucht.

Das Gefährt kam mit einem lauten »Ho!« des Fahrers zum Stehen. Kurz darauf klappte am Nachbarhaus die Tür, die Musik verstummte. War das Frauke, die da rief? Jemand schloss ein Fenster.

Irgendwann später – ich war noch einmal weggenickt – klingelte es im Erdgeschoss. Ich lauschte. Bestimmt hatte sich jemand an der Tür geirrt. Ich erwartete keine Post, hatte nichts bestellt. Manchmal klingelte auch Jans Mutter Astrid, um nach mir zu sehen, doch ich wimmelte sie stets ab. So wie ich inzwischen ebenfalls zu Freunden den Kontakt abgebrochen hatte. Besorgte Mails, besonders von meiner besten Freundin Wiebke, die seit einigen Jahren auf Mallorca lebte, beantwortete ich nicht mehr.

Wieder ertönte der Gong.

Schwerfällig schälte ich mich aus dem Bett und gab acht, nicht in die herumliegenden Krümel und offenen Keksschachteln zu treten. Ich tapste die schmale Treppe hinunter, fuhr mir mit beiden Händen durchs wirre Haar und strich mein Shirt glatt.

»Hey.« Es war Sanne. Fraukes Enkelin, die nur wenig älter war als ich. Sie wohnte in Bremen und kam nicht sehr oft her. »Sorry, falls ich dich geweckt haben sollte. Ich wollte dir nur sagen, dass ich Oma abhole. Und außerdem habe ich noch eine Bitte.«

Vor dem Haus stand noch immer das Pferdefuhrwerk. Frauke saß darin und sah unglücklich zu mir herüber. Ihr Haar, das sie sonst zu einem Knoten im Nacken trug, war heute notdürftig zurückgekämmt. Silvia, ihre Betreuerin, saß neben ihr und tätschelte ihre Hand. Im Stauraum stapelten sich Koffer.

»Was ist denn mit ihr?«

»Du weißt doch, dass sie in letzter Zeit rapide abgebaut hat«, antwortete Sanne. »Silvia liegt mir schon eine ganze Weile in den Ohren, dass sie selbst dringend nach Polen muss, und jetzt wurde bei uns in Bremen endlich ein Platz für Oma in einem Pflegeheim frei.«

»Warum gebt ihr sie denn nicht hier in die Residenz?«, fragte ich. »Da würde sie wenigstens auf der Insel bleiben.« So einen alten Baum verpflanzte man doch nicht. Um das zu verhindern, war ich ja auch Opa hierher gefolgt.

»Aber sie hat hier doch niemanden mehr. In Bremen können wir sie viel öfter besuchen.«

Sie fischte einen Schlüsselanhänger aus ihrer Hosentasche. »Du weißt ja, dass wir die Dachwohnung noch immer ab und zu an Feriengäste vermieten, um Silvia zu finanzieren – sie hat sich ja auch immer um alles gekümmert. Ich hab versucht, das alles noch auf die Schnelle zu canceln, aber da ist noch eine einzige Familie, die morgen eintrifft. Ich hab es nicht übers Herz gebracht, denen so kurzfristig eine Absage zu erteilen.« Schon hielt sie mir den Schlüssel vor die Nase. »Wenn du ihnen einfach nur bei der Ankunft den hier übergeben könntest – das wäre super. Ich würde ihnen Bescheid sagen, dass sie bei dir klingeln sollen.«

Ich betrachtete den Anhänger. Eine Möwe. »Hättet ihr nicht noch diesen einen Tag mit all dem hier warten können? Ich bin nicht gerade –«

Sanne nickte nachdrücklich. »Weiß ich alles. Aber meine Praxis ist ausgebucht, ich konnte heute mit Müh und Not alles auf die Kollegen verteilen. Ich weiß, das geht jetzt Hopplahopp, aber es dreht sich ja bloß um den Schlüssel. Bei anderen Ferienwohnungen ist der Eigentümer bei Ankunft auch nicht unbedingt anwesend.« Sie drückte meinen Arm. »Bitte. Das ist doch schnell erledigt.«

Zögernd nahm ich das Bund mit dem Möwenanhänger entgegen. »Muss ich denen noch irgendwas erklären, oder –?«

»Ich mach das dann telefonisch, die sollen sich einfach bei mir melden.«

Wieder sah ich zu Frauke hinüber. Silvia hatte den Arm um sie gelegt. Meine alte Nachbarin wirkte in der Kutsche schmaler und zerbrechlicher als sonst. Vielleicht fragte sie sich, ob sie ihr Häuschen heute zum letzten Mal sah. Und ihre Rosen, die Silvia gehegt und gepflegt hatte und deren Blütentrauben an den roten Ziegelsteinen seitlich der blauen Eingangstür entlang rankten. Ein niedriger Holzzaun umrundete die Grundstücke; in den Beeten meiner Nachbarin blühten neben den Rosenstöcken auch andere Stauden, die dem stetigen, salzigen Wind strotzten. Früher sah es hier aus wie auf einer Postkarte, und bestimmt waren Opas und Fraukes Häuser in etlichen Fotoalben der Feriengäste zu finden. Inzwischen wirkte Opas Areal mehr wie ein Mahnmal dafür, was geschehen konnte, wenn man sich nicht um sein Hab und Gut kümmerte.

Ich winkte Frauke zu, doch sie schaute durch mich hindurch.

Sanne strich mir zum Abschied über den Arm, dann stieg sie zu ihrer Großmutter in die Kutsche. Silvia warf mir eine Kusshand zu. »Du musst genug essen, hörst du?«, rief sie.

Seufzend machte ich kehrt, platzierte den Schlüssel neben den Stapel ungeöffneter Post auf dem Flurschränkchen und holte aus dem Vorratsschrank die letzte Packung Kekse, die Silvia aus dem Dorflädchen für mich mitgebracht hatte. In Opas Küche nahm ich einen Schluck Wasser direkt aus dem Wasserhahn. Anschließend stieg ich die Treppe nach oben zur Mansarde, legte mich zurück auf die Matratze, starrte wieder in den grauen Himmel und dachte an Jan. Wie er alles versucht hatte, um mir zu helfen.

Ich griff zu meinem Handy und öffnete Netflix, suchte nach einer Doku über Tiere – das Einzige, was ich schauen konnte, ohne in Tränen auszubrechen – und öffnete die Kekspackung.

Jeder erholt sich von Trauer, so hieß es. Nur ich offenbar nicht.

4

Am nächsten Tag weckte mich die Stimme eines Kindes, die durch das offenstehende Dachfenster zu mir in die Mansarde drang. »Das da muss es sein!«

Ein Mädchen antwortete. »Es ist ja wohl hoffentlich das linke.«

»Das hoffe ich auch«, brummte ein Mann.

Ich hob den Kopf. Waren das schon die angekündigten Urlauber?

Ich spähte aufs Handydisplay. Es war schon elf. Ich war spät eingeschlafen, eine Doku über Finnwale hatte mich wachgehalten.

»Soll ich mal bei Schepker klingeln?« Noch eine neue Stimme. Sie klang nach einem Jungen im Stimmbruch.

Der Mann erwiderte etwas, im nächsten Augenblick hörte ich das Knarren des Hoftors.

Ich schob die Beine von der Matratze und setzte mich auf. Mein Blick glitt an meinem Schlafanzug entlang. Mist.

