Am nächsten Tag weckte mich die Stimme eines Kindes, die durch das offenstehende Dachfenster zu mir in die Mansarde drang. »Das da muss es sein!«
Ein Mädchen antwortete. »Es ist ja wohl hoffentlich das linke.«
»Das hoffe ich auch«, brummte ein Mann.
Ich hob den Kopf. Waren das schon die angekündigten Urlauber?
Ich spähte aufs Handydisplay. Es war schon elf. Ich war spät eingeschlafen, eine Doku über Finnwale hatte mich wachgehalten.
»Soll ich mal bei Schepker klingeln?« Noch eine neue Stimme. Sie klang nach einem Jungen im Stimmbruch.
Der Mann erwiderte etwas, im nächsten Augenblick hörte ich das Knarren des Hoftors.
Ich schob die Beine von der Matratze und setzte mich auf. Mein Blick glitt an meinem Schlafanzug entlang. Mist.
Als der Dreiklang der Klingel ertönte, stieg ich die Treppe hinab. Im Flur zog ich den Möwenanhänger vom Schränkchen und öffnete die Haustür einen Spalt, hielt den Arm hinaus und präsentierte den Schlüssel auf der flachen Hand. »Der mit der roten Einfassung ist für die Außentür, der andere für die Dachwohnung«, erklärte ich.
Der Mann fischte das Bund von meiner Hand. »Ähm. Okay. Danke sehr. Muss ich … gibt es irgendetwas zu beachten?«
»Nein. Einfach aufschließen.« Schon zog ich die Hand zurück und schloss die Tür.
»Alter!«, ertönte die Stimme des Jungen.
»Ruhe«, mahnte der Mann.
»Vielleicht haben wir die Frau aus der Dusche gescheucht«, mutmaßte das Mädchen, während sie sich entfernten.
Lauschend blieb ich stehen und hörte, wie nebenan die Rosen um Fraukes Eingangstür bewundert wurden. Schließlich klappte die Tür, und es kehrte Stille ein.
Im selben Moment läutete in Opas Wohnzimmer das Telefon. Überrascht wandte ich den Kopf. Dieser graue Apparat mit Wählscheibe hatte ewig nicht geklingelt. Bisher hatte ich versäumt, Opas Anschluss abzumelden. Zögernd ging ich in den abgedunkelten Raum und nahm ab. »Ja bitte?«
Am anderen Ende zog jemand erschrocken den Atem ein.
»Hallo, wer ist denn da?«
Ein Klicken unterbrach die Leitung.
Verwundert legte ich den Hörer zurück auf die Gabel und sank in Opas Sessel, atmete den Geruch des alten Möbelstücks in mich ein. Die Mischung aus Maggi und Rasierwasser hatte sich im Laufe der Jahrzehnte darin festgesetzt und hing auch im Rest der Wohnung, als sei Opa bloß für einen Moment fort und würde gleich wieder zurückkehren. Ich sah mich im Halbdunkel des Raumes um. Wie sehr alles in die Jahre gekommen war. Das Mobiliar stammte aus den Achtzigerjahren. Eine Schrankwand aus Eiche Furnier mit dazu passendem Fernsehschränkchen. Der Couchtisch war mit Kacheln belegt. Opas modernste Anschaffung und ganzer Stolz war ein Radiorekorder mit Aufnahmefunktion, der noch immer bestens funktionierte und in der Küche auf der Fensterbank stand. Die Tasten waren abgegriffen und verfleckt. Jan hätte sich nach Opas Tod vorstellen können, unsere Wohnung im Wiesenweg aufzugeben und hierher zu ziehen. Dazu hätte er gern einiges verändert und es für uns beide hübsch hergerichtet. Doch ich war noch nicht bereit gewesen, alles auf den Müll zu bringen und das, was ich an Erinnerungen hatte, endgültig zu begraben. Als ich dann schwanger geworden war, hatte ich mich zum ersten Mal auch gefühlt, als könnte ich die alten Zöpfe abschneiden.