Als der Dreiklang der Klingel ertönte, stieg ich die Treppe hinab. Im Flur zog ich den Möwenanhänger vom Schränkchen und öffnete die Haustür einen Spalt, hielt den Arm hinaus und präsentierte den Schlüssel auf der flachen Hand. »Der mit der roten Einfassung ist für die Außentür, der andere für die Dachwohnung«, erklärte ich.

Der Mann fischte das Bund von meiner Hand. »Ähm. Okay. Danke sehr. Muss ich … gibt es irgendetwas zu beachten?«

»Nein. Einfach aufschließen.« Schon zog ich die Hand zurück und schloss die Tür.

»Alter!«, ertönte die Stimme des Jungen.

»Ruhe«, mahnte der Mann.

»Vielleicht haben wir die Frau aus der Dusche gescheucht«, mutmaßte das Mädchen, während sie sich entfernten.

Lauschend blieb ich stehen und hörte, wie nebenan die Rosen um Fraukes Eingangstür bewundert wurden. Schließlich klappte die Tür, und es kehrte Stille ein.

Im selben Moment läutete in Opas Wohnzimmer das Telefon. Überrascht wandte ich den Kopf. Dieser graue Apparat mit Wählscheibe hatte ewig nicht geklingelt. Bisher hatte ich versäumt, Opas Anschluss abzumelden. Zögernd ging ich in den abgedunkelten Raum und nahm ab. »Ja bitte?«

Am anderen Ende zog jemand erschrocken den Atem ein.

»Hallo, wer ist denn da?«

Ein Klicken unterbrach die Leitung.

Verwundert legte ich den Hörer zurück auf die Gabel und sank in Opas Sessel, atmete den Geruch des alten Möbelstücks in mich ein. Die Mischung aus Maggi und Rasierwasser hatte sich im Laufe der Jahrzehnte darin festgesetzt und hing auch im Rest der Wohnung, als sei Opa bloß für einen Moment fort und würde gleich wieder zurückkehren. Ich sah mich im Halbdunkel des Raumes um. Wie sehr alles in die Jahre gekommen war. Das Mobiliar stammte aus den Achtzigerjahren. Eine Schrankwand aus Eiche Furnier mit dazu passendem Fernsehschränkchen. Der Couchtisch war mit Kacheln belegt. Opas modernste Anschaffung und ganzer Stolz war ein Radiorekorder mit Aufnahmefunktion, der noch immer bestens funktionierte und in der Küche auf der Fensterbank stand. Die Tasten waren abgegriffen und verfleckt. Jan hätte sich nach Opas Tod vorstellen können, unsere Wohnung im Wiesenweg aufzugeben und hierher zu ziehen. Dazu hätte er gern einiges verändert und es für uns beide hübsch hergerichtet. Doch ich war noch nicht bereit gewesen, alles auf den Müll zu bringen und das, was ich an Erinnerungen hatte, endgültig zu begraben. Als ich dann schwanger geworden war, hatte ich mich zum ersten Mal auch gefühlt, als könnte ich die alten Zöpfe abschneiden.

Das schien eine Ewigkeit her zu sein.

Schon wieder ertönte der Dreiklang der Haustür.

Barfüßig tapste ich zurück, öffnete die Tür wieder nur einen Spalt.

Es war der Mann von eben. »Entschuldigen Sie vielmals die nochmalige Störung. Der Schlüssel zur Wohnung oben passt nicht.« Er klimperte mit dem Bund. »Wir sind bloß ins Haus gekommen, weiter geht es nicht.«

Ich starrte auf die gepflegten Finger. »Haben Sie eben bei mir angerufen?«

Ein kurzes Zögern. »Nein.«

Nun öffnete ich die Tür ein Stück mehr und lugte hinaus. Ein hellbraunes Augenpaar traf meines. Der Mann hatte graue Schläfen, ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Falls ihn mein Aufzug wunderte, so ließ er es sich nicht anmerken.

»Da kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen«, sagte ich bedauernd, »ich habe keinen anderen Schlüssel. Am besten, Sie rufen mal bei der Enkelin der Vermieterin an. Vielleicht hat sie eine Idee.« Womöglich war das am Telefon Sanne gewesen, der ihr Irrtum aufgefallen war. »Haben Sie die Nummer?«

Der Mann zog ein Handy aus der Hosentasche. »Klar.«

»Papa, was ist denn jetzt? Sitzen wir hier fest, oder was?«

Ich streckte den Kopf hinaus, erblickte vor Fraukes Haustür ein etwa siebzehnjähriges Mädchen. Das glatte Haar fiel ihr über die Schultern. Sie trug Hotpants und Sneakers. Auf der Stufe saßen zwei Jungs nebeneinander und starrten auf Handydisplays. Ich schätzte sie auf zehn und dreizehn.

Der Mann hielt das Handy ans Ohr und lauschte in die Leitung. Schon erläuterte er Sanne die Situation. »Beide Wohnungen – oben und unten – sind abgesperrt«, schloss er, »der Schlüssel passt bei keiner.«

Kurz darauf reichte er mir das Gerät. »Sie würde Sie gern sprechen.«

Ich nahm es entgegen. »Hi.«

Fraukes Enkelin kam sofort zur Sache. »Wahrscheinlich hat Oma in ihrem wirren Kopf irgendwann mal die Schlüssel neu geordnet«, sagte sie. »Ich hab das leider nicht kontrolliert. Aber Hannes hatte doch bestimmt auch einen für alle Fälle.«

»Ich wüsste nicht wo.«

»Könntest du mal schauen? Ich weiß mir gerade keinen anderen Rat; vorm Wochenende kann ich auf keinen Fall noch mal rüberkommen, ich hab die Praxis voll.«

»Okay, ich sehe nach, ob ich was finde.« Ich reichte dem Mann das Gerät und bat ihn mit einer Handbewegung, zu warten.

»Papa, ich hab Durst!«, rief einer der Jungs. »Wann können wir denn endlich rein?«

»Moment noch, die Frau schaut nach, ob sie uns helfen kann.«

Ich öffnete die oberste Schublade des Flurschränkchens. Darin lag ein Sammelsurium an Krimskrams, darunter verschiedenste Schlüssel. Kein einziger war beschriftet. Wahrscheinlich gab es zu den meisten kein passendes Schloss mehr.

»Könnten Sie mal mitschauen?«, rief ich in Richtung Tür.

Der Mann trat zögernd ein. Der Versuch, seine Neugierde zu verbergen, gelang ihm nicht. Es war ja nicht nur der Schlafanzug, der um diese Tageszeit deplatziert wirkte. An der Garderobe im Flur, der bloß durch eine schwache Glühbirne beleuchtet wurde, hing noch Opas Strickjacke; an einem Haken sein Sonntagshut. Gleich daneben eine Windjacke von mir, und an der Wand lehnte ein uraltes Surfbrett von Jan.

»Sie surfen?«, fragte der Mann.

»Nein.« Ich deutete auf die Schublade. »Hier sind alle möglichen Schlüssel.«

Mein Besucher trat näher und streckte die Hand aus. »Liebermann übrigens«, sagte er. »Wir kommen aus Wiesbaden.«

Ich legte meine Hand in seine. Es fühlte sich überraschend an. Seit Ewigkeiten hatte ich zu niemandem Körperkontakt gehabt. »Schepker«, erwiderte ich und entzog sie ihm wieder.

Der Mann lugte in die Schublade und verglich einzelne Schlüssel mit denen in seiner Hand. »Das sind aber eine Menge.«

»Keine Ahnung, wozu die gehören«, gab ich zu. »So viele Schlösser gibt es hier gar nicht.«

»Mit Schlüsseln ist es wie mit Socken, nur umgekehrt«, scherzte er. »Die einen verschwinden, die anderen tauchen plötzlich auf.« Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen.

Ich lächelte zaghaft.

Unsere Suche hatte keinen Erfolg.

Sebastian Liebermann stellte sein Smartphone auf Lautsprecher und bot Sanne an, das Schloss im oberen Stockwerk vorsichtig aufzuhebeln – doch sie bat ihn, das nicht zu tun. Dabei würde ein zu großer Schaden entstehen. Inzwischen hatte sie ihrer Großmutter entlocken können, dass es noch einen Ersatzschlüssel in einem Küchenschrank gab – und zumindest zu diesen Räumen hatte Sanne ja mit ihrem eigenen Schlüssel Zugang. »Das müsste nur bis Samstag warten. Vorher schaffe ich es nicht, vorbeizukommen.«

»Und bis dahin?«, wollte der Feriengast wissen. »Heute ist Donnerstag.«

»Svea?« Sannes Stimme klang flehend.

»Ja?«

»Hör mal, ich weiß, es ist viel verlangt, aber könnten die Leute vielleicht für zwei Nächte bei dir unterkommen? Die Dachwohnung bei Opa Hannes steht doch leer, oder?«

Ich warf Herrn Liebermann einen unsicheren Blick zu. »Nicht direkt.«

»Wieso? Guck mal, die werden dich da unten gar nicht weiter stören. Es ist doch nur für zwei Nächte!«

Natürlich wusste sie nicht, dass ich oben schlief.

Sebastian Liebermann gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass das alles nicht zu meinem Problem werden sollte und erklärte Sanne, dass er bis Samstag schon eine andere Lösung finden würde. Schließlich verabschiedeten sie sich.

»Papa!«, rief es von draußen. »Wann können wir denn endlich in unsere Ferienwohnung? Ich hab solchen Durst!«

»Ich auch!«, rief der Nächste.

Ich gab mir einen Ruck. »Kommt rein, ich gebe euch erst mal was zu trinken.« Es war das Mindeste, was ich tun konnte.

Im Hausflur stellte mir Herr Liebermann seine Kinder vor. Das Mädchen hieß Ella, die Jungs Anton und Emil.

»Sind Sie krank?«, fragte der Kleine. Er musterte mich unverhohlen.

»Nein. Nur spät aufgestanden.«

Ich führte die vier ins Wohnzimmer und bat sie, sich zu setzen. Dann zog ich die schweren Vorhänge zurück und öffnete die Terrassentür, um frische Luft hereinzulassen. Staubkörner tanzten über dem Couchtisch. Der Jüngste, Emil, wippte auf Opas Sofa auf und ab, der Mittlere sagte »Lass das«, und das Mädchen sah sich von ihrem Platz im Sessel interessiert um. Mit vor Überraschung aufgeblähten Wangen betrachtete sie das Telefon mit Wählscheibe. Dann fragte sie: »Wohnst du hier in dieser Wohnung?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat meinem Opa gehört. Ich bin meistens unterm Dach.«

Ella hob den Hörer des Telefons und lauschte dem monotonen Tuten.

Ihr Vater warf ihr einen warnenden Blick zu, und sie legte ihn wieder ab.

»Ich hab leider nur Wasser da«, sagte ich bedauernd und ging in die Küche, befüllte vier Gläser mit Leitungswasser und trug sie auf einem Tablett hinüber.

Die Familie nippte an den Gläsern, nur der Jüngste leerte seines in einem Zug. »Kann ich noch mehr?«

Ich nickte und ging mit dem Becher zurück in die Küche.

Das Mädchen tauchte im Türrahmen auf. »Wo ist denn das Klo?« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. Sie zeigte auf Opas Radiorekorder. »Wow. Von wann ist der denn?« Sie sah sich im Raum um, in dem alles in Beige und Braun gehalten war. »Das ist hier ja voll Achtziger!«

»Ella, lass die Frau in Ruhe!«, rief ihr Vater. »Du wolltest nach der Toilette fragen. Und einfach so duzen macht man auch nicht!«

»Gleich links vorm Eingang.« Ich wies mit dem Daumen durch den Flur.

Ella trollte sich, und ich trug das befüllte Glas zurück zu Emil.

»Sobald meine Tochter fertig ist, sind Sie uns wieder los«, versprach der Mann erneut.

Merkte man mir so deutlich an, wie ich mich fühlte? Der Schlafanzug sprach wahrscheinlich für sich, und bestimmt roch ich auch nicht gut. Mein Blick ging zu den verschmierten Fensterscheiben und dem dahinterliegenden Garten. Die Natur hatte ihn sich zurückerobert. Es hätte verwunschen aussehen können, weil die Rosen blühten. Stattdessen wirkte er verwahrlost. Das Unkraut überwucherte die Stauden und konkurrierte um den Platz im Beet wie ein Trampel, der sich mit ausgestellten Ellbogen durch die Menge drängt.

Die Klospülung rauschte. In Opas Bad gab es noch ein Exemplar mit Schnur, an dem man ziehen musste. Kurz darauf erschien Ella. In ihren Händen trug sie eine Klopapierrolle, die in einer buntgemusterten Häkelhülle steckte. »Holy Shit.« Das Mädchen hielt Oma Inges Handarbeit in die Luft. »Die würd ich dir glatt abkaufen.«

Ich starrte sie an. »Die ist … unverkäuflich.«

Ella zog einen Flunsch. »Schade.«

Ihr Vater verdrehte die Augen. »Bringst du die bitte wieder zurück, ja? Wir gehen dann mal.« Er stand auf und klatschte in die Hände. »Hopphopp.«

»Endlich«, murmelte Anton. Die Jungs stellten ihre Gläser auf dem Couchtisch ab.

»Gehen wir jetzt vielleicht mal an den Strand?«, verlangte Emil. »Du hast uns versprochen, dass wir als Allererstes ans Meer gehen, Papa.«

Ohne Antwort scheuchte der Vater seine Kinder hinaus. Ella brachte mit Bedauern im Gesicht die Klorolle zurück – und endlich schloss ich die Tür hinter ihnen. Ich seufzte erleichtert. Dann öffnete ich die Tür zum Gästeklo und griff nach der umhäkelten Rolle, drehte sie zwischen den Fingern. Das Ding hatte Staub angesetzt. Überhaupt war Opas Wohnung das reinste Museum. Die Gegenstände – wie der Radiorekorder oder diese Toilettenpapierhülle hier – waren mir seit Jahren vertraut, ich hatte sie nur nicht mehr richtig wahrgenommen.

Ich trat in den Flur zurück und blieb unschlüssig stehen. Mein Blick glitt die schmale Treppe hinauf, die zur Dachwohnung führte. Die Matratze rief nach mir. Sie wollte, dass ich unter meine Decke kroch und in den Himmel starrte. Doch da regte sich auch etwas anderes in mir. Der Wunsch nach einer Dusche. Nach frischen Kleidern. Und danach, hier unten Licht in die Bude zu lassen, damit ich besser sehen konnte, was mir zumindest von Opa geblieben war.