Das schien eine Ewigkeit her zu sein.
Schon wieder ertönte der Dreiklang der Haustür.
Barfüßig tapste ich zurück, öffnete die Tür wieder nur einen Spalt.
Es war der Mann von eben. »Entschuldigen Sie vielmals die nochmalige Störung. Der Schlüssel zur Wohnung oben passt nicht.« Er klimperte mit dem Bund. »Wir sind bloß ins Haus gekommen, weiter geht es nicht.«
Ich starrte auf die gepflegten Finger. »Haben Sie eben bei mir angerufen?«
Ein kurzes Zögern. »Nein.«
Nun öffnete ich die Tür ein Stück mehr und lugte hinaus. Ein hellbraunes Augenpaar traf meines. Der Mann hatte graue Schläfen, ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Falls ihn mein Aufzug wunderte, so ließ er es sich nicht anmerken.
»Da kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen«, sagte ich bedauernd, »ich habe keinen anderen Schlüssel. Am besten, Sie rufen mal bei der Enkelin der Vermieterin an. Vielleicht hat sie eine Idee.« Womöglich war das am Telefon Sanne gewesen, der ihr Irrtum aufgefallen war. »Haben Sie die Nummer?«
Der Mann zog ein Handy aus der Hosentasche. »Klar.«
»Papa, was ist denn jetzt? Sitzen wir hier fest, oder was?«
Ich streckte den Kopf hinaus, erblickte vor Fraukes Haustür ein etwa siebzehnjähriges Mädchen. Das glatte Haar fiel ihr über die Schultern. Sie trug Hotpants und Sneakers. Auf der Stufe saßen zwei Jungs nebeneinander und starrten auf Handydisplays. Ich schätzte sie auf zehn und dreizehn.
Der Mann hielt das Handy ans Ohr und lauschte in die Leitung. Schon erläuterte er Sanne die Situation. »Beide Wohnungen – oben und unten – sind abgesperrt«, schloss er, »der Schlüssel passt bei keiner.«
Kurz darauf reichte er mir das Gerät. »Sie würde Sie gern sprechen.«
Ich nahm es entgegen. »Hi.«
Fraukes Enkelin kam sofort zur Sache. »Wahrscheinlich hat Oma in ihrem wirren Kopf irgendwann mal die Schlüssel neu geordnet«, sagte sie. »Ich hab das leider nicht kontrolliert. Aber Hannes hatte doch bestimmt auch einen für alle Fälle.«
»Ich wüsste nicht wo.«
»Könntest du mal schauen? Ich weiß mir gerade keinen anderen Rat; vorm Wochenende kann ich auf keinen Fall noch mal rüberkommen, ich hab die Praxis voll.«
»Okay, ich sehe nach, ob ich was finde.« Ich reichte dem Mann das Gerät und bat ihn mit einer Handbewegung, zu warten.
»Papa, ich hab Durst!«, rief einer der Jungs. »Wann können wir denn endlich rein?«
»Moment noch, die Frau schaut nach, ob sie uns helfen kann.«
Ich öffnete die oberste Schublade des Flurschränkchens. Darin lag ein Sammelsurium an Krimskrams, darunter verschiedenste Schlüssel. Kein einziger war beschriftet. Wahrscheinlich gab es zu den meisten kein passendes Schloss mehr.
»Könnten Sie mal mitschauen?«, rief ich in Richtung Tür.
Der Mann trat zögernd ein. Der Versuch, seine Neugierde zu verbergen, gelang ihm nicht. Es war ja nicht nur der Schlafanzug, der um diese Tageszeit deplatziert wirkte. An der Garderobe im Flur, der bloß durch eine schwache Glühbirne beleuchtet wurde, hing noch Opas Strickjacke; an einem Haken sein Sonntagshut. Gleich daneben eine Windjacke von mir, und an der Wand lehnte ein uraltes Surfbrett von Jan.
»Sie surfen?«, fragte der Mann.