5

Minutenlang spürte ich dem weichen Wasserstrom auf der Haut nach, ehe ich mich einseifte. Erst als auch die Haare eingeschäumt waren, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, mir ein Handtuch bereitzulegen.

Tropfend tapste ich ins Schlafzimmer, das ich mir unterm Dach zuletzt mit Jan teilte, und zog das letzte Badetuch aus der Schublade, schlang es mir um die Schultern und öffnete den Kleiderschrank. Ich fand eine löchrige Leggings und ein ebenso altes T-Shirt, die längst in einen Kleidersack gehört hätten. Also entschied ich mich für den gestreiften Jersey-Rock, den meine Freundin Wiebke mir mal geschenkt hatte, und eine geblümte Bluse. Normalerweise trug ich Jeans mit einem einfachen Oberteil, doch die stapelten sich vor der Waschmaschine im Keller. In der Schublade entdeckte ich noch genau einen Slip und einen BH.

Im Bad musterte ich mein ungewohnt farbenfrohes Outfit und flocht mir zwei Zöpfe. Ich lächelte meinem Spiegelbild verunglückt zu und ließ kurz darauf den Schlafanzug die Treppe hinuntersegeln, um ihn später zur Schmutzwäsche zu geben.

Nachher, wiederholte ich in meinem Kopf. Nicht jetzt.

Der kurze Energieschub, der mich seit dem Auftauchen von Fraukes Gästen erfasst hatte, war vorbei. Das Mansardenzimmer in meinem Rücken lockte. Nur mal kurz hinlegen und in den Himmel schauen.

Schwindelnd hielt ich mich am Treppengeländer aufrecht. Innerlich schalt ich mich für meine Mimosenhaftigkeit. Wollte ich wirklich schon aufgeben? Ich hatte geduscht, das war doch spitze. Wie wäre es, wenn du dich unten auf der Terrasse in den Strandkorb setzen würdest?, sprach ich mir zu. Früher hatte Oma darin gestrickt, später Opa Zeitung gelesen.

Die Kammer hinter mir übte eine magnetische Anziehung auf mich aus. Klopfenden Herzens nahm ich die paar Schritte zur Tür und blieb davor stehen, legte die Hand auf die Klinke. Doch dann verriegelte ich mit einer raschen Bewegung das Zimmer und zog den Schlüssel ab. Als hätte ich ein gefährliches Monster eingesperrt. Lächelnd wog ich das Metall in der Hand und stieg mit wackligen Beinen die Treppe hinunter, öffnete das Schubfach des Flurschränkchens und platzierte den Schlüssel inmitten der anderen. Dann mischte ich alle mit beiden Händen durch und schloss die Lade.

Auf der Terrasse zog ich die Plastikhülle von Opas Strandkorb und nahm die Polster herunter, klopfte sie auf. Staub und Spinnweben rieselten zu Boden.

Ich wollte mich gerade darauf niederlassen, als mich das »Pling« eines Handys aufhorchen ließ. Meins war das nicht, denn das musste wohl noch oben neben der Matratze liegen.

Wieder ertönte das »Pling«. Es kam aus dem Wohnzimmer.

Ich fand das Handy im Sessel, in dem das Mädchen gesessen hatte.

Auf dem Display leuchtete eine Nachricht auf.

Seid ihr gut angekommen? Dein Vater meldet sich mal wieder nicht. Schreib bitte kurz, damit ich mir keine Sorgen mache.

Bestimmt die Mutter der Kinder. Vielleicht hatte sie keine Zeit für diesen Urlaub gehabt. Oder die Eltern waren getrennt.

Ich steckte das Gerät in die Rocktasche und ging in die Küche, hob den Deckel von Fraukes Topf, warf einen Blick hinein. Spinat mit Kartoffeln, obenauf ein Spiegelei. Alles angetrocknet. Kurzentschlossen kippte ich den Inhalt in den Mülleimer unter der Spüle, band die Träger zusammen und schlüpfte im Flur in Opas Hausschuhe.

An der Mülltonne sah ich die Straße hinunter in Richtung Dorfmitte. Zur Spelunke waren es sieben Minuten; zu meiner und Jans Wohnung im Wiesenweg zwei mehr. In letzter Zeit hatte ich die Strecke zum Dorflädchen gemieden, weil ich meinem Freund dort hätte begegnen können, so wie man einander auf unserer kleinen Insel ständig über den Weg lief. Ob er mir noch böse war? Vielleicht war das auch das falsche Wort. Er hatte seine Bemühungen, mich aufzumuntern, einstellen müssen, um nicht selbst schwermütig zu werden.

Wie hatte ich ihn nur so schrecklich vertreiben können? Nie zuvor war ein Mensch in dieser Weise für mich da gewesen wie Jan. Angenommen, ich könnte die Traurigkeit überwinden – hätten wir noch eine Chance miteinander? Oder wäre es nicht das Beste, alles hinter mir zu lassen, nach Oldenburg an meine alte Schule zurückzukehren, eine Zweizimmerwohnung anzumieten und neu anzufangen? Opas Haus mitsamt seinem verwilderten Garten könnte ich verkaufen. Doch der Gedanke ließ mich erschaudern.

Am Ende der Straße tauchten Sebastian Liebermann und seine Kinder auf. Ich winkte mit dem Handy, und als die vier bei mir angekommen waren, nahm Ella es erleichtert entgegen.

»Und?«, fragte ich. »Erfolg gehabt?«

»Leider nicht.« Der Familienvater hob die Schultern. »Es ist aussichtslos. Alles voll. Sommerferien halt. Und der Schlüsseldienst ist so teuer, dass ich dafür ein ganzes Haus kaufen könnte. Wir werden wohl aufs Festland fahren und uns da was suchen.«

Ich war peinlich berührt. Sannes Bitte, ihn und die Kinder bis zum Wochenende in der Dachwohnung unterzubringen, stand im Raum.

Das Mädchen scrollte über den Bildschirm ihres Handys. »Ich sag dann mal Natalia Bescheid, dass wir gut angekommen sind, ja?« Der Blick, den sie ihrem Vater zuwarf, war ein einziger Vorwurf.

Der Mann verzog den Mund. »Die Gute hab ich ja ganz vergessen.«

Während Ella tippte, sahen Anton und Emil mich erwartungsvoll an. Ich rang innerlich die Hände. Wenn sie wüssten, wie unangenehm mir das Ganze war. Ich war wirklich nicht auf Gesellschaft aus. Aber ich konnte den Mann mit seiner Familie auch nicht einfach so im Regen stehen lassen.

»Es gäbe – vielleicht – eine Möglichkeit bei mir«, sagte ich zögernd. »Aber Sie haben ja gesehen, wie schmutzig alles ist. Ich müsste erst mal richtig putzen …«

Der Mann legte sich beide Hände auf die Brust. »Auf keinen Fall müssten Sie für uns putzen, das Nötigste würden wir selbst erledigen. Wir sind auch völlig unkompliziert. Wahrscheinlich bekämen Sie kaum etwas von uns mit.«

Ella steckte das Handy in die Gesäßtasche. »Mir macht ein bisschen Staub sowieso nichts aus. Wir sind ja die meiste Zeit am Strand. Und ich find das Haus so geil. Für die Klorolle werd ich auf Insta megaviele Likes bekommen!«

Herr Liebermann verdrehte entschuldigend die Augen.

Hin und hergerissen betrachtete ich die vier. Unten bei Opa konnte ich mir wirklich keine Fremden vorstellen, aber in der Einliegerwohnung gab es nicht viel Persönliches von Jan und mir. Die meisten Dinge waren im Wiesenweg. Wenn ich unten blieb, konnte ich zum Schlafen die Couch nehmen. Für zwei Nächte sollte das doch funktionieren? In das alte Ehebett meiner Großeltern wollte ich mich jedenfalls nicht legen.

»Ich würde Sie in der Dachwohnung unterbringen«, gab ich mir einen Ruck. »Das Schlafzimmer da hat Platz für zwei. Einer müsste also auf dem Sofa nächtigen und einer auf einer Matratze in der Dachkammer. Der Herd in der Küche oben funktioniert nur leider nicht.«

Herr Liebermann strahlte mich an, als hätte ich ihm eine Luxusbleibe angeboten und bedankte sich überschwänglich. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, informierte er Sanne über unser Arrangement, und sie versprach, wie verabredet am Samstag vorbeizukommen. Mir ließ sie einen herzlichen Dank ausrichten.

Nur Ella sah enttäuscht aus. Die Achtzigerjahrebude unten hätte ihr offenbar deutlich besser gefallen.

6

Der Familienvater hielt sein Versprechen und machte mir keine Umstände. Er transportierte mit den Kindern das Gepäck hinüber, anschließend verschwand sein Nachwuchs mit Handtüchern und Badematten bewaffnet in Richtung Strand.

Herrn Liebermann übergab ich einen Schwung Bettwäsche aus Omas Fundus und kramte aus der Schublade den passenden Schlüssel zur Mansarde hervor. Mein Gast verlor kein Wort darüber, dass ich dort offensichtlich bis vor Kurzem gehaust hatte. Wortlos klaubte ich mein Handy vom Boden und sammelte die Keksschachteln auf – den Rest musste der Staubsauger erledigen. Danach zeigte ich meinem neuen Untermieter die kleine Küche, in der es zumindest eine Kaffeemaschine und einen funktionierenden Toaster und Kühlschrank gab.

Im Wohnzimmer oben war länger nicht gelüftet worden, wir öffneten die Fenster. Auf dem Sims stand eine gerahmte Fotografie von mir und meinen Eltern, die kurz vor ihrem Tod in ihrem Haus in Oldenburg entstanden war. Wer hätte damals ahnen können, dass sie von ihrem geplanten Trip zu Opa nach Langeoog niemals zurückkehren würden? Ich nahm den Rahmen an mich, um ihn unten aufzustellen.

Nachdem ich meine Toilettenartikel aus dem Bad eingepackt hatte, verabschiedeten wir uns.

Herr Liebermann schüttelte mir die Hand. »«Ich würde mich gern erkenntlich zeigen.« Verlegen kratzte er sich am Kopf. »Möchten Sie heute Abend mit uns etwas Essen gehen?«

»Das ist nett, aber nicht nötig.«

»Doch, unbedingt.« Er öffnete die Hände. »Wir kennen uns hier ja noch gar nicht aus. Sie haben bestimmt ein Lieblingslokal.«

»So oft gehe ich hier gar nicht essen«, antwortete ich ausweichend.

»Tun Sie mir doch den Gefallen. Ein Strandlokal mit Aussicht? Gibt es so etwas?«

Die Spelunke schied aus. Vielleicht gab es in der Seemöwe einen freien Tisch. Aber sollte ich wirklich mitgehen? Ich fühlte mich wie ein rostiges Scharnier. Dabei – so hatte Opa immer gesagt – fing mein Leben doch gerade erst an. »Es gibt ein Biorestaurant mit Panoramablick. Da könnte ich anrufen, auf jeden Fall müsste man reservieren.«

»Klingt doch toll! Dann lassen Sie mich wissen, ob es klappt.«

»Wir können uns gern duzen«, entschied ich spontan. »Ich bin Svea.«

Er lächelte mich an. »Sebastian. Freut mich sehr. Sollen wir Telefonnummern austauschen? Dann kannst du mir einfach kurz die Eckdaten für heute Abend schicken.«

Wir speicherten unsere Nummern. Danach stapfte ich zurück nach unten und schlüpfte aus Opas Latschen.

In der Küche ließ ich mich auf einen Stuhl sinken und lauschte dem Rumoren des Familienvaters über mir. Der Staubsauger ertönte.

Als er verstummte, rief ich in der Seemöwe an. Ich hatte Glück und ergatterte den letzten Tisch für 19 Uhr. Dann schickte ich meinem Untermieter Adresse und Uhrzeit, bat ihn, eine Viertelstunde vorher startklar zu sein. Danach starrte ich für einen Moment ins Leere.

Ich musste dringend die Wäsche in Angriff nehmen, wenn ich nicht in diesem Streifen-und-Blümchen-Outfit essen gehen wollte. Vielleicht schaffte ich es, wenn ich mich mit etwas belohnte. Für mich war es immer das Größte gewesen, mich nach getaner Arbeit in die Badewanne zu legen. Eine Tasse Tee am Wannenrand, im Wasser ein pflegender Duft. Die Erinnerung an das Wohlgefühl, das mich dabei früher erfasst hatte, kitzelte an meinen Nervenenden.

Bei dem Gedanken daran, nachher essen zu gehen, spürte ich ein ungewohntes Lächeln auf meinem Gesicht.

Ich schaltete das Radio an, drehte die Musik so laut, dass sie bis in den Keller tönte, und begann dort die Wäsche zu sortieren. Die Lieder der Schlagerparade von Opas und Fraukes Lieblingssender kannte ich auswendig. Sie handelten von Liebe und heiler Welt, manchmal von Herzschmerz und Enttäuschung, aber immer mit der Aussicht auf Heilung. Ich erwischte mich dabei, wie ich vor mich hin summte, und nutzte den Schwung, um auch ein bisschen die Wohnung zu putzen.

Später, als die erste Ladung im Trockner ihre Runden drehte, ließ ich mir ein Bad ein. Die Zöpfe band ich mir über dem Kopf zusammen und stieg ins duftende Wasser. Ich lehnte mich gerade entspannt zurück, als im Badezimmer über mir ein Handy klingelte.

Die Stimme meines neuen Untermieters schallte zu mir nach unten. »Hallo Süße.«

Dieses alte Haus war so hellhörig, die alten Heizungsrohre wirkten wie ein Verstärker. Ich konnte jedes einzelne Wort verstehen. Zuerst entschuldigte Sebastian sich bei der Anruferin dafür, dass er sich noch nicht gemeldet habe. Schon auf der Fahrt sei alles drunter und drüber gegangen. Emil habe sich an einer Mischung aus Gummibärchen und TUK überfressen. Anton sei auf einem Halt an der Raststätte ewig nicht von der Toilette gekommen, sodass er gedacht habe, der Junge hätte sich abgesetzt. Und Ella sei überraschend verträglich angesichts der Tatsache, wie sehr sie sich anfangs gegen diese Reise gesträubt hatte. Dann schilderte Sebastian die misslungene Ankunft mit Fraukes falschem Schlüssel. Und nun seien sie – seine Stimme wurde leiser, doch ich hörte ihn noch immer – vorübergehend bei einer merkwürdigen jungen Frau untergekommen.