»Nein.« Ich deutete auf die Schublade. »Hier sind alle möglichen Schlüssel.«
Mein Besucher trat näher und streckte die Hand aus. »Liebermann übrigens«, sagte er. »Wir kommen aus Wiesbaden.«
Ich legte meine Hand in seine. Es fühlte sich überraschend an. Seit Ewigkeiten hatte ich zu niemandem Körperkontakt gehabt. »Schepker«, erwiderte ich und entzog sie ihm wieder.
Der Mann lugte in die Schublade und verglich einzelne Schlüssel mit denen in seiner Hand. »Das sind aber eine Menge.«
»Keine Ahnung, wozu die gehören«, gab ich zu. »So viele Schlösser gibt es hier gar nicht.«
»Mit Schlüsseln ist es wie mit Socken, nur umgekehrt«, scherzte er. »Die einen verschwinden, die anderen tauchen plötzlich auf.« Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen.
Ich lächelte zaghaft.
Unsere Suche hatte keinen Erfolg.
Sebastian Liebermann stellte sein Smartphone auf Lautsprecher und bot Sanne an, das Schloss im oberen Stockwerk vorsichtig aufzuhebeln – doch sie bat ihn, das nicht zu tun. Dabei würde ein zu großer Schaden entstehen. Inzwischen hatte sie ihrer Großmutter entlocken können, dass es noch einen Ersatzschlüssel in einem Küchenschrank gab – und zumindest zu diesen Räumen hatte Sanne ja mit ihrem eigenen Schlüssel Zugang. »Das müsste nur bis Samstag warten. Vorher schaffe ich es nicht, vorbeizukommen.«
»Und bis dahin?«, wollte der Feriengast wissen. »Heute ist Donnerstag.«
»Svea?« Sannes Stimme klang flehend.
»Ja?«
»Hör mal, ich weiß, es ist viel verlangt, aber könnten die Leute vielleicht für zwei Nächte bei dir unterkommen? Die Dachwohnung bei Opa Hannes steht doch leer, oder?«
Ich warf Herrn Liebermann einen unsicheren Blick zu. »Nicht direkt.«
»Wieso? Guck mal, die werden dich da unten gar nicht weiter stören. Es ist doch nur für zwei Nächte!«
Natürlich wusste sie nicht, dass ich oben schlief.
Sebastian Liebermann gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass das alles nicht zu meinem Problem werden sollte und erklärte Sanne, dass er bis Samstag schon eine andere Lösung finden würde. Schließlich verabschiedeten sie sich.
»Papa!«, rief es von draußen. »Wann können wir denn endlich in unsere Ferienwohnung? Ich hab solchen Durst!«
»Ich auch!«, rief der Nächste.
Ich gab mir einen Ruck. »Kommt rein, ich gebe euch erst mal was zu trinken.« Es war das Mindeste, was ich tun konnte.
Im Hausflur stellte mir Herr Liebermann seine Kinder vor. Das Mädchen hieß Ella, die Jungs Anton und Emil.
»Sind Sie krank?«, fragte der Kleine. Er musterte mich unverhohlen.
»Nein. Nur spät aufgestanden.«
Ich führte die vier ins Wohnzimmer und bat sie, sich zu setzen. Dann zog ich die schweren Vorhänge zurück und öffnete die Terrassentür, um frische Luft hereinzulassen. Staubkörner tanzten über dem Couchtisch. Der Jüngste, Emil, wippte auf Opas Sofa auf und ab, der Mittlere sagte »Lass das«, und das Mädchen sah sich von ihrem Platz im Sessel interessiert um. Mit vor Überraschung aufgeblähten Wangen betrachtete sie das Telefon mit Wählscheibe. Dann fragte sie: »Wohnst du hier in dieser Wohnung?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat meinem Opa gehört. Ich bin meistens unterm Dach.«
Ella hob den Hörer des Telefons und lauschte dem monotonen Tuten.
Ihr Vater warf ihr einen warnenden Blick zu, und sie legte ihn wieder ab.