Ich hielt den Atem an.

»Und wie wir wieder aus dem Dorf zurückkehren«, fuhr er fort, »steht sie im Pippi-Langstrumpf-Outfit an den Mülltonnen. An den Füßen olle Schlappen.« Es herrschte eine kurze Stille. »Und sie hört Schlager!« Er kicherte.

Mein Körper quietschte über den Wannenboden. Was mochte Opa alles von Jan und mir mitbekommen haben?

Plötzlich klang Sebastian Liebermanns Stimme ernst. »Nein, ich hab noch nicht mit ihnen geredet. Wenn ich jetzt schon damit rausrücke, ist der ganze Urlaub verdorben.« Pause. »Ja, ich weiß, dass es allmählich drängt. Aber ich habe eben Schiss, wie sie es aufnehmen werden. Bei den Jungs wird es vielleicht noch gehen. Aber Ella? Ich mag gar nicht drüber nachdenken.«

Nun verabschiedete er sich hastig von der Anruferin, ich hörte Wasser rauschen.

Als es in der Wanne kühl wurde, seifte ich mich ein und kletterte schließlich heraus. Verstohlen warf ich einen Blick in den Spiegel und zog eine Grimasse. Mit den hochgebundenen Zöpfen sah ich aus wie eine Bergbäuerin. Was Sebastian Liebermann wohl dazu denken würde?

Meine Sachen waren noch im Trockner, also schlang ich ein Handtuch um mich.

Das Telefon in Opas Wohnzimmer klingelte wieder.

»Hallo, wer ist denn da?«, sprach ich in den Hörer.

Erneut ertönte ein erschrockenes Schnauben am anderen Ende.

»Falls Sie Hannes sprechen wollen – er ist leider verstorben. Hier spricht seine Enkelin. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann sagen Sie bitte etwas.«

Abermals wurde die Leitung unterbrochen.

Ich zuckte die Schultern und legte den Hörer zurück auf die Gabel. Vielleicht war es ein Klingelstreich. Mit Sanne hatte ich früher gern solche Späße gemacht.

Eben stieg Sebastian Liebermann die knarrende Treppe nach unten und verließ das Haus.

Der Trockner war noch immer nicht fertig. Das Programm zeigte dieselbe Restlaufzeit wie am Anfang. Zögernd stoppte ich das Geschehen und öffnete die Tür. Die Wäsche war noch immer nass. Wie alt mochte dieses Gerät sein? Zwanzig Jahre hatte es sicher auf dem Buckel.

Seufzend packte ich die Wäschestücke in einen Korb, trug ihn nach draußen und hängte die Kleider an die Wäschespinne. Bis zum Abend wurden die Jeans garantiert nicht mehr trocken.

Sollte ich Sebastian Liebermann also wieder mit meinem Pippi-Langstrumpf-Outfit beglücken? Ich machte kehrt und öffnete in Opas Schlafzimmer den Schrank. Mein Blick glitt über Oma Inges Kleider, die er aufgehoben hatte. Suchend schob ich ein Textil nach dem anderen zur Seite, bis ich auf ein grünes Dirndl stieß. An der Brust war es weiß abgesetzt, genauso wie an den Ärmeln. Niedlich sah es aus. Hatte Oma das jemals getragen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Vermutlich stammte es aus einer ihrer Kuren, die sie in Bayern verbracht hatte. Einmal im Jahr hatte sich meine Großmutter von der Insel verabschiedet und war mit der Bahn ins Allgäu gefahren.

Ich senkte die Nase an den Stoff. Er roch nach Lavendel. Andächtig zog ich die Tracht heraus und hielt sie mir vor den Bauch. Oma hatte eine ähnliche Figur wie ich gehabt.

Kurzentschlossen löste ich das Handtuch und schlüpfte nackt in das hübsche Stück. Der Reißverschluss klemmte, doch mit etwas Hin und Her klappte es. Staunend betrachtete ich mich im Spiegel der Schranktür. Meine aufgesteckten Zöpfe passten perfekt. Die Verkleidung stimmte mich augenblicklich positiv. Als hätte ich nicht nur die Kleidung, sondern ebenfalls die Haut gewechselt.

Ich legte mich draußen auf die Liege im Garten, schloss die Augen gegen die Sonne und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.

* * *

Jemand stupste mich an die Schulter. Ein zartes Stimmchen flüsterte: »Mein Papa hat gesagt, ich soll mal fragen, ob alles okay ist.« Es war der jüngere Bruder. Emil.

Ich setzte mich auf und rieb mir die Augen. »Wie viel Uhr ist es denn?«

»Viertel vor sieben. Darf ich mal kurz in das Baumhaus klettern?«

»So spät?« Wie hatte ich denn derart tief wegschlummern können?

Emil sah mich erwartungsvoll an. »Darf ich?«

»Aber nur, bis ich startklar bin. Und sei vorsichtig, die Rosen sind stachelig.«

Schon stob der Junge davon.

Ich rappelte mich von der Liege auf und überprüfte die Wäsche auf der Leine. Ein Slip ging als trocken durch. Den frischen BH vom Morgen konnte ich noch einmal anziehen. Aber Jeans und Shirt waren zu feucht. Blieb das Dirndl, das ich ohnehin schon trug.

Im Bad versuchte ich vergebens, den Reißverschluss zu öffnen. So sehr ich mich verrenkte und daran zerrte: Er klemmte. Frustriert hielt ich inne. Warum musste alles schieflaufen? Grimmig schlüpfte ich in den Slip. Ob es mir gelingen würde, den BH unter das Kleid zu ziehen, ohne dass ich es auszog? Nein, das war aussichtslos.

Ich drehte mich zur Seite und überprüfte im Spiegel meine Silhouette. Dass unten drunter etwas fehlte, fiel nicht auf. Der Stoff rieb auf der Haut, vielleicht gab sich das mit der Zeit.

Von der Terrasse aus rief ich Emil zu mir, der in einem Satz vom Baumhaus auf die Wiese sprang und an mir vorbei aus der Wohnung stürmte. Im Flur nahm ich die Handtasche und die Windjacke vom Haken. Vor dem Haus warteten die Liebermanns auf mich. Falls sie meinen Aufzug seltsam fanden, ließen sie sich nichts anmerken.

7

Es war lange her, seit ich das letzte Mal auf dem Dünenweg entlangspaziert war, der vorm Strand abzweigte und am Freizeitbad vorbei Richtung Seemöwe führte. Der Wind wehte uns stramm ins Gesicht, aber die Luft war mild.

Die Jungs spielten Fangen, Ella knipste Fotos, und Sebastian Liebermann ging neben mir und musterte mich neugierig von der Seite. Sollte er. Er hielt mich ja ohnehin für verschroben. Ich hatte nicht vor, ihm meine ganze gescheiterte Lebensgeschichte zu erzählen: Dass meine Eltern bei einem Bootsunfall gestorben waren und ich schließlich Opas Drängen nachgab und hierher nach Langeoog zog. Und damit auch zu Jan, in den ich mich bei einem meiner Besuche verliebt hatte. Durch ihn hatte ich die dunklen Stunden vergessen können, die ich nach dem tödlichen Unglück von Mama und Papa durchlebt hatte. Und auch nach Opas Tod war Jan an meiner Seite und fing mich auf. Doch gegen dieses Gefühl der Verlassenheit nach dem Verlust unseres Babys hatte nicht einmal er etwas ausrichten können. Mitunter fürchtete ich, dass ich vor lauter Dünnhäutigkeit nie mehr mit anderen Menschen zurechtkommen würde. Dass ich heute in Kontakt zu dieser Familie getreten war, fühlte sich ungewohnt an. Genauso wie das Kleid auf meiner Haut.

»Ist das eigentlich euer erster Urlaub auf Langeoog?«, fragte ich, um das Schweigen zu übertönen.

Sebastian nickte und machte eine ausholende Geste über die Dünen und den in der Ferne liegenden Strand hinweg. Die See glitzerte in der Abendsonne. »So schön hätte ich es mir ehrlich gesagt gar nicht vorgestellt. Mit meiner Frau und den Kindern war ich früher öfter am Mittelmeer. Da ist es natürlich wärmer, aber auch nicht so mitreißend wie hier.« Wie auf Kommando fuhr ihm eine Böe ins Haar.

Ich lächelte und tippte auf die Windjacke, die ich mir über den Arm gelegt hatte. »Abends braucht man tatsächlich immer eine Jacke. Aber ansonsten sind wir die Insel mit den meisten Sonnenstunden Deutschlands.«

Emil rannte vor seinem Bruder davon und hängte sich kreischend an den Arm seines Vaters. Im nächsten Moment war Anton bei ihm und zerrte an ihm. Sebastian hob hilflos die Schultern. »Ich glaube, unser Gespräch müssen wir später fortsetzen.« Schon versuchte er, sich von den beiden loszumachen, indem er sie durchkitzelte.

Wehmütig sah ich den dreien beim Gerangel zu und fragte mich, wie es irgendwann mit einem eigenen Kind gewesen wäre. Ob Jan auch so vergnügt mit ihm gebalgt hätte? Ich verdrängte den Gedanken so eilig, wie er gekommen war.

* * *

Das Restaurant im Obergeschoss des Gebäudes in Strandnähe war gut besetzt. Es roch so lecker, dass mir der Magen knurrte.

»Schön hier.« Sebastian sah sich anerkennend um. Der modern eingerichtete Speiseraum bot nicht nur ein gehobenes Ambiente, sondern auch einen ungehinderten Blick über die Dünen hinweg bis zur See.

Ein Kellner führte uns zu einem Fensterplatz, die Kids diskutierten kurz, wer wo sitzen durfte, dann bekamen wir die Speisekarten ausgehändigt und bestellten die Getränke.

Als sich der Kellner entfernt hatte, tippte mir jemand auf die Schulter. »Svea? Bist du das?«

Ich wandte den Kopf und entdeckte Arvid, den Fischlieferanten der Insel. Wenn der Fischkutter anlegte, wählte er den besten Fisch für seine Kunden aus. Der gebürtige Langeooger belieferte die örtlichen Restaurants und Geschäfte – auch die Spelunke – mit frischem Nordseefisch. Er und Jan waren Geschäftspartner und Kollegen im Shanty-Chor.

Ich stand auf und schloss ihn kurz in die Arme.

Neugierig musterte Arvid meine Begleiter. »Verwandtschaft?«

»Gäste«, korrigierte ich. »Bei Frauke.«

Er runzelte die Stirn und betrachtete das Dirndl und meine Frisur. »Hast du dich dann wegen der Feier so rausgeputzt?« Seine Augen blitzten.

»Feier?«

Er legte sich einen Finger an den Mund. »Ach so.«

»Ach so – was?«

»Na, ich dachte wohl, du kommst, weil … aber klar, ihr seid ja …«

»Arvid, bitte, wovon redest du denn?«

»Na, die Spelunke feiert doch heute Jubiläum. Jan hat schon Zehnjähriges. Ist doch’n Ding oder?«

Ich schluckte. Ja, das war ein Ding. So lange kannte ich weder das Lokal noch Jan. Er war bereits Pächter gewesen, als ich die Kneipe von Tante Mathilda geerbt hatte. Nachdem wir zusammengekommen waren, hatten wir sie abends gemeinsam betrieben. Es kam mir vor, als sei das eine Ewigkeit her.

»Geht es Jan gut?«, fragte ich.

Arvid kratzte sich am Kopf. Errötete er? »Ich denke schon.«

»Das ist doch schön.« Mehr fiel mir nicht ein. Hatte Jan vielleicht eine neue Freundin? Der Gedanke fuhr mir in die Glieder. Dabei hatte ich doch nicht ernsthaft annehmen können, er würde ewig auf mich warten. Ich hatte ihm niemals signalisiert, wie sehr er mir fehlte.

Arvid sah sich um, als suchte er jemanden. »Na denn«, sagte er. »Ich wünsch euch nen angenehmen Abend. Und wenn ihr eine Empfehlung braucht – ich würde heute die Seezunge nehmen.« Er nahm zwei Finger an den Mund und mimte einen Kuss.

Wir wünschten ihm ebenfalls einen schönen Abend, dann setzte ich mich zurück auf meinen Platz. Sebastian und ich bestellten den empfohlenen Fisch, die anderen nahmen Labskaus vom Langeooger Rind. Ella wagte sich sogar an die Variante mit Spiegelei und Matjes. Das würde sich auf Insta gut machen, sagte sie.

»Hauptsache, du isst es auch«, brummte ihr Vater und schoss mir einen Blick zu, der besagte, dass er es schwer hatte.

Die Jungs packten ein Set »Schiffe versenken« aus und begannen zu spielen.

»Wieso trägst du eigentlich ein Dirndl?« Ella musterte mich. »Das trägt hier sonst keiner.«

»Längere Geschichte«, erklärte ich ausweichend.

»Wolltest du meinen Dad damit beeindrucken?«

Überrascht sah ich zu ihrem Vater.

Dessen Augen gingen zur Decke. »Ella, wirklich.« Zu mir sagte er: »Ich hätte eigentlich lieber in die Berge gewollt, ich wandere ganz gerne. Daher wohl ihre Interpretation.«

Die Tochter hob die Hände. »Ganz genau. Und nur ich bin schuld, dass wir hier gelandet sind. In Flachdeutschland. Dabei wollte ich noch nicht mal hierher!«

Sebastian lächelte nachsichtig. »Ein Urlaub am Mittelmeer ist eben momentan nicht drin. Außerdem ist es hier ja sehr schön.«

Ella zückte ihr Handy und drehte sich demonstrativ zur Seite.

»He!« Anton sah anklagend zu seinem Vater. »Wieso darf sie und ich nicht?«

»Weil sie niemanden zum Spielen hat«, erklärte mein Untermieter. »Wir haben das auch schon ausreichend besprochen.«

Der Junge wandte sich mürrisch wieder seinem Bruder zu.

»Wo warst du denn zuletzt wandern?«, versuchte ich, die Unterhaltung in Gang zu halten.

»Auf den Kanaren«, gab Sebastian zurück. »Knapp vierzehn Tage lang war ich mit einer Single-Reisegruppe im Teide-Nationalpark unterwegs. Unsere Basis war auf einer Hacienda mit Blick auf den Vulkan. Herrlich war das. Hitze, Staub, Blasen an den Füßen …« Er lachte. »Nein, im Ernst, ich fand es toll. Die Gruppe war wild gemischt.«

»Eine Single-Reisegruppe«, wiederholte ich. »Wusste gar nicht, dass es das auch in Verbindung mit Wandern gibt.«

»Doch doch.« Er nickte nachdrücklich. »Allerdings habe ich dort nicht die große Liebe gefunden und beschlossen, dieses Thema lockerer anzugehen.«

Er war also alleinstehend. Und wer war dann Natalia? Vielleicht eine Freundin. Oder doch die Mutter, und die Tochter sprach sie mit Vornamen an.