»Ich hab leider nur Wasser da«, sagte ich bedauernd und ging in die Küche, befüllte vier Gläser mit Leitungswasser und trug sie auf einem Tablett hinüber.
Die Familie nippte an den Gläsern, nur der Jüngste leerte seines in einem Zug. »Kann ich noch mehr?«
Ich nickte und ging mit dem Becher zurück in die Küche.
Das Mädchen tauchte im Türrahmen auf. »Wo ist denn das Klo?« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. Sie zeigte auf Opas Radiorekorder. »Wow. Von wann ist der denn?« Sie sah sich im Raum um, in dem alles in Beige und Braun gehalten war. »Das ist hier ja voll Achtziger!«
»Ella, lass die Frau in Ruhe!«, rief ihr Vater. »Du wolltest nach der Toilette fragen. Und einfach so duzen macht man auch nicht!«
»Gleich links vorm Eingang.« Ich wies mit dem Daumen durch den Flur.
Ella trollte sich, und ich trug das befüllte Glas zurück zu Emil.
»Sobald meine Tochter fertig ist, sind Sie uns wieder los«, versprach der Mann erneut.
Merkte man mir so deutlich an, wie ich mich fühlte? Der Schlafanzug sprach wahrscheinlich für sich, und bestimmt roch ich auch nicht gut. Mein Blick ging zu den verschmierten Fensterscheiben und dem dahinterliegenden Garten. Die Natur hatte ihn sich zurückerobert. Es hätte verwunschen aussehen können, weil die Rosen blühten. Stattdessen wirkte er verwahrlost. Das Unkraut überwucherte die Stauden und konkurrierte um den Platz im Beet wie ein Trampel, der sich mit ausgestellten Ellbogen durch die Menge drängt.
Die Klospülung rauschte. In Opas Bad gab es noch ein Exemplar mit Schnur, an dem man ziehen musste. Kurz darauf erschien Ella. In ihren Händen trug sie eine Klopapierrolle, die in einer buntgemusterten Häkelhülle steckte. »Holy Shit.« Das Mädchen hielt Oma Inges Handarbeit in die Luft. »Die würd ich dir glatt abkaufen.«
Ich starrte sie an. »Die ist … unverkäuflich.«
Ella zog einen Flunsch. »Schade.«
Ihr Vater verdrehte die Augen. »Bringst du die bitte wieder zurück, ja? Wir gehen dann mal.« Er stand auf und klatschte in die Hände. »Hopphopp.«
»Endlich«, murmelte Anton. Die Jungs stellten ihre Gläser auf dem Couchtisch ab.
»Gehen wir jetzt vielleicht mal an den Strand?«, verlangte Emil. »Du hast uns versprochen, dass wir als Allererstes ans Meer gehen, Papa.«
Ohne Antwort scheuchte der Vater seine Kinder hinaus. Ella brachte mit Bedauern im Gesicht die Klorolle zurück – und endlich schloss ich die Tür hinter ihnen. Ich seufzte erleichtert. Dann öffnete ich die Tür zum Gästeklo und griff nach der umhäkelten Rolle, drehte sie zwischen den Fingern. Das Ding hatte Staub angesetzt. Überhaupt war Opas Wohnung das reinste Museum. Die Gegenstände – wie der Radiorekorder oder diese Toilettenpapierhülle hier – waren mir seit Jahren vertraut, ich hatte sie nur nicht mehr richtig wahrgenommen.
Ich trat in den Flur zurück und blieb unschlüssig stehen. Mein Blick glitt die schmale Treppe hinauf, die zur Dachwohnung führte. Die Matratze rief nach mir. Sie wollte, dass ich unter meine Decke kroch und in den Himmel starrte. Doch da regte sich auch etwas anderes in mir. Der Wunsch nach einer Dusche. Nach frischen Kleidern. Und danach, hier unten Licht in die Bude zu lassen, damit ich besser sehen konnte, was mir zumindest von Opa geblieben war.