»Viel Glück beim Lockerangehen.« Ella sah aus, als wollte sie noch mehr sagen, behielt es dann aber für sich.

Der Wein wurde gebracht, von dem auch Ella einen Schluck abbekam. Wir stießen an.

Ich fand es ungewöhnlich, wie offen die Kinder mit der Trennung ihrer Eltern umgingen. Normalerweise träumten die doch von einer glücklichen Wiedervereinigung.

»Und du?«, unterbrach Sebastian meine Gedanken. »Bist du liiert?«

Ella fing an zu kichern. Zwar tippte sie Nachrichten in ihr Smartphone ein, verfolgte jedoch nebenher unsere Unterhaltung. »Liiert?«, äffte sie. »Manchmal sprichst du wirklich wie ein alter Opa, Papa.«

»Das sollte ich mir mal erlauben«, antwortete ihr Vater, »dass ich mich in die Gespräche mit deinen Freundinnen einmische.«

Ella zeigte ihm wieder die kalte Schulter, ihre Finger flogen übers Display.

Ich warf meinem Gegenüber einen amüsierten Blick zu. Sebastian war ein ziemlich lässiger Typ. Das gefiel mir.

»Ja, es gibt da jemanden«, sagte ich zögernd. »Ob wir noch zusammen sind, weiß ich selbst nicht so genau. Ich glaube, es ist eine Trennung auf Zeit. Arvid, der gerade hier war … das Kneipenjubiläum, das er erwähnt hat … der Inhaber ist mein Freund.«

Sebastian schaute mich fragend an, und auch Ella war anzusehen, dass sie ganz Ohr war.

Ich winkte ab. »Ist eine längere Geschichte. Jedenfalls ist er ausgezogen.«

»Wo habt ihr denn gewohnt? Unterm Dach? Oder unten?« Offenbar konnte er sich weder das eine noch das andere vorstellen.

Schnell erklärte ich ihm, dass Jan und ich ursprünglich woanders gewohnt hatten und dass unser Aufenthalt im Haus meines Großvaters nur vorübergehend sein sollte.

»Lebt dein Opa jetzt in einem Altenheim?«

»Er ist tot.«

Sebastian sah mich mitfühlend an. Ich fand, er hätte aufhören können, weitere Fragen zu stellen. Doch der Wissensdurst meines Gegenübers war nicht gestillt. »Und danach wolltest du dortbleiben und dein Freund nicht?«

»So ungefähr.« Ich drehte das Weinglas zwischen den Fingern. »Und was machst du so, wenn du nicht gerade Urlaub an der Nordsee verbringst?«, lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung.

Seine Augen gingen zu seinen Kindern, als sei es ihm unangenehm, darüber zu sprechen. »Ich bin Lehrer an einem Wiesbadener Gymnasium.«

»Ach.« Mein Kinn fiel. »Ich bin auch Lehrerin. Hier auf Langeoog. Zurzeit bin ich allerdings beurlaubt.«

»Wieso das?«

Von der Fehlgeburt wollte ich nicht anfangen, also berichtete ich ihm lediglich, dass nicht nur mein Großvater, sondern auch meine Eltern tot waren und ich die letzte Hinterbliebene. Und dass mich das ziemlich mitgenommen hatte.

Sebastians Augen bekamen einen sanften Schimmer. »Ich kann sehr gut verstehen, dass du nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konntest. Aber du wirst sehen. Der blöde Spruch ›Die Zeit heilt alle Wunden‹ stimmt schon irgendwie. Eines Tages tut es nicht mehr so weh.«

Er sagte das, als würde er sich auskennen. Vielleicht hatte er auch schon Vater und Mutter verloren. Dass der Schmerz nachließ, mochte auf den Tod meiner Eltern und den meines Großvaters zutreffen. Auf den unseres Babys aber nicht.

* * *

Zurück im Haus stürmten die Kinder sofort nach oben. Sebastian und ich blieben im Flur vor Opas Wohnungstür stehen. Ich wollte mich gerade bei ihm für den Abend bedanken, als er mich mit der Frage überraschte, ob ich Lust auf einen Absacker hätte.

Er lachte über mein erstauntes Gesicht. »Keine Sorge, ich wollte mich nicht zu dir in die Wohnung einladen – ich meine die Kneipe von deinem Freund. Das zehnjährige Jubiläum, das dieser Mann erwähnt hat. Sollen wir da vielleicht mal vorbeischauen? Die Kinder kommen auch mal allein klar.«

»Lieber nicht. Ich würde mir vorkommen wie die dreizehnte Fee.«

Er sah mich verständnislos an.

»Ich bin nicht eingeladen«, erklärte ich. »Wenn ich aufkreuze, könnte das Jan die Stimmung verderben.«

»Oder ihr könntet euch wieder annähern.« Er stupste mich am Arm.

Einfach so in der Spelunke auftauchen – konnte ich das bringen? Jan hatte sicher einen Grund, mich nicht eingeladen zu haben. Um Abstand zu finden. Oder es gab inzwischen wirklich eine andere Frau an seiner Seite. Eine, die mutig genug war, mit ihm eine Familie gründen zu wollen. Plötzlich wurde die Sehnsucht nach ihm übermächtig. Wir hatten uns so lange nicht gesehen. Er fehlte mir. Und ich ihm vielleicht auch.

Ich gab mir einen Ruck. »Also gut. Aber wenn es merkwürdig werden sollte, gehen wir wieder, okay? Und vorher würde ich mich gern noch umziehen.« Mit etwas Glück waren die Sachen auf der Leine inzwischen trocken.

»Wieso umziehen? Du siehst doch toll aus.« Sebastian errötete. »Ich meine nur – nicht viele können ein Dirndl tragen. Aber dir steht es ausgezeichnet.«

»Danke, aber es ist normalerweise gar nicht mein Stil. Ich hatte vorhin nur nichts anderes anzuziehen.«

Sebastian hob die Schultern. »Okay. Ich sag schnell den Kindern Bescheid.«

Schnell huschte ich ins Schlafzimmer und betete, dass dieser Verschluss sich endlich öffnen ließ. Doch es war nichts zu machen. Er klemmte weiterhin. Sollte ich Sebastian bitten, mir zu helfen? Vielleicht würde er es falsch verstehen. Also ließ ich es und trat kurz darauf zurück in den Hausflur.

Sebastian kam gerade die Treppe hinunter und hob den Daumen. »Du behältst es doch an? Gute Entscheidung. Gehen wir?«

Auf dem Weg durchs Dorf versuchte ich, meinen aufgeregten Herzschlag wegen Jan in den Griff zu bekommen. Hoffentlich endete dieser Abend so schön, wie er begonnen hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752139969
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Liebesroman Familienroman Inselroman Langeoog Nordseeroman Reiseroman Allgäu Familie Serie Romanreihe

Autor

  • Stina Jensen (Autor:in)

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm. Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.
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Titel: INSELhimmelblau